Читать книгу Sophienlust Classic 55 – Familienroman - Aliza Korten - Страница 3
Оглавление»Mutti, du musst verstehen, dass das nicht geht«, sagte Andrea von Lehn mit Entschiedenheit. »Unser Tierheim ist ziemlich voll. Eine Gänseherde können wir im Moment beim besten Willen nicht beherbergen. Die passt doch viel besser nach Sophienlust.«
Denise von Schoenecker, die ihre Tochter auf eine Tasse Kaffee besuchte, seufzte. »Unser Gänserich hat einen fürchterlichen Hass auf Moiras Gänsemutter mit ihren sechs Küken. Du solltest mal sehen, mit welchem Heldenmut das kleine Mädchen seine Gänsefamilie verteidigt, obwohl es vor dem Ganter selbst Angst hat. Es ist rührend anzusehen.«
»Du bist viel zu gutmütig, Mutti. Dass du das Kind aufgenommen hast, gehört zu den Gepflogenheiten des Hauses. Aber gleich sieben Gänse dazu! Musste das sein?«
Denise nickte. »Das Kind hat einen Schock erlebt. Du weißt doch, dass es mit seinen Eltern im Auto verunglückt ist. Die Erwachsenen waren vermutlich sofort tot, und die Bauersleute nahmen das Kind mit, um es gesundzupflegen.«
Andrea hob die Schultern. »Das ist eine ziemlich verrückte Geschichte, Mutti. Zuerst haben die Leute weder einen Arzt geholt noch die Behörden verständigt, und jetzt sieht es so aus, als habe Moira sonst keine Angehörigen mehr. Es muss sich doch aber zumindest feststellen lassen, wer damals eigentlich verunglückt ist.«
»Es war ziemlich weit von hier entfernt, wie du weißt«, entgegnete Denise. »Ich habe alles, was ich aus den Leuten herausfragen konnte, inzwischen schriftlich niedergelegt. Möglicherweise lebten die Eltern doch noch und liegen in irgendeinem Krankenhaus. Sicherlich werden wir sehr bald erfahren, woher unsere kleine Amerikanerin stammt. Ich nehme an, aus Frankfurt. Dort wohnen ja viele Amerikaner.«
»Schon möglich. Trotzdem soll sie ihre Gänse in Sophienlust lassen. Der Ganter wird sie schon im Lauf der Zeit dulden.«
»Es ist das erste Mal, dass uns mitgebrachte Tiere Kopfzerbrechen bereiten, Andrea! Sonst ist uns immer eine Lösung eingefallen. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass Moira ihre Gänse in einer Frankfurter Stadtwohnung halten darf.«
»Ins Flugzeug darf sie sie bestimmt auch nicht mitnehmen, falls man sie in die Staaten zurückholt«, fügte Andrea hinzu. »Sei mir nicht böse, Mutti – aber du musst einsehen, dass ich die Gänse hier nicht aufnehmen kann.«
Andrea, aus der ersten Ehe Alexander von Schoeneckers stammend, liebte Denise wie ihre leibliche Mutter. Auf Gut Schoeneich war neues Glück eingezogen, als Denise, die verwitwet gewesen war, Andreas Vater geheiratet hatte. Vom ersten Tag an hatte sich die neue Familie harmonisch zusammengefügt: Denise mit Sascha, Alexanders Ältestem, und Andrea – Dominik, dem Erben von Sophienlust, von jedermann liebevoll Nick gerufen, mit Alexander. Vollkommen war das Glück geworden, als sich dann noch der kleine Henrik eingestellt hatte. Seitdem waren Jahre vergangen. Henrik besuchte inzwischen schon die Schule, Nick das Gymnasium. Sascha studierte auf der Universität in Heidelberg, und Andrea war bereits mit dem jungen Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet, der die Praxis seines Vaters übernommen hatte. Hier, in Bachenau, auf dem Lehnschen Grundstück, befand sich das von Andrea und ihrem Mann gegründete Tierheim Waldi & Co., in dem kranke und verlassene Tiere jeder Gattung Aufnahme und Unterkunft fanden.
Sophienlust aber, das herrliche Gut mit dem schlossähnlichen Herrenhaus, das Nick von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin geerbt hatte, war – dem Vermächtnis der Verstorbenen zufolge – in ein Kinderheim umgestaltet worden. Bis zu Dominiks Großjährigkeit verwaltet Denise dieses Heim. Alexander aber beaufsichtigte den Betrieb des Gutes, obwohl er als Besitzer von Schoeneich auch dort durchaus genug zu tun hatte. »Müssen wir uns also für Moiras Gänse etwas anderes ausdenken«, äußerte Denise fröhlich. Sie ließ sich durch solche Probleme nicht entmutigen. Für sie stand ohnehin fest, dass dieses reizende Kind, das inzwischen schon erstaunlich gut Deutsch sprach, wenn auch mit englischen Brocken vermischt, nicht allzu lange in Sophienlust bleiben würde. »Ich muss zurück, Andrea«, fügte sie, sich erhebend, hinzu. »Hätte ich nicht ohnehin in Bachenau zu tun gehabt, wäre meine Anfrage telefonisch erfolgt.«
Andrea umarmte sie. »Du hast immer ein bisschen zu viel zu tun, Mutti. Ich schäme mich, dass ich die Gänse nicht nehmen kann.«
Denise strich ihr zärtlich über das Haar. »Mir wird es schon nicht zu viel, Kleines. Vielleicht ist es für Moira sogar besser, wenn die Gänse bei uns bleiben. Sie hängt sehr an ihnen. Die netten Bauersleute haben sie ihr zum Abschied geschenkt. Wahrscheinlich dachten sie, dass die Gänse bei uns auf dem Gut kein Problem seien.«
»Sie werden sich gar nichts gedacht haben, Mutti«, lachte Andrea. »Das geht doch aus ihrem sonstigen Verhalten ziemlich deutlich hervor. Wie kann man ein Kind aus einem zertrümmerten Auto retten, ohne irgendjemanden zu verständigen? Das ist bei aller Hilfsbereitschaft ein bisschen weltfremd.«
Andrea begleitete ihre Mutter bis zum Auto, das vor der Einfahrt parkte. Die schwarze Dogge Severin folgte ihrer jungen Herrin, wie immer, auf dem Fuße, während die Dackelfamilie eigene Wege ging.
