Читать книгу Verträumt - Alicia Witowski - Страница 4
100 Jahre später …
ОглавлениеWeiche Lippen auf meinen. Das ist das erste, was ich spüre. Es ist nur eine kurze, zärtliche Berührung, doch sie lässt mich wieder zu Bewusstsein kommen. Ich schlage die Augen auf und blicke in das Gesicht eines jungen Mannes. Schüchtern und mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht sehe ich ihn freundlich an. Er weicht mit seinem Kopf etwas zurück, dennoch schaut er mich grinsend an und mein ganzer Körper scheint zu kribbeln. Schmetterlinge tanzen in meinem Bauch und ich kann nicht aufhören zu lächeln.
Doch plötzlich stürmen alle Erlebnisse auf mich ein: Die Treppe. Die Frau. Das Zimmer. Das Spinnrad. Die Spindel. Die Lache. Ich bekomme eine Gänsehaut.
Schnell fahre ich hoch, werde jedoch sofort von einem heftigen Schwindelanfall überfallen, sodass ich mich direkt wieder hinlegen muss und mein persönlicher Held wieder an meiner Seite ist.
„Dornröschen, alles in Ordnung? Geht es dir nicht gut?“, fragt er besorgt.
„Du kennst meinen Namen?“, frage ich verwundert und reibe mir meine Augen, die sich noch wehren, offen zu bleiben.
„Jeder kennt ihn. Schließlich hast du auch hundert Jahre geschlafen. Es wollten schon viele durch die dichte Dornenhecke, die sich um das Schloss bildete, dringen, doch sie sind alle gescheitert.“
Ich weiß nicht, was ich zuerst denken oder tun soll. Hundert Jahre?! Mein Gott, wie mag ich nun wohl aussehen? Dornenhecke?
In dem Moment deutet der mir noch immer namenlose, aber zweifelsohne sehr gut aussehende junge Mann nach draußen und ich habe das Gefühl, ich sei im Paradies. Überall wachsen wunderschöne rote Rosen und verleihen dem Schloss eine unbeschreiblich schöne und romantische Atmosphäre, die kaum zu beschreiben ist.
„Und hab keine Angst, du siehst wunderschön aus“, höre ich da eine flüsternde Stimme dicht an meinem Ohr, die mir eine Gänsehaut beschert. Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung , sodass unsere Nasenspitzen sich fast berühren und merke, wie mein Herz anfängt, stark zu pochen, als wolle es mir aus der Brust springen.
„Verrätst du mir nun deinen Namen?“, hauche ich und sehe in seine wunderschönen blauen Augen.
„Phillip. Prinz Phillip.“ Zärtlich streicht er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sieht mich lächelnd an.
Ich bin unschlüssig, wie ich reagieren soll, doch er kommt mir zuvor: „Bitte, nenn mich einfach Phillip und vergiss den Prinzen.“ Ich nicke lächelnd. „Denn das ist unbedeutend. Ich würde dich genauso lieben, wärst du eine Magd, mein schönes Dornröschen.“
Glücksgefühle strömen von meinem Bauch in meinen gesamten Körper und ich kann einfach nicht aufhören zu grinsen. Da umfasst Phillip meinen Kopf mit seinen Händen und küsst mich. In diesem Moment scheint die Zeit still zu stehen und ich wünsche mir, weitere hundert Jahre würden so vergehen.
Als wir uns voneinander lösen, trifft mich ein Sonnenstrahl auf der Wange und die Wärme, die ich dort spüre, spüre ich im gesamten Körper.
Vorsichtig taste ich mein Gesicht ab und Phillip fängt an zu lachen. „Ich habe dir doch gesagt, dass du wunderschön aussiehst.“ Schon im nächsten Augenblick wird er wieder ernst und sieht mich intensiv an. „Alles an dir ist perfekt.“ Ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt und wende meinen Blick ab. Vorsichtig versuche ich nun aufzustehen und als ich mit beiden Beinen auf dem Boden stehe, strömt alles auf einmal auf mich ein. Mutter. Vater. Was ist mit ihnen? Wieso habe ich hundert Jahre lang geschlafen? Ich bin zwar etwas müde, doch müsste ich mich nicht eigentlich ganz anders fühlen nach hundert Jahren? Müsste ich nicht alles noch mal neu lernen? Sprechen? Laufen? Mich bewegen? Müsste ich nicht eigentlich tot sein? Wie kommt es, dass ich während dieser hundert Jahre nicht gealtert bin?
