Читать книгу Die andere Freundin - Alicia Witowski - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеHeute ist der Tag. Nur noch ein paar Stunden, dann ist dieses Haus voller Menschen, die wir lieben und die mit uns feiern. Totaler Stress: Wir vier stehen in der riesigen Küche, um das Essen vorzubereiten, dabei müssen wir noch alle duschen und uns schick machen. Das Problem: Wir wissen alle noch nicht, was wir anziehen sollen! Horror pur!
Es herrscht konzentriertes Schweigen, als wir alle überlegen, wie wir das Ganze bis heute Abend hinkriegen sollen und jeweils unseren Kleiderschrank in Gedanken durchgehen, als April sagt: „ Also, wer kommt denn jetzt alles? Ich habe irgendwie voll den Überblick verloren. Wie viele waren das noch gleich?“ Mitten in unseren Bewegungen halten wir inne und starren uns verzweifelt an.
„ Mist. Also haben wir alle den Überblick verloren?“
„ Na ja, vielleicht nicht direkt …“, druckst Jessica herum, „ also ich weiß, dass es nicht sooo viele waren … halt nur die besten Freunde und so …“ Wäre die Stimmung hier nicht so angespannt und verzweifelt, hätte ich mich lachend in Jessicas Arme geworfen. Das ist noch so eine Eigenschaft von ihr: Sie will immer irgendwie die Situation retten – egal, wie aussichtslos es scheint – und ist sehr friedfertig.
Carmen und ich schauen uns an und ich spüre, wie ich rot werde. April sieht mich an und mustert mich skeptisch mit einem Was-ist-los-Blick.
Also sage ich: „ Nun ja … also Carmen und ich waren gestern schon mal im Krankenhaus. Der Chef hat uns ganz schön blöd angestarrt, das sage ich euch …“
„ Ja, jetzt sag schon! Lenk nicht vom Thema ab! Was habt ihr gemacht?“, drängt April ungeduldig mit einer gewissen Schärfe in der Stimme, bei der ich leicht zusammenzucke.
„ Na ja, also der Chef hat uns dann schon mal den anderen vorgestellt – was auch unser Ziel war – und da haben wir die gefragt, ob die nicht auch zu unserer Party kommen wollen. Sie haben sofort zugesagt. Ist das nicht cool?“ Ich schlucke. Den letzten Satz hätte ich mir auch besser sparen können, denn als ich April ansehe, verspüre ich das dringende Bedürfnis, dass sich der Erdboden unter mir öffnet.
„ Cool!?“ - Aprils rote Flecken breiten sich immer mehr auf dem Gesicht und ihrem Dekolleté aus und sie bebt vor Wut und Entrüstung - „ Hey, das sind sozusagen wildfremde Leute! Die könnten wer weiß was anstellen! Was habt ihr euch bloß dabei gedacht? Und ihr habt es noch nicht einmal für möglich gehalten, uns beide“, sie deutet auf Jessica und schließlich auf sich selbst, „ zu fragen, ob das okay ist?“
Die Stimmung ist sichtlich angespannt. Warum musste ich das bloß erzählen? Endlich sagt Carmen auch mal was: „ Mensch, April, krieg dich mal wieder ein. Die waren echt nett und da könnte auch ein süßer Typ für dich dabei sein.“
Entsetzt reißt April den Mund auf, um etwas zu sagen, doch dann schließt sie ihn wieder und stürzt sich auf den Brotteig. Jessica sagt lieber nichts zu dem Thema und wendet sich ebenfalls wieder ihrem Salat zu.
„ Warte mal, wen meinst du, Carmen? Chris? Mark? Alex? George? … Ähm, wie hießen die alle noch?“, frage ich aus purem Interesse, aber auch, um die Stimmung etwas aufzulockern.
Ohne auf meine Frage zu reagieren, kichert sie: „ Mark! Die zwei würden richtig gut zusammen passen! … Oder Tim. Na, April, wen hättest du gerne? April und Mark. Mark und April. Oder April und Tim ...“ Jetzt beginnt sie sogar noch zu tanzen und sich singend im Kreis zu drehen und der Anblick bringt mich tierisch zum Lachen.
„ Stopp!“, schreit April und dreht sich zu uns um. Sofort verstumme ich und Carmen hält mitten in ihrer Performance inne.
„ Hört einfach auf, okay? Ich bin voll im Stress, will das hier alles fertig kriegen und dann die Party genießen, okay? Ohne irgendeinen Mark oder Tim oder … keine Ahnung wen.“
Carmen und ich schauen uns an und ziehen eine Grimasse. Doch wir lassen die gute April lieber in Ruhe, sonst tickt sie noch völlig aus und widmen uns ebenfalls wieder unserer Arbeit.
Unsere ruhige liebe Jessica lächelt uns liebevoll an und stellt den Salat in den Kühlschrank.
Nachdem wir es irgendwie geschafft haben, das Essen vorzubereiten, noch etwas aufzuräumen, zu duschen, uns umzuziehen und zu stylen, stehen wir erwartungsvoll in der Küche und stoßen schon mal an. Sichtlich erschöpft, aber auch voller Vorfreude. Ich atme einmal tief durch und sehe mich um. Es kann losgehen. Wie genau wir das alles in der kurzen Zeit geschafft haben, weiß ich nicht, aber es ist mir auch egal.
„ Auf uns, das Haus und jede Menge Spaß zusammen!“, ruft April fröhlich.
Die Situation von vorhin ist schon längst vergessen. April war nur angespannt und musste ihre Nervosität an irgendwem auslassen.
„ Auf das gruselige Haus!“, lache ich und stoße mit meinen drei Freundinnen an. Alle lachen und die Stimmung unter uns ist jetzt schon genial. Also, wenn das so weiter geht, wird das die beste Party des Universums!
Dann klingelt es und wir schnappen alle hörbar nach Luft. Jetzt geht’s los! Jessica stürmt an die Tür, um die ersten Gäste zu begrüßen.
Man hört fröhliches Geschnatter und dass untereinander vorgestellt wird. Moment! Es wird untereinander vorgestellt! Mein Herz schlägt schneller. Vielleicht sind es ja unsere Kollegen aus dem Krankenhaus? Ich kann nicht anders, ich muss um die Ecke schauen, um zu sehen, wer es ist. Tatsächlich! Da stehen wirklich Mark, Chris, Tim, George, Anna, Julia und die ganzen anderen in unserer Tür!