»Schade, dass du keine Zeit hast, ins Tierheim zu schauen«, bedauerte Andrea. »Die Bärenjungen werden immer intelligenter.«
»Das nächste Mal, Kleines. Euer Heim wird nach und nach zu einem richtigen Zoo, möchte ich sagen. Ihr könntet bald Eintritt für die Besichtigung verlangen.«
»Danke«, lachte Andrea. »Dann hätten wir noch mehr Arbeit.«
Denise stieg in ihren Wagen und fuhr davon. Es war nicht weit bis nach Sophienlust. Jedes Mal wurde es ihr warm ums Herz, wenn sie das Herrenhaus erblickte. Dann dachte sie an den Tag, an dem sie mit Nick zum ersten Mal hierhergekommen war – zur Testamentseröffnung. Damals hatte sich ihr gesamtes Leben mit einem Schlag verändert. Not und Sorge um das tägliche Brot hatten ein Ende genommen. Vor allem aber war sie nicht mehr gezwungen gewesen, sich von ihrem kleinen Sohn zu trennen.
Vor dem Haus spielte eine Gruppe von Kindern. Sie kamen sofort angelaufen, um ihre geliebte Tante Isi zu begrüßen. Vicky Langenbach berichtete aufgeregt, dass Moira jetzt eine Schubkarre von Justus bekommen habe, um ihre Gänseküken beisammenzuhalten.
»Es sieht komisch aus, wenn sie mit der Karre losrennt, sobald der Gänserich auftaucht, Tante Isi«, meinte Vicky lachend. »Vorhin hat Nick den ollen Ganter mit dem Stock wegjagen müssen. Dass er auf die fremde Gans so böse ist, kann ich gar nicht verstehen.«
Denise nickte. »Ja, es ist betrüblich. Auf die Dauer werden die Gänse wohl nicht hierbleiben können. Denn wenn die Küken größer werden, müssten sie mit zu dem übrigen Geflügel in den Stall.«
Vicky seufzte. »Da ist mein Meerschweinchen schon praktischer«, erwiderte sie.
Denise betrat das Haus und ging sofort ins Büro, wo Frau Rennert, von den Kindern Tante Ma genannt, hinter ihren Büchern saß.
»Gut, dass Sie da sind, Frau von Schoenecker«, erklärte Frau Rennert. »Es kam ein Anruf aus Frankfurt. Moira ist das einzige Kind eines Ehepaares namens – warten Sie, ich habe es notiert – Cassels heißen sie. Nein, man muss ja leider sagen, haben sie geheißen. Denn sie sind beide tot. Es stimmt, was die Bauersleute erzählten.«
»Ich hatte immer noch gehofft«, stellte Denise traurig fest, »dass die beiden Erwachsenen gerettet werden konnten. So heißt unser Gänsemütterchen also Moira Cassels.«
»Es waren Touristen aus Amerika. Nach dem Kind sind bis jetzt keine Nachforschungen angestellt worden. Aber die Angelegenheit ist dem amerikanischen Konsulat übergeben worden.«
»So ähnlich hatte ich mir das vorgestellt. Wahrscheinlich wird es nicht allzu lange dauern, bis man die Kleine in ihre Heimat zurückholt.«
Denise blickte aus dem Fenster. Draußen bot sich ein allerliebstes Bild. Moira Cassels, mit Jeans und einer karierten Bluse bekleidet, das blonde Haar seitlich zu zwei Schöpfen aufgebunden, schob ihre Karre mit den sechs Gänseküken vor sich her, während die Gänsemutter sie würdevoll begleitete.
Nun wurde Denise von dem Kind bemerkt. Strahlend winkte ihr Moira zu. Die kleine Amerikanerin schien sich an ihre Eltern kaum mehr zu erinnern. Der Unfallschock und das folgende Krankenlager bei den hilfsbereiten Bauersleuten hatte wohl manches aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Doch es war besser so. Denn niemand konnte Moira zurückgeben, was sie verloren hatte.
*
»Du bist verrückt, Roland. Das mache ich nicht mit.«
Ein schlankes bildhübsches Mädchen mit halblangem braunem Haar und blitzenden dunklen Augen stand in der Tür des alten Bauernhauses, in dem sich Roland Gerhardt, siebenundzwanzig Jahre alt, seines Zeichens freischaffender Maler, recht gemütlich eingerichtet hatte, wie er fand.
»Komm erst einmal herein, Barb.« Roland zog das Mädchen in die Stube, die gegen den hellen Sommersonnenschein draußen etwas düster wirkte. Die Wände waren neu getüncht, die Möbel aus hellem Holz geschnitzt. Alles wirkte einfach, aber stilgerecht und sehr sauber.
Barb schüttelte sich trotzdem. »Du bist verrückt, Roland.«
Roland Gerhardt, groß, blond und mit verträumt blickenden blauen Augen, ließ sich nicht beirren. Er öffnete eine Tür. »Da schlafe ich«, erklärte er im Ton eines versierten Schlossführers. »Wenn du mich heiraten willst, passt bestimmt ein zweites Bett hinein.«
Barb machte eine Grimasse, obwohl das Zimmer hell und freundlich wirkte. Auch hier standen bäuerliche Holzmöbel.