„… mich heiraten?“, höre ich da eine Stimme wieder in mein Bewusstsein dringen. Phillip sieht mich erwartungsvoll an und schon wieder färben meine Wangen sich rosarot.
„Wie bitte?“, stammle ich und als ich in sein enttäuschtes Gesicht schaue, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. „Tut mir leid, ich war ganz in Gedanken.“
„Ich werde aber nicht alles wiederholen, was ich soeben gesagt habe“, meint er und grinst mich an. Erleichtert atme ich aus und gehe zwei Schritte auf ihn zu. „Dann wiederhole nur das Wichtigste“, flüstere ich. Phillip schluckt.
„Mein liebes, wunderschönes Dornröschen“, haucht er, „möchtest du meine Frau werden?“
In diesem Moment ist alles andere egal. Es existieren nur wir beide. Nur er und ich. Anstatt zu antworten, beuge ich mich zu ihm und küsse ihn erneut; dies scheint mir Antwort genug. „Aber ich muss erst Vater bitten“, meine ich dann und Angst durchflutet mich. Angst, er könnte etwas dagegen haben. Doch in Phillip habe ich meine andere Hälfte gefunden. Es scheint, als würden wir uns schon viel länger kennen, uns schon unser gesamtes Leben lang lieben.
„Komm, ich möchte nach Vater und Mutter sehen. Schließlich habe ich hundert Jahre geschlafen.“ Dieser Gedanke versetzt meinem Herzen einen Stich und ich sehne mich urplötzlich nach meinen Eltern. Ohne auf Phillip zu warten, öffne ich die Tür und gehe die Treppe hinunter. Dabei stolpere ich einmal fast über mein Kleid und muss mich an der steinernen Wand festhalten. Hier halte ich einen Moment inne. Wie konnte es nur so weit kommen? Die mysteriöse Treppe. Die alte Dame. Was hat es mit all dem auf sich? Augenblicklich läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich fröstle. Ich habe das Gefühl, eine eisige Hand streift mich am Rücken, doch den einzigen, den ich entdecke, ist Phillip, der mich liebevoll anlächelt. Schnell gehe ich weiter, schaue in dem Gemach meiner Eltern nach und gehe dann weiter in die Küche.
Von einer Sekunde auf die andere bleibe ich wie angewurzelt stehen. Hier sieht alles noch genauso aus wie ich es in Erinnerung habe. Susanna ist mit der Creme, die ich gekostet habe, beschäftigt und die prachtvolle Torte strahlt noch immer in demselben Glanz. Verdutzt sehe ich mich um, als Susanna mich erblickt.
„Dornröschen“, ruft sie und kommt auf mich zugeeilt. „Mein Liebes, wie geht es dir?“ Ehe ich antworten kann, muss ich mich aus ihrer festen Umarmung befreien. „Was ist hier los, Susanna? Wo sind Vater und Mutter?“
Ich bemerke ihr Zögern, doch ehe eine von uns etwas erwidern kann, höre ich Stimmen aus dem großen Saal dringen und ich drehe mich auf dem Absatz um.
„Vater! Mutter!“, rufe ich, als ich die beiden am anderen Ende des Saals sehe.
Wir laufen aufeinander zu und fallen uns unter den funkelnden Kronleuchtern in die Arme.
„Dornröschen, mein Engel, geht es dir gut?“
„Du hast dich an einer Spindel gestochen, nicht?“
„Wie fühlst du dich?“
„Wo ist die alte Hexe?“
„Schätzchen, brauchst du irgendetwas?“
„Wer ist das?“
Meine Eltern stellen zu viele Fragen auf einmal, ihre Stimmen dringen viel zu laut und zu schnell in meine Ohren und ich fühle mich vollkommen überfordert. Nun schauen sie Phillip an, der sich dezent etwas hinter mir aufhält und geduldig wartet. Als er die Blicke bemerkt, kommt er langsam auf uns zu und verbeugt sich leicht.
