Читать книгу Verletzte Gefühle - Alissa Ganijewa - Страница 8

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»Also, es wurde tatsächlich nichts gestohlen?«, wunderte sich Anetschka, die Sekretärin.

»Offizielle Kommentare gibt es keine, aber der Journalist von ›Sirene‹, na, wie heißt er gleich, Katuschkin, der schreibt, dass man beim Toten Geldtasche und Telefon gefunden hat. Nur die Scheine sind nassweich geworden«, merkte Stepan an.

»Von dem, was euer Katuschkin zusammendichtet, muss man die Hälfte abziehen. Warten wir, was in den normalen Nachrichten kommt, dann werden wir es erfahren«, stutzte Beljaewa ihn zurecht, und sie begann geräuschvoll den Heftapparat zu füllen.

Nikolaj saß gedrückt in einer Ecke des Büros der Beschaffungsabteilung und spitzte seinen Bleistift. Von morgens an erörterten die Kollegen die alptraumhafte Nachricht und drehten und wendeten ein und dasselbe in alle möglichen Richtungen. Die Vorgesetzten hatten sich irgendwo in den oberen Stockwerken eilends zu Beratungen zusammengefunden. Durch den plötzlichen Tod Ljamzins waren große Bauprojekte der Firma bedroht. Die Agenturen waren in Aufregung, im Internet spitzte man die Ohren.

»Sonderbar, dass er in dieser verlassenen Gegend ganz allein war«, brach es zum wiederholten Mal aus Anetschka hervor.

»Sonderbar, dass man ihn überhaupt gefunden hat«, erwiderte Stepan eifrig. »Der Kanaldienst kommt da sonst nie hin. Nicht einmal auf dem Hauptplatz haben sie es in drei Jahren geschafft, eine Stelle freizupumpen. Und nun sind sie auf einmal die ganze Stadt abgefahren, um die Auswirkungen des Regens zu begutachten. Hörst du, Kolja? Sie haben sich endlich besonnen. Sonst läge der Minister noch immer am Straßenrand und wär schon von den Hunden zerfressen.«

Nikolaj stammelte wirr vor sich hin. Beljaewa betätigte wie wild den Heftapparat. Alle in der Abteilung wussten, dass sie Haarausfall hatte. Büschelweise verlor sie die Haare. Sorgfältig verbarg sie die blanken Stellen mit einem Dutt. »Dutte und Perücken, wir kaufen Haare zu Bestpreisen«, stand auf einem Plakat im Lift des Hauses von Nikolaj. Die Tochter erzählte gestern beim Frühstück, dass man früher bei Hof morgens schwarze Perücken trug, tagsüber braune und abends weiße. Kontrastprinzip. Gestern beim Frühstück. Noch vor der Katastrophe … Die rotgeränderten Holzkringel fielen aus dem Spitzer, matt erglänzte die Bleistiftmine.

»Wie lang ist er denn dort gelegen?«, fragte Anetschka.

»Zum Teufel, es ist nicht zu fassen, wir haben noch zusammen den Bericht gelesen. Höchstens zwölf Stunden. Mehr wird vorerst nicht bekannt gegeben«, warf Stepan ein, während er im Zimmer hin und her ging. »Was meinst du, Kolja, ist er so gestorben oder hat man ihn ums Eck gebracht?«

»Er kann auch so gestorben sein …«, murmelte Nikolaj.

»Kennt ihr den?«, grinste Stepan und fuhr fort, wie immer, ohne die Antwort abzuwarten: »Eine Banane und eine Zigarette streiten sich, wessen Tod schrecklicher sei. Die Banane sagt: ›Mein Tod ist grauenvoll. Man zieht mir die Haut ab und verspeist mich lebendig.‹ Darauf die Zigarette: ›Das ist noch gar nichts. Mir zünden sie den Kopf an, und dann saugen sie am Hintern, damit der Kopf weiterbrennt‹.«

Stepan wieherte mit krächzender Stimme los. Anetschka wurde rot. Beljaewa presste die Lippen zusammen und rüttelte empört an den Tischladen.