In der Küche waren Elektroherd und Kühlschrank gewisse Zugeständnisse an den modernen Komfort. Rolands Atelier aber befand sich im Dachgeschoss auf dem ehemaligen Speicher des Bauernhauses, von außen über eine Leiter zu erreichen. Hier war einiges grundlegend verändert worden, so dass ein großes Westfenster gutes Licht
für die Arbeit des Künstlers einfallen ließ.
»Das meiste hab ich selbst gemacht«, berichtete Roland, nachdem er Barb über die Leiter nach oben geführt hatte. »Doch viel Geld hatte ich leider nicht zur Verfügung.«
Barb betrachtete ein paar Bilder, die an den Wänden lehnten. Das Holzgebälk des alten Hauses duftete. Aber Barb, ein Stadtkind durch und durch, spürte nichts vom Reiz dieses einfachen Gebäudes, nichts von der charmanten Ursprünglichkeit, die hier regierte.
Roland breitete die Arme aus. Barb schmiegte sich an ihn und sträubte sich nicht, als er sie auf die niedrige Couch zog, die mitten im Raum stand.
»Ich liebe dich, Barb. Hier bin ich fast vollkommen glücklich. Wenn du dich entschließen könntest, bei mir zu bleiben und mich zu heiraten, bliebe kein einziger Wunsch mehr offen.«
Barb ließ sich küssen. Das Blut klopfte in ihren Schläfen. Roland war ein Mann, dessen Werbung sich eine Frau nicht so ohne Weiteres entziehen konnte.
Für eine Weile vergaßen die beiden jungen Menschen ihre Umwelt. Es schien nur den Maler und das Mädchen mit dem seidigen braunen Haar zu geben, die Leidenschaft der beiden und die Glut ihrer Umarmung.
»Glaubst du immer noch nicht, dass wir zusammengehören?«, fragte Roland später lächelnd, ihren Kopf mit beiden Händen umspannend. »Man braucht nicht viel, um wirklich glücklich zu sein. Hier lebt man bescheiden und ländlich. Milch und Gemüse kann ich bei den Bauern kaufen oder auf dem Gut.«
Barb küsste ihn und lachte. »Du bist tatsächlich verrückt, Roland. Auf die Dauer muss man hier doch den Verstand verlieren. Ich brauche auch mal was anderes als Milch und Eier vom Bauern.«
»Nun, bis Bachenau ist es nicht weit. Ich habe immerhin ein Auto.«
»Für das du dir bald das Benzin nicht mehr wirst leisten können«, spottete sie.
»Ich werde Bilder verkaufen. Es wird mir bestimmt gelingen. Ein paar feste Aufträge habe ich schon.«
Barb schob die volle Unterlippe nach vorn. »Es ist ein Spleen, und du kannst nicht verlangen, dass ich das mitmache. Ich brauche Stadtluft, Bars, Parties, Musik. Zum Einkaufen mag ich große Kaufhäuser und keine Ramschläden in irgendeiner vergessenen Kleinstadt. Wenn du entschlossen bist, in dieser Bruchbude zu bleiben, wirst du mich kaum wiedersehen.«
»Barb! Ich habe geglaubt, du liebst mich!« Das klang sehr enttäuscht. »In Hamburg hast du doch bloß ein winziges Zimmer und sonst nichts. Hier haben wir viel mehr Platz.«
Das Mädchen schwieg trotzig.
»Na komm, jetzt machen wir uns erst mal einen Kaffee«, schlug er versöhnlich vor. »Das Haus ist übrigens in tadellosem Zustand«, erklärte er, als sie wieder in der Wohnstube angekommen waren. »Sonst hätte ich es nicht gemietet. Der Garten ist allerdings ein bisschen verwildert. Das finde ich ganz romantisch. Später kaufe ich das Anwesen vielleicht, falls es käuflich sein sollte. Es ließe sich was draus machen.«
Barb schüttelte stumm den Kopf angesichts solcher Pläne. Dann schaute sie in schöner Untätigkeit zu, wie der junge Hausherr in der Küche Kaffee braute. Dazu stellte er Bandbrot, frische Butter, Honig, aber auch Schinken und Käse auf den Tisch.
»Na?«, fragte er heiter. »So schlecht geht es mir doch wirklich nicht.«
Barb setzte sich auf die andere Seite des blank gescheuerten Tisches und langte mit gutem Appetit zu. Es schmeckte wunderbar. Die lange Fahrt im Wagen hatte sie angestrengt. Zum Einkehren unterwegs hatte außerdem ihre Reisekasse nicht ausgereicht.
»Wie heißt das Gut hier in der Nachbarschaft?«, fragte Barb, als sie sich die dritte Scheibe Brot mit Butter bestrich.
»Sophienlust. Du hättest das Herrenhaus liegen sehen müssen.«
»Es sieht wie ein Schloss aus. Ist es das?«
Er nickte. »Stimmt. In dem Schloss wenn du es so nennen willst, ist ein Kinderheim untergebracht. Interessanterweise gehört das Gut einem Jungen, der noch die Schulbank drückt.«
»Beneidenswert«, seufzte Barb.
Roland lächelte gleichmütig. Er legte offenbar auf irdische Besitztümer nur wenig Wert.
Nachdem Barb sich sattgegessen hatte, zündete ihr der Maler eine Zigarette an. Er selbst rauchte nicht.
»Hast du dir das Rauchen abgewöhnt?«, fragte Barb verwundert.
