Читать книгу Catrina und Ricardo: Die venezianische Seherin 1 - Alfred Bekker - Страница 5
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Es gibt Dinge in Leben eines Menschen, die sich in sein Gedächtnis einbrennen wie mit sprichwörtlicher Säure. Dinge, die man niemals mehr vergessen kann. Dinge, die einen für das ganze Leben prägen, ob bewusst oder unbewusst. Und dies sind nicht nur die schlimmsten Dinge. Nicht unbedingt jedenfalls. Auch nicht die schönsten. Es sind vor allem Dinge, Begebenheiten und Ereignisse, die sich erst viel später vielleicht als von besonderer Bedeutung erweisen.
Wie ihre erste Begegnung mit Ricardo.
Man muss vorausschicken, dass beide damals wirklich wahre Welten trennten. Sie als die zwölfjährige Tochter aus dem angesehenen Haus des zwar kleinen aber dennoch feinen Wollhändlers – und Ricardo, der Straßenjunge, der alles tun musste, um einfach nur zu überleben. Eben auch Dinge tun, die man nicht tun sollte. Wie beispielsweise Diebstahl. Und dann noch als Opfer ausgerechnet den angesehenen und einflussreichen Glasbrenner Giuseppe D‘Andrea auszuwählen. Um möglicherweise Folgen heraufzubeschwören, die unabsehbar waren. Um auch als Kind vielleicht mit schlimmster Strafe rechnen zu müssen, falls man dabei erwischt wurde im Jahre des Herrn 1387 in der nicht nur für Venezianer heiligen Lagunenstadt Venetia, auch Venedig genannt ...
Gewisse Gleichaltrige nannten die zwölfjährige Catrina gern auch „dürre Ziege“. Was sie allerdings persönlich eher als Kompliment empfand. Zeigte es doch auch, dass man deutlich wahrgenommen wurde. In diesem schwierigen Alter sicherlich nicht ganz so unbedeutend.
Zumal Catrina wusste, dass Gleichaltrige nur dann permanent mit so etwas geärgert wurden, wenn sie sich daraufhin empfindlich zeigten, also darauf eingingen. Das galt auch schon im Jahre des Herrn 1387 so. Wenn man jedoch darüber lachte, so wie Catrina, wiederholte sich das meist nicht mehr so oft. Dann wurde „die dürre Ziege“ in Ruhe gelassen, und man ärgerte dafür andere. Wobei es ja nun wirklich keinen Menschen gab und gibt, den man nicht mit irgendetwas zu ärgern versuchte. Die einen, weil sie angeblich zu dürr, so wie Catrina, andere gar, weil sie angeblich zu dick, zu groß, zu klein, zu spitznasig, zu wuschelköpfig waren und dergleichen mehr. Man musste es einfach nur tapfer ignorieren oder eben sogar darüber lachen.
An diesem Tag trotzdem schon wieder. Natürlich von jener kleinen Gruppe, die so tat, als würde sie aus angehenden Königinnen bestehen. Die selbsternannte Oberprinzessin drangsalierte dabei besonders gern Gleichaltrige, tatkräftig unterstützt von ihren wenigen Anhängerinnen, die wie Anhängsel von ihr wirkten, weil sie diese stets und ständig im Schlepptau hatte. Zumindest drangsalierte sie jene, mit denen sie es tun konnte. Und jetzt hatte sie es doch tatsächlich bei Catrina erneut versucht, obwohl sie eigentlich hätte wissen müssen, dass es nutzlos war.
Jedenfalls weitgehend nutzlos, denn ausgerechnet diesmal änderte Catrina einfach einmal spontan ihre Taktik, um solchen Unbilden zu begegnen. Anstatt zu lachen nämlich wie über einen lustigen Scherz, stolzierte sie als genau jene „dürre Ziege“ an ihnen vorbei, so hochnäsig es gerade noch ging, um nicht über die eigenen Füße zu stolpern.
Es war ja die falsche Richtung. Aber Catrina konnte sich halt diese Gelegenheit nicht verkneifen. Sie musste es ihnen sozusagen zeigen. Was für sie als Zwölfjährige tatsächlich von annähernd fundamentaler Bedeutung sein mochte.
So geschah es eben, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes vom Weg abkam und in jenen Grenzbereich geriet, vor dem ihr besorgter Vater sie mindestens einmal pro Tag eindringlich warnte. Denn hier verkehrten jene, denen es nicht ganz so gut ging wie ihr. Hier herrschten andere Verhältnisse, im wahrsten Sinne des Wortes. Hier wagten sich die Ärmsten der Armen hin, um zu betteln und auch um zu rauben. Wenn nicht Schlimmeres geschah, was Catrina in diesem Alter noch längst nicht wissen durfte.