Und … Alex. Mir stockt der Atem. Wow. Er sieht echt gut aus … Er ist mir schon im Krankenhaus positiv aufgefallen, sodass ich immer wieder verstohlene Blicke zu ihm geworfen habe.
Schnell gehe ich wieder zu den anderen, damit er nicht merkt, dass ich ihn so anstarre und flüstere April und Carmen aufgeregt zu: „ Sie sind da! Sie sind wirklich da!“
„ Wieso ist denn da wer so aufgeregt?“, fragt Carmen neugierig und stupst mich liebevoll an. Ich merke, wie ich rot werde und nehme schnell einen großen Schluck von meinem Sekt.
Dann höre ich, wie sie in Richtung Küche kommen und die Stimmen immer lauter werden. Gott, ich glaube, ich kippe gleich um! Nein, Sophie, reiß dich zusammen! Du kennst ihn ja noch nicht einmal und kriegst jetzt schon Schnappatmungen, wenn du ihn siehst? Sei nicht so kindisch!
Langsam drehe ich mich um und setze mein strahlendstes Lächeln auf.
„ Hi“, sage ich, gehe auf die – ganz schön große – Truppe zu und begrüße alle. Überraschenderweise werde ich von jedem einzelnen sofort in die Arme geschlossen und herzlich begrüßt. Wow, sind die nett. Schon jetzt sind sie für mich die nettesten Kollegen, die man kriegen kann. Okay, ich muss schon zugeben, bei Alex waren meine Beine wie Wackelpudding und ich wäre beinahe in seine Arme gefallen, aber das ist mir egal. Ich bin glücklich. Ich bin endlich angekommen.
Nachdem mich alle durchgeknuddelt haben, meint Alex: „ Echt schickes Haus. Und ihr“ - er deutet auf Carmen und mich - „ werdet ab Montag bei uns arbeiten?“
„ Jep“, meint Carmen trocken. „ Cool, was? Vielleicht könnt ihr ja mal vorbeikommen, damit wir zusammen lernen können und ihr in diesem geilen Haus Zeit verbringen könnt.“ Alle lachen ausgelassen. Meinetwegen können alle anderen Gäste kurzfristig absagen, denn ich glaube, mit denen, die hier sind, kann man eine Menge Spaß haben und sich viel unterhalten.
Chris und Alex heben irgendetwas hinter sich hoch und sagen: „ Das haben wir noch mitgebracht. Nicht dass uns hier das Bier ausgeht!“ Als die beiden an mir vorbeigehen, sehe ich, wie Alex mir zuzwinkert und wende mich schnell wieder ab. Gott, wenn das so weitergeht, bekomme ich noch einen Ohnmachtsanfall!
„ Oh, danke“, meint April. „ Stellt sie hier einfach in die Küche. Dann kann sich jeder nehmen, wann immer er will.“ Inzwischen sind noch mehrere Gäste da; Freunde von April, Freunde von Jessica, von Carmen und ein paar von mir. Aber, Moment mal!
„ Ähm, weiß irgendwer, wer die da sind?“, frage ich meine besten Freundinnen und deute auf eine kleine Gruppe unbekannter Jungs und Mädels hinter unseren Kollegen – unseren neuen besten Freunden.
Jetzt ist es Carmen, die rot wird und diesmal bin ich es, die meine beste Freundin böse anstarrt, damit sie sagt, was sie angestellt hat. „ Also … ich denke mal, das sind die Freunde von meinen Freunden … oder so“, murmelt Carmen und bei der lauten Musik muss man echt genau hinhören, damit man etwas versteht.
„ Super, Carmen. Das hast du ja toll hingekriegt. Und was machen wir jetzt?“, mischt sich jetzt auch Jessica ein und schnaubt wütend.
„ Tja, die kann Carmen sofort wieder rausschmeißen, würde ich sagen“, bestimmt April, wirft Carmen einen eisernen Blick zu und stolziert ohne ein weiteres Wort ins Wohnzimmer.
„ Also, bedient euch einfach selbst. In der Küche steht alles; Essen, Trinken …“, sage ich zur Krankenhaus-Truppe und denke noch: … und ich. Seufz.
„ Habt einfach Spaß!“ Und das lassen sie sich nicht zwei Mal sagen.
Als ich in Richtung Wohnzimmer verschwinden will, stoße ich mit Alex zusammen. „ Oh, sorry“, sagt er. Dabei legt er seine Hand entschuldigend auf meine Schulter und sofort fängt mein gesamter Körper an zu kribbeln. Wir sehen uns in die Augen und es scheint, als würde die Zeit und der Trubel um uns herum stehen bleiben. Doch dann wendet er sich mit einem Zwinkern ab und geht an mir vorbei.
„ Macht nichts“, murmle ich dann, doch ich bezweifle, dass er mich gehört hat, und husche ins Wohnzimmer.
Jessica kommt mir hinterhergelaufen. „ Hey, da ist ja wer total verschossen, hm?“ Ich schaue sie nur an und spüre, wie ich rot werde. Trotzdem muss ich grinsen.
„ Ist doch voll süß! Er ist echt niedlich. Du musst mit ihm reden! Dich auf ihn aufmerksam machen! Ihr würdet echt gut zusammenpassen und wenn ihr nicht zusammenkommt, wäre das voll die Schande. Dann begehe ich Selbstmord!“
Ich lache. „ Ach, Jessy, hör doch auf. Nur weil ich ihn süß finde, heißt das nicht dass er mich auch toll findet, vielleicht hat er sogar eine Freundin …“
„ Wenn man vom Teufel spricht. Na los! Geh schon! Ich habe schon eine Idee, wie ihr euch näher kommen könnt“, quiekt sie aufgeregt und verschwindet.