»Ja, ich finde, es ist nicht nötig. Man gibt Geld aus und schadet der Gesundheit.«
»Als ob du solche Sparsamkeit nötig hättest!«
Roland Gerhardt ging nicht auf Barbs Anspielung ein, sondern streichelte zärtlich den Arm des hübschen Mädchens. »Bleib hier, Barb«, forderte er sie noch einmal auf. »Es wird dir gefallen, wenn du erst einmal eine Woche hier bist.«
Sie schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf, so dass ihr braunes Haar sein Gesicht streifte. »Ich hielte es hier nicht zwei Tage lang aus. Was soll ich denn zum Beispiel tun, wenn du malst? Und malen musst du schließlich, wenn wir nicht verhungern sollen.«
»Das Haus aufräumen, Milch holen und …«
»… kochen, Wäsche waschen und im Garten Kartoffeln hacken, damit das Essen nicht zu teuer wird«, fuhr sie ironisch fort. »Roland, schlag dir das aus dem Kopf.«
Er seufzte. »Das ist unmöglich, Barb. Du sagst, malen musst du! Das stimmt genau. Ich kann nicht leben, ohne zu malen. Deshalb habe ich dies Haus hier gemietet und mich hierher zurückgezogen. In ein paar Monaten oder Jahren wirst du erkennen, dass ich recht hatte.«
»Bis dahin dauert es mir zu lange, Roland.« Sie sprang auf und rannte aus der Tür. Auf dem schmalen Weg, der am Grundstück vorüberführte, parkte ihr kleines Auto.
»Vielleicht überlegst du es dir noch, Barb«, sagte er bittend, als er sie eingeholt hatte. »Aber ich will dich nicht unglücklich machen. Daran, dass ich mein Leben lang malen werde, wird sich leider nichts ändern lassen.«
Sie waren nun bei ihrem Wagen angelangt. Auf dem Rücksitz lag ihre Reisetasche, die sie gar nicht erst herausgenommen hatte.
»Du wolltest also bleiben«, sagte Roland.
»Eigentlich wollte ich dich mitnehmen, Roland. Jetzt sehe ich, dass es besser für uns beide ist, wenn ich gleich abfahre. Es hat keinen Sinn.«
Er schwieg, wenn ihm auch anzusehen war, dass es ihm leidtat.
»Du …, Roly …«
»Hm …«
»Ich muss tanken, aber ich bin völlig blank.«
Der Künstler lachte und griff in die Tasche. Eilig nahm Barb zwei Fünfzigeuroscheine in Empfang.
»Danke, Roly. Wie ich sehe, geht’s dir noch ganz gut.« Sie hatte mit flinkem Blick erfasst, dass er ihr durchaus nicht sein letztes Geld gegeben hatte.
»Vorläufig halte ich mich leidlich über Wasser«, erwiderte er schulterzuckend.
Barb schmiegte die Wange kurz an die seine und küsste ihn schließlich abschiednehmend und sehr zärtlich. »Es ist schade, Roly. Es hätte ganz anders sein können. Ich passe nun mal nicht in ein altes Bauernhaus. Viel Glück!«
Sie stieg ein, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und setzte das kleine Auto etwas gewaltsam auf dem schmalen Wiesenweg in Bewegung.
Roland sah zu und hob grüßend die Hand. Es tat ihm ein bisschen leid, dass sie abreiste, aber zu seiner Verwunderung nicht gar so sehr. Das Leben, allein seiner Malerei gewidmet, hier in dem abgeschiedenen Dorf Wildmoos, machte ihn glücklich. Er fühlte sich weder einsam noch verlassen, solange er malen konnte. Und er malte von früh bis spät wie ein Besessener, weil er endlich durch nichts und niemanden davon abgehalten wurde – nicht einmal von seiner hübschen Freundin.
Nun war von Barbs Wagen kein Zipfelchen mehr zu entdecken. Roland holte tief Luft und kehrte ins Haus zurück, wo er mit der Sorgfalt eines Junggesellen, der keine Hilfe hat, den Tisch abräumte und in der Küche Ordnung schaffte. Dann setzte er sich vor der Tür in die Sonne, denn er konnte nicht sofort an seine Arbeit zurückkehren. Ein wenig klang das Erlebnis mit Barb noch in ihm nach. Zu denken, dass sie den weiten Weg hierher nicht gescheut und dann doch nein gesagt hatte, als er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle …
Nun, Roland gab sich über Barb keinen Illusionen hin. Zwar bezauberten ihn ihre Schönheit und Ursprünglichkeit, doch er wusste, dass dieses arme, einfache Mädchen nur von dem einen Trieb besessen war, möglichst schnell ihrer Armut zu entfliehen. Deshalb wollte Barb einen reichen Mann heiraten – keinen armen Maler, der es möglicherweise nie zu Erfolg brachte.
Mit siebenundzwanzig Jahren verschmerzte ein normal veranlagter Mann den Verlust eines hübschen Mädchens verhältnismäßig rasch. Roland reckte die Glieder in der Sonne und blinzelte, um ein letztes Mal den Weg entlangzuschauen, auf dem Barb davongefahren war – nach menschlichem Ermessen für immer.
Sein Blick wurde unvermutet von einem seltsamen Aufzug festgehalten. Ein etwa vierjähriges Mädchen in blauen Jeans und karierter Bluse schob eine Schubkarre etwas mühselig vor sich her, während daneben eine große Gans marschierte, ab und zu leise schnatternd.
Roland erwartete die Ankunft dieser wunderlichen Besucher mit echter Neugier. Endlich befand sich das Kind genau vor seinem Gartentor, das immer offen stand.