Kein Wunder also, wenn sie sich täglich diese Warnungen anhören musste. Woran sie sich für gewöhnlich auch gern hielt. Außer eben diesmal, wo sie sich nun wirklich diese Gelegenheit für einen besonders provokanten Auftritt nicht entgehen lassen durfte.
Mit vollem Erfolg, denn die kleine Schar gaffte sich schier die Augen aus. Sie konnten wohl nicht glauben, dass jemand es wagen würde, sich ihrer Übermacht zu stellen und doch tatsächlich sich ganz deutlich über sie zu erheben.
Zumindest so lange Catrina in Sichtweite blieb. Aber sobald der Abstand groß genug war, begann sie dennoch zu rennen. Sie waren trotzdem die Übermacht, und aus Erfahrung wusste Catrina, dass sie nicht nur so tun konnten wie verwöhnte Prinzessinnen, sondern leider auch wie übelster Abschaum. Falls die Wut und der Zorn sie übermannten. Und damit war ja nun in diesem Fall wirklich zu rechnen.
Deckung fand Catrina in einer schmalen Seitengasse, in der es auch am hellsten Tag dunkel genug blieb, um nicht sogleich gesehen werden zu können.
Und sie hatte sich nicht geirrt: Ihre Verfolgerinnen kamen zornbebend herbeigerannt, vermuteten jedoch, sie sei längst weiter gelaufen und verloren keine unnötige Zeit, um vielleicht auch noch in dieser schmalen, unbedeutenden Seitengasse nachzusehen, in der es dermaßen nach Schmutz und Unrat stank, dass es Catrina schier den Atem raubte.
Sie blieb tapfer. Sie hielt es aus. Wenigstens bis sie sicher sein konnte, dass ihre Verfolgerinnen nicht zurückkamen, um hier nachzusehen. Immerhin kannten sie ja ebenfalls die immer wieder angemahnten Gefahren, denen man hier begegnen konnte, und waren sicherlich längst wieder auf dem Weg in ihren Bereich, wo sie sich sicherer fühlen durften.
Erst dann wagte Catrina es, ins Freie zu treten, zurück in das Licht.
Aber da kam noch jemand herbei gerannt. Nicht minder schnell als sie vorhin. Ein Junge, ungefähr in ihrem Alter, wie es schien. Ziemlich abgerissen wirkend. Also einer dieser berüchtigten Straßenjungen. Einer von denen, die vom Betteln lebte. Und falls das nicht reichte ...
Catrina jedenfalls verstand schon, bevor sie sah, dass er immer wieder gehetzt einen Blick zurückwarf: Er wurde verfolgt. Er war also eindeutig einer dieser kleinen Diebe, die nicht zum Spaß stahlen, sondern weil sie keine andere Wahl hatten. Und er hatte sich diesmal erwischen lassen, war auf der Flucht vor seinen Häschern und kam dabei ausgerechnet direkt auf sie zu, ohne sie zunächst bewusst wahrzunehmen.
Catrina fiel ihm erst auf, als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war. Es erschreckte ihn dermaßen, dass er seine Flucht abbrach, um sie nicht über den Haufen zu rempeln, und knapp vor ihr zum Stehen kam.
Catrina sah in seine weit aufgerissenen, panikerfüllten Augen – und fühlte so etwas wie Mitleid mit ihm. Anders konnte es nicht sein. Sonst hätte sie ihn nicht gepackt und in diese dunkle Seitengasse hineingestoßen. In Sicherheit nämlich, anstatt ihn festzuhalten und seinen Häschern zu überlassen, wie sie es als wohlerzogene Tochter eines Wollhändlers gelernt hatte, der ebenfalls immer wieder von solchen kleinen Dieben behelligt wurde.
Er ließ es verdutzt mit sich geschehen. Wohl weil er immer noch unter einer Art Schock stand. Und vor allem kam er nicht sofort wieder aus der Gasse hervorgestürmt, um weiter zu fliehen. Das wäre ihm auch schlecht bekommen, denn seine Verfolger hatten bereits aufgeholt. Immerhin zwei ausgewachsene Männer in der Uniform der Stadtwachen, und sie machten nicht gerade den Eindruck, als wären sie gut gelaunt, mit ihren Knüppeln in den Händen.
Jetzt wurden sie Catrinas ansichtig und stutzten, denn allein schon an ihrer Kleidung erkannten sie, dass sie nicht in dieses Viertel gehörte. Und dann weinte sie auch noch so herzzerreißend los, dass sie kurz sogar vergaßen, den fliehenden Jungen weiter zu verfolgen.
„Bitte, so helfe mir doch jemand!“
„Was ist denn los, Kleine?“, fragte einer der beiden keuchend und blieb gemeinsam mit dem anderen stehen.
„Ich – ich habe mich verlaufen!“, behauptete sie. „Ich – ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause komme. Könntet Ihr mich denn nicht ...?“
„Keine Zeit für so etwas, Kleine. Tut mir leid.“
Und schon wollten sie weiterlaufen. Der eine äugte allerdings noch misstrauisch in Richtung dunkler Seitengasse. Anscheinend formte sich in seinem Kopf bereits die Idee, der Flüchtige könnte sich womöglich dort versteckt halten.
