Читать книгу Die Lobensteiner reisen nach Böhmen: Zwölf Novellen und Geschichten - Alfred Doblin - Страница 5
Die Schlacht, die Schlacht!
ОглавлениеArmand Mercier geht seinen Freund Louis suchen.
Weiche schmelzende Schultern, Louis Poinsignon, in blaue Kittel gehüllter dünner Rumpf, schiebende Beine in hohen schwarzen Stiefeln, Louis, den blauen Schal um den Hals.
Daß er tot ist, wer glaubt das? Seine Mutter in Vareau heult, steckt sich die Daumen in die Ohren, kaut Teeblätter. Seine Mutter heult! Hähä, wollen sehen. Noch hat man einen Kopf und spuckt auf einen Wisch von Depesche.
Armand prustet neun Tage um sich, hat eine blasse Nase, merkt nicht, daß Frost da ist; sein Schacht verdreckt, Wasser rennt armdick über den Boden, Pumpen ziehen nicht.
Louis Poinsignon mit dem strohblonden glatten Haar steht nicht im Maschinenhaus, kommt nicht zum Tricktrackspiel. Gegen die Preußen gekrabbelt mit den andern; und ich auf eine Grube aufpassen. Die Ameise, das Ameischen, Louis Poinsignon, das fleißige saubere Ameischen, das sie zertreten haben, und ich auf die Grube aufpassen. Das alte Weib heult: was geht’s mich an! Die Frau hat keinen Begriff. Entweder ist er tot und dann, — Armand kaut an seiner Zunge und ist besinnungslos, — oder eben: er ist nicht tot. Oder er ist eben nicht tot. Er ist eben nicht tot. Ist nicht tot. Louis ist nicht tot.
Am zehnten Tage sagt er sich: man ist kein Sklave; wenn Louis Poinsignon im Hügelland von Roye gefallen ist, dann ist es um was geschehen. Pfeifen, Trompeten, Trommeln, dann sollen sie mal trommeln, bumberum bumm bumm, titiliti. Mütze in die Ecke, Rock in die Ecke, ein Bad genommen. Nach Hause. Sieben Uhr abends. Armands Augen lesen die Schilder des Städtchens ab: Féréol Gide, Drogerie; Witwe Walter, Kostüme; Camille Ticeuze, Pfandleihe. Nun ade, du mein lieb Heimatland.
Elf Uhr; noch einmal in der Kammer rasiert. „Adieu, liebe Frau, ich geh’ ins Wirtshaus, Muscheln essen.“
„Pssst, Amélie schläft.“
„Nacht, lütte Amélie.“
Bergmannskappe über die Ohren, Finsternis in den gewundenen Straßen, Novembersturm. Verkrochen in den steifen schwarzen Ledermantel, Blendlaterne ins dritte Knopfloch gehakt. An den roten Wirtshausfenstern geduckt vorbei. Witwe Walter, Kostüme; Féréol Gide, Drogerie; Metzgerei vom dicken Camille.
Nasser Gischt in der Luft, freie Äcker. Preußen, Bayern, wenn ihr Louis habt, gebt ihr ihn her. Weißer zappelnder Laternenkreis immer zwei Schritt vor den Stiefelspitzen. Marschieren. Der Lehm saugt an den Stiefeln. Marschieren.
Zunächst Dizennes; geschlossene Fensterläden. Dann der Besitz von Herrn Uzaire; durch den gesperrten Wildpark; alles tot; die Vögel runtergeholt; kein Wächter; ah, Kaninchen. Chaussee nach Craor. Ein Leiterwagen. „Nehmt ihr mich mit nach Roye?“ „Wenn du blechst, bis Craor.“ „Und nach Roye?“ „Geht nicht weiter.“
Auf Mehlsäcken bis in den Vormittag hinein, schnarchend, kauernd, hochfahrend. Einmal kollert er rückwärts, faßt einen Sackträger beim bloßen Hals, rollt ihn seitlich über die Bretter; der wollte ihm was wegnehmen, ihn berauben. Mißverständnis im Halbschlaf, aber das Glas der Blendlaterne vorn ist kaputt, das Blech vom Gehäuse verbogen, das Mantelleder qualmt, stinkt.
