Читать книгу Hetzjagd im All - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 3
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Hetzjagd im All
Die Mega Killer-Romane in einem Band!
Die vorliegende Ausgabe folgt in der Aufteilung den Originalausgaben des Mohlberg-Verlages.
Band 1: Rache aus dem Cyber Space
Band 2: Die Zone der Gesetzlosen
Band 3: Fluchtpunkt Laika-System
Der Inhalt entspricht aber der vierbändigen eBook-Ausgabe bei CassiopeiaPress, mit Ausnahme des Bonus-Romans “Mega Killer reloaded”, der in dieser Fassung nicht enthalten ist.
© 2003 by Alfred Bekker
All rights reserved.
Ein CassiopeiaPress E-Book.
Ausgabejahr dieser Edition: 2013
www.AlfredBekker.de
Alfred Bekker
MEGA KILLER 1
Rache aus dem Cyberspace
1 . T e i l :
J Ä G E R
Ich bin Dak Morley.
Ich bin auch andere.
Ich bin viele.
Ich bin ein Schatten unter Schatten.
Ich bin niemand und jeder.
Der namenlose Träger vieler Namen.
Ich…
*
Ich warf mich zu Boden, rollte mich herum, während der Laserstrahl aus der Waffe meines Gegners dicht an mir vorbeizischte. Dort wo er aufkam, brannte er ein faustgroßes Loch in den Stein. Ein eigenartiger Geruch stieg mir in die Nase. Ich riß meinen Strahler hoch, feuerte und traf meinen Gegner mitten in die Brust -- sofern man das so bezeichnen mochte. Es handelte sich bei meinem Gegner nämlich um einen vierarmigen, etwa zwei Meter fünfzig großen Sampor, dessen Haut so hitzebeständig war, daß ich meinen Strahler auf die höchste Energiesstufe hatte einstellen müssen, um bei ihm überhaupt eine Wirkung zu erzielen. Ich brannte ihm ein Loch in das dunkelgrüne, tunikaartige Gewand, das er trug. Darunter kam die schuppig wirkende Haut (oder sollte man Panzer dazu sagen?) zum Vorschein. Die Energie meines Schusses schleuderte den Sampor gegen die grauweiße Wand einer nahen Ruine. Er rutschte zu Boden. In drei seiner vier prankenartigen Hände trug er Waffen. Einen Strahler, einen Nadler und eine Big-Bang-Gun genannte Pistole. Sie war in der Lage Explosionsgeschosse abzufeuern konnte, die ihr Ziel selbständig verfolgten.
Die Sampor standen im Ruf, die besten Soldaten der Galaxis zu sein. Sie waren aus genetischen Experimenten auf dem Planeten Cartax hervorgegangene Klone. Der zynische Geist, der das Patent ihres Gen-Musters besaß, mußte sich inzwischen daran dumm und dreckig verdient haben.
Ich verzog das Gesicht.
Wer hätte das gedacht, du kannst es sogar mit Sampor aufnehmen! ging es mir durch den Kopf.
Mein Gegner bewegte sich noch - trotz des daumendicken Lochs, daß ich ihm in seine Panzerhaut gebrannt hatte. Zwei seiner Waffenarme hingen schlapp herunter, schienen ihm nicht mehr zu gehorchen. Der Strahler war ihm entfallen. Eine weitere Pranke drückte er gegen die Stelle, an der ich ihn getroffen hatte. Sein schuppiges Gesicht war kaum mehr als eine Maske. Die Augen am Kopf wirkten starr. Es gab ein weiteres, geschlossenes Augenpaar am Hals, das zu einer zweiten Gehirnsektion im oberen Brustbereich gehörte. Diese zweite Gehirnsektion konnte im Fall eines Kopftreffers die Aufgaben des Haupthirns übernehmen.
Perfekte Söldner.
Wahrscheinlich hatte mein Treffer dieses Zweithirn zerstört oder zumindest stark in Mitleidenschaft gezogen.
Ich beschloß, auf Nummer sicher zu gehen, hob den Strahler und brannte meinem Gegner auch noch ein Loch in den Kopf. Genau zwischen die Augen.
Delete High Memory, so hätte das vielleicht ein antiker Meister der Programmierkunst in gleichermaßen schlichte wie wie ergreifende Prosa gebracht. Oder auch: Central Processor Unit Error. Ich habe ein Faible für ausgestorbene irdische Sprachen und dieses ganze uralte Zeug, daß man in antiken, schon halbentmagnetisierten Datenspeichern so finden kann.
Der Sampor zuckte noch einmal.
Seine letzte Bewegung.
Unglücklicherweise löste er damit einen Schuß der Big-Bang-Gun aus.
Das Geschoß war ziemlich langsam. Viel langsamer als es ein Projektil des Nadlers gewesen wäre, ganz zu schweigen vom Laserblitz des Strahlers. Aber gemessen an der Reaktionsfähigkeit eines Menschen war auch die Geschwindigkeit des Big-Bang-Geschosses noch rasend schnell.
Ich warf mich zur Seite. Eine Reflexreaktion, die man mir eintrainiert hatte. Eine Art posthypnotisches Programm, daß ich mir über den drahtlosen CyberSensor in meinem Nacken direkt ins Gehirn geladen hatte. Es war nicht das erste Mal, daß mir diese Konditionierung das Leben rettete. Man war einfach den Bruchteil einer Sekunde schneller.
Ich kam ziemlich hart mit der Schulter auf, das Projektil jagte an mir vorbei auf eine der unzähligen Ruinen zu, die diese trostlose Trümmerlandschaft prägten. Die Trümmer irgendeiner dieser alten Riesenstädte, die es in der Vergangenheit gegeben hatte. Old L.A., Old N.Y., Old London oder dergleichen mehr. Ich hatte es vergessen, welchen Namen DIESER Trümmerhaufen trug. Spielte auch keine Rolle. Das einzige, was in diesem Moment zählte war, daß ein paar Sampor mich töten wollten und ich es geschafft hatte, den ersten von ihnen zu erledigen.
Das Projektil bremste vor der Ruinenmauer ab.
Er verfügte über einen autonomen Antrieb und eine elektronische Gegnererfassung. Einfach ausgedrückt: Es jagte alles, was sich bewegte. Naja, etwas komplizierter war es schon. Jedenfalls war das Ding in der Lage mich zu erkennen und zu verfolgen wie ein Insekt.
Es beschleunigte, surrte mit einem unangenehmen Brummton in meine Richtung.
Mir blieb kaum mehr als ein Augenaufschlag.
Ich griff an meinen Gürtel und aktivierte den Magnet-Schocker.
Gerade noch rechtzeitig.
Das mikroelektronische Innenleben des Projektils wurde erheblich verwirrt. Genau dafür waren diese Magnet-Schocker auch gemacht, obwohl man jedem nur abraten kann, sich auf sie zu verlassen. Das Big-Bang-Projektil surrte an mir vorbei und ich betete.
Wenn es jetzt in die nächte Ruine hineinkrachte, nützte mir das überhaupt nichts. Die Explosion wäre gewaltig genug gewesen, um mich trotzdem in Stücke zu reißen. Ich hätte schon Sampor sein müssen, um eine Detonation jener Größenordnung aus dieser geringen Distanz überleben zu können. Und selbst ein Sampor hätte wahrscheinlich auf das Funktionieren seiner zweiten Hirnsektion vertrauen müssen.
Der Unterschied war nur, daß Sampor psychisch so konditioniert waren, daß ihnen der Tod nichts ausmachte.
Mir allerdings schon.
Ich war schließlich erst hundert Jahre alt, also in den besten Jahren.
Das Ding raste auf die Ruinenwand zu.
Eigentlich war der Magnet-Schocker so programmiert, daß er Geschosse wie das Big-Bang-Projektil auf eine ausreichende Distanz brachte.
Eigentlich...
Wie gesagt, man darf sich nicht darauf verlassen. Manchmal klappte das nicht. Ich zählte die Sekunden. Dann zog das Big-Bang-Projektil im letzten Moment nach oben, in einer schrägen Linie direkt in den aschgrauen Himmel hinein.
Einige Augenblicke lang geschah gar nichts. Dann hörte ich die Detonation. In den Wänden der umliegenden Ruinen entstanden Risse. Hier und da bröckelten Steine aus dem Mauerwerk. Betonbrocken lösten sich, brachen herunter. Ich taumelte durch diese Erdbebenlandschaft, atmete auf und deaktivierte den Magnet-Schocker.
Dann überprüfte ich die Justierung meines Strahlers. Wenn ich Pech hatte, machte sich die Wirkung des Schockers auch dort bemerkbar. Se etwas kam immer wieder vor, auch wenn die Herstellerhinweise vorgaben, das mit angeblich über 99prozentiger Sicherheit ausschließen zu können.
Ich entfernte mich vom Ort der Detonation. Schließlich wollte ich keine giftigen Rückstände mitbekommen. Dann überquerte ich eine breite Straße, die sich wie eine Schneise durch die Ruinenlandschaft zog. Irgendwo in der Ferne waren Trommeln zu hören.
Ich grinste unwillkürlich.
Ja, die Trommeln...
Die hatten eigentlich auch noch gefehlt zur typischen akkustischen Kulisse eines OutlawSector oder kurz OS. Bewaffnete Gangs in martialisch wirkender Kleidung, die sich um eine Feuerstelle herum gruppierten, im Hintergrund der dumpfte Klang der Trommeln. Manchmal hatte ich den Eindruck, daß sich bei den Angehörigen dieser Gangs die Muster altirdischer Stammesgesellschaften wieder durchgesetzt hatten.
Aber das war ein Zusammenhang, der wohl nur denen auffiel, die sich etwas intensiver mit der Vergangenheit dieses Planeten befaßt hatten. Auf mich traf das zu. Es war eine Art Hobby.
Ich befand mich in der Mitte der Straße und fragte mich einen Sekundenbruchteil lang, ob ich vielleicht in die falsche Richtung ging - den trommelnden OS-Bewohnern direkt in die Arme. Und die gingen nicht unbedingt zimperlich mit denjenigen um, die sich in ihre Gebiete verirrten. Ins OutlawLand. Andererseits waren sie sicherlich angenehmere Gegner als die beiden Sampor, die hier noch irgendwo in den Trümmern herumstrichen und auf der Jagd nach mir waren.
Ich hatte die andere Seite schon fast erreicht, wollte mich in einem verfallenen Hochhaus in Deckung begeben, da nahm ich an einem der glaslosen Fenster im Erdgeschoß dieses monströsen Betonskeletts eine Bewegung wahr.
Ein kurzer Moment der Erstarrung folgte.
Eine Art Lähmphase, gemeinhin auch Schrecksekunde genannt, die meine Konditionierung zwar reduzieren aber nicht völlig aus der Welt schaffen konnte. Ich war ein Mensch. Was immer das im fünfundreißigsten Jahrhundert auch sein mochte. Ein Mensch mit allen Nachteilen seiner Gattung. (Und die Sampor? dachte ich in irgendeinem hinteren Winkel meines Bewußtseins. Du teilst mehr als 99 Prozent deiner Gene mit ihnen...)