»Tag, kleines Fräulein, wohin willst du denn?«
»Hallo«, antwortete das Kind, unverkennbar mit amerikanischem Tonfall. »I look for grass for my geese. – Ich suche Gras für meine Gänse.«
»Komm her!« Nun erst entdeckte Roland die seltsame Fracht in der Karre, die ihm bisher durch deren hohen Rand verborgen geblieben war.
»Der big Gänsevater in Sophienlust beißt my geese«, verkündete das Kind in einem unbekümmerten Sprachengemisch.
»Na, so was! Dann kommst du also aus Sophienlust. Und wie heißt du?«
»Moira.« Das hörte sich an, als müsste eigentlich jedermann wissen, wie Moira hieß.
»Du gefällst mir«, sagte Roland. »Wenn du willst, kannst du die Gänse in meinen Garten bringen. Da gibt’s genug Gras.«
Moira nickte und schob die Karre herein. Es kam ihr wohl ganz selbstverständlich vor, dass ihre Schützlinge hier gern gesehen waren. Behutsam hob sie die Küken aus der Karre.
»Und Wasser?«, fragte sie strahlend.
Roland ging in die Küche, wo er einen Teller mit Wasser füllte.
Moira schaute beglückt zu, wie sich ihre Gänseherde sehr schnell auf der Wiese neben dem Bauernhaus einlebte.
»Wie ist dein Name?«, fragte sie jetzt den großen Mann in ihrem gebrochenen Deutsch.
»Roland.«
»Roland.« Moira wiederholte den Namen aufmerksam, doch mit amerikanischem Akzent. »Ich kenne einen Jungen, der is called Roland. Aber ich weiß nicht, wo er ist geblieben.«
Nun, da konnte ihr der deutsche Roland auch nicht weiterhelfen.
Moira entdeckte die Leiter, die von außen her zum Speicher führte, wo Rolands Atelier eingerichtet war.
»Kann man oben?«, fragte sie.
»Du wirst fallen. Warte, ich helfe dir.«
Im Atelier bestaunte Moira andächtig die Bilder. Ganz versunken saß das hübsche Kind vor einem Madonnengemälde, einer Kopie, die Roland für eine Kirche in Auftrag hatte.
Ich könnte Moira malen, überlegte der Maler. Vielleicht mit den Gänsen – oder mit einer Gans.
Das Bild formte sich bereits ohne sein Zutun vor seinem inneren Auge. Eilig nahm er den Block und skizzierte seine Idee.
»Was machst du?« Nun hatte das Kind es bemerkt. Das Köpfchen war bereits aufs Papier gebannt, wenn auch nur in groben Umrissen.
Er zeigte Moira den Block. Sie betrachtete die Zeichnung aufmerksam. »Das ist mich!«
»Stimmt«, lachte Roland. »Ich möchte dich malen, richtig mit Farbe. Da musst du aber öfter kommen. Vor allem müssen wir auch in Sophienlust fragen, ob du kommen darfst.«
»Ich muss wachen the geese – aufpassen, dass der böse Gänsevater not kommen.«
»Bei mir sind die Gänse ganz sicher. Gehören sie dir?«
»My geese – meine Gänse«, sagte Moira und reckte sich ein bisschen.
»Du darfst sie immer mitbringen«, entschied Roland. »Die Gänse können auf der Wiese sein, während ich dich male. Wollen wir in Sophienlust nachfragen?«
Moira nickte.
Roland Gerhardt bewirtete das Kind mit einem Honigbrot. Dann beschäftigten sich beide gemeinsam damit, die Gänseküken einzufangen und in die Karre zu setzen, was gar nicht so einfach war. Endlich setzte sich die kleine Versammlung in Bewegung.
In Sophienlust war es Pünktchen mit den lustigen Sommersprossen, der sie zuerst begegneten. Pünktchen knickste artig. »Guten Tag.«
»Guten Tag«, antwortete der Maler. »Ich bin Roland Gerhardt und hätte gern die Heimleiterin gesprochen.«
»Frau Rennert ist nicht da. Aber Sie können bestimmt mit Carola Rennert reden. Das ist Frau Rennerts Schwiegertochter.«
Pünktchen betrachtete Roland ein bisschen neugierig. Schließlich konnte sie ihre Neugierde nicht verbergen. »Sind Sie der Maler, der das leere Haus gemietet hat?«
»Hm, der bin ich.«
»Das wird Carola interessieren. Sie malt nämlich auch«, platzte Pünktchen heraus.
Roland Gerhardt war überrascht.
»Roland malt ein Bild von mich«, verkündete Moira fröhlich.
Pünktchen war begeistert. »Kommen Sie, ich führe Sie zu Carola, Herr Gerhardt.«
Moira blieb mit ihren Gänsen zurück. Ein bisschen sehnsüchtig blickte sie Roland und Pünktchen nach, die nun das Herrenhaus betraten.
Auf dem kurzen Weg erklärte Pünktchen dem Besucher, dass Frau Rennerts Sohn Lehrer in Sophienlust sei und dass er Carola, die Malerin, geheiratet habe. »Sie hat schon richtige Preise gewonnen und hängt ihre Bilder in Ausstellungen auf. Außerdem hat sie Zwillinge.« Pünktchen fand, dass sie auf diese Weise alle wichtigen Merkmale der jungen Familie Rennert, die einen Anbau des Herrenhauses bewohnte, erwähnt hatte.
Carola begrüßte den Maler mit Herzlichkeit. Roland brachte seine Wünsche höflich zum Ausdruck. Ob er die kleine Amerikanerin mit den Gänsen porträtieren dürfe? Er erzählte auch, dass das Kind zu ihm gekommen sei.