Kalte graue Helligkeit. Nackte Felder, endlose Felder. Es bullert. Es stößt gegen den Horizont. Deutlicher, abgegrenzt, ein langgezogenes „Dumm“; immer Orgelgrundbaß nachschwingend.
Gefahrenzone.
Radfahrersoldaten rechts nach vorn vorbei, links nach vorn vorbei; Konservenbüchsen in den Tornistern klappern. Patrouillen latschen zu zwei, zu fünf, Knarre auf dem Buckel, kalte Tabakspfeifen zwischen den Zähnen; blinzeln gegen den Himmel; die Stiefel unten zerquarken den Lehm. Linker Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ rechter Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ linker Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ rechter Stiefel: „Alles Wurscht“, linker Stiefel: „Alles Wurscht“, rechter Stiefel. Pässe, Pässe. Man kommt nicht durch. Runter vom Wagen. Dicke Menschenhaufen aus dem Dorf. Alle rückwärts nach Bagolles, nach Petit-Bagolles, nach Bordigaux. Bettsäcke, Kinderwagen, Handkarren, Vogelbauer. Armands Heimat wird morgen Großstadt, der Heurige, die Schnecken werden nicht reichen. Alle rückwärts.
Dahinten brennt’s doch nicht! Dahinten brennt’s. Die Preußen schießen.
„Wo geht’s nach Crataires?“
„Verrückt. Nicht durchzukommen. Die Preußen schießen.“
„Wo geht’s nach Crataires?“
„Was willst du in Crataires? Die Großmutter abholen? Die wärmt sich die Beine da. Guck hin.“
„Herr Wachtmeister, ich heiße Armand Mercier, ich muß durch. Ich habe Verwandte in Crataires, eine Frau, meine Schwester, mit zwei Kindern, zwei kleinen Kindern; das eine acht Monat. Der Mann steht in Toulon. Man kann die Frau nicht umkommen lassen.“
„Wie lange wollen Sie noch reden.“
„Die Frau ist hilflos. Ich bin aus diesem Kreis, Mercier heiße ich, man muß mich durchlassen. Ich kann es nicht auf mich nehmen.“
„Wie lange wollen Sie noch reden. Etappenwache drüben links, holen Sie einen Paß.“
„Es eilt, sehen Sie ja, Herr Wachtmeister, um Marias willen. Bester Herr. Der Mann steht bei der Hafenkommandantur, Vizefeldwebel, ein sehr zuverlässiger Mann, Sie können sich denken. Ich werde es Ihnen nicht vergessen. Ich wohne in der Straße, wenn Sie über Dizennes kommen, gleich links die zweite Querstraße.“
„Hollah, hol-lah! Die Herrschaften da! Wo wollen die Herrschaften hin? Sie in dem Auto! Haben Sie Paß! Kommen Sie runter, wenn Sie nicht verstehen. — Drüben links, Etappenwache. Ich sage doch ‚links‘. — Wie lange wollen Sie noch reden.“
Soldaten kommen durch. Eine Uniform stehlen. Wo liegen Verwundete? Wo ein Schlachtfeld? Armand Mercier stellt sich in eine Nische neben den Paßkontrolleur, studiert Menschen. Braucht Größe 1,80. Sachte trabt ein Korbwägelchen an, herum rutscht es um den Zaun, auch zurück nach Dizennes.
Zwei Soldaten drauf, stämmige Burschen, einer mit rotem Bändchen, aber Kopf verbunden. „Dumm! Dumm!“ Bullert gewaltig, man geht, fährt, läuft schneller.