"Verdammt, irgendwie habe ich keine Lust mehr auf den Mist!" sagte ich laut.
ETWAS kam aus dem Fenster herausgesprungen. Die Gestalt eines Sampor. Er rollte sich auf dem Boden ab, riß seine Waffen empor und feuerte dann gleichzeitig mit Strahler, Nadler und Big-Bang-Gun auf mich.
Ich verzichtete darauf, den Schocker zu aktivieren oder meinen Strahler abzufeuern.
Warum auch?
Ich stand einfach da und ließ mich erschießen, denn ich wußte, daß es dann am schnellsten vorbei war.
Zuerst traf mich der punktgenaue Laserstrahl. Zischend brannte er mir ein Loch in die Herzgegend, den Aufprall des Nadelgeschosses bekam ich überhaupt nicht mehr mit. Daß der Sampor danebengeschossen hatte, konnte ich allerdings kaum annehmen. Und dann folgte das Big-Bang-Projektil.
Die Explosion war verdammt grell.
Ich schloß die Augen, aber das nützte nichts. Eine sinnlose Reflexreaktion, denn die Daten dieses interaktiven Spiels wurden über den drahtlose CyberSensor in meinem Nacken direkt auf meine Sinnesnerven übertragen. Nichteinmal eine Netzhautentfernung hätte mir diesen grellen Blitz ersparen können.
Mein Cyber-Ich wurde in dieser furchtbaren Detonation förmlich zerrissen. Ich konnte die Hitze spüren, den Druck. Es war sehr realistisch.
Ich konnte das beurteilen, schließlich hatte ich auch in der corporalen Realität (der Begriff 'corporal' war irgendwann im 22. Jahrhundert als Gegenbegriff zur sogenannten 'virtuellen' Realität entstanden) schon in ähnlichen Situationen gesteckt. Ich hatte sogar bereits gegen coroporale - körperlich existierende - Sampor gekämpft und überlebt.
Ihre virtuellen Counterparts waren vielleicht sogar noch etwas cleverer als ihre corporalen Vorbilder.
>Das Programm endete mit Ihrem virtuellen Tod, Benutzer Dak Morley>, klärte mich eine Cyberstimme auf. Es war keine echte Stimme, nichts was jemand außer mir hätte hören können. Genau genommen handelte es sich lediglich um eine Impulsfolge mit der meine Hörnerven stimuliert wurden, wodurch ich in der Illusion lebte, diese Stimme zu hören. (Illusion? dachte ich. Du denkst immer mehr in den Denkmustern deiner Vorfahren, mit deren Geschichte du dich so gerne beschäftigst. Sonst würdest du dieses Wort nicht benutzen. Du würdest statt dessen corporale und virtuelle Realität als gleichwertige Ebenen in gegenseitiger Abhängigkeit betrachten. Der Begriff Illusion beinhaltet eine Wertung... Eines Tages wirst du auf das Denk- Niveau der OS-Bewohner hinabsinken, die jegliche Cyber- Technik für Teufelszeug halten!)
>Möglicherweise sollten Sie bei einer nochmaligen Verwendung des Programms MEGA KILLER darauf achten, ein niedrigeres Anspruchs- und Reaktionslevel auszuwählen>, riet mir die Cyberstimme. >Benutzer Dak Morley, wollen Sie jetzt die Optionen für eine zukünftige Benutzung des MEGA KILLER definieren?>
"Ich möchte das Programm deaktivieren", sagte ich laut. Ein entsprechender Gedankenimpuls hätte genügt, aber irgendwie fühlte ich mich etwas müde und es fiel mir leichter, mich zu konzentrieren, wenn ich laut sprach.
>Deaktivierungssequenz wird eingeleitet, Benutzer Dak Morley. Möchten Sie, daß eine persönliche Version des Programms MEGA KILLER mit allen persönlichen Features für Sie in den Zentralspeichern des GalaxyNet gespeichert und ständig über den Code ihres persönlichen CyberSensor abrufbar sein wird?>
>Nein. Löschen>, erwiderte ich in Gedanken und wiederholte es gleich darauf noch einmal laut: "Löschen."
"Hat Ihnen das Programm MEGA KILLER nicht gefallen, Benutzer Dak Morley? Wenn Sie Kritik oder Anregungen haben, so geben Sie diese bitte in den GalaxyNet-Zugang ihres Mentalspeichers ein."
"Ich habe nichts auszusetzen."
Diese Abfragerei während der Deaktivierungssequenz von Spielprogrammen war ziemlich nervig. Und man mußte außerdem noch höllisch aufpassen, daß die Hersteller oder Vertreiber einem nicht an den Systemeinstellungen des CyberSensor herummanipulierten. Bei unseriösen Anbietern konnte es schonmal vorkommen, daß man dann völlig unerwartet (und natürlich in den ungünstigsten Momenten) Werbeeinblendungen auf die Netzhaut projiziert bekam.
Ich hatte meine Tricks, um die Abfrage-Prozedur abzukürzen. Über den GalaxyNet-Zugang meines Mentalspeichers gab ich eine entsprechende codierte Sequenz ein. Es handelte sich um eine Art Datenvirus, der über das Hyperfunknetz von Iplan (der Föderation der INneren PLANeten) den Zentralrechner des Vertreibers aufspürte und dafür sorgte, daß alle meine Daten aus dessen System verschwanden, so als hätte es den BENUTZER DAK MORLEY nie gegeben.
Auf diese Weise brauchte ich für den Gebrauch eines Spielprogramms wie dem MEGA KILLER noch nicht einmal zu bezahlen.
Ich befand mich in meiner Wohnung in Barcana, einer aus dem Meer hervorragenden ultramodernen Turmstadt. Eine bevorzugte Wohngegend, so konnte man selbst ein kleines Appartment in Barcana nennen. Ich hatte eine große Suite mit angrenzenden Büroräumen. Ich hasse nichts mehr als Enge. Man muß sich in den eigenen vier Wänden bewegen können. Man sollte diese Wände sogar verschwinden lassen können, wenn einem danach ist.
Mir war danach.
In der Sichtanzeige in meinem linken Auge verblaßte gerade das Logo der Herstellerfirma des MEGA KILLER. Über meinen CyberSensor stellte ich Verbindung zum Wohnungsrechner her. Die Wand, die sich etwa fünf Meter von mir entfernt befand, schien sich aufzulösen, wurde transparent und einen Augenblick später hatte ich eine fantastische Aussicht auf das Meer, daß irgendein antiker Namensgeber das MITTELMEER genannt hatte, weil es gewissermaßen den Mittelpunkt der damals bekannten Welt dargestellt hatte.
Die Küste lag im Nebel.
Von Barcana aus - zumindest, wenn man nicht gerade in den untersten, deutlich preiswerteren Stockwerken wohnte - konnte man bei besserem Wetter bis zu den Ruinen von Alt-Barcelona hinübersehen. In antiker Zeit war Alt-B, wie man den Steinhaufen auch nannte, angeblich eine blühende Stadt gewesen. Ich halte das für ein Gerücht. Genauso wie die Behauptung, daß es bis ins dreiundzwanzigste Jahrhundert dort einen Schiffshafen gegeben hat. Aber ich bin ja auch nicht mehr als ein Amateurhistoriker.
Jetzt gehörten die Ruinen von Alt-B jedenfalls zu einem OS --- einem OutlawSector. Wenn man die akkustischen Sensoren, die auch das Meeresrauschen ins Innere der Wohnung übertragen konnten, auf das höchste Level einstellte und außerdem genügend Filter aktivierte, dann konnte man sogar die Trommeln der OS-Leute hören...
Für sie gab es kein GalaxyNet, keine Cyberspiele, keine galaxisweite Vernetzung mit allem und jedem --- zumindest im Bereich von Iplan. Was die Rand-Föderation, die Äußeren Kolonien oder die Autonomen Welten anging, war das zum Teil ja etwas schwieriger. Aber das GalaxyNet breitete sich immer weiter aus. Es wuchs wie ein Spinnennetz aus Hyperfunklinien und Transmitterstraßen. Jedes Raumschiff, daß weiter in unbekannte Gebiete vordrang, gehörte dazu, war über dieses Netz mit den zivilisatorischen Zentren der Menschheit verbunden.
"Ich sehe, du bist endlich fertig mit deinem Baller-Spiel", hörte ich eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich langsam um und sah die grazile Gestalt einer jungen Frau. Sie trug das Haar offen. Es reichte ihr bis weit über die Schultern. Ein beinahe knielanges Gewand aus einem fließenden Stoff schmiegte sich an ihren Körper. Sie lief barfuß, lächelte.
Ich erwiderte ihr Lächeln.
"Ich verstehe nicht, was dir das gibt", meinte sie.
"Man bleibt im Training."
"Ach, Quatsch!"
"Nein, es ist wirklich so."
Sie näherte sich lautlos, berührte mich leicht am Unterarm. Ihre wohlgerundeten Brüste hoben und senkten sich, während sie atmete und drückten sich dabei gegen den Stoff ihres Gewandes.
Sie war die Frau, mit der ich seit fast zwei Jahren zusammenlebte.
Sorana Zanuck, 32 Jahre alt, was bedeutete, daß sie nicht einmal ein Drittel meines Alters hatte. Durch meine Beschäftigung mit der grauen Vorzeit des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts wußte ich, daß es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der so etwas von Bedeutung gewesen war. Das allgemeine Gen-Tuning hatte den Tod, das Alter und den Verfall zwar nicht abgeschafft, aber es war gelungen, diese Dinge erheblich weiter hinauszuschieben, als daß unseren kurzlebigen Vorfahren vergönnt gewesen ist.
Ich strich über Soranas seidiges Haar.
"Wie hieß das Programm, daß du dir auf die Netzhaut gedröhnt hast?" fragte sie.
"Nicht auf die Netzhaut. Auf die Sehnerven."
"Ist doch egal, oder?"
"Netzhautübertragungen haben nicht die nötige Qualität, die taugen nur für Kontrollanzeigen und Info-Programme."
Sie stubste mich leicht. "Du willst mich ärgern, was?"
"Necken."
"Wie auch immer." Sie sah mich an, wirkte nachdenklich. Ein Gesichtsausdruck, den ich nur zu gut bei ihr kannte. "Manchmal denke ich, daß du eines Tages genauso spurlos verschwindest wie eine dieser GalaxyNet-Applikationen und mir die Cyber-Stimme in die Hörnerven flüstert: 'Benutzerin Sorana Zanuck, die Anwendung DAK MORLEY mußte aufgrund eines fehlerhaften Zugriffs geschlossen werden...' und du dich einfach in Luft auflöst."
"Ich bin aus Fleisch und Blut. Beziehungsweise aus DNA und Wasser."
Es sollte ein Witz sein.
Sie lachte nicht.
"Du bist hier vor zwei Jahren so plötzlich aufgetaucht, Dak. Wie aus dem Nichts. Und wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich immer noch kaum etwas über dich - außer, daß du eine Sammlung halborganischer Fingerkuppen besitzt, um Finger- Print-Scanner zu betrügen, wenn du in einer anderen Identität unterwegs bist."