Toll, was soll ich denn sagen? Doch im selben Moment werde ich von irgendeinem Vollidioten angerempelt, schütte meinen Sekt direkt auf Alex und falle ihm in die Arme. Das Erste was ich denke: O mein Gott, peinlich! Trotzdem bewege ich mich nicht. Da hänge ich also in seinen starken Armen, mein Gesicht in sein Hemd vergraben und … dann hat mich die Realität wieder eingeholt und ich rapple mich ungeschickt hoch. Wir sehen uns in die Augen und wieder einmal scheint die Zeit stehen zu bleiben und bei dem Anblick von Alex“ meerblauen Augen werden meine Knie weich. Dann realisiere ich jedoch, dass seine Augen amüsiert flunkern und ich blinzle ein paar Mal.
„ Ähm … tut mir leid“, stammle ich – peinlich - „ Irgendwer hat mich angerempelt und … ähm … ich würde dir ja ein neues Hemd geben, aber ich habe leider keins. Also zumindest keins, das dir passen würde …“
„ Ist schon okay“, unterbricht mich Alex grinsend. Wow, er bleibt ganz cool. Im Gegensatz zu mir. „ Sag mir nur, wo das Bad ist und alles ist okay.“
„ Ähm … ja, klar“, stammle ich und suche mir einen Weg durch die Menschenmasse. Doch als wir aus dem Wohnzimmer raus sind, springt Jessica vor uns und fragt: „ Wo wollt ihr hin?“
„ Zum Bad. Ich habe Sekt auf sein Hemd geschüttet“, erkläre ich und deute auf Alex.
„ Das Bad hier unten ist besetzt und ich müsste mal ganz dringend aufs Klo. Aber du …“ Als sie meinen Blick sieht, verstummt sie lieber und zwinkert mir verschwörerisch zu. O man, was war das denn? Noch auffälliger geht’s ja wohl nicht.
Ich schaue sie böse an. Bestimmt hat sie mich angerempelt oder jemanden geschubst …
Doch Jessy strahlt mich nur mit ihren grauen Augen an und verschwindet nach oben. Ich drehe mich zu Alex um und lächle ihn entschuldigend an.
„ Ähm, komm mit“, sage ich lahm und zeige ihm, dass er mir folgen soll.
Anstatt hochzugehen, gehe ich in die Küche, um ein Geschirrtuch nass zu machen und es ihm zu geben. „ Ähm, wenn du es nicht hier machen willst, könntest du auch hoch in eins der Zimmer gehen. Ich meine, es ist ganz schon nass, du müsstest es vielleicht ausziehen …“ Schon wieder merke ich, wie mein Gesicht rot anläuft und ich starre auf meine Füße.
„ Okay, danke“, er sieht mich mit einem schiefen Lächeln an und verschwindet nach oben. Seufzend lasse ich mich auf einen Stuhl fallen, als ein Typ, den ich nicht kenne, in die Küche kommt. Er sieht niedlich aus. Ein bisschen jungenhaft mit seinen blonden Locken, aber es passt irgendwie zu ihm. „ Hi. Ähm, weißt du zufällig, wo Jessica ist?“, fragt er. Ich schaue ihn blöd an.
„ Wer bist du, wenn ich fragen darf?“
„ Oh, tut mir leid, ich bin Paul. Jessica hat mich eingeladen. Ich arbeite mit ihr zusammen im Kindergarten.“ A-ha! So ist das also …
„ Jessica ist …“ Genau in dem Moment kommt sie hereingestürmt.
„ Hey, Sophie, mir ist eingefallen, du hast doch dieses riesige T-Shirt, das du dir in Paris gekauft hast! Vielleicht passt ihm das? Na los, geh schon!“ Sie grinst, ihre Augen flunkern und ihre Wangen sind leicht rosa.
Dann bemerkt sie Paul und bei seinem Anblick färbt sich das Rosa zu einem zarten Rot auf ihren Wangen. „ Oh, Paul. Hi. Seit wann bist du denn da? Ich hab dich noch gar nicht gesehen. Ich dachte, du kommst nicht. … Aber jetzt bist du ja da. Hi.“
Ich schüttle lächelnd den Kopf. Jessica und Paul. Süß.
Trotzdem sieht Jessy mich mit einem Blick an, der nichts anderes sagt als: Los, geh nach oben und schmeiß dich an Alex ran! Als ich dann wirklich Richtung Treppe gehe, um in meinem Kleiderschrank hoffnungslos nach einem übergroßen Oberteil zu kramen, kommen mir Carmen und April entgegen. Anscheinend sind sie nicht mehr ganz so nüchtern, denn sie wanken hin und her.
„ Hey, ihr beiden. Jessica hat einen heimlichen Verehrer. Paul. Sie sind so niedlich zusammen!“
„ Yeah, Jessy!“, jubelt Carmen laut, „ Jessy und Pauli sitzen auf dem Baum …“, beginnen sie und April dann aber zu singen und ich verdrücke mich lieber nach oben.
Immer noch lächelnd gehe ich in mein Zimmer. Als ich die Tür geschlossen habe, verebben die laute Musik und die Gespräche etwas und ich atme kurz durch.
„ Hi“, höre ich dann eine vertraute Stimme aus einer dunklen Ecke sagen und ich wirble erschrocken herum, wobei ich jedoch irgendwie über meine eigenen Füße stolpere. Ich schließe die Augen, doch anstatt harten Boden unter mir zu spüren, spüre ich muskulöse Arme, die mich vor dem harten Aufknall bewahrt haben. So stehen wir da – Alex und ich – Arm in Arm, ich an seinen nackten Oberkörper geschmiegt. Wie in Zeitlupe löse ich mich von ihm und sehe ihm fest in die Augen. Er sieht mich ernst an, bis ich sage: „ Hi.“ Wow, super, Sophie, einfallsreicher ging's wohl nicht. Schnell füge ich noch hinzu: „ Ich schätze, ich sollte dir danken.“
Jetzt grinst Alex und nickt. „ Immer wieder gerne.“ Immer wieder gerne? O Gott, ich glaube ich kippe gleich um. Schnell mache ich einen Schritt nach hinten, wobei ich an die Tür stoße. Ich kann nicht anders, ich muss auf seinen nackten Oberkörper starren – und das starke Bedürfnis verdrängen, mit meinen Fingern über seinen Sixpack zu streichen. Wie kann man nur so viele Leben retten, so viel arbeiten und dann auch noch gut aussehen?
