Читать книгу Die Leute in Baubeln - Alfred Rohloff - Страница 3
Das Geheimnis der Heide
ОглавлениеBaubeln lag, wie gesagt, auf einem großen Bergrücken, der sich nach Süden wie eine Zunge in die Ebene erstreckte. »Groß« war dieser Bergrücken eben nur in dem Sinne, wie die Bewohner des küstennahen Flachlandes dieses Wort in den Mund nehmen. Von diesem Hügel dehnten sich nach allen Seiten die Wiesen und Felder, die sich im Frühjahr, wenn die Saat noch grün war, sich den Anschein einer weiten, vom Menschen noch unberührten Graslandschaft gaben, während sie in den Sommermonaten, da jedes Feld sich in seiner Eigenfarbe vom anderen abhob, den Eindruck erweckten, als habe hier der Mensch das Land zu einem von geometrischen Figuren durchwirkten Flickerteppich geknüpft.
Südlich von Baubeln aber zog sich der Wald hin, den man die Rominter Heide nannte. Er lag doch so weit von Baubeln entfernt, daß er den vom Dorfhügel schweifenden Blick nicht behinderte, aber wiederum doch so nah, daß er sich wie eine schöne, ruhige Kulisse vor dem Horizont lagerte und sich besonders des Abends schwarz und verschlossen wie ein großes Geheimnis in Erinnerung brachte.
Im Winter, wenn die Feldarbeit ruhte, schlugen dort die Leute aus Baubeln bei klirrender Kälte ihr Holz, was eine harte Arbeit war und darum auch nur unter nicht geringem Aufwand von Korn und Speck zu bewältigen war.
Aber auch im Sommer pflegten die Baubler einmal die Rominter Heide zu besuchen, – dann nämlich, wenn die Beeren herangereift waren. Dann war eines Tages im Morgengrauen ein großes Treiben auf der Dorfstraße zu bemerken, weil man mit mehreren Gespannen den Weg in die Rominter Heide antrat, beladen mit Eimern, Milchkannen und Kindern jeder Größe, die alle gefüllt sein wollten oder sollten mit dem köstlichen aromatischen Überfluß der Natur.
Noch heute, da die Baubler irgendwo verstreut in der Welt leben, denken sie jedesmal, wenn sie eine Flasche Saft in einem Supermarkt erstehen, an ihren Wald und ihren selbstgekochten Himbeersaft zurück; und wenn sie auch nicht genau wissen, was sie damals falsch gemacht haben, als die Zeit des Schreckens hereinbrach, – nicht genau in dem Sinne, daß sie mit Bestimmtheit hätten sagen können, was sie damals an diesem oder jenem Tage hätten anders machen müssen – so wissen oder ahnen sie heute doch, daß sie es in irgendeiner Weise mitzutragen haben, daß ihnen der Wald genommen ist.
Aber zurück nach Baubeln: Denn hier war im Laufe der vielen Sonnentage der Beerentag geradezu herangereift, so daß sich des Morgens, als der Tau noch silbern auf den Wiesen lag, auch Jan Kaschuweit mit seinen Leuten am hohen Kastenwagen zu schaffen machte, um alles Nötige, zumal Eimer und Kannen, aber auch Getränke und Eßbares, für die Tagesreise zu verstauen.
Zu »seinen Leuten« gehörten, da die Kinder der Kaschuweits in die Stadt gezogen waren, neben seiner Frau Renate, nur noch die auf ihrem Hofe angestellten Gehilfen Erwin und Hildegard, beide schon einige Jahre über Vierzig und in allen möglichen auf dem Hofe anfallenden Arbeiten sehr erfahren.
Mit Renate Kaschuweit, der Bäuerin, hatte es nun eine besondere Bewandtnis. Denn obgleich sie nicht gerade unter sehr vielen Menschen ihr Leben verbracht hatte – und wer konnte das in Baubeln schon von sich sagen –, hatte sie doch die Gabe, oder vielleicht sollte man besser sagen: meinte sie die Gabe zu besitzen, Beziehungen der Menschen untereinander schon nach flüchtigem Beobachten richtig einschätzen und beurteilen zu können.
Diese ihre Gabe hatte sie nun in letzter Zeit besonders auf das Verhältnis von Erwin und Hildegard geworfen, und so lag sie nun schon seit einigen Wochen mit ihrem Ergebnis dem Jan Kaschuweit in den Ohren.
»Du, die beiden, das sag ich Dir, die haben was zusammen«, meinte sie immer wieder, auch wenn Jan, das Resultat solcher Recherchen mißachtend, meist daraufhin nur brummte oder gar den Kopf schüttelte und bemerkte: »Wieso? Das glaub ich nicht.«
»Siehst Du denn nicht, daß sie dauernd zusammensitzen?«, fragte dann Renate besserwisserisch zurück.
»Na, mit wem sollen sie denn auch sitzen? – Es ist ja sonst niemand da«, wies Jan sie daraufhin meist zurecht – aber abbringen konnte er sie weiß Gott nicht von diesem Gedanken.