Ich hob die Augenbrauen.
"Willst du mich jetzt über meine Vergangenheit ausfragen?"
Ihre Hand glitt die Struktruren meiner Kombination entlang.
"Nein, ich weiß, daß das keinen Zweck hat. Du bist ein Phantom."
"Hängt mit meinem Job zusammen."
"Das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit..."
Ich legte den Arm um sie. Unsere Lippen berührten sich flüchtig.
Ein mildes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. "Ein Ablenkungsamanöver", stellte sie fest.
"Das bildest du dir ein."
"Nein, ich glaube nicht. Ich kann nämlich deine Gedanken lesen, Dak Morley - oder wie immer du wirklich heißen magst."
"Was du nicht sagst..."
"Ja - und zwar ganz ohne telepathische Psi-Begabung wie bei den pflanzlichen Intelligenzen von Gataran!"
"Ich habe den Namen schonmal gehört..."
"Bestimmt von mir." Sie schlang ihre Arme um meinen Hals. "Ist eine Iplan-Welt. Wir schicken von unserem Reisebüro aus regelmäßig Psychotouristen dorthin, damit sie auf Gataran an Encounter-Gruppen teilnehmen können. Manche Unternehmen schicken ihre kompletten Belegschaften kostenlos zu diesen Psychohygiene-Kursen."
"Die Begegnung mit sich selbst - auf dem Umweg über eine telepathisch begabte Pflanzenintelligenz."
Sie strich mir über die Stirn, fuhr mit ihren Fingern die Schläfe, dann das Kinn entlang und landete schließlich auf meiner Schulter.
Ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. Ein Lächeln, so einzigartig wie sonst kaum etwas im Universum. Meine persönliche Sonne, um die im Augenblick das ansonsten etwas instabile System meines privaten Glücks kreiste.
"Manche Leute brauchen diese Art Umwege, um sich selbst zu erkennen, Dak."
"Manche Leute können halt nicht genug davon bekommen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, Sorana."
"Manche Leute sagen so etwas nur, weil sie in Wahrheit eine Heidenangst davor haben, sich einem anderen Menschen wirklich zu öffnen."
Ein kurzes Signal zeigte mir an, daß Sorana offenbar durch einen Impuls ihres CyberSensor das Antigravfeld aktiviert hatte. Es füllte etwa sechs Quadratmeter dieses Raums aus und flimmerte in verschiedenen Farben. Eine rein optische Markierung, die Unfälle durch ein versehentliches Hineintreten verhindern sollte. Sie zog mich mit sich. "Komm", sagte sie. "Ich muß für zwei Tage weg und werde furchtbar Sehnsucht nach dir haben."
"Wohin geht's denn?"
"Tywyn. Ich treffe mich da mit einem unserer Lizenznehmer, mit dem es Ärger gibt..."
"Kann man so etwas nicht durch eine virtuelle Reise regeln?"
"Ich möchte verhindern, daß meinem Cyber-Ich irgendwelcher Mist vorgegaukelt wird."
"Verstehe..."
Wir sanken auf das Antigravfeld, schwebten dann im nächsten Augenblick engumschlungen in dem farbigen Geflimmer. Vielleicht war das eine der stärksten Gemeinsamkeiten zwischen uns: Wir teilten die in den Augen mancher Leute schon altmodisch erscheinende Vorliebe für corporalen Sex.
*
Als ich am nächsten Tag erwachte, war Sorana schon nicht mehr da. Sie hatte mir eine Nachricht hinterlassen, die mir über den CyberSensor eingespielt wurde. Ich ließ sie mir auf der Netzhaut des linken Auges anzeigen, während ich zum Duschen ging.
Sorana vermißte ich jetzt schon. Irgendwie herrschte in der Wohnung ein anderes Fluidum, wenn sie auch dort war. Selbst wenn wir uns gar nicht die ganze Zeit miteinander beschäftigten.
Noch ein paar Wochen und du bist 100 Jahre alt, ging es mir durch den Kopf. Ein Mann in den besten Jahren, so sagt man. Kein besonderes Ereignis, aber Zahlen haben ihre eigene Magie. Ich kenne einige, für die das Erreichen eines dreistelligen Alters ein erster Anlaß war, zurückzublicken, in gewisser Weise Bilanz zu ziehen. Was habe ich erreicht, was soll die Zukunft bringen?
Ich hatte die letzten Jahrzehnte dazu genutzt, einen bescheidenen Wohlstand zu erreichen. Die Wege, auf denen mir das gelungen war, waren nicht unbedingt immer gerade gewesen. Als Söldner, Geheimagent und Industriespion hatte ich oft genug meinen Kopf hingehalten. Jetzt wollte ich etwas kürzer treten. Privatagent, so nannte ich meinen Beruf. Ich führte hin und wieder noch Spezialaufträge aus. Mal waren es Ermittlungstätigkeiten, mal Industriespionage. Letzteres wurde nach wie vor am besten bezahlt, auch wenn es das höchste Risiko beinhaltete. Klar, daß sich jemand mit meinem Lebenslauf eine Menge Feinde gemacht hatte. Mächtige Feinde, die sich nicht scheuten, einem ihre Killermeute auf den Hals zu hetzen. Schon deswegen war ich immer wieder gezwungen gewesen, meine Identität zu wechseln. Auch jetzt war ich jederzeit darauf vorbereitet. Ein paar Handgriffe und ich war ein ganz anderer, hatte die dazugehörigen halborganischen Fingerkuppen und Bio-Kontaktlinsen, die jeden Iris-Scanner in die Irre führen konnten. In unserem gesegneten 35.Jahrhundert konnte man sich kaum einen Schritt bewegen, ohne sich auf irgendeine Art identifizieren zu müssen. Alles war codiert, Signale des CyberSensor wurden mit den gescannten Fingerprints oder Iris-Diagrammen abgeglichen und wehe etwas paßte da nicht zusammen.
Ich ging in mein Büro und aktivierte die Fensterwand, bevor ich mich in einen der Ledersessel flezte. Mein Blick streifte über die fernen Ruinen von Alt-B. Ein Turm ragte hoch empor. Ich hatte mich immer schon gefragt, ob das vielleicht ein Überbleibsel von LA SAGRADA FAMILIA war, einer Kathedrale, die ein antiker Architekt mit dem Namen Antonio Gaudi einst geschaffen hatte.
Möglich wäre es, überlegte ich. Aber man hätte an Ort und Stelle genauere Untersuchungen anstellen müssen. Dann wäre es eine Kleinigkeit gewesen, das genau festzustellen. Aber es gab niemanden, der sich zur Zeit nach Alt-B traute. Davon mal abgesehen war die frühterranische Archäologie und Geschichte ohnehin ein Stiefkind der Wissenschaft. Wer Karriere machen wollte, suchte sich andere Gebiete, um sich gegenüber der Konkurrenz hervortun zu können. Wen interessierten schon diese alten Steinhaufen, von denen die Erde nur so übersäet war? Das Leben auf dem Festland war in den letzten dreihundert Jahren immer unmoderner geworden. Und gegen diesen Trend war wohl kein Kraut gewachsen.
In gewisser Weise sind sie zu beneiden, diese Leute aus dem OutlawSector, ging es mir durch den Kopf. Bei ihnen gab es jedenfalls all diese Identitätskontrollen nicht. Die wildesten Geschichten waren über die OS-Leute in Umlauf. Das meiste davon stimmte noch nicht einmal im Ansatz. Ich selbst war bereits in einer diese OutlawSectors gewesen. In Old L.A.. Ich hatte ein paar gute Bekannte dort, bei denen ich eine Weile verbracht hatte. Das war bereits ein paar Jahre her gewesen. Ich hatte von einem Augenblick zum anderen verschwinden müsen, weil ich dem Boss eines mächtigen Kartells bei meinen Ermittlungen zu sehr auf die Füße getreten war und zusätzlich noch dafür gesorgt hatte, daß ein milliardenschweres Patent an die Konkurrenz ging.
Ich drehte mich in dem Ledersessel herum. Es handelte sich um ein Stück, daß antiken Vorbildern nachempfunden war. Auf Alpha Centauri 2 gab es einen Hersteller, der sich auf Mobiliar aus der irdischen Prä-Weltraum-Ära spezialisiert hatte. Ein paar Augenblicke lang überlegte ich, ob ich mir einen alten Kino-Film aus dem zwanzigsten oder 21. Jahrhundert ansehen sollte. Natürlich in der primitiven 2-D-Originalfassung, wie es sich für einen echten Antik-Freak gehörte. Ich hatte mir dafür eine Original-Leinwand in die Wohnung geholt. Aber dann stand mir der Sinn doch mehr nach einem Gleiter-Rundflug über die weitgehend unbesiedelte iberische Halbinsel.
Zu meiner Wohnung gehörte neben einer eigenen Transmitter-Station auch ein separater Gleiter-Hangar mit mehreren Fahrzeugen für unterschiedliche Zwecke.
Ich durchschritt den Schott, der den Hangar vom Rest meiner Residenz trennte.
Die Schiebetür teilte sich, ich machte einen Schritt. Irgend etwas warnte mich. Eine Art unterbewußter Instinkt für Gefahr. Vielleicht war es auch die Bewegung, die ich aus den Augenwinkeln herum wahrnahm. Und das eigenartige Geräusch. Hier stimmte etwas nicht. Die beiden Hälften des Schiebeschotts rasten auf mich zu. Ich warf mich nach vorn, während die beiden Hälften mit einem krachenden Laut gegeneinanderstießen. Dies geschah mit einer geradezu mörderischen Heftigkeit.
Ich hatte mich einigermaßen auf dem Boden abrollen können und rappelte mich wieder auf.
"Systemkontrolle", forderte ich. Mein CyberSensor würde den Wohnungsrechner ansteuern und nach Fehlfunktionen im Programmbereich untersuchen.
Es hatte nicht viel gefehlt und die Tür wäre zu einer Todesfalle für mich geworden. Fehlfunktionen kamen vor - aber andererseits...
Sie waren extrem selten. Vor allem in einer ziemlich perfekt organisierten Stadt mit erhöhtem Komfortniveau wie Barcana.
Ich atmete tief durch, registrierte dabei die Anzeige, die mir in dieser Sekunde im linken Auge angezeigt wurde und mich über den Fortschritt der Überprüfung informierte.
>Es wurde eine Störung im Programsektor WACMXXX festgestellt.>
"Bitte genauer identifizieren."
>Genaure Identifizierung bislang nicht möglich>, erklärte mir die Pseudostimme in meinen Hörnerv hinein. >Fehler beheben und Untersuchung der Ursache fortsetzen?>
"Ja."
>Sie befinden sich im Gleiter-Hangar. Von einer Benutzung der Gleiter wird abgeraten, so lange der aufgetretene Fehler nicht behoben ist.>
"In Ordnung. Aber vielleicht könntest du dafür sorgen, daß der Schott wieder passierbar ist. Ich bin hier ja gewissermaßen gefangen", erwiderte ich. Und dabei fiel mir ein, daß ich soeben ein Computerprogramm mit 'du' angeredet hatte. Wie eine Person, obwohl es sich eigentlich um nichts weiter als eine Folge codierter Befehle handelte. Es gab Leute, die ihren Systemen Namen gaben. Ich gehörte nicht dazu.