Mein Gott, reiß dich zusammen, verdammt noch mal! Ich beiße mir auf die Lippe, doch da kommt er wieder auf mich zu und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich bekomme eine Gänsehaut. „ Ich wollte nur …“, murmle ich und muss schlucken.
„ Ja, was wolltest du?“, fragt Alex und schaut mich amüsiert an. Es scheint ihm nichts auszumachen, dass ich ihn halbnackt sehe. Schnell fange ich mich wieder. Ich versuche es jedenfalls …
„ Also, ich habe noch so ein riesiges T-Shirt im Schrank, das dir vielleicht passen könnte“, erzähle ich und nach kurzen Zögern gehe ich zum Schrank. Hektisch wühle ich darin herum, doch ich spüre Alex' Anwesenheit so sehr, dass es schwer für mich ist mich zu konzentrieren.
Als ich mich umdrehe, muss ich lächeln. Er schaut sich Fotos an, die hier im Schlafzimmer überall verteilt sind. Genau in dem Augenblick sieht er mich an und grinst schief.
„ Was denn?“
„ Ach nichts.“, murmle ich und wende mich wieder meinem Kleiderschrank zu. Wo ist dieses doofe T-Shirt denn bloß? Endlich! Nach einer halben Ewigkeit halte ich es in den Händen und versuche gleichzeitig, mich zu beruhigen.
„ Hier“, sage ich und werfe es ihm zu. „ Oder willst du lieber in deinem nassen Hemd herumlaufen?“
„ Nee, danke.“ Er fängt das T-Shirt geschickt und zieht es über. Irgendwie bin ich enttäuscht. Vielleicht, weil ich ihn nicht mehr halbnackt sehe? Nein, unmöglich. Bestimmt nicht.
„ Das passt mir ja wirklich. Nicht der Hammer, aber okay. Cool, danke. Aber wieso hast du dir so ein riesiges T-Shirt gekauft?“
„ Ach, ich weiß auch nicht“, murmle ich. Die Wahrheit ist, dass ich mir dieses Oberteil nie in Paris gekauft habe. Die Wahrheit ist, dass es meinem Vater gehört hat und meine Mutter es mir mitgegeben hat. Es lag ganz unten in meinem Koffer und als ich es in den Händen hielt, bekam ich einen Kloß im Hals. Doch die Wahrheit kennt niemand. Und dabei soll es auch erst einmal bleiben.
„ Wo soll ich mein Hemd hin tun?“, fragt Alex nun und hält das nasse Oberteil hoch. Ich mache meinen Schrank zu und als ich mich wieder umdrehe, steht er ganz dicht vor mir. Mist, wieso macht er das? Das bringt mich total aus der Fassung!
„ Ähm … das … das kannst du … ich …“ O Gott! „ Ich kann das ja ins … ins Badezimmer hängen“, stottere ich.
„ Und wenn es geklaut wird, weil irgendwer es sich einfach nimmt?“, flüstert er. Ich kann nicht mehr denken. Wieso sagt er so etwas? Macht er das extra?
„ Dann … dann lass es hier. In meinem Schlaf … in meinem Zimmer.“
„ Okay.“ Er dreht sich um und schmeißt das Hemd auf mein Bett. Wow, hat der Armmuskeln! Dann dreht er sich wieder zu mir und berührt ganz leicht meine Hand mit seinem Finger. Ich atme tief ein, doch dann wendet er sich ab und geht zur Tür.
„ Ich find's süß, wenn du so nervös bist und irgendein Zeugs stotterst“, meint er und mit diesen Worten geht er aus meinem Zimmer und lässt mich verwirrt zurück.
Als ich wieder nach unten komme, ist es noch voller als vorhin. Da kann man ja nur den Überblick verlieren! Ich hole mir etwas Hochprozentiges. Nüchtern kann man das hier nicht mehr ertragen. Und dann kann ich mich vielleicht auch nicht mehr so gut an die peinlichen Ereignisse mit Alex erinnern?
Inzwischen ist auch Jessica betrunken. Sie spielt mit Paul und vielen anderen Flaschendrehen. Gerade ist sie dran und die Flasche zeigt auf Paul. Sofort stürzt sie sich auf ihn und sie küssen sich stürmisch. Wow, so kenne ich Jessy gar nicht. Sie ist eigentlich das stille Mäuschen unter uns.
Jetzt sehe ich auch noch April und Carmen in dem Flaschendrehen-Kreis sitzen. April jubelt begeistert und nimmt einen riesigen Schluck aus der Tequila-Flasche in ihrer Hand. Jetzt ist sie dran. Die Flasche dreht sich und dreht sich und … bleibt bei Mark stehen. Die anderen feuern April kräftig an und sie kichert nervös und gibt Mark einen innigen Kuss. O Gott, sie muss echt betrunken sein, denn jetzt setzt sie sich auf Marks Schoß und knutscht heftig mit ihm herum. Als ich mich gerade verdrücken will, bemerke ich Carmen, die aussieht, als müsste die sich gleich übergeben. Doch sie nimmt sich die Tequila-Flasche von April und dreht die Flasche. Auf wen sie zeigt, weiß ich nicht, denn ich brauche dringend noch mehr Alkohol und gehe in die Küche.
Dort treffe ich auf George und Tim, die … wild miteinander rumknutschen. Als sie mich bemerken, lösen sie sich schnell voneinander.
„ Oh, ich wollte nicht … stören. Ich hole mir nur kurz was“, stottere ich und schwenke kurz mein Glas, um zu demonstrieren, dass ich Nachschub brauche. Und das sehr dringend …
Mein Glas ist nämlich irgendwie schon leer …
„ Bitte, Sophie. Erzähl es keinem, okay? Es weiß noch keiner und so soll es auch erst einmal bleiben. Wir wissen nicht, wie sie reagieren würden. Bitte!“, fleht George mich an. Ich glaube, ich bin auch schon ein bisschen angetrunken, aber ich versuche normal zu reden. „ Ach, George. Keine Bange. Ich erzähl's keinem. Indianerehrenwort!“
„ Danke, Sophie. Ehrlich. Du bist echt nett – auch in angetrunkenem Zustand -“, fügt Tim hinzu und zwinkert mich an, „ und das sage ich jetzt nicht nur, weil du uns nicht verrätst, sondern, weil wir dich echt cool finden. Wir freuen uns jetzt schon, wenn du bei uns anfängst. Dein Freund hat echt Glück mit dir.“, schließt er.