Und schon hörte Catrina die dazu passende Frage: „Ist da soeben ein Straßenjunge an dir vorbeigelaufen, etwa in deinem Alter?“
Catrina tat überrascht und vergaß vorübergehend sogar, weiter zu weinen, obwohl immer noch dicke Tränen über ihre Wangen kullerten.
„Nein, da war niemand. Es hat keiner mein Flehen erhört. Bitte, ihr werten Herrn, ich bin Catrina, die Tochter des Wollhändlers. Ich glaube, es ist nicht weit von hier, aber ich habe solche Angst und weiß nicht mehr, in welche Richtung ich gehen muss.“
Der eine vergaß wieder, dass er in der Gasse nachsehen wollte. Stirnrunzelnd sah er das Mädchen an.
„Es gibt hier in der Nähe nur einen einzigen Wollhändler. Und das ist dein Vater?“
„So ist es!“, bestätigte sie eifrig.
„Dann bist du hier tatsächlich falsch. Du musst hier einfach nur zurück und über die nächste Brücke gleich links abbiegen. Dann bist du schon fast da. Sicherlich findest du dich dort besser zurecht.“
„Oh, vielen Dank, ihr werten Herrn!“, rief sie erleichtert. „Und wenn ich den bösen Jungen sehe, den ihr verfolgt, schreie ich ganz laut um Hilfe. Ja, das werde ich tun!“
„Äh, gut so, Kleine!“, meinte der Wachmann irritiert, winkte seinem Kollegen zu, und schon rannten sie weiter.
Erst als sie nicht mehr zu sehen waren, ging Catrina in die Gasse zurück. Aber der Junge war nicht mehr zu sehen. Sie konnte ihn jedenfalls nicht finden. Also wandte sie sich ab und wollte sich jetzt endlich auf den Weg zurück machen, bevor ihre Eltern sich noch unnötig Sorgen machten ob ihrer Verspätung.
Doch da zupfte sie jemand am Ärmel. Sie wandte sich erschrocken herum und sah den Jungen wieder. Die Panik war aus seinen Augen verschwunden.
„Danke!“, sagte er.
„Nichts zu danken, aber an deiner Stelle würde ich jetzt tatsächlich weiterrennen, allerdings in eine andere Richtung.“
„Wollte ich ja, aber die Gasse endet dort hinten. Dort komme ich nicht weiter. Denn die Mauer ist viel zu hoch und zu glatt, um daran emporzuklettern.“
„Na, die beiden Wachmänner sind ja jetzt nicht mehr da. Ich gehe zurück in Richtung Elternhaus. Vielleicht wäre das auch die richtige Richtung für dich?“
„Nein, wäre es nicht. Man kann ihnen am besten entwischen, wenn man hinter ihnen bleibt.“
„Also, du willst sie jetzt deinerseits verfolgen?“, vergewisserte sie sich ungläubig.
Er lächelte listig.
„Das ist ja der Trick: Sie suchen vor sich, nicht hinter sich.“
Catrina musste darüber unwillkürlich lachen.
„Aber sage mal, wie heißt du denn eigentlich?“
„Ich bin Ricardo.“
„Hast du denn kein Zuhause?“
„Nein, habe ich nicht. Ich hatte noch nie Eltern. Jedenfalls keine, an die ich mich erinnern könnte.“
„Aber du weißt zu überleben, wie ich sehe.“
„Weil ich keine Wahl habe. Und noch einmal danke für deine Hilfe, Catrina.“
„Du weißt, wie ich heiße?“
„Nun, du hast denen ja deinen Namen verraten. Das habe ich gehört.“
Abermals musste sie lachen.
Er blinzelte sie schelmisch an und rannte weiter. Tatsächlich in dieselbe Richtung, in der seine Verfolger verschwunden waren.
So recht konnte Catrina immer noch nicht glauben, dass dies wirklich die richtige Strategie sein sollte. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und hatte die Begegnung mit Ricardo schon eine halbe Stunde später wieder vergessen.
Glaubte sie zumindest. Wie hätte sie denn auch nur ahnen können ... Aber niemand kennt wirklich die Zukunft. Catrina jedenfalls nicht. Obwohl das Schicksal schon längst bestimmt hatte, dass ausgerechnet Ricardo dereinst eine besondere Rolle in ihrem zukünftigen Leben spielen würde.
Noch war es aber längst nicht so weit. Sie war zu diesem Zeitpunkt erst zwölf Jahre alt und lebte noch in sehr behüteten Verhältnissen. Ganz anders als der arme Straßenjunge Ricardo. Ohne auch nur zu ahnen, dass ihr eigenes Glück nicht mehr von allzu langer Dauer sein würde ...