Irgendwie ist deine Haltung nicht ganz konsequent, meldete sich eine sarkastische Stimme in mir. Wer der Meinung ist, daß es zwischen Maschinen und biologischen Lebewesen eine natürliche Grenze gibt, sollte nicht mit einem CyberSensor im Nacken herumlaufen...
Das SYSTEM meldete sich einige Augenblicke lang nicht.
Niemand kitzelte meine Hörnerven.
Auch auf dem Anzeigenfeld in meinem linken Auge tat sich nichts.
Mir war nicht klar, ob ich das für ein gutes oder ein schlechtes Zeichen halten sollte.
Dann öffnete sich plötzlich der Schott.
Er ruckelte eigenartig dabei und blieb dann schließlich offen.
>Sie können passieren. Der Fehler ist behoben.>
"Und das Analyseergebnis?"
>Noch unklar. Wollen Sie die Protokolle angezeigt haben?>
"Später."
Ich passierte den Schott mit einem schnellen Schritt. Die beiden Hälften bewegten sich nicht dabei, was ich für ein gutes Zeichen hielt.
Ich ging zurück ins Büro und aktivierte eine der alten 2-D-Fassungen von THE MALTESE FALCON, einem uralten Film aus dem zwanzigsten Jahrhundert, bei dem sich die Experten darüber stritten, ob er nun aus künstlerischen Gründen in Schwarzweiß gedreht worden war oder nur deswegen, weil der Aufwand an finanziellen Resourcen für einen Farbfilm zu groß gewesen wäre. Denn daß der Farbfilm um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bereits erfunden gewesen war, das galt als allgemeine Lehrmeinung der Historiker. Aber vielleicht hatten ja auch die Außenseiterpositionen recht, die behaupteten, daß man den Farbfilm erst im einundzwanzigsten Jahrhundert erfunden hatte und alles, was an archäologischen Gegenbeweisen die Jahrtausende in irgendwelchen Datenspeichern überdauert hatte, in Wahrheit nachträglich koloriert worden war.
Ich blickte auf die Leinwand und verfolgte die Geschichte um den zwielichtigen Detektiv Sam Spade, die noch zwielichtigere Bridgid O'Shaughnessy und einen komischen angemalten Vogel, der für alle Beteiligten von unschätzbarem Wert war. Angeblich war der Film gar nicht die erste Fassung dieses Stoffes. Es sollte ein Roman von einem gewissen Dashiell Hammett existiert haben, der der Verfilmung zu Grunde gelegen hatte. Aber das war kaum mehr als eine Legende, für die es bislang nicht den Hauch eines Beweises gab.
Das SYSTEM meldete sich über die Anzeige in meinem linken Auge.
So wie ich gerade saß und auf die Leinwand sah, überdeckte die Meldung des Systems den Hut von Sam Spade.
>Sämtliche Fehlfunktionen sind behoben. Ursache der Störung war ein eingeschleustes reproduktionsfähiges Fremdprogramm.>
"Ein Virus...", murmelte ich.
>Die fremden Programmkomponenten konnten sämtlich entfernt werden. Mit weiteren Fehlfunktionen ist nicht zu rechnen. Alle Programme arbeiten wieder einwandfrei.>
"Gut", nickte ich zufrieden.
Währenddessen sah ich auf dem gewohnt wackeligen Bild auf der Leinwand ein paar Schlieren. Aber die hatten nichts mit irgendwelchen Systemfehlern oder Viren zu tun. Diese Schlieren machten den Reiz des alten 2-D-Materials aus und zeigen an, daß es sich nicht um eine Fake-Datei handelte, wie man sie manchmal als preiswerte Sonderangebote in GalaxyNet-Flohmärkten angeboten bekam.
Ich saß da, grübelte etwas darüber nach, wieso man in den zweieinhalb Jahrtausenden seit Erfindung des Computers kein wirksames Mittel gegen Viren erfunden hatte, dachte an Sorana und die vergangene Nacht und fragte mich, ob ich mein Leben in Zukunft einfach so weiter laufen lassen sollte wie bisher oder ob es nicht an der Zeit war, etwas zu ändern. Eine ziemlich bunte Mischung von Gedanken und Empfindungen, die sich da gegenseitig überlagerten, dazwischen die federnden Dialoge aus THE MALTESE FALCON, die großen Augen von Joel Cairo, der von einem Mann namens Peter Lorre gespielt worden war; dazu das dicke feiste Gesicht von jemandem, der sich Gutman nannte und die grauen Eminenz im Hintergrund darstellte.
Irgendwann meldete mir meine Sichtanzeige im linken Auge Besuch. Die Buchstaben verdeckten Humphrey Bogarts alias Sam Spades V-förmiges Gesicht.
Ein gewisser Palmon Jarvus aus New Manhattan wollte mich sprechen.
Persönlich und...
...corporal!
Ich gab ihm die Erlaubnis, mein Transmitterportal anzusteuern und deaktivierte THE MALTESE FALCON.
Wenn jemand mich in meinem Büro aufsuchen - und nicht nur über Bildschirm, Holoprojektion oder im Cyberspace mit mir sprechen wollte - dann mußte es um etwas sehr wichtiges gehen. Bei den Klienten, die meine Dienste suchten, war das durchaus keine Seltenheit. Die meisten wollten absolute Diskretion, so weit die überhaupt zu gewährleisten war. Sie wollten verhindern, daß irgenwelche Datenströme unterwegs von interessierter Seite herausgefiltert wurden.
Auf einer der Wände ließ ich mir das Transmitterportal meiner Wohnung anzeigen. Konturen bildeten sich. Ein hagerer Mann mit deutlich hervortretenden Wangenknochen materialisierte und trat aus dem Flimmerlicht des Transmitters heraus.
>Der Ankömmling ist unbewaffnet>, meldete mir das SYSTEM.
"Er soll hereinkommen."
Augenblicke später trat Palmon Jarvus aus New Manhattan ein.
"Schön, daß Sie Zeit für mich haben, Morley!", erklärte er.
Ich deutete auf einen der Ledersessel.
"Bitte, nehmen Sie Platz, Jarvus!"
"Danke."
Er setzte sich und schlug die Beine übereinander. Sein Gesicht wirkte angespannt. Er tickte nervös mit den Fingern auf der Armlehne herum.
"Es muß einen wichtigen Grund dafür geben, daß es Ihnen nicht genügt, meinem Cyber-Ich zu begegnen", stellte ich fest.
"Ja, das ist wahr", sagte er. "Sie sind jemand, der auch heikle Aufträge zuverlässig ausführt..."
"Darf ich fragen, wer Ihnen meine Adresse gegeben hat?"
"Um ehrlich zu sein: Ich habe sie mir selbst beschafft."
"Ach..."
"Ich bin Management-Mitarbeiter der Firma GADRAM. Sie erinnern sich vielleicht. Vor etwa einem Jahr haben Sie für GADRAM ein sehr schwerwiegendes Problem -- wie soll ich mich da ausdrücken? -- gelöst."
"Ich erinnere mich. Aber eigentlich hatte ich mit GARDRAM abgemacht, daß außer meinem Kontaktmann niemand etwas von mir erfährt."
"Das ist auch nicht geschehen."
"Offenbar sind meine Daten aber immer noch in den GADRAM-Speichern abrufbar."
"Nur in geheimen Speicherbereichen."
"Auch das entsprach nicht den Abmachungen."
"Ich bedaure, aber dafür bin ich nicht verantwortlich."
"Mag sein. Aber es ist trotzdem ärgerlich. Und besonders geheim scheinen die erwähnten Speicherbereiche ja auch nicht zu sein -- schließlich sind Sie an die entsprechenden Informationen ja problemlos herangekommen."
Jarvus lächelte dünn. "Problemlos nicht, aber mit gewissen Tricks. Und mit gewissen Tricks könnte ich auch dafür sorgen, daß Ihr Datenmaterial völlig aus den GADRAM-Speichern verschwindet."
"Ah, daher weht also der Wind!"
"Nein, Sie mißverstehen mich. Ich will Sie nicht erpressen, Morley! Ganz bstimmt nicht. Ich biete Ihnen lediglich meine Hilfe an. Das ist alles. Für die Erfüllung Ihres Auftrages werdem Sie von mir gut bezahlt."
"Was bedeutet 'gut'?"
"Sie bekommen 200 000 Galax."
Ich hob die Augenbrauen.
Das war wirklich ein sehr beachtliches Honorar, mehr als ich damals bekommen hatte, als ich für GADRAM ein Verfahren des Konkurrenzunternehmens BARETTO zur Optimierung von CyberSensoren gestohlen hatte und dabei um ein Haar vom Security Service umgebracht worden war.
Ich konnte nur dafür beten, daß BARETTO niemals meine Identität herausbekam.
In dem Fall war ich so gut wie tot.
Leider hatten BARETTO und GADRAM ihre Zentralen gegenseitig mit Spionen durchsetzt, so daß ich befürchten mußte, daß BA- RETTO doch irgendwann in den Besitz meiner Daten gelangte, mochten die Sektoren in den GADRAM-Rechnern, in denen sie gespeichert waren, auch noch so geheim sein. Es war nur eine Frage der Zeit.
Diee verdammten Hunde! durchzuckte es mich. Ich hätte es wissen müssen, daß sie eine krumme Tour versuchten!
Jarvus sprach es nicht aus, aber ich zweifelte keine Sekunde daran, daß ihm meine Zwangslage vollkommen bewußt war. Um ganz sicher zu gehen, daß sie MIR bewußt war, hatte er mich noch einmal sehr nachdrücklich darauf hingewiesen.
Vielleicht war er es sogar, der seinerzeit die endgültige Löschung ALLER Daten, die mit der Aktion in Zusammenhang standen, verhindert hat, überlegte ich. Die Möglichkeit dazu hätte er vermutlich gehabt.
Er erhob mich aus meinem Sessel, lehnte mich mit der Hüfte gegen eine Konsole und verschränkte die Arme.
Es war sinnlos, darüber nachzugrübeln. Ich war in seiner Hand, je gründlicher ich mir das eingestand, desto besser. Und offensichtlich war Jarvus daran gelegen, mir tatsächlich eine goldene Brücke zu bauen. 200 000 Galax. Das war wirklich außergewöhnlich.
"Worin besteht der Auftrag?" fragte ich.
"Es geht um eine rein private Sache."
"Es hat nichts mit GADRAM oder BARETTO zu tun?"
"Nein."
Um so besser, dachte ich.
"Schießen Sie los."
"Wie bitte?"
"Oh, Sorry, eine alte Redewendung wie sie in antiken 2-D-Filmen manchmal verwendet wird."
"Ach so. Wie man hört, ist das alte Zeug ja wieder mächtig populär geworden."
