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DIE PYRENÄENÜBERSCHREITUNG
ОглавлениеFreitag, 25. Oktober: Am Morgen wachte ich voller Tatendrang wie üblich um sechs Uhr auf. In meiner Pension gab es nur einen Getränkeautomaten, aber kein Frühstück. Nicht verzagen, das Smartphone fragen. Das Internet verriet mir ein Café ganz in der Nähe, das auch schon geöffnet hatte. Vorsichtig ging ich durch ein stockdunkles Gässchen und betrat das Lokal für Frühaufsteher und Nachtschwärmer. Die hübsche Kellnerin war erstaunt über meinen Wunsch nach einem Frühstück ohne Brot, bis sie mein mitgebrachtes entdeckte. Sie zeigte sich beeindruckt und nahm es gleich mit. Auf einem Teller erhielt ich es getoastet zurück, zusammen mit Butter und Kaffee. Nach dem Frühstück ging es zuerst zurück in die Pension, um meinen Rucksack aus dem Zimmer zu holen. Dann suchte ich die Gasse auf, wo der Camino Francés beginnt. Dort stellte ich fest, dass das Pilgerbüro bereits geöffnet hatte. Zwei Freiwillige schoben dort in der frühen Morgenstunde schon Dienst. Ich wollte eigentlich nur einen Pilgerstempel, bekam aber zusätzlich detaillierte Anweisungen über den Wegverlauf, die ich eigentlich nicht benötigt hätte, mit. Ich ließ sie über mich ergehen, weil ich den Idealismus der Herren von der Jakobsweg-Gesellschaft zumindest durch Zuhören honorieren wollte.
Danach ging es aber nun wirklich endlich los: Romantisch und verwunschen wirkte das mittelalterliche Saint-Jean-Pied-de-Port beim Verlassen durch die Rue de la Citadelle.
Die Dunkelheit wich der Morgendämmerung und die Wiesen waren noch von grauen Nebeln verhangen. Ich war keineswegs allein bei meinem frühen Marsch. Eine Menge Pilgerinnen und Pilger strebte wie ich in einem stetigen Bergauf dem Lepoeder-Pass zu. Etwa die Hälfte davon waren Asiaten, einige davon mit Mundschutz. Wollten sie sich vor der reinen, aber zweifellos taufrischen Bergluft schützen? Manche überholten mich und viele wurden von mir überholt. Ich schätze, dass mindestens 100 Pilger an diesem Tag mit mir unterwegs waren. Die Kulturlandschaft mit Wiesen und Feldern blieb allmählich zurück und nahezu baumlose Hügel und Kuppen füllten den weiten Horizont. Das gedämpfte Licht des Spätherbsts betonte die unterschiedlichen Pastelltöne der einzelnen Landschafts-Schichten.
Ein Stein erinnert an das Jahr 778, in dem Roland hier den Heldentod starb.
Ein windstiller Tag mit ungetrübtem Sonnenschein und milden Temperaturen erfreute unsere Pilgerherzen. Auf den weiten Hängen lagerten und grasten große Schafherden und immer wieder Pferde, die eine unbeschränkte Freiheit zu genießen schienen. Getrübt wurde die Idylle nur durch Jäger, die, mit Geländefahrzeugen angereist, in weitflächigen Treibjagden Wild aufzustöbern suchten. Einmal knallte so nahe bei mir ein Schuss, dass ich versucht war, mich zu ducken, um der Kugel zu entgehen. Es dürfte aber nicht so arg gewesen sein, denn ich hörte sie weder fliegen noch irgendwo einschlagen.
Schafherde in der Freiheit der Pyrenäen.
In der Nähe des höchsten Punktes auf 1250 Meter spendet die Rolandsquelle ihr köstliches Wasser. Die Rolandsage hatte mich schon als Bub in ihren Bann gezogen. Es ist ein französisches Versepos aus dem 11. Jahrhundert, welche das heldenhafte Ende Rolands besingt. Karl der Große war 778 mit einer großen Streitmacht von einem ziemlich erfolglosen Kampf gegen die Mauren nach Frankreich zurückgekehrt. Die Nachhut unter dem Ritter Roland geriet in dieser Gegend in einen Hinterhalt der Basken, in dem alle, zuletzt auch der tapfere Roland, niedergemetzelt wurden. Eine tragische Hauptrolle spielte dabei nach der Sage das riesige Horn Olifant, das, wenn es rechtzeitig geblasen worden wäre, die Hauptstreitmacht zu Hilfe geholt hätte. So kündete es am Schluss nur mehr vom bevorstehenden Tod der Helden. An diese Sage erinnert auch ein Gedenkstein am Ibaneta Pass, bei dem man am Abstieg vorbeikommt.
Heldentod ist heute keiner mehr zu sterben, zumindest nicht hier, aber an ausgewählten Stellen mit WLAN-Empfang für Notfälle, wird in mehreren Sprachen auf die Möglichkeit, Hilfe zu rufen, hingewiesen. Verständlich, wenn man bedenkt, dass sich an manchen Tagen hunderte Pilger an diese Gebirgsüberquerung wagen, viele nicht in einem geeigneten körperlichen Zustand, die gut 1400 Höhenmeter im Anstieg und 24 Berg-Kilometer bewältigen müssen. Manche haben aber auch große Scheu vor den Strapazen dieser Gebirgsüberquerung und nehmen einen Umweg, der mit einer zusätzlichen Nächtigung verbunden ist.