„Eure Hoheit.“
„Wer seid Ihr?“, fragt mein Vater und blickt ihn skeptisch an.
„Mein Name ist Prinz Phillip aus dem benachbarten Lande. Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen.“ Wieder eine elegante Verbeugung. Meiner Mutter gibt er einen Handkuss, was sie sehr zu schmeicheln scheint.
„Er hat mich wachgekü …“, beginne ich, halte dann jedoch inne. „Er hat mich gerettet. Phillip meint, ich hätte hundert Jahre geschlafen. Wie kann das sein? Vater, Mutter, könnt ihr mir das erklären?“
Und schon wieder bemerke ich dieses Zögern und diese Unsicherheit, wie es auch bei Susanna der Fall war.
„Bitte, sagt es mir“, flehe ich, als ich merke, wie die beiden sich mir gegenüber verschließen. Mutter seufzt. „Komm, Dornröschen, setzen wir uns.“
Phillip nehme ich an die Hand und versuche, den Blicken meines Vaters auszuweichen.
„Nicht nur du hast so lange geschlafen, Liebes“, beginnt meine Mutter zögerlich und sieht meinen Vater hilfesuchend an.
„Was willst du mir damit sagen?“, frage ich etwas panisch und kralle meine Finger in mein Kleid.
„Als du geboren bist, waren wir so voll Freude, denn du warst so hübsch und bist – für mich kaum vorstellbar – noch hübscher geworden“, beginnt mein Vater, doch meine Mutter unterbricht ihn, indem sie mit einem Zwinkern hinzufügt: „Und so erwachsen bist du nun!“
„Also haben wir zu deiner Geburt ein grandioses Fest veranstaltet, zu dem alle eingeladen waren. Hast du schon einmal etwas von den dreizehn weisen Frauen gehört, Kind?“, fragt mein Vater mich und ich schüttle irritiert den Kopf. „Nun, es gibt dreizehn weise Frauen in unserem Reich und sie alle hatten einen Wunsch für dich offen. Doch es gab ein Problem: Wir besaßen nur zwölf goldene Teller, von denen sie essen sollten – so besagt es die Tradition – und somit konnten wir eine von ihnen nicht einladen.“ Er atmet tief durch, jedoch scheint es, als würde die Erinnerung ihm sehr nahe gehen, sodass meine Mutter fortfahren muss: „Die ersten elf hatten ihre Wünsche schon alle geäußert, doch plötzlich stürmt die alte Hexe – die dreizehnte Dame – herein, wutentbrannt und zornesrot.“
„Was wollte sie?“, frage ich gespannt.
„Rache. Rache, da sie nicht eingeladen wurde“, erklärt mein Vater schwach. „Und du armes Ding musst die Schuld tragen.“
„Nun erzählt es mir doch!“, fordere ich ungeduldig.
„Sie hat einen Fluch ausgesprochen. Verstehst du, wir wollten dich all die Jahre nur schützen. Haben dich hier, an dem sichersten Ort, groß werden lassen und doch sind wir gescheitert.“ Die Stimme meines Vaters bricht und dicke Tränen laufen ihm über die Wangen.
„Ich verstehe nicht ganz recht“, murmle ich verwirrt und suche den Blick meiner Mutter, die Vater beruhigend die Hand streichelt.
„Anstatt ihre Wut an uns auszulassen, nimmt sie dich als Opfer. Damit hat sie genau gesagt drei Opfer, denen sie Schaden zufügt. Doch, Dornröschen, du musst uns glauben, wir haben alles Mögliche versucht, um dich zu schützen und du weißt gar nicht, was für ein schlechtes Gewissen wir haben …“
Ich schüttle nur den Kopf, will ihnen am liebsten sagen, dass es ihnen nicht schlecht gehen muss, dass es mir gut geht, dass ich sie über alles liebe. Doch all die Wörter weigern sich über meine Lippen zu kommen, da ich zu verwirrt bin, um irgendetwas zu sagen. Eine böse Hexe? Ich kenne sie noch nicht mal. Was hat sie denn gegen mich?