„Guten Morgen, Kamerad.“ Sie schreien „runter“, der mit dem Kopfverband will mit den Hacken gegen Merciers anklammernde Finger; schon kniet Mercier auf der scharfen Bodenkante des Wägelchens, Seitenlatte angepackt, das Pferd rast vorwärts, lang fegt der schwarze Ledermantel durch den Straßenmist. Mercier keucht: „Nach Roye; ihr nehmt mich doch mit. Ich zahle.“ Mercier ist verbissen; er brabbelt den beiden stier ins Gesicht, während er sich hochhangelt: „Meine Schwester hat zwei Kinder, der Mann steht in Belfort, Vizefeldwebel, ein zuverlässiger Mann.“
„Wir fahren ja nach Dizennes, rückwärts fahren wir.“
„Ich meine Dizennes. Er hat mir ans Herz gelegt, für seine Kinder zu sorgen.“
Vorn flüstern die beiden. Armand hockt hinter ihrem Rücken unter dem runden Dach, schielt über ihre Schultern, prüft ihre Uniformen. Sie flüstern schärfer. Als sie kurz vor Dizennes langsamer fahren, übernimmt der gesunde schlankere die Zügel, der mit dem Bändchen stemmt sich plötzlich mit seinem ganzen Katzenbuckel gegen den hochgestülpten Pferdetrog, ruckt nach hinten herumschnellend die Beine gegen Armands Beine, wie ein Hampelmann. Rutscht dabei vom Trog ab, gibt sich heftige Stöße gegen Kopf und linke Schulter an zwei Kistchen mit Liebesgaben, weil Armand inzwischen seine Füße über den Knöcheln zu fassen gekriegt hat und er nicht loskommt. Der Schlanke haut das Pferd. Als sie sitzen und Armand sich die Hände an den Kistendeckeln abgewischt hat, verlangt er von dem Schlanken, der kutschiert, Uniform und Urlaubspaß, für fünfzig Frank in Gold, leihweise. Gelächter. Der mit der Kopfwunde will kutschieren; hat vor, aus Wut, sie alle drei in Dreck zu setzen. Vorher gelingt es Armand, nachdem er lange mit der Zunge geschnalzt und ein verliebtes Schmunzeln hinter mehreren spazierenden Mädchen aufgesteckt hat, den Schlanken, der rauflustig ist, hinter sich herzulocken auf die Chaussee, einer kleinen Bäuerin nach, die auf dem Kopf mit dem Strohkranz einen hohen Korb balanciert. Statt aber das Mädchen im Birkengehölz hinzulegen, wird der Soldat dicht hinter der Fliehenden, die den Korb schon in der linken Hand schwingt und den Mund atemlos zum Schreien aufreißt, am Sandplatz vor dem Gehölz durch einen versehentlichen Ellbogenstoß über eine Wurzel gerempelt. Armand stolpert über den Gestürzten, der sich abwechselnd Kinn und Knie reibt, kriegt den schon Hochkletternden am Hals über der Binde und fängt mit dem Schnappenden ein Handelsgeschäft an. „Also fünfzig Frank, siebzig Frank und das Mädel für dich allein. Aber fix, in zehn Minuten ist sie außer Sicht. Wir bleiben gute Brüder. Hand weg. Es geht nicht anders.“
Der schluckt und juchzt wie ein Fisch, den man bei den Kiemen hat und der nach hinten mit der Schwanzflosse schlägt. „Spion, ich schreie.“
„Schrei. Kriegst den Daumen drauf. Schreist? Also du ziehst meine Sachen an, gehst in die Ferme und holst das Mädel. Kein Mensch fragt nach dir.“
„Ich schrei doch.“
„Kriegst den Daumen.“
Der Soldat zieht sich, während er in dem Sandloch sitzt, atmet und wieder rosa wird, die Stiefeln aus, fragt unsicher, ob der andere einen Ausweis hat. Der taucht aus seinem Mantel, hat im Nu die Stiefel erwischt. „Drei Tage kriegst du meine Steigerkarte, für den Weg, für die Gendarme und so. Bis man raus hat, wo du steckst, bist du wieder da.“
„Meine Kluft.“
„Wirst du wiederhaben.“
„Alles?“
„Zehn Frank nachher.“
Beide frieren im Hemd, zusammengekrümmt im Sandloch, belauern sich, kratzen sich die Waden. Der schlanke, während er sich Armands Hosen anzieht, findet in der Hintertasche etwas Hartes, ein Messer, verlangt plötzlich fünfundachtzig Frank. Armand tut, als merkt er nichts, sagt zu und stellt den Fuß auf das Seitengewehr am Boden. Damit abgemacht.