So beobachtete sie denn auch heute ziemlich unverhohlen die beiden, um möglicherweise eine sichere Gewißheit über dieses Verhältnis zu erlangen – eine Gewißheit, der gegenüber sich dann auch Jan zu beugen hätte.
Allerdings machte dies die Sitzordnung auf der Hinfahrt einigermaßen schwierig.
Ohne daß Jan auch nur die geringsten Anstrengungen unternommen hätte, die stillen Wünsche seiner Frau zu erraten, hatte er sich auf das vordere Brett gesetzt, das über die beiden Seitenwände des Wagens gelegt war, und hatte – dieser Ahnungslose! – seine Frau auch noch aufgefordert, neben ihm Platz zu nehmen. Erwin und Hildegard hatten auf eben einem solchen Brett im hinteren Bereich des Wagens Platz gefunden.
Wie nun diese beiden beobachten, wenn man hierzu doch den Kopf hätte wenden müssen? Nein, das ging nun nicht: Die würden das doch bemerken.
Fünf Wagen hatten sich an diesem Tage auf den Weg in den Wald gemacht, die anfangs noch in einer Kolonne fuhren, wobei manches Hallo, mancher Scherz und einmal gar eine Branntweinflasche von Wagen zu Wagen ging. Letzteres geschah, weil der lange Feuersenger gemeint hatte, daß man eine Erwärmung jetzt in der Morgendämmerung, da der Himmel noch sonnenlos sei, sehr nötig habe.
Nachdem man aber den Wald erreicht hatte, machten sich Individualismus und Wetteifer bei den Baublern in der Weise bemerkbar, daß jedes Gespann in ein anderes Gebiet des Waldes strebte, um schneller die Gefäße oder gar mehr Gefäße als die anderen zu füllen, denn jeder meinte besser als der Nachbar zu wissen, wo denn die überbordenden Beerenstellen des Waldes in diesem Jahr zu finden seien.
So waren denn auch Jan und Renate auf einer Lichtung des Waldes angelangt, deren übermannshoher Bewuchs zur Hauptsache aus Himbeersträuchern gebildet wurde, wobei sich allerdings – sehr zum Nachteil der Baubler Beerenleser – große und kleine Dornbüsche eingeschlichen hatten, was denn auch den Jan Kaschuweit veranlaßte, zu einer stets paraten Lebensweisheit zu greifen und sie brummend, mit ernstem Gesicht, nach außen zu tragen:
»Ich sag ja immer, es ist doch alles in dieser Welt gegen den Menschen gemacht.«
Aber trotz der augenscheinlich vorhandenen Dornen machten sich dann auch die Leute von Kaschuweit an die schwierige Aufgabe des Beerenlesens. Jan Kaschuweit selber hatte sich allerdings, wie er das nannte, »dazu eingeteilt«, bei den Pferden zu wachen, was man sommers im Walde manchmal tat, weil man fürchtete, die Pferde könnten, von Hornissen und Bremsen gepeinigt, »durchgehen«.
Natürlich wußte man im vorliegenden Falle nicht so genau, was alles denn den Jan Kaschuweit zu dieser Maßnahme veranlaßt haben könnte, ob es mehr die Sorge um die Pferde, der Widerwille gegen die bereits zur Genüge wahrgenommenen Dornen oder sein Hang zum Philosophieren war. Jedenfalls fühlte er sich viel wohler, nachdem er die Pferde ausgeschirrt und »seine Leute«, einschließlich Renate, in verschiedene Himmelsrichtungen in das Dickicht der Dornen und Beeren geschickt hatte. Und, den Blick auf seine beiden Braunen gerichtet, war er dann auch gleich zu Gedanken gekommen.
Diesmal war es ein Wunsch, der sich in seinem Kopf festgesetzt hatte. Er wünschte sich, den Schädel eines toten Pferdes über der Toreinfahrt zu befestigen. Am liebsten würde er einen solchen irgendwo im Innern des Hauses aufhängen, aber das würde Renate, darin war er ganz sicher, nicht zulassen.
Wie er auf so etwas kommen konnte?
Nun, er hatte an das Bild über seinem Bett denken müssen. Dort hing ein Druck des Dürerbildes »Hieronymus im Gehäuse«. Und wenn dieser weise Mann sich mit einem Schädel, dem Symbol des Vergänglichen, umgeben konnte, warum nicht auch er, Jan Kaschuweit?
Dabei schien ihm, nicht nur weil er ein Bauer war, sondern auch wegen der »ewigen Gevatterschaft des Pferdes und des Menschen«, wie er es nannte, ein Pferdeschädel das richtige zu sein.
Während der Mittagsmahlzeit, als sie alle im Grase saßen, die beiden Paare gleichsam sich gegenüber, versuchte Renate, ihn von der Seite her fortwährend anzublinzeln und mit ihrem linken Daumen in Richtung des anderen Pärchens zu zielen, so als wollte sie, sagen:
»Na, siehste, ich hab es doch gesagt«.