Die Wege sind problemlos zu beschreiten, deshalb sah ich auch viele Pilger oder Wanderer mit Sportschuhen. Ich kam mir mit meinen Bergschuhen fast etwas over-equiped vor. Bei Nässe, Nebel oder schlechtem Wetter würde die Sache aber sicher wieder ganz anders aussehen, und wer konnte schon wissen, was noch auf uns wartete.
Die Versorgung hilfsbedürftiger Pilger war schon vor tausend Jahren ein Thema, und vermutlich ein wesentlich bedeutenderes als heute. Dazu wurde die Abtei Roncesvalles, erstmals 1071 urkundlich erwähnt, erbaut.
Schon bald nach dem Erreichen des Passes blickt man auf diese kleine Ansiedlung hinunter und freut sich, dass man es nach sieben bis acht Stunden anstrengendem Bergauf und Bergab bald geschafft haben wird. Von der Herberge hatte ich schon öfter Gräuelgeschichten gehört, weshalb ich es dort gar nicht versuchte, wo es die meisten anderen Pilger hinzog. Bei meiner ersten Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg vor zehn Jahren hatte ich die Erfahrung gemacht, dass es sich bei solchen Geschichten meist nicht um Übertreibungen handelte, sondern oft um die unangenehme Wahrheit. Ich entdeckte ein Hotel und ein Gasthaus, wo ich hoffte, ein Zimmer zu bekommen. Im Hotel hatte ich kein Glück, dafür aber im Gasthaus, wo eine Reihe von Pilgern ebenfalls dieselbe Idee gehabt hatte wie ich. Ich wartete geduldig, bis ich an der Reihe war, in der Erwartung, dass für mich noch ein freies Zimmer übrigbliebe. Ich hatte Glück und nützte nach dem Beziehen des Zimmers die Zeit bis zum Abendessen, um die romantische mittelalterliche Abtei samt Nebengebäuden in der warmen Sonne des Nachmittags zu fotografieren. Zum Abendessen wurde ich in einen Speisesaal eingelassen, wo die Pilger großen Tischen zugeteilt wurden. Ich saß mit acht anderen zusammen. Wir löffelten brav die fade Suppe aus. Anschließend gab es Nudeln, auf die ich wegen meiner Glutenunverträglichkeit verzichtete. Ich gehe davon aus, dass dies für die anderen ein glücklicher Umstand war, denn sie putzen alles weg. Die anschließende Forelle war klein und vertrocknet, das Joghurt zum Dessert gezuckert. Auf dem Tisch standen auch zwei Flaschen Wein, ich versagte mir aber heute, davon zu kosten. Auf irgendetwas Verlockendes soll man ja am Freitag als Fasttag verzichten. Ich gebe gleich zu, dass es das einzige Mal auf meinem Pilgerweg war, wo ich so standhaft asketisch geblieben bin. Die erste Mahlzeit auf spanischem Boden brachte mir also – teils aus eigenem Zutun – eine Enttäuschung.
Abtei Roncesvalles als erste Ansiedlung nach der Pyrenäenüberschreitung.
Der Rolandsbrunnen auf dem Lepoeder Pass.
Ein erster geistlicher Höhepunkt war der Abendgottesdienst in der um 1232 erbauten Kirche der Augustinerabtei. Ich ging dorthin mit zwei jungen Amerikanern, Josh und Crystal. Außer uns gab es nur wenige Pilger, die diese Gelegenheit nutzten. Die drei geistlichen Herren des Konvents wurden unterstützt durch den Erzbischof von Pamplona, der die Heilige Messe sehr lebendig und engagiert feierte. Sein abschließender Pilgersegen zog sich über Minuten. Ich verstand leider so gut wie nichts. Der für die Abtei verantwortliche Pater zeigte uns nach der Messe noch die Krypta und den Kreuzgang. Dazu gab es dankenswerterweise ein Infoblatt auf Englisch, denn seine Ausführungen waren für mich und die Amerikanerin Crystal im wahrsten Sinn des Wortes „spanisch“. Faszinierend war das Eintauchen in die Atmosphäre der mittelalterlichen Räume, in denen im Halbdunkel so vieles über den jahrhundertelangen Kampf des Christentums gegen den Islam, seine Niederlagen und Erfolge, zu erfahren und noch mehr zu erahnen war.
Noch ein paar Worte zu der von mir verschmähten Herberge: Im Lauf des Weges traf ich Pilger, die dort übernachtet hatten. Es waren zirka 100 Personen in einem Schlafsaal in Stockbetten untergebracht. Platz für die eigenen Siebensachen gab es außerhalb des eigenen Bettes fast gar nicht. Die Geräusche der Nacht sollen zudem unvergesslich vielfältig gewesen sein. Ich freute mich im Nachhinein sehr, dass ich mir das erspart hatte! Aber würde ich auf dem weiteren Weg solchen Schlafsälen entkommen?