»Und habt ihr den schon gehört?«, kam Stepan in Fahrt, ohne sie zu beachten. Er ging weiter hin und her, von Ecke zu Ecke. »In der Wohnung eines Mannes tauchte an der Decke ein schwarzer Fleck auf, am nächsten Tag starb der Mann an einem Herzinfarkt. Dann das Gleiche in einer anderen Wohnung – der Bewohner bemerkte einen schwarzen Fleck an der Decke, und am nächsten Tag starb er an einem Herzinfarkt. Und dann tauchte in der Wohnung von Iwanow ein Fleck auf …«

»Mir reichen diese Witze«, seufzte Anetschka laut auf.

»Also ein Fleck bei Iwanow«, fuhr Stepan lauter werdend fort. Der ruft bei der städtischen Hausverwaltung an. ›Hallo, ich hab da einen schwarzen Fleck an der Decke. Kann man das richten? Gut. Und was kostet das?‹ Man antwortete ihm etwas. ›Wie viel?‹, fragte Iwanow nochmals – und starb an einem Herzinfarkt.«

Stepan grunzte wieder vor Vergnügen.

»Wenn Sie sterben, Stepan, werde ich auch lachen«, sagte Beljaewa in schneidendem Ton, stand auf und ging aus dem Zimmer. Am Gang war lebhaftes Stimmengewirr zu vernehmen, ein lautes Durcheinander von Männerstimmen, durchschnitten von Stöckelschuh-Geklapper. Anetschka sprang zur Tür, trippelte dem Haufen nach, steckte dann den Kopf zur Tür herein, um in düsterem Flüsterton zu verkünden: »Die Semjonowa ist gekommen!« Und verschwand wieder.

»Also, wenn die Generaldirektorin da ist, heißt das, dass es brennt«, schloss Stepan und setzte sich zu Nikolaj. Der war mit dem Bleistiftspitzen fertig und klimperte nun stumpfsinnig mit den Lidern, während er auf den vor ihm liegenden Tischkalender schaute, auf dem unten die Monate standen und oben unter der Überschrift »Russlands treue Söhne« vor dem Hintergrund goldener Kuppeln Recken in den Sonnenuntergang ritten.

Stepan blickte zu Nikolaj, seufzte und fragte ihn ganz leise: »Weißt du wohl, dass sie unsere Semjonowa zum Verhör vorgeladen haben?«

Nikolaj riss es: »Wozu?«

»Was heißt da, wozu? Ljamzin war ja ihr Liebhaber. Hast du das nicht mitbekommen?«

Schon eine ganze Zeit lang hatte Nikolaj von solchen vagen Anspielungen und Gerüchten gehört, und dennoch ist es ihm während der ganzen letzten, schlaflosen Nacht kein einziges Mal in den Kopf gekommen.

»Und weiter?« Er fixierte Stepan.

»Nun, gestern hat sie ihn anscheinend bei sich erwartet. Ljamzin hat seinen Chauffeur heimgeschickt und ist mit dem Taxi zu ihr gefahren. Und ist auch, so scheint es, dort angekommen. Aber zu ihr hinaufgegangen ist er nicht. Semjonowa hat vergeblich auf ihn gewartet. Angeblich. Vielleicht flunkert sie auch. Jetzt wird sie sich wohl beeilen, die Dokumente zu verbrennen.«

»Welche Dokumente?«

»Kolja, stell dich nicht so blöd«, Stepans Geplapper wurde immer schneller und schneller, »warum, glaubst du, haben wir die fettesten Aufträge bekommen? Ljamzin hat alle anderen Angebote mit irgendwelchen Begründungen ausgeschieden. Einmal passten die Fristen nicht, ein andermal die Formalitäten. Und wir blieben als Sieger übrig. Die Eishalle – wir, das neue Spital – wir, die Renovierung des Bahnhofs, bei der wir drei Jahre herumgetan haben – auch unser Auftrag. Und diese Brücke für den Schwerverkehr, du erinnerst dich …«

»Ja, natürlich. Da hat sich auf einmal herausgestellt, dass der Grund und Boden nicht der Stadt gehört. Der musste schwarz abgekauft werden.«

»Genau, und wem?«, zwinkerte Stepan verschmitzt.