"Nur innerhalb einer kleinen Szene von Freaks", korrigierte ich etwas ungeduldig. Ich hatte nämlich nicht die geringste Lust, mit meinem Gegenüber weiter Smalltalk zu führen. Jarvus hingegen zögerte noch, mir seine Karten auf den Tisch zu legen. Er schien Zeit gewinnen zu wollen, um sich letztendlich zu entscheiden, in wie weit er mir vertrauen wollte.
Du sitzt genau so in der Falle wie ich! ging es mir durch den Kopf, während ich Jarvus' Gesichtsausdruck studierte. Was würdest du tun, wenn ich mich aus der Sache einfach raushalten, meine Sachen packen und untertauchen würde? Wahrscheinlich hast du keine Ahnung, wie schnell das geht...
Ich war jederzeit darauf vorbereitet.
Allerdings gefiel mir der Gedanke nicht.
Schon Soranas wegen. Ich hing sehr an ihr und vermutlich hätte das eine Trennung bedeutet. Zumindest für eine Weile.
"Haben Sie schonmal etwas von der Kirche des reinen Lichts gehört?" fragte er.
Ich zuckte die Achseln.
"Nein, tut mir leid."
"Es handelt sich um eine radikale Sekte, die gewisse astronomische Gegebenheiten so interpretiert, daß das Ende des Universums unmittelbar bevorstünde. Der Kosmos, so die Lehre dieser Leute, stehe kurz vor einer Art Transformation in einen anderen Daseinszustand, den aber natürlich nur die Jünger des reinen Lichts erreichen können. Alle anderen Menschen gehören zur sogenannten satanischen Sphäre und werden als seelenlose Diener des Bösen angesehen, die man bedenkenlos töten darf..."
"Klingt nicht gerade besonders sympathisch."
"Dieser Sekte gehört die Pazifikinsel Makatua. Dort befindet sich das sogenannte Zentrum des reinen Lichtes. Die Insel ist von der Außenwelt abgetrennt. Es gibt keine Transmitterverbindungen und keinen Anschluß ans GalaxyNet. All das lehnen die Jünger des reinen Lichts als Teufelszeug ab."
Ich hob die Augenbrauen.
"Worin besteht jetzt meine Aufgabe?" hakte ich nach.
Jarvus preßte die Lippen aufeinander. Sein Gesicht bekam einen starren Ausdruck. "Mein Sohn ist auf dieser Insel. Sie sollen ihn dort herausholen."
"Ist Ihr Sohn Mitglied dieser Licht-Jünger?"
"Ja. Wissen Sie, diese Leute versprechen einem die Geborgenheit einer Gemeinschaft und die Gewißheit, zu den Auserwählten zu gehören, das wirkt auf labile Persönlichkeiten äußerst attraktiv."
Ich hob die Schultern. "Wie stellen Sie sich das vor? Ich soll Ihren Sohn von Makatua entführen und dann zu Ihnen nach New Manhattan bringen?"
"Es ist ihm gelungen, eine Botschaft abzusenden."
"Ich dachte, es gäbe dort keine Verbindung zum Netz."
"Er verwendete das Navigationssystem eines Gleiters. Darauf können selbst diese Fanatiker nicht verzichten. Brondin, mein Sohn, unternahm offenbar einen Fluchtversuch und wurde dabei von Lichtjüngern gestellt. Morley, er will die Insel verlassen und wird dort gefangengehalten. Diese Sekte ist berüchtigt dafür, austrittswillige Mitglieder einzuschüchtern. Angeblich soll es sogar Fälle von Gehirnwäsche und Mord geben."
"Sie verzeihen es einem einfach nicht, wenn man sich vom rechten Glauben abwendet", stellte ich fest.
"Sie sagen es, Morley. Glauben Sie mir, Brondin ist in akuter Gefahr!"
"Warum gehen Sie nicht zur Polizei?"
"Ich habe mich beraten lassen. Seit Einführung der sogenannten Toleranzgesetze gibt es so gut wie überhaupt kei- ne legale Zugriffsmöglichkeit auf Makatua."
Ich ging etwas auf und ab, aktivierte über den CyberSensor eine Fensterwand. Der Anblick des Meeres half mir bei der Konzentration.
Hatte ich überhaupt eine andere Wahl, als den Auftrag anzunehmen.
Warum zögerst du? meldete sich eine leicht sarkastische Stimme in meinem Inneren. Du hast ohnehin keine Wahl.
Ich war alles andere als begeistert von der Aussicht, eine Insel anzufliegen, auf der ich praktisch Freiwild für die Angehörigen einer Sekte war.
Und die Methoden dieser Lichtjünger schienen alles andere als zimperlich zu sein. Vorausgesetzt, die Informationen, die Jarvus mir gegeben hatte, stimmten. Ich würde jeden Halbsatz davon zunächst genauestens überprüfen, bevor ich einen Gleiter bestieg, um den armen Brondin herauszuhauen.
"Okay", sagte ich also, "ich werde diesen Auftrag annehmen."
"Sie wissen nicht, was für ein Stein mir da vom Herzen fällt. Haben Sie Kinder?"
"Sie müssen nicht mehr über mich wissen, als unbedingt nötig", erwiderte ich kühl.
"Wie auch immer. Vielleicht haben Sie ja Fantasie genug, um sich vorstellen zu können, wie es in einem aussieht, wenn ein Mensch, der einem sehr nahesteht, zu Grunde gerichtet wird."
"Ich brauche sämtliche relevanten Daten über Ihren Sohn und diese Lichtjünger", erklärte ich.
Jarvus nickte. Er griff in eine Tasche, die sich am Gürtel seiner Kombination befand, holte einen etwa daumengroßen Datenträger hervor, den er mir übergab.
"Ich dachte, diese Dinger werden schon gar nicht mehr hergestellt", meinte ich.
"Ich wollte vermeiden, daß später irgendein Datenstrom zwischen unseren Systemen nachweisbar ist.
"Ich verstehe..."
Durch einen Gedankenbefehl über den CyberSensor aktivierte ich den Datenträger. Eine winzige 3-Projektion der Insel Makatua erschien.
"Das ist alles, was ich in Erfahrung bringen konnte. Die persönlichen Daten meines Sohnes sind natürlich enthalten."
"Inklusive von Identifizierungsmustern für Bio-Scanner?"
"Ja."
"Sorgen Sie dafür, daß die 200 000 Galax meinen Konto gutgeschrieben werden. Anschließend beginne ich mit der Vorbereitung der Aktion."
"Ich kann die Summe sofort anweisen."
"Über Ihren CyberSensor? Tun Sie das bitte erst, wenn Sie wieder in New Manhattan sind."
"Ah, ja. Ich vergaß! Die Spuren..."
"Genau."
"Schließlich soll später niemand nachweisen können, daß ich jemals hier war. Das Geld wird zur Tarnung ein paar Umwege nehmen müssen, aber Sie können sich darauf verlassen, daß es ankommt."
"Das freut mich."
Jarvus erhob sich, trat dann etwas näher an mich heran.
"Ich möchte Sie beschwören, die Aktion so schnell wie möglich zu starten! Sonst kann es für Brindon zu spät sein. Wer weiß, was sie inzwischen schon alles mit ihm angestellt haben!"
"Ich lasse mich nicht drängen", erwiderte ich mit Bestimmtheit. "Die Sache muß sehr sorgfältig vorbereitet werden. Das Schlimmste, was Ihrem Sohn passieren könnte wäre ein Scheitern der Aktion."
Er nickte leicht.
In seinen Augen flackerte es unruhig. Dieser Mann hatte Angst.
"Ich verlasse mich auf Sie, Morley", flüsterte er.
"Und ich hoffe, daß Sie Ihr Versprechen nicht vergessen, meine Daten diesmal wirklich aus den GADRAM-Rechnern zu löschen."
"Keine Sorge!"
Ich zuckte die Achseln.
"Das sagt sich leicht..."
Wir verabschiedeten uns. Er ging hinaus zum Transmitter. Ein paar Sekunden später war er entmaterialisiert. Ich rief unterdessen über meinen CyberSensor das SYSTEM der Wohnung auf. "Bitte den Inhalt des Datenträgers in meiner Hand überprüfen", befahl ich.
*
Ich besorgte mir alles, was an Informationen über die sogenannte Kirche des reinen Lichtes gab, dazu natürlich genaueste geographische Daten über die Insel Makatua, die einen kleinen Punkt im Pazifik darstellte. Einen unter Tausenden.
Es gab ein sensorisches Ortungsfeld, das die Insel wie eine Käseglocke umgab und es mehr oder weniger unmöglich machte, irgendwo unbemerkt mit einem Gleiter zu landen. Jedes sich bewegende Objekt wurde registriert. Die religiös motivierte Ablehnung der Technologie hatte bei der Kirche des reinen Lichtes offenbar ein paar signifikante Ausnahmen.
Da würde ich mir was überlegen müssen.
Ich überprüfte auch den Lebenslauf meines Klienten sowie seines Sohnes Brindon. Ich wollte einfach wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Dabei verließ ich mich nicht nur auf das Datenmaterial, das sein Vater mir überlassen hatte, sondern hackte mich auch in diverse Datenbanken ein, bei denen ich vermuten konnte, etwas über Brindon Jarvus zu finden. Er war 19 Jahre alt, hatte die staatlichen Hypnoschulungen nicht bis zu Ende absolviert und war wegen Besitzes illegaler Drogen mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Dem Einfluß seines Vaters war es zu verdanken gewesen, daß er glimpflich davongekommen war.
Brindons Mutter war durch eine Transmitterfehlfunktion ums Leben gekommen. Seitdem war Brindon in psychologischer Behandlung gewesen.
Geborgenheit und die Wärme einer Gemeinschaft hatte er dann bei der Kirche des reinen Lichtes zu finden gehofft. Aber der verzweifelten Mail nach, die er von Makatua aus an seinen Vater geschickt hatte, war das ein Trugschluß gewesen.
Am Nachmittag schlief ich ein paar Stunden, dann bekam ich eine Nachricht von Sorana.
"Tut mir leid, ich muß hier wohl noch einen Tag länger bleiben", meinte sie. "Es gibt hier etwas mehr zu tun, als ich ursprünglich gehofft habe..."
"Ich hoffe, du meinst nur einen Erdtag, keinen Tywyn-Tag", erwiderte ich, denn Tywyn brauchte ganze 96 Stunden, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen.
Sie lächelte sanft. "Ich meine einen Erdtag", versicherte sie mir.
Ich sah sie vollkommen realistisch vor mir.
Sie -- oder besser gesagt ihr Cyber-Ich.
Die Signale, die mein CyberSensor erhielt gaukelte das zumindest meinen Sehnerven vor. Nur eine winzige Anzeige ganz unten links im Gesichtsfeld meines linken Auges wies mich darauf hin, daß es sich um eine Datenübertragung handelte.
Ich ging auf sie zu, berührte sie, aber meine Hand glitt duch ihre Schulter hindurch.
"Tut mir leid", sagte sie, "aber die Kapazität dieser Hyperfunkfrequenz scheint für eine taktile Illusion nicht auszureichen."
"Schade."
"Ich scheine gerade eine Rush Hour-Zeit erwischt zu haben, dann kann es schon mal derartige Probleme im GalaxyNet geben, wenn man auf große Entfernung sendet."