Drüben knallt der Blessierte, der sie in den Chausseegraben setzen will, neben dem Wägelchen mit der Peitsche. Armand das leichte rote Käppi auf; Pioupiou schlurrt im Ledermantel, Blendlaterne am Knopf, zufrieden mit fünfundachtzig Frank Gold in der Faust. Wiedersehen hier in drei Tagen. Pioupiou tänzelt bartzwirbelnd in die Ferne, rafft den Mantel wie einen Damenrock.
Armand um den Wagen herum. Die Chaussee nach Nordosten. Wieder in die Gefahrenzone. Der Tag ist um. Scharf durch die gegenflutenden Menschenmengen, hinter Munitionskolonnen. Die Pferde stürzen auf dem Glatteis; Peitschen, Gewehrkolben über sie. „Dumm, Dumm“ von rechts hinten; das Echo rollt „Dumm —“ lang zwischen den Zähnen aus.
Kürassiere gehen ohne Pferd stumm jenseits des Bächleins. „Ich will zu meinem Regiment, Territorial-Ersatzbataillon 81.“
„Gibt’s das noch, dein Regiment?“
„Territorial 81 Ersatz. Oha, oha. Wo werden die sein.“
„Bruder, komm mit, wir wischen aus. Ich weiß Bescheid.“
„Oha, oha, sein Regiment, 81 Territorial-Ersatz.“
Der Etappenaufseher, Unteroffizier, weißköpfig, schreit ihn durch ein Fenster am Torhaus an: „Sie hätten mit dem Zug fahren sollen um acht Uhr zwanzig von Craor. Ihr seid Drückeberger, Vaterlandsverräter.“
„Hier ist mein Paß.“
„Sie haben noch bis zum 26. Urlaub.“
„Ich verzichte.“
Ein Sanitätsauto rasselt an und trillert. „Den Mann mitnehmen.“
Unterwegs, als schon der hohe Granatengesang deutlich vor ihnen ist, lockert Armand heimlich den Drücker der Tür, denn er sitzt im Wagen auf der Trage; helle Angst, daß sie ihn zur Stellung der 81er bringen und entlarven. Läßt sich, als das Auto langsamer zu fahren scheint, der Weg dunkel und voller Lärm ist, rasch rückwärts in den Dreck fallen. Ein Radfahrer springt dicht vor ihm ab.
Heller Mond, durchsichtige Nacht. Rechts, links sanft ansteigende Hügel; glatt rasierte Abhänge. Chausseen in der Talwindung; an schwarzen geteerten Holzbaracken vorbei, Sägereien, auf vorgeschobenem Hügel eine drehende Windmühle. Weißer, flirrender Bündel von der Mühlenspitze nordwärts in die Nacht gebohrt, still sich kreuzend mit einem Schein, der von unsichtbarem Orte in die Finsternis sich schiebt und schleicht und verschwindet und plötzlich über das Tal mit aufblendendem Nebel schwimmt und kilometerweit abgleitet. Menschen, Wagen drängen auseinander. Armand mit einer Trainkolonne biegt links ab; bei Grandmoulin sind die Stellungen der Reserven und Louis Poinsignon. Matt ist Armand Mercier; er reitet auf einem Vorspannpferd und ißt Corned beef aus einer Schachtel. Immer neue Hügel. Wenn das Wagenknarren aufhört, „Hui — i — i — iahh!“ der Granaten, meckerndes „Päng —päng —päng“ dazwischen. Die Eisschalen unter den Pferdehufen knacken.
Breit und lang die Chaussee. Nur die Munitionskolonne reitet hier. Dies ist der Weg zu Louis Poinsignon. Armand Mercier weint heiß vor Trauer, krampft mit der linken Hand in die Mähne des Tieres, zieht die Knie an dem atmenden Tierleib hoch. Wäre er zu Fuß, würde er sich haben hinsinken lassen und stundenlang nicht aufgestanden sein. Das Pferd trägt ihn zu Louis Poinsignon, der nicht da ist. Am Ende der Chaussee wird das Dorf mit dem Quartier sein, und Louis Poinsignon ist nicht da. Die Schwäche hält ihn auf dem Pferd; das trottet, hebt sich, senkt sich. Es geht wehrlos weiter durch die stille Chaussee. Hier kann kein Louis Poinsignon existieren, es ist unmöglich. Hier ist der Mann weggerafft.