„ Hey, Timmilein. Danke, aber ich muss dich enttäuschen; ich habe leider keinen Freund. Tja, ganz schön bitter, was?“, meine ich und lache verbittert.
„ O man, du bist echt betrunken. Wie viel hast du schon getrunken?“
„ Ach, keine Ahnung. Genug anscheinend.“ Dabei dachte ich, ich hätte noch nicht so viel getrunken … Ich lache schräg.
„ Hey, ich hab 'ne Idee! Kommt, wir spielen Wahrheit oder Pflicht! Mit den anderen!“ Seufzend folgen die beiden mir.
„ Yo, Leute, wir spielen jetzt alle Wahrheit oder Pflicht! Los, April, fang an!“, schreie ich. „ Wahrheit oder Pflicht?“
„ Äh … Wahrheit!“ Mist, jetzt muss ich mir ja etwas überlegen …
„ Hey, April, erzähl aber bitte nicht wieder so eine Gruselgeschichte, wie letztens!“, höre ich jetzt Carmen von weiter hinten grölen.
Also, so kann ich mich echt nicht konzentrieren! Jetzt schreit auch noch so ein Typ von weiter hinten: „ April, erzähl es! Los!“
„ Ja ja, also, das hier ist ja das Haus von meinen verstorbenen Eltern …“, sie kichert, „ … und meine Eltern waren Alkoholiker. Also, nicht dass ich auch eine wäre, ich trinke eigentlich nie. … Oder fast nie …“
„ Ja, und?“
„ Ja ja, also … meine Eltern sind hier gestorben.“ Es herrscht Stille – außer der Musik – und genau in dem Moment blitzt und donnert es draußen heftig. Alle schreien erschrocken auf. Das Licht fängt an zu flackern, bis es tatsächlich ganz aus geht und die Musik verstummt. Jetzt schreien alle noch mehr auf und ich kann hören, wie sie hektisch hin und her laufen. „ Stromausfall!“, rufe ich begeistert.
Dann spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und ich drehe mich um, obwohl ich ja eh nichts sehen kann. „ Ähm … hallo?“
„ Na, hast ein bisschen was getrunken, was?“ Alex!
„ Ja, sieht so aus.“ Ich kichere nervös.
„ Habt ihr hier irgendwo Kerzen oder so?“, fragt er leise.
„ Ähm … ja. Auf dem Dachboden. Komm, wir nehmen eine Taschenlampe und holen die Kerzen“, flüstere ich ihm zu. Er kommt tatsächlich mit. Bestimmt hat er Angst, dass ich die Leiter runter falle und folgt mir deswegen.
Langsam tasten wir uns die Treppe hoch. Einmal wäre ich fast hingefallen, aber Alex hat mich von hinten festgehalten. „ Huch“, kichere ich.
Ich hole eine Taschenlampe aus meinem Zimmer und leuchte Alex an. Er grinst. „ Was?“, frage ich.
„ Du bist echt betrunken“, antwortet Alex und lächelt noch mehr. Erst jetzt bemerke ich, dass Alex – im Gegensatz zu mir – noch nüchtern ist.
„ Quatsch, ich bin nur ein bisschen beschwipst“, entgegne ich und wanke aus dem Zimmer. Zusammen schleichen wir in Richtung Dachboden und er hilft mir die Treppe hoch. Heute ist sie irgendwie ganz besonders wackelig.
Oben angekommen, suche ich auf allen Vieren nach den doofen Kerzen. Der Dachboden ist eigentlich ziemlich gemütlich so mit dem Teppich … und er ist echt riesig – so wie alles hier. „ Ich hab sie!“, rufe ich Alex zu, der am anderen Ende des Dachbodens ist.
„ Cool; komm, wir gehen schnell wieder nach unten, damit die anderen auch was sehen können.“
„ Na gut …“, seufze ich. Wieso küsst du mich nicht, du verdammter Idiot?! Trotzdem wanke ich den Weg wieder nach unten und wir machen überall die Kerzen an. „ Oooooh, romantische Stimmung! Hätten wir jetzt noch Musik, wäre es ja totaaal romantisch!“, schwärmt April. „ Ich hab 'ne Idee! Ich hab die Gitarre von meinen Eltern noch aufgehoben. Kann irgendwer Gitarre spielen?“ Und ob! Mark, Tim und Alex melden sich zu Wort. Mensch, Alex kann wohl alles …
„ Okay, ich gehe die Gitarre holen! Komm mit, Mark!“ Und schon verschwinden sie nach oben.
„ Ob die wohl wirklich die Gitarre holen?“, meint Carmen verschmitzt, die auf einmal neben mir steht.
„ Hey, Sophie! Na, wie läuft's mit dir und Alex? Ich hab euch noch gar nicht küssen sehen! Wieso denn nicht? Das ist doch nicht so schwer! Ich zeig's dir!“, redet Jessica auf mich ein und ruft Paul zu sich. Ich hab's geahnt. Sie zieht ihn an sich und küsst ihn eng umschlungen. „ Na? Gesehen? Und jetzt du!“
„ Mensch, Jessica. Ich … ich will halt nichts … überstürzen! Und … vielleicht haben wir uns ja schon geküsst, aber du hast es nur nicht gesehen! Aber man sollte es langsam angehen, nicht wahr Carmen?“ Hilfesuchend wende ich mich an sie, doch die sieht mal wieder so aus, als müsste sie sich gleich übergeben.
„ O-oh. Also, wenn du kotzen willst, dann ins Klo, okay?“, warne ich sie und verdrücke mich schnell, damit Jessy mich nicht weiter nerven kann.
„ Wo gehst du denn jetzt hin?“, höre ich Jessy hinter mir her rufen.
„ Ich hole mir einen Drink“, rufe ich zurück, da es das erste ist, was mir einfällt.