Unsere Hände - oder besser: die Hände unserer Cyber-Ichs - berührten sich, aber es entstand keine taktile Empfindung dabei. Sie überlagerten sich wie übereinander projizierte 2-D-Filme aus dem zwanzigsten und einundzwanzigten Jahrhundert.
Ich ahnte in diesem Moment nicht, daß diese flüchtige Begegnung unsere letzte war.
Noch Jahre später wiederholte sich diese Szene Nacht für Nacht in meinen Träumen.
Dieses Lächeln.
Dieser letzte Blick.
*
Die Tür des Gleiter-Hangars funktionierte einwandfrei. Ich nahm mir den Langstreckengleiter vom Typ VXR, der neben der Fahrerkabine auch noch zwei Schlafkabinen aufwies. Außerdem hatte ich ein Lasergeschütz einbauen lassen, daß verdeckt angebracht war, so daß es optisch nicht auffiel. Elektromagnetische Störsignale verhinderten auch weitgehend, daß jeder x-beliebige Ortungsscanner auf das Ding aufmerksam wurde.
Ich wechselte meinen CyberSensor aus, zog halborganische, enganliegende so gut wie unsichtbare Handschuhe an, die meine Handlinien und Fingerabdrücke veränderten und legte außerdem Kontaktlinsen mit veränderten Iris-Mustern an. Ich hatte jetzt die Identität eines anderen angenommen. Tom Forano, wohnhaft in Mars Port, Mars, 77 Jahre alt, wie mir die Anzeige verriet, als ich den anderen CyberSensor in die kleine, steckerartige Öffnung an meinem Nacken eingeführt hatte. Wenn es jemandem gelang, die Datenströme an Bord des Gleiters abzuhören, sollte die Spur nicht gleich zu einem Gewissen Dak Morley aus Barcana, Erde führen. Selbst an die identifizierbaren Stimmmuster hatte ich gedacht. Der Rechner des Gleiters war so programmiert, daß er mein Stimmuster in das von Tom Forano umwandelte, bevor er mit einer internen Abfrage meine Autorisierung zur Lenkung dieses Gleiters festellte. Wenn also irgend etwas schiefging und man die Überreste des VXR aus dem Pazifik fischte, so würde die Polizei dann feststellen, daß der Gleiter nur von einem Mann gelenkt worden sein konnte, dessen Stimme nicht die leiseste Ähnlichkeit mit dem Organ eines gewissen Dak Morley besaß.
Und dasselbe würde für Handlinienmuster, Fingerprints und Iriserkennung gelten.
(Seit den massiven Fortschritten der plastischen Chirurgie war man glücklicherweise schon vor einigen Jahrhunderten davon abgekommen, das Gesicht als Hauptidentifizierungsmerkmal eines Menschen zu betrachten).
Sorana würde meinen abgelegten Dak-Morley-CyberSensor nicht erreichen können. Ich hoffte nur, daß sie genug zu tun hatte, um sich keine Sorgen zu machen. Ich bedauerte es, daß ich ihr nichts über den Job hatte sagen können, den ich übernommen hatte. Aber das Risiko wäre einfach nicht vertretbar gewesen. Hyperfunkverbindungen abzuhören war nun wirklich ein Kunststück für Amateure.
*
Die Pazifikinsel Makata tauchte aus dem Licht der Morgendämmerung auf. Ein kleines Paradies, daß sich die Kirche des reinen Lichts als ihren Hauptsitz ausgewählt hatte. Wie ein blaues Auge leuchtete eine große Lagune. An dieser Lagune befand sich eine Siedlung aus kuppelförmigen Gebäuden. Eckige Formen wurden von der Kirche des reinen Lichtes als satanisch abgelehnt. Nur das Runde sei in Harmonie mit dem Kosmos.
Ich hielt den Gleiter außerhalb des Ortungsfeldes, daß Makatua umgab und schaltete ihn auf Autopilot. Das Rechnersystem übernahm die Steuerung und ließ das Gefährt ein wenig herumkreisen.
Du kannst von Glück sagen, daß es keinen Hochenergieschild um Makatua gibt! rief ich mir ins Gedächtnis.
Aber Hochenergieschilde waren seit hundertdreißig Jahren auf der Erde verboten. Seit der Katastrophe von Dar-es-Sahara, die um ein Haar dazu geführt hatte, daß die Erdatmosphäre nahezu ihren gesamten Sauerstoff verlor. Aber das war lange her ich war froh in einer Zeit zu leben, in der die Vernunft zumindest in diesem einen Punkt gesiegt hatte.
Jetzt mußte ich nur einen Weg finden, das Ortungssystem von Makatua auszutricksen.
Aber da hatte ich mir schon etwas überlegt.
Ich rief das SYSTEM des Gleiters auf.
"Bitte Makatua nach den Biomustern von Brindon Jarvus abscannen", forderte ich in die Stille hinein, die um mich herum herrschte.
Der Betrieb des Gleiters verursachte so gut wie keinen Laut.
Mir fiel der schreckliche Krach ein, den Fahrzeuge früherer Zeiten verursacht hatten. Nach wie vor war es allerdings umstritten, ob der Krach eines Automobils, wie er in den 2-D- Filmen jener Zeit dokumentiert wurde, wirklich durch das Fahrzeug verursacht wurde oder es sich um Datenfehler auf den Akustik-Files handelte.
Ich aktivierte ein Holodisplay, das ein exaktes 3-D-Abbild der Insel zeigte. Eine Anzeige informierte mich über den Fortschritt bei der Suche nach Brindon Jarvus's Biomustern.
Die Suchgeschwindigkeit war auf das niedrigste mögliche Level eingestellt. Ansonsten bestand nämlich die Gefahr, daß der Scanvorgang unten auf Makatua bemerkt wurde.
Ich wartete, ging ungeduldig auf und ab. Dann kam endlich das erlösende Signal. Brindon war gefunden. Auf der Darstellung des Holodisplays wurde seine Postion genau markiert. Er befand sich im größten der insgesamt etwa ein dutzend Kuppelbauten.
Ich vergrößerte die Darstellung.
Selbst die Einteilung der Räume war jetzt erkennbar. Brindon wurde in einer Art Arrestzelle gefangengehalten. Ein winziger Raum. Brindon bewegte sich nicht. Vielleicht war er gefesselt oder schlief.
"Scan-Daten in den internen Speicher des CyberSensor von...", ich mußte mich einen Moment konzentrieren, damit mir der Name wieder einfiel, den ich zur Zeit trug, "...von Tom Forano laden."
"Wird ausgeführt", sagte die Stimme des SYSTEMs. Diesmal nicht als Pseudo-Voice, die nur eine Kitzelei meiner Hörnerven mit entsprechenden Impulsen war, sondern als Kunststimme aus einem Lautsprecher. Hier im Gleiter hatte ich das SYSTEM so konfiguriert. Den eigentlichen Grund dafür konnte ich nicht mehr angeben. Vielleicht stand der unbewußte Wunsch dahinter, doch nicht ganz allein bei so einer Mission zu sein. Andererseits wäre die Illusion der Pseudostimme eigentlich perfekt genug gewesen, um denselben Effekt zu erzielen.
Und doch...
Ich beschloß, nicht länger darüber nachzudenken.
Wenn die Scan-Daten über die Anlagen auf Makatua im internen Speicher meines CyberSensors waren, konnte ich sie jederzeit in meinem Auge anzeigen lassen, ohne dafür ein Signal zum Gleiter senden zu müssen. Letzteres konnte mich ja eventuell verraten.
"Frage: Gibt es auf Makatua einen Transmitter?" wandte ich mich an das SYSTEM.
"Positiv", sagte die Kunststimme. Sogleich wurde die Transmitterstation auf der Holo-Darstellung markiert.
"Gibt sonst irgendwelche Verbindungen zur Außenwelt?"
"Negativ. Keine Datenverbindungen, kein Zugang zum GalaxyNet, keine Hyperfunkverbindungen."
Die Transmitterstation war also so etwas wie das Tor zur Welt, daß die Angehörigen der Kirche des reinen Lichtes unterhielten. Eine Art Hintertür, mehr nicht. Vielleicht kamen über diese Station die Neuankömmlinge hier her.
"Programm CXA aktivieren", befahl ich. Das war ein illegales Hackerprogramm. Ein guter Bekannter hatte es für mich entwickelt. Ich wollte damit in den Rechner der Transmitterstation hineinkommen und es gab eigentlich kein Argument, daß dagegen sprach.
Es mußte möglich sein.
Das CXA-Programm arbeitete nach einem uralten, sehr einfachen und nach wie vor äußerst wirksamen Prinzip. Es mied die gut gesicherten 'Haupteingänge' eines Systems und konzentrierte sich darauf, Sicherheitslücken auf Nebenrechnern zu finden. Dort wurde auf Sicherheit nicht so geachtet und es war eigentlich nur eine Frage der Statistik, wann man auf einen Rechner stieß, dessen Codes noch Werkseinstellung aufwiesen, weil sich niemand die Mühe gemacht hatte, sie bis in die letzte Kleinigkeit hinein zu konfigurieren. In diesem Fall war diese 'Hintertür' in New L.A., wo die Kirche des reinen Lichtes eine Dependance besaß, mit der sie über Transmitter verbunden war.
"Kontrolle der Transmitterstation auf Makatua herstellen?" fragte das SYSTEM.
"Noch nicht", erwiderte ich.
Ich legte einen Deflektor-Gürtel an. Man konnte damit einen Deflektor-Schirm aktivieren, der den Träger unsichtbar machte. Der Schirm projizierte für einen Betrachter die perfekte Holographie des Hintergrundes, so daß der Träger des Schirms nicht zu sehen war. Allenfalls bei ruckartigen Bewegungen (und bei mangelhafter Rechnerleistung des Deflektors) konnte der Betrachter eventuell eine Art Zittern oder den Eindruck einer Kontur erkennen.
An den dafür vorgesehenen Magnethalterungen an meiner Kombination befestigte ich einen Nadler und einen Strahler.
Der Strahler war auf Betäubung eingestellt.
Ich hoffte, daß ich niemanden töten mußte.
Zu meiner Ausrüstung gehörten außerdem noch ein Magnet-Schocker und ein Decoder für elektronische Schlösser.
Darüber hinaus schnallte ich mir noch einen zweiten Deflektor-Gürtel um, den ich vorerst nicht zu aktivieren gedachte. Er war für Brindon Jarvus bestimmt. Schließlich mußte ich ihn ja irgendwie aus seinem Gefängnis herausholen können, ohne daß er dabei zur Zielscheibe wurde.
Ich wies das SYSTEM an, die Kontrolle über die Transmitterstation auf Makatua in einem Augenblick herzustellen, da sich in den entsprechenden Räumen niemand aufhielt. Danach sollte der VXR-Gleiter sich so weit wie möglich vom Ort des Geschehens entfernen. So weit, daß ich ihn im Notfall noch schnell genug zur Insel beordern konnte.
"Anweisungen bestätigt", sagte die Stimme des SYSTEMs.
Ich aktivierte den Deflektor-Gürtel.