Die junge Frau lachte. »Arme kleine Moira. Sie ist mit ihren sieben Gänslein überall im Weg, weil unsere Herde die Fremdlinge nicht aufnehmen will.«
»Hat sie die Gänse denn mitgebracht?«, erkundigte sich Roland.
Carola erzählte ihm mit wenigen Sätzen Moiras Geschichte.
»Dann müsste ich mein Porträt schnell malen, sonst wird die kleine Moira womöglich abgeholt. Übrigens, die Gänse könnten in meinem Stall Unterschlupf finden.« Roland war von seinem Einfall begeistert. »Der Stall steht leer. Da hätten die Gänse ihren Frieden und die grüne Wiese, die sie brauchen, gleich vor der Tür.«
»Ich glaube nicht, dass meine Schwiegermutter oder Frau von Schoenecker etwas dagegen einwenden werden. Die Gänse wachsen sich hier nämlich bereits zu einem kleinen Problem aus«, antwortete Carola belustigt. »Wegen des Porträts werde ich selbst ein gutes Wort für Sie einlegen. Ich weiß, wie es ist, wenn man sich in den Kopf gesetzt hat, etwas zu malen.«
Roland Gerhardt konnte nun endlich die Frage nach Carolas Malerei und ihren Bildern einflechten. Sehr rasch entspann sich ein intensives Fachgespräch zwischen den beiden Gleichgesinnten. Zuletzt nahm Carola den Maler mit in den Anbau und zeigte ihm ein paar von ihren Arbeiten.
»Ausgezeichnet«, sagte Roland leise. »Sie können mehr als ich, das gebe ich neidlos zu.«
Carola wurde rot. »Es ist eigentlich nur eine Liebhaberei von mir. Aber durch irgendein kleines Wunder habe ich fast immer Erfolg mit meinen Bildern.«
»Sie verdienen den Erfolg, Frau Rennert.« Roland deutete eine kleine Verbeugung an. »Wenn Sie meine Arbeiten interessieren, dann bringen Sie doch Moira morgen zu mir. Dabei können Sie sich meine Pinseleien mal anschauen. Außerdem wissen Sie dann gleich, dass Moira bei mir gut aufgehoben ist – samt den Gänsen.«
»Einverstanden, Herr Gerhardt. Um ehrlich zu sein, es reizte mich schon eine ganze Weile, den geheimnisvollen Maler im leeren Haus in unserem Dorf kennenzulernen.«
»Das Haus ist jetzt nicht mehr leer«, korrigierte er lächelnd. »Ich habe es neu bemalt und hübsch eingerichtet. Und in den Stall kommen nun sieben Gänse.«
»Wir müssen die Entscheidung meiner Schwiegermutter noch abwarten. Aber ich bin ganz sicher, dass es so werden wird, wie sie es vorschlagen, Herr Gerhardt. Gefällt es Ihnen im Dorf?«
»Sehr, Frau Rennert. Ich möchte nie wieder weg. Man lebt wie im Paradies, und ich kann ungestört arbeiten.«
Als sie wieder in den Gutshof kamen, sahen sie eben, wie Moira mit dem Mut der Verzweiflung versuchte, den angriffslustigen Ganter zu vertreiben.
»Moira, wenn du willst, nehme ich deine Gänse in meinen Stall«, schlug Roland vor, indem er den Gänserich mit ein paar lauten, drohenden Rufen verscheuchte. Vor dem großen Mann zog sich das kriegerische Tier gleich zurück.
»Aber sie müssen auch Futter kriegen. Das mache ich immer selbst«, piepste Moira, ausnahmsweise einmal in korrektem Deutsch.
»Nun, für heute Abend schaffe ich es vielleicht, wenn du mir deine Herde anvertraust.«
»What?«
»Sie dürfen sich nicht so kompliziert ausdrücken«, schaltete sich nun Pünktchen ein, die eben zu der Gruppe gestoßen war. »Moira versteht nicht viel Deutsch.«
»Okay«, sagte Roland und wiederholte sein Angebot, für die Gänse zu sorgen, auf englisch.
»Thank you«, antwortete Moira höflich und zufrieden, wobei sie Roland den Griff der Karre in die Hand gab und ziemlich erleichtert aussah.
Wenig später verließ der Maler den Gutshof, die Karre vor sich her schiebend und selbstverständlich von der Gänsemutter begleitet, die ihn etwas argwöhnisch musterte.
Da hab ich mir was eingebrockt, dachte Roland Gerhardt belustigt. Zuerst taucht Barb auf und verschwindet auf Nimmerwiedersehen – und dann verrenne ich mich in die Idee, dieses Kind mit seinen Gänsen zu malen. Resultat, ich habe eine Gänseherde im Stall und muss sie natürlich auch versorgen.
Moira berichtete indessen ihrem besonderen Vertrauten Henrik in ihrem lustigen Sprachgemisch, dass die »geese« nun endlich ein »home« hätten. Die Gänse waren in ihren Augen nun untergebracht.
*
»Natürlich geht es glatt«, sagte der breitschultrige Mann. »Ich habe mir alles gut überlegt. Wenn es sich machen ließe, würde ich dich gleich mitnehmen. Aber eins nach dem anderen, Daisy.«
Das Mädchen, blond und zart, ließ sich widerstrebend von dem Mann in die Arme nehmen. Auf einen unbeteiligten Zuschauer wirkten die beiden nicht gerade wie ein Liebespaar, das zärtlichen Abschied nahm.
Die Szene spielte sich auf dem New Yorker Kennedy-Flughafen ab. Daisy McMiller und ihr Freund Glenn Cassels sprachen englisch miteinander, denn sie waren beide Amerikaner.