„ Ihr habt euch eh noch nicht geküsst!“, schreit Jessica noch, was mich zusammenfahren lässt. Wie peinlich … In der Küche begegne ich Chris, der anscheinend auch ganz schön betrunken ist. „ Naa, Sophie“, lallt er. „ Du, Tim hat mir erzählt, dass du keinen Freund hast. Willste mir deine Handynummer geben?“ Ich weiß, ich bin auch nicht mehr nüchtern, aber noch nüchtern genug, um zu merken, dass dieser Typ mich gerade auf echt bescheuerte Art anmacht.
„ Ähm … nee, du. Lass mal.“
„ Ach, komm schon!“, entgegnet Chris. „ Ich weiß genau, dass du auf mich stehst und nur zu schüchtern bist, um mich anzusprechen.“ Er kommt näher auf mich zu geschwankt. „ Komm schon, Baby. Wir zwei auf einer Party bei Kerzenschein …“, redet Chris einfach weiter und kommt immer näher auf mich zu.
Langsam wird mir die Sache echt zu eklig. Als Chris gerade noch so einen blöden Spruch raus hauen will, kommt Alex hereingestürmt und schubst ihn weg. Mein Retter! Doch anstatt aufzugeben, schubst Chris ihn zurück, nachdem er sich wieder aufgerappelt hat. O-oh.
„ Chris, hör auf! Lass ihn!“ Ich versuche, zwischen die beiden zu gehen, aber Alex lässt es nicht zu. Einerseits finde ich es ja echt süß von ihm, dass er mich beschützen will, andererseits ärgere ich mich auch. Ich will ihm doch nur helfen! Ich, die betrunkene Sophie. Ist klar.
Als ich schon dachte, die beiden hören auf, sich so kindisch zu benehmen und hin und her zu schubsen, geht es erst richtig los. Chris schlägt Alex mitten ins Gesicht und ich schreie auf. Ich kann nicht sehen, ob er blutet oder nicht; dafür ist es hier echt zu dunkel. Jetzt reicht es auch Alex; er schmeißt sich auf Chris und schlägt auf ihn ein. Mittlerweile haben sich viele Schaulustige um sie herum versammelt und feuern entweder Chris oder Alex an, aber keiner greift ein, um das Schlimmste zu verhindern. Doch dann kommen Mark, George und Kevin – auch ein Kollege - und schaffen es, die beiden voneinander loszureißen.
George sieht mich an und sagt: „ Sophie, geh doch mal gucken, wie schlimm es ist.“ Als wir hoch gehen, sehe ich schon das Ausmaß der Schlägerei: Seine Lippe ist aufgeplatzt und er blutet an der Schläfe. Außerdem hat er ein blaues Auge.
Und das alles nur wegen mir. Irgendwie süß, aber auch echt bescheuert. Und das sage ich ihm auch, als ich vorsichtig das Blut abtupfe. Also, das mit dem „süß“ lasse ich weg. Alex verzieht das Gesicht.
„ Ja, ich weiß. Aber er ist ein Vollidiot und wie er dich da angemacht hat … das hat mich echt wütend gemacht.“
„ Ja, das war auch voll widerlich! Ich kann dich ja auch irgendwie verstehen, aber es war echt bescheuert!“
Er seufzt und nach einer kurzen Pause sagt er: „ Ich glaube, ich gehe dann gleich besser.“ Ich merke, wie diese sieben Worte meinem Herz einen Stich versetzten.
Am liebsten würde ich schreien: „ Nein! Geh noch nicht! Ich will jede Minute, jede Sekunde, mit dir verbringen!“ Und mich ihm an den Hals schmeißen.
Doch stattdessen sage ich nur leise: „ Ja, ist okay. … So ich bin fertig. Du kannst gehen.“
„ Okay, dann … danke. Für alles.“ Seine blutige Lippe verzieht sich zu einem Lächeln. „ Wer hätte das gedacht? Dass ich dein erster Patient bin.“ Er zwinkert mir zu, verzieht dann jedoch vor Schmerz das Gesicht und diese Worte lassen mein Herz schneller schlagen. Die Zuneigung Alex gegenüber überwältigt mich wie eine riesige Welle und ich lächle ich liebevoll an.
„ Bis … bis Montag, dann.“ Und mit diesen Worten verabschiedet er sich. Er gibt mir keinen Abschiedskuss, umarmt mich nicht.
Mit diesen Worten geht er und die Party nimmt sein Ende.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, pocht mein Kopf wie verrückt. Ich stöhne leise auf. Auch wenn der Abend gestern wundervoll war, muss ich jetzt die Konsequenzen tragen und bereue es augenblicklich. Doch dann fällt mir wieder ein, was ich da in den Händen habe und mir wird ganz warm ums Herz. Alex' Hemd. Er hatte es hier liegen lassen und als ich gestern ins Bett gefallen bin, habe ich es in die Hände genommen und an mich gedrückt. Es riecht so wundervoll nach Alex. An manchen Stellen zumindest … den Großteil hatte ich ja mit Sekt überschüttet. Ich denke an ihn und mir wird ganz heiß. Sofort merke ich, wie meine Wangen rot anlaufen und doch kann ich nicht aufhören zu lächeln. Nicht mehr an ihn zu denken, scheint unmöglich und jedes Mal macht mein Herz einen Satz und tausende von Schmetterlingen schwirren durch meinen Bauch. Er ist so ein toller Kerl, er ist mein Traumprinz!
Auf einmal werden meine wundervollen Gedanken durch einen spitzen Schrei unterbrochen. Was war das? Oder besser gesagt, wer war das? Ich will aufstehen, aber mein Kopf weigert sich. Doch ich beiße die Zähne aufeinander, springe auf und laufe, dicht gefolgt von Carmen, die Treppe hinunter.
„ April?“, schreie ich durch das Haus. „ April, warst du das? Was ist denn los? Wo bist du?“ Ich schaue mich um und entdecke sie in der Küche.
Sie starrt irgendwo hinter der Tür auf den Küchenfußboden. „ April, was ist los? Hast du eine Maus gesehen?“ Doch jetzt sehe ich, dass viele kleine Tränen über ihr Gesicht laufen. Ihre Haare sind zerzaust und sie sieht einfach schrecklich aus.