»Woher soll ich das wissen.«

»Der Semjonowa! Auf dem Papier halt dem Ehemann der Schwester. Sie hat also zweimal aus dem Budget scheffeln können. Für das Grundstück und für den Auftrag. Und Ljamzin war dabei behilflich. Er hat aber auch an sich gedacht und sich einen kleinen Kick-Back genehmigt.«

»Und wieso haben sie ihn bis jetzt nicht zerrissen?«, fragte Nikolaj erstaunt, nachdem er erst so richtig begriffen hatte.

»Es sieht ja ganz so aus, dass sie ihn eben zerrissen haben. Ljamzin balancierte zuletzt am Abgrund dahin. Unser Abteilungsleiter hat mir heute gesteckt, dass es so Gerüchte gab, man habe den Toten mit, na wie sagt man, mit anonymen Anschuldigungen verfolgt. So nach der Art – wir wissen alles, wir werden alles an die zuständige Stelle weitergeben. Dem Gouverneur berichten. Oder halt so ähnlich. Und da hat er das Sausen bekommen.«

»Das heißt, der Denunziant hat ihn auch umgebracht?«, stieß Nikolaj hervor.

Stepan schnalzte mit der Zunge und machte eine abwehrende Handbewegung: »Das sind bloß Gerüchte, und du halt besser still.«

Am Gang waren wieder von fern her Stimmen zu hören, Schritte, undeutliches Rufen. Stepan stand auf, öffnete einen Spalt breit die Tür, schaute hinaus, zuckte mit den Schultern und eilte an seinen Arbeitsplatz zurück, wo er mit der Computermaus fahrig nach neuen Nachrichten suchte. Auch Nikolaj hatte seinen Blick auf den Computer gerichtet, auf die Seite des Stadtforums. Man diskutierte den Mord am Minister. Aber er konnte sich nicht konzentrieren, sein Blick war abgelenkt. »Altersfett? – im Handumdrehen weg mit dem ganz gewöhnlichen, günstigen …«, sprang ihn ein grelles pulsierendes Bild am Rand an. »Um mit 65 wie 43 auszusehen, machen Sie sich zur Angewohnheit, 10 Minuten vor dem Schlaf …«, endete unvollständig ein anderes Bild. Überall blitzten hängende Hüften, rosa Warzen und dreifach aufgeblasene Frauenbrüste.

»Step, es ist ja Mittagspause. Ich habe der Tochter versprochen, gemeinsam zu essen«, sagte Nikolaj schließlich und riss sich vom Bildschirm los. »In einer Stunde bin ich wieder da.«

Nikolaj zog geschwind seinen Mantel an und ging hinaus auf die Straße. Es war windig, kühl und feucht. Vereinzelt schlugen ihm Tropfen ins Gesicht. Der Himmel war wie in einzelne graue Schwaden zerfetzt. Nikolaj erinnerte sich an Ljamzins verlorenen Blick. Es stimmt also, dass man ihn verfolgt hat. Das war keine Paranoia, ganz im Gegenteil. Oder ist das »ganz im Gegenteil« auch eine Diagnose? Wohl Pronoia. Wenn man an Verschwörer glaubt, die einen nicht vernichten, sondern retten wollen. Es kam ihm sonderbarerweise die Geschichte eines Musiklehrers in Kroatien in den Sinn, der ein Zugsunglück, einen Zwischenfall mit einem Flugzeug und drei Autounfälle überlebt hat. Zweimal hat es bei ihm gebrannt, einmal ist er in eisiges Wasser gefallen. Er stürzte in eine Schlucht und konnte sich an einem Baum festhalten. Eine unglaubliche Rettung.

Ein einbeiniger junger Mann auf alten Holzkrücken und in Uniform verstellte Nikolaj den Weg. Die unförmigen Gummi-Enden der Krücken steckten im Schlamm, auf der Brusttasche der Jacke trug er ein St.-Georgs-Band, seine von Brandwunden vernarbte Stirn war faltig wie ein Harmonika.

»Haben Sie eine Zigarette für einen Donbass-Veteranen?«, bat der Einbeinige höflich.

»Ich rauche nicht«, antwortete Nikolaj, wich achtsam rechts am Veteranen vorbei und ging weiter zu seinem Auto.