Glenn Cassels war auffällig gekleidet. Außerdem schien jedes Stück, das er trug, eben aus dem Laden gekommen zu sein. Daisy machte daneben in ihrem schlichten Kleid einen etwas unscheinbaren Eindruck. Ihr hübsches schmales Gesicht war blass.
»Du wirst mir doch jetzt keinen Strich durch die Rechnung machen?«, drängte Glenn und legte seine Hand schwer auf ihre Schulter. »Genau betrachtet tun wir ein gutes Werk.«
»Wenn ich das Geld nicht genommen hätte …« Ihre Stimme klang unsicher. Zugleich schaute sie ängstlich zu Glenn auf.
»Aber du hast es genommen, Darling. Wir mögen uns doch?« Er küsste sie mit etwas übertriebener Leidenschaft.
Daisy blickte zu Boden, nachdem sie sich aus seiner Umarmung rasch befreit hatte. Einige Minuten später wurde der Flug nach Frankfurt aufgerufen. Das Mädchen atmete mit heimlicher Erleichterung auf.
»So long, Daisy. Ein bisschen kannst du mir den Daumen halten.«
»Ja, Glenn.«
Er schwenkte seine Flugtasche und schloss sich den anderen Reisenden an, die jetzt zum Gate gingen. Daisy blieb zurück. Als sie den Mann nicht mehr sehen konnte, drehte sie sich um und verließ das Gebäude, umso schnell wie möglich in die Stadt zurückzukehren.
Daisy McMiller war Kunststudentin und bettelarm. Sie musste sich das Geld für das Studium sowie für ihren Lebensunterhalt durch allerlei Gelegenheitsarbeiten verdienen und hatte Glenn Cassels kennengelernt, als sie Aushilfskellnerin in einer Imbissstube gewesen war. Ein paarmal waren sie zusammen ausgegangen. Glenn hatte ihr mit seiner sonnengebräunten Haut und seiner etwas unbeholfenen Art gefallen. Dass er vom Lande kam, konnte er nicht verleugnen.
Das junge Mädchen war bis dahin in der Millionenwüste New York sehr einsam gewesen. So hatte es sich dankbar an den neuen Freund angeschlossen, der ihr anvertraut hatte, dass er sich in einer wichtigen geschäftlichen Sache in New York befinde.
Als er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle, war sie etwas verblüfft gewesen. Er aber hatte ihre Hand genommen und ihr seine Geschichte erzählt.
Eine kleine Verwandte von ihm sei verwaist, hatte er berichtet. Er sei der einzige lebende Angehörige. Selbstverständlich wolle er das vierjährige Mädchen zu sich nehmen. Dazu brauche er aber eine rechtmäßige Ehefrau. Daisy gefalle ihm! Deshalb wolle er sie heiraten.
Daisy hatte sich Bedenkzeit ausgebeten. Die Aussicht, auf Glenns Farm Sicherheit und Geborgenheit zu finden, war verlockend für sie gewesen. Auch hatte sie Mitleid mit dem Kind gefühlt. das beide Eltern verloren hatte. Dagegen hatte ihr Wunsch gesprochen, es als Künstlerin zu etwas zu bringen. Allerdings war ihr längst klar geworden, dass der Weg zum Erfolg mühselig und dornenreich aussah – wobei der Erfolg nicht einmal sicher war. Für ein mittelloses Mädchen war es fast unmöglich, allein durchzukommen.
So weit wäre alles in Ordnung gewesen, wenn Daisy dann nicht durch Zufall erfahren hätte, dass Glenn ihr nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. Leider hatte sie kurz zuvor schon einen größeren Geldbetrag von ihm angenommen. So war es für Glenn nicht schwer gewesen, dem unerfahrenen, verstörten Mädchen klarzumachen, dass es nun nicht mehr zurückkönne und mitspielen müsse, ob es ihr passe oder nicht.
Jetzt saß Daisy im Bus und fuhr in die Stadt zurück. Ihr schlug das Herz. Es war natürlich möglich, dass man drüben in Europa herausfand, wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhielten. Aber allzu viel Hoffnung machte sie sich nicht. Glenn war ein geschickter Taktiker. Vielleicht war es für die kleine Moira auch tatsächlich das Beste, wenn sie auf seiner Farm ein neues Zuhause fand!
Im Studio der Akademie malte Daisy an diesem Morgen ein Kinderporträt, das ihr besonders gut gelang. Vielleicht, weil sie intensiv an Moira Cassels denken musste und von dem aufrichtigen Wunsch beseelt war, dem Kind eine gute Mutter zu werden – obwohl sie gegen Glenn Cassels eine gewisse Abneigung empfand.
Der Professor lobte die begabte Studentin und versprach, das Bild später öffentlich auszustellen. Außerdem bot er Daisy für das kommende Semester eine gut bezahlte Tätigkeit als Assistentin an der Akademie an.
Damit war Daisy McMiller mit einem Schlag aus den ärgsten finanziellen Nöten heraus. Sie schöpfte sogleich neuen Mut und begann wieder an ihre künstlerische Begabung zu glauben.
Warum ist mir das nicht vor vier Wochen passiert?, dachte sie, als sie die Akademie im Schwarm der anderen Studenten verließ. Jetzt ist es zu spät. Jetzt komme ich von Glenn nicht mehr los. Wenn er das Kind mitbringt, ist es meine Pflicht, für Moira zu sorgen! Wer weiß, was sonst noch passieren würde.
Aber wenn es schiefgehen sollte, ja…, dann werde ich versuchen, ihm seine tausend Dollar zurückzuzahlen, überlegte sie.