Für einen hypothetischen Beobachter wäre ich in dieser Sekunde verschwunden. Der Schirm umgab mich wie eine Glocke. Das einzige Problem war, daß der Energieverbrauch zwar verschwindend gering war, aber nicht gering genug dafür, um von entsprechenden Sensoren nicht aufgezeichnet werden zu können.
Aber das Risiko mußte ich eingehen.
Ich begab mich zur Transmitterstation des VXR-Gleiters. Sie befand sich gleich neben der Toilette und war von der Quadratmeterzahl etwa gleich groß. Ich stellte mich unter den Strahler, der mich hinüberbeamen würde und wartete ab.
Dann sorgte das SYSTEM dafür, daß mein Körper sich in seine Moleküle auflöste, die dann einzeln zum Bestimmungsort transmittiert wurden, um sich dort wieder zusammenzusetzen.
Angewandte Quantenphysik, sonst nichts.
*
Ein leichtes Prickeln durchlief meinen Körper, als ich in der Transmitterstation auf Makatua rematerialisierte. Das lag an dem Deflektor-Schirm, den ich während des Beamvorgangs eingeschaltet gelassen hatte.
Ich blickte mich um, nahm den Strahler in die Rechte. Ich durfte ihn nur nicht so weit vom Körper wegstecken, daß er außerhalb des Deflektorfeldes geriet, wenn jemand dabei war.
In der Transmitterstation war ich allein.
Genau wie geplant.
Unten links in meinem Gesichtsfeld ließ ich mir den 3-D-Plan des Kuppelgebäudes anzeigen, in dem ich mich befand. Es würde kein Problem sein, mich hier zurecht zu finden.
Ich wandte mich der Schiebetür zu, die die Transmitterstation mit dem Rest des Gebäudes verband.
Die Tür reagierte nicht - obwohl die dazugehörigen Sensoren ganz sicher nicht durch einen Deflektorschirm getäuscht werden konnten.
Abgeschlossen, dachte ich.
Das war bei einer Organisation, die offenbar peinlich darauf bedacht war, daß abtrünnig gewordene Mitglieder nicht einfach in alle Winde verschwanden, auch naheliegend. Vermutlich hatten nur besonders autorisierte Personen unter den Jüngern des reinen Lichtes Zugang zur Transmitterstation.
Ich holte einen Türschloßdecoder aus der Brusttasche meiner Kombination. Innerhalb weniger Sekunden sorgte das etwa daumennagelgroße Gerät dafür, daß sich die Tür öffnete.
Ich trat in den breiten Korridor, der sich daran anschloß.
Helles Kunstlicht mit einem ungewöhnlich hohen Weiß-Anteil herrschte hier. Irgendwie passte das zu diesen Lichtjüngern, fand ich. An den ansonsten völlig weißen Wänden waren mit schwarzer Farbe große, augenartige Gebilde aufgemalt, die mich entfernt an die Graffiti-Kunst des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts erinnerten, wie sie an einem Ort namens Bronx angeblich existiert hatte. (Andere waren der Auffassung, daß die Bronx nur ein Mythos war.)
In weiße Gewänder gehüllte Männer und Frauen kamen mir entgegen. Sie waren völlig haarlos. Das grelle Licht spiegelte sich auf ihren kahlrasierten Köpfen.
Die Lichtjünger starrten durch mich hindurch.
Die schlichte Ausgestaltung des Korridors stellte an den Rechner des Deflektors keine größeren Anforderungen, wie es etwa komplizierte Intarsien oder Ornamente getan hätten. Ich brauchte mir also kaum Sorgen zu machen. Diese Leute konnten mich definitiv nicht sehen.
Ich ging an den Lichtjüngern mit ihren eigenartig verklärten Gesichtern vorbei. Mir fiel auf, daß ihre weißen Gewänder raschelten.
Ich mich beeilen mußte.
Die energetischen Anomalien, die mein Deflektorschirm verursachte, waren zwar nur minimal, aber je nachdem wie lückenlos hier die Kontrolle war, würde das früher oder später auffallen. Ich hoffte später. Spät genug, um hier wieder verschwinden zu können, bevor jemand auf mich aufmerksam geworden war.
Ich setzte meinen Weg fort, die langen Korridore entlang. Antigravschächte gab es auf Makatua nicht, nur altmodische Aufzüge. Ich gelangte eine Etage tiefer. In meiner Augenanzeige wurde mir der Gang angegeben, den ich zu nehmen hatte, um Brindon Jarvus' Zelle zu erreichen.
Ich erreichte schließlich mein Ziel.
Zwei Wächter standen vor der Zellentür.
Beide bewaffnet. Sie trugen Nadelpistolen an weißen Gürteln, die sich fast gar nicht von ihrer Kleidung abhoben. Ihre haarlosen Gesichter hatten denselben gleichmütigen Gesichtsausdruck wie er mir bisher bei allen Mitgliedern dieser Sekte begegnet war.
Glückseligkeit oder Verblödung. Die Entscheidung war nicht ganz leicht. Ich entschied mich dafür, das zweite anzunehmen, Denn sonst wäre ich gezwungen gewesen, mein eigenes Leben viel radikaler in Frage zu stellen, als es mir lieb war.
Und dennoch, der Strom der Gedanken war nur schwer zu bändigen.
Warum tust du das, Dak Morley?
Warum hältst du deinen Kopf für Angelegenheiten hin, die dich nichts angehen? Warum entführst du einen jungen Kerl, bei dem du dir letztlich noch nicht einmal hundertprozentig sicher sein kannst, ob er nicht hier sein Glück gefunden hat und sein Vater dich an der Nase herumführt beziehungsweise dir sogar gefaketes Datenmaterial überlassen hat?
Ich versuchte diese Gedanken davonzuscheuchen.
Jetzt war einfach ein unpassender Moment für Selbstzweifel.
Solche Anfälle von Grübelei in ungünstigen Momenten wären dir früher nicht passiert, Dak Morley! ging es mir durch den Kopf. Wird Zeit aufzuhören, Dak! Das ist ein ziemlich sicheres Zeichen dafür.
Ich hatte keine andere Wahl, redete ich mir ein. Das Datenmaterial bei GADRAM...
Aber hatte ich nicht weit brenzligere Situationen bereits gemeistert. Was hätte dagegen gesprochen, einfach mit Sorana zusammen irgendwo anders neu anzufangen? Das nötige Kleingeld hatte ich. Natürlich hätte das vorausgesetzt, Sorana in Bereiche meines Lebens einzuweihen, von denen sie bislang nur grobe umrisse ahnen konnte.
Ich atmete tief durch.
Alles Blödsinn, dachte ich. 200 000 Galax bekam ich für den Job. Und das war ein guter Grund, um alles zu tun.
Ich nahm den Strahler und feuerte ihn ab.
Der erste Wächter sank getroffen zu Boden. Der Ausdruck der Überraschung stand noch auf seinem Gesicht, als er in sich zusammensackte.
Der zweite wirbelte herum, griff nach seinem Nadler.
Die meisten Standard-Nadelgeschosse waren absolut tödlich. Ich mußte zusehen, keinen Treffer abzubekommen, denn dann war diese Mission zu Ende noch ehe sie richtig begonnen hatte.
Der Wächter riß seine Waffe empor. Er begriff offenbar, daß er jemanden vor sich hatte, der einen Deflektor-Gürtel trug. Die Dinger waren aufgrund ihres enormen Anschaffungspreises zwar selten, aber immerhin so häufig, daß jeder wußte, daß es sie gab und wie ihre Wirkungsweise war.
Der Wächter zielte auf jenen Punkt, an dem er zuvor meinen Strahler hatte aufblitzen sehen.
Ich erwischte ihn um den Sekundenbruchteil früher. Er rutschte an der Wand zu Boden, ohne den Nadler abgefeuert zu haben.
Ich wandte mich der Tür zu, holte den Decoder hervor, um sie zu knacken. Fünf Sekunden später öffnete sich die Tür.
Ich trat in die Zelle. Brindon lag auf seiner Pritsche. Er drehte den Kopf in meine Richtung. Ich erkannte sein Gesicht von den Holo-Files her, die sich unter dem Datenmaterial befunden hatten, daß Palmon Jarvus mir überlassen hatte. Brindon sah wie eine jüngere Kopie seines Vaters aus.
Er hob etwas den Kopf, versuchte die Arme zu bewegen, stieß dabei aber an eine unsichtbare Barriere.
Ein Energiefeld fesselte ihn an sein Bett.
Sein Blick irrte suchend umher. Er sah nur die offene Tür und die Füße der betäubten Wächter. Sonst nichts.
Ich deaktivierte meinen Deflektor.
Er erschrak. Sein Mund stand weit offen, seine Augen ebenfalls. Er wirkte wie erstarrt.
"Brindon Jarvus? Können Sie mich verstehen?"
Ich war mir nicht sicher, ob das Energiefeld ihn auch akustisch abschirmte.
Er nickte.
"Ja."
"Ihr Vater schickt mich, um Sie hier herauszuholen. Tun Sie einfach alles, was ich Ihnen sage."
"In Ordnung."
Er stemmte sich gegen das Energiefeld, daß ihn wie ein gläserner Sarg umgab.
"Lassen Sie das", wies ich ihn an. Mit dem Decoder war es für mich kein Problem, das Feld abzuschalten. Ein paar Sekunden später war Brindon frei. Der junge Mann erhob sich etwas unsicher von der Liege.
Ich schnallte meinen zweiten Deflektor-Gürtel ab und reichte ihm das Ding. "Schnallen Sie sich das um."
"Ein Deflektor?"
"Ja. Und beeilen Sie sich. Die Tatsache, daß ich das Energiefeld abgeschaltet habe, wird uns gleich unangenehmen Besuch bescheren."
"Okay."
"Besitzen Sie einen CyberSensor?"
"Nein. Das ist gegen unseren Glauben. Der Mensch soll kein Anhängsel einer Maschine werden."
Ich holte einen dieser kleinen Apparate aus der Seitentasche meiner Kombination. "Nehmen Sie den hier", schlug ich ihm vor. "Wir werden darüber Kontakt halten. Außerdem ist das Gerät so programmiert, daß Sie mich sehen können, auch wenn der Deflektor aktiviert ist."
Schließlich wollte ich auf keinen Fall, daß mein Schützling mich verlor.
Brindon hob abwehrend die Hand.
"Tut mir leid", sagte er kopfschüttelnd.
Ein dünnes Lächeln schien auf meinem Gesicht. "Ich weiß nicht, ob wir ihre religiösen Bedenken jetzt ausdiskutieren sollten. Es geht um ihr Leben, Brindon. Und nebenbei bemerkt: um das meinige ebenfalls."
"Darum geht es nicht", widersprach er mir.
"Ach, und worum dann?"
"Ich habe keine Buchse mehr, um den CyberSensor zu installieren."
"Mein Gott..."
"Wurde chirurgisch entfernt."
"Hätte ich mir ja denken können..."
"Wir werden ohne künstliche Bestandteile als Ebenbilder Gottes geboren..."
"...dann halten Sie einfach meine Hand fest!"
Er nickte.