Rot und röter loht von rechts der Himmel. Niedergebrochen blickt durch Tränen Armand Mercier auf den Himmel, stumm geradeaus bewegt sich die Kolonne. Seine Augen bleiben gefangen an der Röte, die hochdrängt, fast im Halbkreis des Horizontes. Mit Befremden, Bitternis und Abscheu betrachtet Armand den Flammenschein, die Chaussee, den vorüberziehenden Wald. Auf die linke Chausseeseite herüber biegt sein Zug, hält an. Und da rattert es vorbei, vom Dorf herunter, die hochtürmigen Transportautos, die strohgefütterten Wagen, die offenen ungeschützten Bretterwagen mit den Verwundeten, den zerschossenen Soldatenleibern, die angeblafft sind von den aufbäumenden Granaten, die stöhnenden, über deren Köpfe Mauerwerk gepoltert ist, die japsenden, halb erstickt aus den Giftdämpfen der Schützengräben gezogen, ausgestreckte Leiber in nicht endender Reihe hintereinander, in weiße Verbände geschlagen, durch die das Blut sickert, eine träumende delirierende Schar, der furchtbar drängenden Macht drüben aus den Zähnen gedreht.
Louis Poinsignon tot. Bevor das letzte Auto an der gebückt harrenden Kolonne vorübersurrt, ist Armand Mercier in den Wald geglitten. Wandert um das Dorf herum, er will nicht in das Quartier der Reserven. Von dem grauroten Flammengewölbe schmettert es in malmenden Lagen nieder, haushohe Feuergarben quellen aus der Erde. Eine Esse; Hammer, Amboß.
Schmerzvoll schleicht Armand Mercier aus dem Wald heraus; verstohlen Flüchtende auf allen Seiten um ihn; eine schattige Figur kommt über die Wiese gelaufen, hat einen weißgarnierten Hut in der Hand. Armand geht, ohne zu wissen, was er tut, neben ihr her, als sie zwischen die erste Stammreihe eingetreten ist. Das zarte Dämchen hat ein Plaid über der linken Schulter, ihr Rock ist bis zur Hüfte mit Lehm bespritzt. Sie sagt entrüstet: „Ich wohne in Roye; wir müssen fliehen, mein Vater und meine Schwestern kommen gleich nach.“
„Aber Fräuleinchen, Fräuleinchen Nini.“ Er tatscht sie zutraulich.
Sie reißt sich ab, sieht ängstlich um sich. „Ach Gott, Herr Mercier. Aber Sie sind es.“
„Fräulein Nini.“
„Sehen Sie. Sie sagen nichts zu Hause. Ich bin erst drei Tage weg. Ich habe George besucht, meinen Verlobten, den Buchbindersältesten, George steht hier.“
„Mit dem sind Sie verlobt?“
„Heimlich. Sie sagen nichts zu Hause. Gott, ist das ein Zufall. Sie sind’s doch wirklich, Herr Mercier. Ich wußte gar nicht, daß Sie einberufen sind. Bei welchem Regiment stehen Sie eigentlich.“
Armand aber wundert sich wenig. Setzt ihr den Hut auf, steckt die Nadeln fest, nimmt das Plaid und legt ihn ihr um die Schultern, dann nimmt er sie unter den Arm: „Kommen Sie mit.“
Sie lächelt ihn glücklich an: „Armand, ich habe gar nicht gewußt, daß Sie eingezogen waren.“
„Ja, doch.“
„Sonst hätte ich Sie auch besucht.“
Er den Kopf tief zwischen den Schultern wandert mit ihr ziellos durch den Wald. „Nini, man müßte etwas zu trinken haben.“
Er kneift sie und pfeift. Sie kichert ihn an: „Wie nett Sie sein können. Wissen Sie, Armand, im Krieg sind alle Männer viel netter.“
Ihre Augen schließen sich, während sie sich an Armand schmiegt. Sie sind in eine Lichtung getreten, ein Reiter kommt aus einem Seitenweg im Galopp auf sie zu, ein Feldgendarm. Sie stäuben auseinander; beim Weglaufen winkt Nini Armand zu, weist, wo sie sich versteckt. Nach einer Viertelstunde knackt es im Buschwerk neben Armand; Nini zieht ihn am Arm: „Tippel, tappel, tippel, tappel,“ kichert sie; sie kommandiert, als sie sich, die Hände voraus, vorsichtig durch das Dickicht drängen: „‚Mann, wie heißen Sie? Wo stehen Sie im Quartier? Wie können Sie sich hier mit einer Weibsperson herumtreiben!‘ Hab’ ich gehört; mit George. Der Unterleutnant hat gesagt: ‚Daß mir keiner eine „Sie“ bei sich hat. Ein Soldat mit ’ner Ziege saust rin.‘ Armand, glauben Sie, daß ich Mut habe?“
Sie blickte ihn erwartend an.