»Hör zu, du Sauhund«, der Veteran stampfte mit seinen Krücken, »während du im Hinterland deinen Arsch gewärmt hast, habe ich unsere gemeinsame Heimat verteidigt, verstanden?«

»Verstanden«, antwortete Nikolaj gefügig, während er in der Tasche nach dem Autoschlüssel kramte.

»Ich habe für solche Russen wie dich mein Bein geopfert.«

»Ich habe Sie nicht darum gebeten«, antwortete Nikolaj.

»Gib mir etwas, damit ich mir Prothesen leisten kann, guter Mann. Für Medikamente gib mir was! Die Bürohengste haben uns Veteranen im Stich gelassen! Sie haben uns beschissen und sich dann verpisst. Spende ein paar Tausend, hör doch!« Die Stimme des Bettelnden wurde auf einmal ganz gütig und weich.

Nikolaj stieg schweigend ins Auto, während der Veteran ihm immer lauter hinterherschrie und dabei in wüstes Geschimpfe kippte.

»Du bist ja um nichts besser als diese Faschisten, du Häuslbrunzer. Ich merk’ mir deine Nummer, du Dreckschwanz, verstanden? Ich bin nicht allein, wir sind viele! Die Motorhaube werden wir dir zerkratzen, du Schwuchtel …«

Die weiteren Drohungen verloren sich im Knattern des gestarteten Motors. Nikolaj reversierte langsam. »Faschist, Faschist!«, war von Neuem das Geschrei des Veteranen zu hören, und der Wagen fuhr vorsichtig aus dem Hof, in dem noch tief das Wasser vom gestrigen Dauerregen stand. Im Rückspiegel zitterte das Bild des Einbeinigen. »In zehn Jahren«, so dachte Nikolaj, »wird man Gliedmaßen künstlich nachwachsen lassen können, für die, die Geld haben.« Man braucht nur das Bein eines Toten. Als Karkasse. Dann werden Muskelzellen des Empfängers injiziert, es kommt in eine Art Brutkasten, Sauerstoff dazu … Hätte man Ljamzin wiederbeleben können? Künstliche Beatmung. Nikolaj hat es nicht einmal versucht. Vielleicht hat er noch gelebt. Wie soll man das feststellen? Benachrichtigung über einen Todesfall, Paragraph 66 …

Nach der schlaflosen Nacht arbeitete sein Kopf nur mit halber Kraft. Zu Hause hatte ihn die Frau befragt, warum er so durchnässt war. Er log, dass er das Auto nicht habe starten können und anschieben musste. Einen Impuls geben. Impuls – das ist doch Masse mal Geschwindigkeit? So scheint es. Die Ejakulationsgeschwindigkeit beträgt 50 km/h. Nikolaj blickte auf den zitternden Zeiger des Tachometers, dann hinauf auf die Windschutzscheibe – und bemerkte plötzlich, dass unter dem Scheibenwischer ein gefaltetes Blatt Papier steckte. Er bremste ab, sprang aus dem Wagen und nestelte das Blatt hervor … Ein ganzes A4-Blatt, schwarze Druckerpatrone. In großen Buchstaben stand im Querformat gedruckt: »Mörder«. Nur dieses eine Wort. Nikolaj erstarrte. Wer? Wer hat dieses Blatt angebracht? Er blickte sich verstohlen um. Bei der Hofausfahrt war niemand. Bloß eine müde Mutter zog einen Buben mit Schultasche hinter sich her, und ein Mann mit einem Paket schlurfte mürrisch irgendwo hin. Der Veteran, am Ende der Veteran?

Nikolaj war perplex, er setzte sich wieder ins Auto und stieg aufs Gas. Seine Hände zitterten am Lenkrad, und für einige Minuten türmte sich in seinem Gehirn eine einzige große Schwärze zusammen. Dann tauchten fetzenweise einige Gedanken auf. Angenommen, den Zettel hat der Einbeinige daruntergesteckt – wer hat ihn dafür angeheuert? Oder tat er es von sich aus? Warum nur hat er ihm kein Geld gegeben? Er hätte ruhig ein wenig großzügig sein können. Aber wenn es nicht der Krüppel war, wer dann? Das heißt, jemand verfolgte ihn.