*
Wir traten mit aktivierten Deflektoren auf den Flur.
Ein halbes Dutzend weißgekleideter Bewaffneter stürmten den Korridor entlang, direkt auf die Zellentür zu. Sie konnten uns nicht sehen. Brindon und ich hielten uns dicht an der Wand, um nicht versehentlich mit einem von ihnen zusammenzustoßen.
Die Lichtjünger kümmerten sich um die betäubten Wächter, sahen sich in der Zelle um und suchten etwas orientierungslos nach ihrem verschwundenen Gefangenen.
Ich bezweifelte, daß diese Leute überhaupt schon begriffen hatten, was geschehen war. Und ich setzte darauf, daß sie es erst verstehen würden, wenn Brindon und ich längst in Sicherheit waren.
Wir erreichten einen Aufzug.
In einem günstigen Moment ließen wir uns von ihm auf jene Etage tragen, auf der sich die Transmitterstation befand.
Ich zählte die Sekunde, bis sich die Schiebetür automatisch vor uns öffnete.
Ein entscheidender Moment. Und ein gefährlicher dazu, selbst für zwei Männer, die im Augenblick unsichtbar waren.
Ich starrte in den Korridor, über den wir in wenigen Augenblicken zur Transmitterstation hätten gelangen können. Aber offenbar waren uns unsere Gegner inzwischen einen Schritt voraus.
Im Korridor wartete ein halbes Dutzend Lichtjünger auf uns.
Sie hielten Nadler im Anschlag, deren Mündungen direkt auf uns zeigten -- in eine leere Aufzugkabine, aus ihrer Sicht.
Aber das hinderte sie nicht daran, sofort zu feuern. Offenbar waren die leichten energetischen Schwankungen, die unsere Deflektorschirme verursachten registriert worden, was bedeutete, daß unsere Gegner uns möglicherweise sogar genau orten konnten.
Im übrigen hatten sie inzwischen vielleicht festgestellt, daß ein Eindringling über den Transmitter in den Gebäudekomplex gelangt war. Es lag auf der Hand anzunehmen, daß der dann auch beabsichtigte, sich mit Hilfe des Transmitters wieder davonzumachen.
Sie hatten uns also den Weg abgeschnitten.
Wir konnten von Glück sagen, daß die Lichtjünger waffentechnisch offenbar nicht so gut ausgestattet waren, daß sie die wirkungsweise unserer Deflektoren neutralisieren konnten.
So feuerten sie mehr oder minder ungezielt auf uns.
Das erste Nadelgeschoß sirrte dicht an meiner rechten Schulter vorbei. Ich ließ mich seitwärts fallen, knallte mit der linken Schulter gegen die Wand und feuerte gleichzeitig mit dem Strahler einen kegelförmigen Breitband- Betäubungsstrahl ab. Die Umschaltung hatte ich per Mentalimpuls über meinen Cyber Sensor vorgenommen. Ich hoffte nur, daß die Energie richtig dosiert war. Der Breitbandstrahl hatte nicht dieselbe Intensität wie ein punktgenauer Treffer. Andererseits konnte ich davon ausgehen, daß von den weißgekleideten Lichtjüngern alle, die sich im Wirkungsbereich des Strahlenkegels befanden, den Betäubungseffekt zu spüren bekamen. Zumindest in Form einer leichten Benommenheit.
Aber für Brindon und mich reichte es, die weiß Gekleideten für den Bruchteil einer Sekunde auf Distanz zu halten.
Das gelang.
Brindon betätigte den Sensor, der bewirkte, daß sich die Schiebetür der Liftkabine augenblicklich wieder schloß. Wir hörten, wie sich von außen ein halbes Dutzend Nadelprojektile in die Außenseite der Tür hineinbohrten.
Es ging abwärts.
Brindon deaktivierte kurz seinen Deflektor, so daß ich ihn wieder sehen konne.
"Ich weiß nicht, ob es wirklich eine gute Idee war, Ihren Anweisungen zu folgen", meinte er.
"Und ich weiß nicht, ob es eine gute Idee Ihres Vaters war, Ihre Hilfeschrei-Mail ernst zu nehmen", erwiderte ich gallig.
Was bildete der Kerl sich ein? Zweifellos hatte er eine furchtbare Angst, aber ich dachte nicht daran, das ganze Unternehmen mittendrin abzublasen. Dazu bestand im übrigen gar nicht die Möglichkeit.
Brindon verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.
"Ich hoffe, Sie haben auch für diese Situation einen guten Plan", meinte er nicht ohne Sarkasmus.
Ich beschloß, darauf nicht weiter einzugehen. Stattdessen wies ich ihn an: "Schalten Sie Ihren Deflektor wieder ein und nehmen Sie meine Hand."
Er sah mich skeptisch an.
Der Aufzug raste hinab. Nur Sekunden, dann würde sich auf der nächsten Etage die Schiebetür automatisch öffnen. Ich beschloß, die Verbindung zwischen meinem CyberSensor und dem VXR-Gleiter wiederherzustellen. Eine eventuelle Peilung des Signals konnte mir jetzt nicht mehr gefährlich werden. Entdeckt waren wir ja bereits.
Ich ließ mir einen Scan des Gebäudebereichs anzeigen, in dem wir uns befanden. Fast das gesamte Gesichtsfeld meines linken Auges wurde davon ausgefüllt. Ich wählte eine schematische Darstellung in Form einer Art Rißzeichnung. Die Positionen aller Lebewesen war markiert, unsere eigene ebenfalls.
Wir näherten uns Etage 4.
Fünf Sekunden noch, vier, drei, zwei...
Die farbigen Markierungspunkte in dem 3-D-Gebäudeaufriss, der auf dem Gesichtsfeld meines linken Auges angezeigt wurde, sprachen eine eindeutige Sprache.
Sobald sich die Tür auf Etage 4 vor uns zur Seite schob, würden dort ein gutes Dutzend vermutlich bewaffneter Lichtjünger auf uns warten.
Noch eine Sekunde.
Ich griff nach der Notbremse.
Ziemlich ruckartig kam die Liftkabine zum Stehen. Brindon und ich stießen dabei gegeneinder, da wir uns gegenseitig nicht sehen konnten. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten.
"Hey, was soll das?" keifte Brindon ungehalten. Er deaktivierte seinen Deflektor. Sein ziemlich angespanntes Gesicht tauchte aus dem Nichts heraus auf.
"Wir müssen etwas anderes versuchen", erklärte ich. "Auf Etage 4 warten sie auf uns. Und im Moment sind zu allen Liftausgängen kleinere Gruppen dieser Lichtjünger unterwegs..."
Ich hatte keine Zeit für weitere Erklärungen, zumal unsere weitere Flucht einem Wettrennen gleichen würde. Ich hoffte nur, daß unsere Gegner es nicht schafften, auf sämtlichen Etagen die Liftausgänge schnell genug zu besetzen, um uns abzufangen.
Ich ging mit dem Decoder an den Steuerungsrechner der Liftkabine. Die Scan-Daten, die ich über den CyberSensor eingespielt bekam, verrieten mir, daß die Liftausgänge ab Etage 10 unbesetzt waren. Lange würde das mit Sicherheit nicht so bleiben.
Mit dem Decoder übernahm ich die Steuerung des Liftrechners.
Ich ließ ihn mit voller Energie hinauf schnellen.
Innerlich betete ich zu allen Göttern der Galaxis dafür, daß das es technisch nicht so leicht möglich sein würde, einer einzelnen Liftkabine die energie abzuschneiden.
Die Kabine raste hinauf.
Die Anzeige in meinem linken Auge zeigte mir an, in wieviel Sekunden wir Etage 10 erreichen würden.
Zehn Sekunden, neun Sekunden...
Noch war im 3-D-Gebäudeaufriß, der mir im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen stand, kein Empfangskommando erkennbar, daß uns dort zu erwarten gedachte.
"Deflektor aktivieren!" forderte ich Brindon unmißverständlich auf. "Scheint, als hätten wir doch noch ein Schlupfloch gefunden!"
Zwei Sekunden, eine Sekunde...
Mit einem Ruck stoppte die Kabine. Ich hatte über den Decoder eine viel zu hohe Geschwindigkeit in den internen Rechner der Liftkabine einprogrammiert.
Die Schiebetür öffnete sich.
Mit der Linken umfasste ich Brindons rechte Hand, mit der Rechten hielt ich den Strahler. Er war nach wie vor auf Breitbeschuß eingestellt. Ich ließ den Lauf nach oben schnellen. Sicherheitshalber. Auch Sensoren und Scanner machten Fehler.
Aber es war tatsächlich niemand dort.
Wir stürzten in den Korridor.
Ich zerrte Brindon nach links.
"Dort hin!" rief ich.
Zur Linken erstreckte sich der Korridor noch etwa fünfzehn Meter weit, dann folgte eine Wand. Die runden, wie die Bullaugen eines antiken Schiffes aussehenden Fenster verrieten, daß es sich um eine Außenwand handeln mußte. Sonnenlicht fiel von außen hinein.
"Endstation", meinte Brindon.
"Wir gehen durch die Wand!" erwiderte ich.
"Was?"
"Kommen Sie!"
"Sie müssen verrückt sein!"
Aber es gab keine Alternative.
Die Anzeige auf meinem linken Auge verriet mir, daß ein Trupp der Lichtjünger sich von der anderen Seite her näherte.
Ich riß Brindon mit.
Wir erreichten nach wenigen Augenblicken die Außenwand.
Ich schaltete den Strahler auf reine Thermoenergie um, hob den Lauf und feuerte.
Der gebündelte Strahl brannte ein Loch in die Außenwand aus Metallplastik. Ich hatte die Waffe auf das höchste Level eingestellt. Ein beißender Geruch ließ mich das Gesicht abwenden.
Das Loch wuchs, ich schnitt ein Oval aus dem Metallplastik heraus. Es stürzte hinunter. Zehn Stockwerke tief.
"Was soll das werden?" fragte eine Stimme aus dem Nichts. Brindons Stimme. "Sie denken doch nicht etwa daran, durch dieses Loch zu flüchten."
"Wir werden springen", erklärte ich.
"Sie sind verrückt!"
Unterdessen traf der bewaffnete Trupp ein. Das erste Nadelgeschoß surrte dicht an mir vorbei. Sie schossen blind, Schließlich konnten sie uns nicht sehen. Nur von der Wirkung meines Strahlers konnten sie ungefähr meine Position erschließen.
"Klammern Sie sich an mich!" rief ich Brindon zu. "Ich trage Antigravaggregate in den Schuhsohlen!"
"Ja, SIE - aber ICH nicht!"
Ein wahrer Hagel von Nadelgeschossen prasselte jetzt in unsere Richtung.
Das zerstreute Brindons Zweifel zwar nicht, aber offenbar fürchtete er sich im Endeffekt doch mehr vor seinen Glaubensbrüdern als vor dem bevorstehenden Sprung. Ich spürte eine tastende Hand. Brindons Hand. Er krallte sich an mich. Mit einem Satz waren wir draußen.
Ein Sturz aus zehn Stockwerken lag vor uns.