„Doch, Nini.“
Ihr Gesicht leuchtet auf: „Oh! Aber pfui, das reißt ja. Ich war bei George im Schützengraben. Es waren noch andere Fräuleins da. Als der Wachhabende es merkt und mich sucht, versteckt mich George; er will mich verstecken, aber er hat nur eine Kiste da, vorn an der Brustwehr, eine Brotkiste, wissen Sie, so ein langes hohes Ding. In die Kiste bin ich reingesprungen, wie ich war; er hat mich hochgehoben; lieber mich von den Preußen totschießen, als von dem groben Kerl anfassen lassen. Oh, der ist grob. Der weiß gar nicht, was er tut, so wütend ist er immer. Und auf mich hatte er es immer abgesehen, der schlechte Mensch. Denken Sie, Armand — Sie sind mir nicht böse, wenn ich Sie Armand nenne? Sie sind doch heute so nett zu mir. Da bin ich oben zwischen den Steinhaufen in der Kiste gesessen, die hatte vorn ein großes Loch, fast wie ein Kopf groß, von einem Stück Granate, und ich sitze da oben und höre den Wachhabenden schreien und tuen und brüllen, er sucht mich im ganzen Graben. Und George hat immerzu geschossen, oh, der kann schießen, ein Mal hinter dem andern, am fleißigsten von allen; ich hab’ nicht gesehen, wo er hingeschossen hat. Die Preußen haben nichts dazu getan. Ich habe mich auch gar nicht gefürchtet; ich habe immer zugehört, wie George geschossen hat. Er hat mir gesagt, er hätte keinen Preußen an mich herangelassen; zwanzig oder dreißig hat er totgeschossen in einer Stunde, bums, bums, immerzu. Nachher war ich ganz glücklich. Ich geh’ bald wieder zu ihm. Oh, mir gefällt der Krieg.“
Lichtschein zwischen den Stämmen vor ihnen; er arbeitet sich mit ihr gedankenlos drauf zu; frieren beide nicht. Plötzlich zehn Schritt vor ihnen grell bestrahlter Boden; geöffnete Blendlaterne im Moos, erzählende Männerstimmen. Zwei Posten in weißen Pelzen, Gewehre hingelegt, lachen, treten von Bein auf Bein, schlucken, kauen, was sie aus großem, dampfendem Blechtopf neben der Laterne mit Fingern fischen.
„Der merkt nichts. Der weiß nicht mal genau, ob er seinen Topf noch hat.“
„Ein Schaf. Ich kenn’ ihn dafür.“
„Wer sollte das kriegen?“
„Na, wer wohl? Na, rat mal! Wer kann wohl ein Huhn kriegen?“
„Na.“
„Na, rat mal. Immer derselbe. Immer derselbe dicke Vize; aus dem Lazarett stiehlt er hintenrum, wo er’s kann. Nebenbei schickt er das Schaf auf Suche. Abends sitzt ihm eine gewisse auf dem Schoß.“
„Pass’ auf, heut kontrolliert er Lazarettposten. Von mir findet er nichts.“
„Von mir nicht mal ein Knöchelchen; fress’ alles reinweg runter. Er kann schnüffeln.“
Hocken hinter der Laterne, gießen sich gegenseitig Suppe in zusammengelegte Handteller.
Jenseits der Lazarettlichter hinten flackert es auf einmal, erlischt oft, es ist Stroh, Männer schütten von einer Erhöhung Bettsäcke ins Feuer. Armand kann sich nicht rühren; langsam hat sich Nini, während er hockt, über seine Knie an seine Brust gedrückt, atmet tief und gleichmäßig.