Der Zettel flatterte auf dem Beifahrersitz. »Mörder!« Nikolaj überlegte, wie man den Verfasser ausfindig machen könnte. Man sagt, früher habe man von der Schrift auf die Schreibmaschine schließen können. Kann man einfach aufgrund der Tinte den Drucker identifizieren? Bei diesen kriminalistischen Überlegungen wurde Nikolaj immer desperater. Wenn es wenigstens Farbdruck wäre. Er hat gehört, dass Farbdrucker auf jedem Blatt einen Code hinterlassen. Kleine, kaum sichtbare gelbe Punkte.

Vor ihm hielt ein Trolleybus. Im kaum durchsichtigen Rückfenster schaukelten die verschwommenen Gesichter der Passagiere. Der Fahrer war ausgestiegen und in seiner Warnweste auf die Außenleiter geklettert, um den Stromabnehmer wieder einzurichten. Trolleybusse … In Murmansk gibt es die weltweit am nördlichsten eingesetzten, und die längste Linie befindet sich wo? Auf der Krim? Der Fahrer hat sich erfolgreich mit den Leitungsdrähten herumgeschlagen und ist flott wieder heruntergestiegen. Fahrer – oder Führer, das kommt doch von Anführer, Chef? Oder von woher sonst? Und das aus dem Französischen stammende Chauffeur bedeutet Heizer, hat die Tochter gesagt. Warum Heizer? Eben deswegen, weil die ersten Verkehrsmittel mit Kohle betrieben wurden. Die Eisenbahn wurde vor dem Automobil erfunden … Der Bus kam langsam wieder in Fahrt, und Nikolaj folgte ihm – aus irgendeinem Grund überholte er ihn nicht.

Er wollte den verdammten Zettel wegschmeißen. Aber wie? Aus dem Fenster? Er langte mit der Rechten auf den Beifahrersitz, wendete das Blatt und schielte darauf. »Mörder!« Noch dazu mit Rufzeichen. Möglicherweise einer der Kollegen? Beljaewa war wütend irgendwohin abgehauen. Nikolaj stellte sich vor, wie sie sich bückt und das Blatt unter den Scheibenwischer steckt. Aber woher wusste sie davon? Nein, das ist doch alles Unsinn, das träumt er. Es träumt ihm. Nikolaj nahm das Blatt, knüllte es mit aller Kraft zusammen und warf es aus dem Fenster, unter die nassen Reifen. Da hörte er seinen Magen laut und fordernd knurren. Aber er sah sich nicht im Stande, stehenzubleiben, durchzuatmen und in ein Café zu gehen, um etwas zu essen, seine Finger zitterten noch zu sehr. »Wer, wer, wer«, murmelte Nikolaj, schon automatisch, dumpf, wie eine Fabriksmaschine, wie ein Maschinengewehr. Immer dasselbe. Immer dasselbe.

Inzwischen hatte er bemerkt, dass er eben die besagte Strecke fuhr. Er passierte die Kreuzung, an der Ljamzin zu ihm ins Auto gesprungen war, und gleich daneben befand sich der neue Luxusbau, in dem tatsächlich Semjonowa wohnte, mit der der Tote seine amourösen Abenteuer hatte. Und jetzt bewegte er sich Richtung Außenumfahrung, entlang der braunen Pfützen von gestern. Wieder knurrte der Magen. Es verlangte ihn unbändig nach warmer Krautsuppe. »Schau nur, was dort ist …«, dachte Nikolaj, und wusste selbst nicht, was er dort an jenem unseligen Straßenrand sehen wollte. Etwa gar den Leichnam Ljamzins? Gleichzeitig mit Ljamzin ging ihm der dampfende Eintopf durch den Kopf. Krautsuppe und Grütze – zu vielem nütze. Wo Krautsuppe, da auch unsre Truppe. Die Frau kocht keine schlechte, aber er eine noch bessere. Das Wichtigste ist, dass Sauerkraut genommen wird. Und möglichst viel Fleisch. Schweinsrippen. Es heißt, schon die Neandertaler hätten Suppen zubereitet. In einem Ledersack, aber nur für Kranke und Zahnlose.