Bevor ich etwas erwidern kann, drückt meine Mutter meine Hand und Susanna kommt mit zwei Helfern die Torte herbei tragen.
„Alles Gute zum Geburtstag, mein Liebes“, flüstert meine Mutter mir ins Ohr, küsst mich auf die Stirn und wischt sich unauffällig eine Träne weg. „Wie ich sehe, hast du dein Geburtstagsgeschenk schon entdeckt.“
All die Sorgen, all die bedrückte Stimmung, all das mir noch immer Unklare ist in diesem Moment vergessen und ich gebe mich der Feier voll und ganz hin. Lasse mich und meinen Geburtstag ausgiebig feiern, als wäre dieser mysteriöse hundertjährige Schlaf nie gewesen.
Ich tanze und lache und singe und genieße die Zeit mit meinen Liebsten so sehr, dass ich alles vergesse und nur noch eins spüre: Glück. Und Liebe.
„Phillip ist ein feiner Kerl“, meint mein Vater da, der plötzlich neben mir steht. Abrupt höre ich auf zu tanzen und sehe ihn erwartungsvoll an. Wieder einmal sehe ich Tränen in seinen Augen glitzern, als er rührselig hinzufügt: „Mein kleines Mädchen wird nun erwachsen.“
Lachend und weinend zugleich fallen wir uns in die Arme. Ich habe seine Zustimmung. Phillip und ich werden heiraten! Auch Mutter umarmt mich und so stehen wir da, zu dritt umschlungen im großen Saal, trunken vor Melancholie.
Ich küsse beide auf die Stirn und sage: „Ich bin sehr müde, ich werde langsam zu Bett gehen. Es war ein wundervoller Tag, danke! So schnell werde ich diese Feier nicht vergessen! Und was auch immer euch so sehr bedrückt, macht euch keine Sorgen. Ihr seid tolle Eltern!“ Aus dem Augenwinkel entdecke ich Phillip, der unschlüssig auf uns zukommt und ich lächle. „Phillip passt auf mich auf. Morgen erzählt ihr mir dann alles genau, ja?“
Meine Eltern lächeln selig. „Ja, das machen wir. Versprochen. Du bist nun alt genug um alles zu erfahren.“ Eine letzte Umarmung, dann wende ich mich an Phillip – meinen zukünftigen Ehemann.
„Ich bin sehr müde und werde nun zu Bett gehen“, meine ich und gebe ihm einen Kuss auf die Wange.
Er lächelt. „Tu das. Ich komme gleich nach.“ Er bemerkt meinen fragenden Blick, weshalb er schnell hinzufügt: „Dein Vater hat mir erlaubt, hier zu nächtigen.“ Noch immer schaue ich ihn skeptisch an, weshalb er leicht errötet und leise meint: „Ich konnte ihn etwas … nun ja … beeinflussen, dass ich bei dir schlafen darf.“
Ich nicke lächelnd. Verstehe. Phillip hat also die Angst meines Vaters, mir könne etwas zustoßen, zu seinem Vorteil genutzt! Geschickt!
Noch immer lächelnd schwebe ich in mein Gemach und mache mich fürs Schlafengehen zurecht. Summend und ganz leicht vor Glück lasse ich mich in mein weiches Bett fallen und starre an die Decke. Was für ein Tag!, denke ich und gähne – zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Tag. Seit heute Morgen bin ich so schrecklich müde, konnte das Gefühl während der Feier jedoch gut verdrängen.
Morgen müssen Vater und Mutter mir alles genau erklären, denn ich möchte endlich wissen, was sie mir all die sechzehn Jahre lang verschwiegen haben. Wie es aussieht, wissen sie, wie es zu dem hundertjährigen Schlaf kommen konnte, doch mein Kopf fühlt sich zu schwer an, um richtig nachdenken zu können. Ich muss einfach nur noch schlafen. Will einfach nur noch schlafen. Muss wach bleiben. Für Phillip. Bis er kommt.
Doch die Müdigkeit siegt und ich falle in einen tiefen, erholsamen Schlaf.