Aber Jan Kaschuweit, noch immer den Pferdeschädel vom Vormittag im Kopf, bemerkte »rein nuscht gar nuscht«. Das einzige, das er von der Welt wahrnahm und entgegennahm, waren die köstlichen Himbeeren und Blaubeeren, die Renate allen als Nachtisch kredenzt hatte.
Als sie sich dann wieder des Abends mit dem Fuhrwerk auf den Heimweg machten, schlug Renate vor, nun solle doch Erwin das Kutschieren übernehmen. Jan Kaschuweit fand das in Ordnung und dachte sich nichts dabei, als sie nun die Sitzordnung vertauschten, so daß Erwin und Hildegard vorne auf dem ersten Sitzbrett Platz nahmen, während er sich zu Renate auf das zweite Brett setzte.
Aber kaum hatte sich der Wagen in Bewegung gesetzt, da ging das auch schon los.
»Du siehst wohl gar nuscht«, eröffnete Renate flüsternd, aber auch ein wenig zornig, das Gespräch.
»Was soll ich denn sehen«, fragte Jan, immer noch den blanken Pferdeschädel im Kopf, mit ahnungsloser Stimme zurück.
»Na, hast Du Dir das Gesicht von Hildegard angesehn?«
»Wieso?«
»Dann hast Du auch nicht gesehn, daß sie mitten auf der Wange zwei blaue Flecken hat.«
»Ach« – mehr brachte Jan Kaschuweit nicht hervor.
Und dann ging das Flüstern weiter, wobei der fahrende Wagen und die Sielen der Pferde so viel Geräusch erzeugten, daß die vor ihnen Sitzenden nichts davon hören konnten.
»Und ich weiß auch, was diese beiden Flecken sind«, zischelte Renate wieder, »das sind Blaubeeren, da kannst Du mir sagen, was Du willst!«
Aber Jan Kaschuweit wollte eigentlich gar nichts sagen.
»Ja, weißt du, die waren in die Blaubeeren gegangen, obwohl sie doch zuerst Himbeeren pflücken sollten«, flüsterte Renate weiter, »ja, und dann hat er sie geküßt mit seinem Blaubeermund.«
Wieder strömte nur das »Ach?« aus Jan Kaschuweits Mund.
»Aber ich bitt Dich, nu wird sich die Hildegard, eine ausgewachsene Person, beim Blaubeerenessen bekleckern? Das glaubst Du doch selbst nich.«
Eigentlich wollte Jan Kaschuweit durch sein Schweigen andeuten, daß er da an gar nichts glaubte.
Aber dies alles war noch längst nicht das Ende der Untersuchungen von Renate Kaschuweit.
»Und hast Du nicht gesehen, wie sie beide miteinander wisperten, ehe sie in verschiedene Richtungen zum Beerensuchen in den Wald gingen? Und hast du gesehen, wie sie gegen Abend genau zur selben Zeit, wenn auch aus verschiedenen Richtungen, aus dem Wald kamen? Glaubst du an solche Zufälle?«
Jan Kaschuweit wollte eigentlich an gar nichts glauben.
Renate aber flüsterte immer leiser und hatte dabei ihr Gesicht ganz nah an den Kopf des Jan Kaschuweit gebracht.
Dieser hatte allerdings so langsam seine Standhaftigkeit verloren, als er sich noch sagen hörte: »Na, vielleicht hatten sie ihre Uhren aufeinander abgestimmt.«
»Du, das müssen dann wohl schon innere Uhren bei den beiden sein – ja, weißt Du denn gar nicht, daß Hildegard überhaupt keine Uhr besitzt?«, flüsterte Renate wieder und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen an.
»Na, und glaubst Du, das ist beim Küssen geblieben? Hast Du nicht gesehen, wie sie abends verdattert waren, sich gegenseitig gar nicht beachtet haben und schnell zur Seite schauten, wenn sich ihre Blicke trafen, so als seien sie ertappt worden?«
Ihr fragendes Geflüster war seinem Mund jetzt ganz nahe gekommen und drängte sich ihm fast auf die Lippen.
»Na, und siehst Du nicht, wie sie da vorne sitzen, so eng beieinander, gerade so, als wären sie bei dieser Schummrigkeit ein einziger Mensch?«
Erst jetzt bemerkte Jan Kaschuweit, als er Renate von der Seite anblickte, daß sie des Morgens ihre immer noch aschblonden Haarflechten sorgsam um den Kopf gelegt hatte, was ihrem schlanken Hals eine schöne Wirkung gab.
Darum konnte er nun nichts anderes tun, als in ihre braunen Augen zu blicken.
Bei dem Geflüster aber waren Ohr und Ohr wie auch Mund und Mund einander immer näher gekommen.
»Weißt Du, wenn man das soo sieht und die Sache richtig bedenkt, dann möchte man ja rein selber noch …«, flüsterte Jan Kaschuweit plötzlich und machte ihr einen Himbeermund.