Nikolaj biss sich auf seine wulstige Lippe. Da, der nämliche Zaun mit den Rhomben. Plakatfetzen. Eines mit dem Foto einer Gemeinderätin »Bei den Frauen ist alles Herz, auch der Kopf«; ein großer Anschlag »Verkaufe Schweinefleisch«, aber sonderbarerweise mit einem Bild von Winnie Puuh. Wieder dachte er an die Schweinsrippen. Dem Guten tut man Gutes schlicht, dem Schlechten man die Rippen bricht. Schließlich gelangte er an jene Stelle, an der er gestern seinen Passagier zurückgelassen hatte. Dort machten sich einige Leute in zivil und unbestimmten Aussehens konzentriert zu schaffen, einer hatte wohl ein Maßband oder etwas Ähnliches dabei. Wer waren die Leute? Kriminalbeamte? Daneben, beim Graben, waren Autos geparkt – kein Blaulicht, keine Aufschriften. Nur nicht langsamer werden …

Plötzlich schien es Nikolaj, als ob einer der Männer geradewegs zu ihm blickte. Rasch wandte er seinen Blick ab und schaute starr nach vorne, auf die Straße. Er erinnerte sich daran, dass man zum Stressabbau abwechselnd mit der Brust und dem Bauch atmen sollte. Aber nur der Bauch tat mit. Er blähte sich und sank wieder ein. Nikolaj wog neunundachtzig Kilo, er sollte abnehmen. »Im Gefängnis wirst du schon abnehmen«, grinste eine innere Stimme. Und wieder drehten sich die Rädchen zufälliger Assoziationen. Elvis Presley schlief einige Tage hintereinander, nur um nicht zu essen … Ljamzin war auch füllig. Jetzt schläft er, schläft den ewigen Schlaf. Ein achtjähriger Bub aus einem exotischen Land, der ein Mädchen mit einem Stein erschlagen hatte, erklärte, dass er sie schlafen legte. Die müden Spielsachen schlafen, die Bücher schlafen, wie es in dem Kinderlied heißt …

Nikolaj spürte, wie seine Augen feucht wurden. Würde er gar weinen? Tränen von verheirateten Frauen vermischt mit Rosenwasser ergeben eine Heiltinktur. Balsam auf Wunden … Stepan hat sich einmal mit einem scharfkantigen Blatt Papier das Auge verletzt, er musste zum Schutz der Hornhaut eine Linse tragen. Sollte er Stepan alles erzählen? Nein, der würde es nicht verstehen und es nur ausplaudern.

Er fuhr weiter durch die Gegend, hatte vergessen, dass er hungrig war und dass er eigentlich in die Firma zurück sollte. Wenn Angst tatsächlich zu riechen ist, spüren dann die Leute, dass er Angst hat? Wäre es nicht besser, sich zu stellen? Einfach zu erzählen, wie alles kam? Er hat Ljamzin doch nicht umgebracht, sondern nur im Auto mitgeführt.

Das Telefon vibrierte. Nikolaj hob ab. Seine Frau schnatterte: »Koljuschka, so ein Saustall! Man hat versprochen, dass es in der Früh wieder Strom gibt, und was ist passiert? Nichts! Und Wasser gibt es auch keines! Stell’ dir das vor, Kolja, Kolja, hörst du mich?«

»Ich höre dich«, gab Nikolaj matt zur Antwort.

»Du kannst doch was unternehmen? Ich habe bei der Hausverwaltung angerufen, dort kriegst du nur eine freche Antwort. Die halbe Stadt sei ja ohne Strom, wegen des Regens. Wer hat sie denn geheißen, groß etwas vorzuflunkern und zu versprechen, dass bis Mittag alles wieder in Ordnung sein wird. Die Aufräum- und Reparaturarbeiten abgeschlossen. Zu Mittag! Und schau, wie spät es jetzt ist!«

»So ist es nun einmal, mein Sonnenschein, die halbe Stadt ist ohne Strom«, versuchte Nikolaj sie zu beruhigen, aber seine Stimme klang abwesend.

»Wo bist du eigentlich?«, fuhr die Frau hoch.