Ich drehe mich zu Carmen um, zucke mit den Schultern und gehe langsam auf April zu. Bei ihr angekommen, will ich meine Hand auf ihre Schulter legen, doch als ich sehe, was sie so erschüttert hat, schreie ich auch auf. Mein Schrei durchbricht die Stille. Er hallt in meinen Ohren nach und all meine Gefühle überwältigen mich mit einem Mal, dass ich glaube meine Beine geben gleich nach. Das Einzige, was danach zu hören ist, ist das Schluchzen von April.
Dort in der Küche liegt Jessica, weiß wie Schnee, wie ein Blatt Papier. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Sogar Carmen hat Tränen in den Augen, obwohl sie nie weint. „ Jessica …“, seufzt sie und nun laufen auch ihr die Tränen über die Wangen. Ich weiß nicht mehr, wie man spricht. Ich weiß nicht mehr, wie man geht. Ich weiß nicht mehr, wie man atmet.
„ Ich … ich wollte uns nur etwas zum Frühstück machen und … und dann lag sie da …“, schluchzt April. „ Wer tut so etwas? Wer?“
„ Ich … ich weiß es wirklich nicht.“ Wir heulen weiter und weiter, doch dann sagt Carmen: „ Wir müssen die Polizei rufen.“ Stille.
„ Wir haben hier doch eine Polizistin“, sage ich und versuche somit, die anderen zum Lachen zu bringen. Doofe Idee, ich weiß. Klappt auch nicht besonders.
„ Ach, Quatsch“, schluchzt April immer noch und macht eine wegwischende Handbewegung. „ Ja, ich … ich rufe dort an.“ Sie atmet tief ein und es sieht so aus, als würde sie Mut und Kraft sammeln. Schnell nehme ich sie in den Arm, was allerdings keine so gute Idee war, wie sich herausstellt, weil sie sofort wieder anfängt zu weinen. Mist.
„ Ich kann das auch machen“, will Carmen helfen, aber April weigert sich.
„ Nein, nein. Ich mach das schon. Ich kriege das hin.“ Schnell verschwindet sie im Wohnzimmer, ehe sie noch einer umarmen kann.
„ Scheiße“, sagt Carmen leise.
„ Ja“, bringe ich nur heiser hervor. Bei Jessicas Anblick steigen mir wieder die Tränen in die Augen und ich muss tief durchatmen. Meine Welt ist gerade zusammengebrochen. Nie hätte ich zu glauben gewagt, dass eine von uns Vieren auf einmal tot auf dem Küchenboden liegen würde.
„ Ich … ich verstehe einfach nicht, wer das tun konnte! Jessica ist … war die netteste Person überhaupt! Ich verstehe überhaupt nichts!“, schluchze ich.
„ Ja, das Universum ist fies. Verdammt fies und ungerecht.“ Carmen nickt und umarmt mich.
In dem Moment kommt April zurück. „ Die Polizei ist unterwegs. Wir sollen warten.“
Also warten wir an einem Sonntagmorgen nach einer Party auf die Polizei, weil unsere beste Freundin ermordet wurde; anstatt ein Kater-Frühstück zu genießen, heulen wir um die Wette.
Die Polizei ist da und ich bin sicher, die Nachbarn starren zu uns herüber. April muss ihre Aussage machen, dann ist Carmen an der Reihe und ich muss zum Schluss sagen, was ich gesehen habe, oder ob mir etwas aufgefallen ist.
Ich sitze zusammengekauert auf der Treppe und denke an früher. An die Zeiten mit Jessica. Sie ist immer aufgefallen, wenn wir vier zusammen unterwegs waren. Sie ist … war die einzige, die blonde Haare hat und wenn man genauer hinsah, hat man einen goldenen Schimmer darin gesehen. Alles an ihr war perfekt. Ihr Aussehen, ihre Art, ihr Persönlichkeit … einfach alles.
Paul hatte echt Glück mit ihr. O mein Gott! Paul. Der arme Paul! Wir müssen es ihm noch sagen. Irgendwann ...
Jetzt sehen ihre Haare dunkel aus im Gegensatz zu ihrer Haut. Langsam gehe ich wieder in die Küche und schaue um die Ecke. Da liegt sie in ihrem hübschen Kleid, das sie sich erst neulich gekauft und sich schon so gefreut hat, es mal anzuziehen. Und jetzt kann sie es nie mehr tragen. Ich fasse es nicht.
Wer hat sie nur umgebracht? Und … wie? Man sieht keine Verletzungen an ihrem Körper, keine Stichwunden, keine Spuren am Hals, die darauf hindeuten, dass sie erwürgt wurde. Nichts. Einfach gar nichts.
… Wie kann man sie nur umbringen? Was für ein Mensch muss das sein? Oder … Oder war es Selbstmord? Sie meinte doch, wenn das zwischen Alex und mir nichts wird, begeht sie Selbstmord. Ich schlucke und mir wird eiskalt. Ich traue mich kaum diesen Gedanken auch nur in Erwägung zu ziehen, geschweige denn auszusprechen: Sind wir, oder besser gesagt, ich, an ihrem Tod Schuld? Gestern habe ich noch darüber gelacht, aber was ist, wenn es gar kein Scherz war, sondern purer Ernst?
„ Sophie“ - April legt mir eine Hand auf die Schulter, wobei ich zusammenzucke - „ du bist dran.“
„ Was?“, frage ich verstört.
„ Die Polizei – du sollst sagen, was du gesehen hast und ob dir etwas aufgefallen ist. Na los, geh.“
Wie in Trance gehe ich zu dem Polizisten, der mich mitleidig anschaut und mir Fragen über die Party und Jessica stellt und ob mir etwas aufgefallen sei.
Das mit dem Selbstmord erwähne ich nicht. Keine Ahnung, wieso; vielleicht, weil ich so schockiert darüber bin. Als ich fertig bin und der Polizist sich bei mir bedankt, bleibe ich einfach sitzen. Ich kann mich nicht bewegen.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Carmen auf mich zu kommt. „ Hey, Süße …“
„ Wer hat sie umgebracht? Wie hat dieses Schwein das geschafft? Es sind keine körperlichen Verletzungen festzustellen, also: Wie hat dieses Schwein sie umgebracht?“, stoße ich hervor.