»Ich fahre zum Mittagessen. Eine Kleinigkeit. Hast du gehört, dass man einen Minister tot aufgefunden hat?«

»Den Ljamzin? Natürlich! Was sagt man denn bei euch in der Firma? Weiß eure Chefin, was da wirklich passiert ist? Eure Fiffi, die Semjonowa?«

»Was hat die damit zu tun?«

»Er hat sie ja angeblich ausgehalten. Du hast es mir doch selbst gesagt.«

»Ich? Das hatte ich schon vergessen …«, murmelte Nikolaj schwach.

»Komm, seine Frau hat ihn ums Eck gebracht. Aus Rache. Sie hatte es wahrscheinlich satt, dauernd betrogen zu werden. Hat ihn erdrosselt und am Schlafittchen zum Zaun bugsiert«, vermutete Nikolajs Frau, halb im Spaß und halb im Ernst. »Vergiss am Abend nicht einzukaufen, ich habe dir die Liste gegeben.«

»Fleisch am Knochen?«

»Unbedingt! Und dreimal Perlgraupen. Die sind jetzt in Aktion. Zwanzig Prozent billiger. Koljuschka, bitte nicht vergessen!«

Nikolaj nickte, als könnte die Frau ihn sehen. Er verabschiedete sich, nun schon mit fester Stimme. Er verstand plötzlich, dass er sich unweigerlich stellen müsse. Sofort, augenblicklich, auch ohne gegessen zu haben, damit seine Entschlossenheit nicht schwinde. Er beschleunigte auf ein höheres Tempo, wie in Entsprechung zu seiner Stimmung. Die feuchtnassen Straßen mit ihren Passanten flogen vorüber. Er fuhr vorbei an sich gegenseitig missmutig etwas zurufenden Elektromonteuren mit ihren orangen Helmen, an vom Regen abgerissenen Leitungen, und an Schuhputzläden, die von Armeniern oder Assyrern betrieben wurden. Dann weiter vorbei an einer ganzen Reihe von Wohnhäusern aus der Stalinzeit mit ihren verrotteten Balkonen, am mit Plakaten vollgehängten Kino »Morgenröte« mit seinem neuen, aber schon nicht mehr funktionierenden Außenbildschirm, und schließlich an der Sportanlage für Kinder, welche die neunziger Jahre überlebt haben und wo man ihm einmal die Nase gebrochen hat. Rhinokyphose, sagte man. Das wird ein effektvolles Häftlingsbild abgeben. Nasenhöcker, römisches Profil. Fahndungsfoto.

Und wenn auch. Besser, jetzt alles auf den Tisch zu legen, als später dann, wenn die große Aufregung herrschen wird. Und ein Anwalt muss her. Sorge um seine Tochter hat sich eingenistet, wie ein Hamster in seinem Bau. Sie wird außer sich sein, sich für den Vater schämen, was werden die Kolleginnen sagen … Wäre es nicht besser, es zunächst mit der Familie zu besprechen? Nein, die Frau würde einen Heulkrampf bekommen. Sie bat, Perlgraupen zu kaufen …

Nikolaj spürte auf der Zunge deutlich den Geschmack von Rassolnik[2] mit Perlgraupen auf Basis von Rindsbouillon. Und dann noch Sauerrahm dazu …

Der Wagen erhielt einen starken Schlag, und in seinem eisernen Unterbauch brach unter Ächzen die Vorderachse. Er war mit einem Rad in ein tiefes Loch geraten.

»Ach du heiliger Bimbam!«, zischte Nikolaj, während er weiter unvermittelt aufs Gas stieg. Das Auto steckte jedoch in der Grube, und der Motor heulte und rauchte bloß. Nikolaj sah, wie einer der neugierigen Passanten ihm zu Hilfe eilte, aber in diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Gehupe und von links nahte etwas Riesiges und Unabwendbares und krachte donnernd in sein Auto. Die Zeit dehnte sich und verfloss tropfenweise, langsam und unerbittlich. »Ein Kamaz![3]«, wurde es Nikolaj noch klar. »Das darf doch nicht sein!« Doch schon platzte und schnalzte etwas in seinen Ohren, und Nikolaj war zermalmt.

Verletzte Gefühle

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