„ Ich habe keine Ahnung und glaub mir, ich wäre wahnsinnig froh, wenn ich es wissen würde, aber keiner von uns hat Antworten auf all diese Fragen.“
„ Wo ist April?“
„ Wohnzimmer.“ Jetzt stehe ich auf, bleibe bei Jessica stehen und würde am liebsten ihre Hand nehmen, sie berühren, das letzte Mal in den Arm nehmen, aber der Polizist hat das streng verboten. Also sage ich nur: „ Mach's gut, Jessy. Ich hab dich lieb.“ Und gehe zu April.
Diese starrt gedankenverloren geradeaus in die Ferne. Ich setzte mich zu ihr auf das Sofa und nach einer Weile sagt sie: „ Ich habe mich so auf die Party gefreut. Ich dachte, wir vier würden so viel Spaß zusammen haben und am nächsten Morgen zusammen essen und … danach noch viel zusammen lachen und quatschen und …“, sie schluchzt auf.
„ Ich weiß. Ich weiß …“, sage ich schnell und nehme sie in den Arm.
Zusammen liegen wir dort auf dem Sofa und ich sehe, wie Carmen im Türrahmen steht.
„ Die holen Jessica gleich ab“, berichtet sie uns und setzt sich in einen der Sessel.
Wir nicken stumm, doch nach einer Weile sagt April mit fester Stimme: „ Wir müssen ihn finden. Den Täter. Ich halte es nicht aus, nicht zu wissen, wer es war und wie es derjenige getan hat.“
„ Dafür gibt es doch die Polizei“, behauptet Carmen und steht auf. „ Ich habe ja nichts dagegen, dass ihr die ganze Zeit heult und wir uns Schnulzen-Filme anschauen müssen. Ihr könnt trauern, ja, aber überlasst den Rest doch der Polizei. Ich find's ja auch scheiße, dass wir nichts über den Tod von Jessica wissen, aber so ist das nun mal. Wir müssen uns gedulden.“
„ Ich bin Polizistin“, meint April trocken und schaut Carmen tief in die Augen.
„ Ja, April. Aber ich bin mir sicher, dass du bei diesem Fall nicht mitspielen kannst und darfst. Sie war deine beste Freundin. Schau dich doch an! Du siehst grauenvoll aus.“ Wow, das war hart.
Aber ehrlich gesagt stimmt es. Aprils braun-rötlichen Haare kleben an ihrem Gesicht und sie hat tiefe Augenringe. Aber Carmen sieht auch nicht wirklich besser aus. Ihre schulterlangen dunkelbraunen Haare stehen zu allen Seiten ab und ihr Make-up ist verschmiert.
„ Carmen“, versuche ich mit leiser Stimme zu schlichten. „ Es reicht. Hör auf, okay?“
„ Ja ja, macht doch, was ihr wollt“, meint sie und verschwindet nach oben.
„ Jeder verarbeitet seinen Schmerz und die Trauer anders …“, murmelt April, als ich sie traurig ansehe.
Ich fühle mich wie erschlagen, finde keine Kraft mehr, in meinem Kopf herrscht völlige Leere. Bestimmt sehe ich auch nicht besser aus als die beiden. Ich habe mir einen Zopf für die Nacht gemacht und der hat sich ganz schön aufgelöst. Überall hängen Strähnchen heraus und bestimmt habe ich noch dunklere Augenringe als April.
„ Hilfst du mir?“, fragt sie dann und sieht mich erwartungsvoll an.
„ Ja, klar. Ich will es auch unbedingt herausfinden.“
Auf einmal steht Carmen wieder auf der Treppe. „ Es hat geklingelt. Die holen Jessica jetzt“, erklärt sie düster und öffnet die Tür.
April und ich sehen uns mit glänzenden Augen an, aber wir bleiben sitzen. Ich habe überhaupt nichts gehört …
„ Ich habe mich schon von Jessy verabschiedet“, sage ich und April nickt.
„ Ich mich auch. Aber am liebsten hätte ich ihre Hand genommen.“
„ Ja, ging mir genauso.“ Wir sehen, wie zwei Männer den Sarg wieder aus der Tür tragen und sich verabschieden. Ich atme tief ein. Wie wird ein Leben wohl ohne Jessica? Wie soll es ohne sie weitergehen?
„ Wir müssen es Paul sagen. Die haben gestern auf der Party doch so wild rumgeknutscht“, flüstere ich und April stimmt mir zu.
Sie holt Stift und Zettel aus einer Schublade und schreibt auf, was wir machen sollen. 'Wen wir verdächtigen' schreibt sie in Großbuchstaben auf. Sofort meint April: „ Die Fremden, die keiner eingeladen hat.“
„ Du meinst die Freunde von den Freunden und die Freunde von den Freunden von den Freunden?“
„ Ähm … ja. Irgendwie so. Und eure Kollegen.“ Was?
Mein Herz setzt einen Schlag aus. „ Nicht dein Ernst oder?“
„ Doch, man kann ja nie wissen … und dieser Chris hat dich doch so schräg angemacht. Vielleicht hat er auch Jessica umgebracht.“
„ Aber … das sind Ärzte! Die retten Menschenleben!“ Okay, ich weiß. Kein wirkliches Argument. Aber ich glaube nicht, dass einer von ihnen Jessica umgebracht hat. Wenn es überhaupt Mord war und kein Selbstmord.
Ich bin kurz davor, April von meiner Vermutung zu erzählen, aber ich lasse es dann doch lieber. „ Und … willst du jetzt jeden einzelnen von den Fremden ausfindig machen und zur Rede stellen oder was?“, frage ich und habe keine Ahnung, wie wir je den Täter finden sollen. Der ist bestimmt schon längst über alle Berge. „ Wenn's sein muss, ja. Was willst du denn sonst machen?“
„ Keine Ahnung“, gebe ich kleinlaut zu. „ Also, ich frage meine Kollegen morgen nicht, ob sie vielleicht unsere beste Freundin umgebracht haben. Nee, danke. Das kannst du machen, wenn du die unbedingt verdächtigen musst.“
„ Ja, kann ich ja auch verstehen. Das verlange ich auch gar nicht von dir …“
So geht das den ganzen Tag noch weiter. Wir diskutieren, wen man noch verdächtigen könnte, ob uns nicht doch etwas aufgefallen ist und trauern um unsere Jessica.
Fazit: Wir tappen völlig im Dunkeln.