*
Nick stand auf Ausguckposten, denn für diesen Tag hatte sich Moiras Onkel angemeldet. Man hatte dem kleinen Mädchen, das auch nach Fertigstellung des Porträts mit den Gänsen manche Stunde bei seinem Freund Roland verbrachte, von den zu erwartenden Änderungen vorerst nichts gesagt, um es nicht unnötig zu beunruhigen.
Jetzt bog ein Wagen in den Gutshof ein. Nick rümpfte die Nase. Er hatte einen schnittigen amerikanischen Wagen erwartet. Doch es handelte sich nur um einen ganz normalen Volkswagen.
Der Ankömmling stieg aus und sah sich aufmerksam um. Beim Anblick des stolzen Herrenhauses nickte er ein paarmal anerkennend.
Nun gab der Junge seinen Beobachtungsposten auf und schlenderte auf den Besucher zu.
»Guten Tag«, grüßte er höflich. »Ich bin Dominik von Wellentin-Schoenecker.«
»Hallo«, antwortete Glenn in breitem Amerikanisch. »My name is Glenn Cassels.«
Nick kratzte sein bestes Schulenglisch zusammen und bat den Gast ins Haus. Seine Mutter warte schon auf ihn, berichtete er.
Denise begrüßte Glenn Cassels im Biedermeierzimmer, wo sie jeden Gast zu empfangen pflegte. Ein Imbiss wurde gebracht, und Nick musste sich zurückziehen, obwohl seine Mutter ihm ansah, dass er vor Neugier fast platzte.
Ob er Moira gleich mitnehmen könne?, fragte Glenn Cassels ohne viel Umschweife. Das sei das einfachste seiner Meinung nach.
Denise lächelte liebenswürdig. In ihrem tadellosen Englisch erwiderte sie: »Vom Konsulat wurden mir bisher keine Einzelheiten mitgeteilt. Besitzen Sie eine Ermächtigung, Moira mitzunehmen?«
Glenn hob die Schultern. »Wieso Ermächtigung? Ich bin der einzige noch lebende Verwandte des Kindes. Das habe ich in New York nachgewiesen.«
»Ich verstehe, dass es Ihnen umständlich erscheinen muss. Sicher lässt sich auch der formelle Teil mit Hilfe des Konsulats in Frankfurt schnell regeln. Doch für den Augenblick sind wir für Moira verantwortlich und deshalb auch nicht berechtigt, Ihnen das Kind zu übergeben.«
»Wie umständlich«, beklagte sich Glenn. »So viel Zeit habe ich eigentlich gar nicht.«
»Das tut mir leid«, beeilte sich Denise zu versichern. »Ich hoffe, dass man Ihnen in jeder Weise entgegenkommen wird. Uns war von Anfang an klar, dass wir Moira nicht für sehr lange behalten würden. Die Kleine hat sich erstaunlich schnell und gut bei uns eingelebt.«
Glenn schaute zum Fenster hinaus. »Bei mir wird sie es auch ländlich haben. Ich bewirtschafte eine Farm.«
Denise lachte. »Hoffentlich besitzen Sie auch Gänse!« Und dann erzählte sie ihm von den Tieren, die das kleine Mädchen von ihren freundlichen Rettern geschenkt erhalten hatte.
Glenn hörte zu. Allmählich wich die Unruhe von ihm. Er stimmte in Denises Lachen über Moira und die Gänse ein.
»Wenn ich’s mir recht überlege, so kommt es auf ein paar Tage wirklich nicht an, Mrs von Schoenecker.« Die Aussprache des Namens machte ihm einige Schwierigkeiten.
»Solange Sie hier sind, können Sie natürlich bei uns wohnen, Mr Cassels. Sophienlust ist ein Haus, in dem wir gern Gäste aufnehmen.«
»Danke.« Man konnte Glenn Cassels ansehen, dass es ihm in dieser Umgebung gefiel.
Denise erkundigte sich nach Moiras Eltern.
Glenn machte eine unbestimmte Bewegung mit der Hand. »Ach, wissen Sie, Mrs von Schoenecker, ich habe Ted nur als Jungen gesehen. Wir sind Vettern zweiten Grades. Seine Frau kannte ich nicht. Dass ein Kind da ist, habe ich erst vor Kurzem erfahren. Sonst hätte ich mich selbstverständlich sofort gemeldet. Das arme Ding steht jetzt ganz allein auf der Welt.«
»Zuerst sah es so aus, als gebe es gar keine Verwandten mehr.«
»Reiner Zufall, dass ich überhaupt davon erfahren habe. Ich las eine Notiz in der Zeitung. Ted Cassels war ja ziemlich bekannt.«
»Dass die Europareise des Paares so tragisch enden musste«, seufzte Denise.
»Immerhin lebt die Kleine«, warf Glenn ein. »Zuerst war drüben von der Nachlassverwaltung angenommen worden, dass Moira ebenfalls tödlich verunglückt sei.«
Denise nickte. »Ich weiß, da ist eine Verwechslung oder ein Fehler unterlaufen. Das Kind ist hier von hilfsbereiten Bauern aufgenommen und gesundgepflegt worden. Doch die guten Leute haben nicht daran gedacht, die Polizei zu verständigen.«
»Seltsam«, meinte Glenn. »Aber nun ist das Kind hier in guter Obhut, und wenn ich die Papiere habe, nehme ich Moira mit in die Staaten.«
»Unser Anwalt wird Ihnen behilflich sein, falls Sie es wünschen«, bot Denise an. »Aus Erfahrung weiß ich, dass die amerikanischen Behörden mindestens so genau und umständlich sind wie die deutschen.«
»Ich denke, ich komme allein zurecht«, bedankte sich Glenn. »Ich habe einen vorzüglichen Rechtsbeistand in New York.«
»Sie wollen Moira doch sicherlich kennenlernen?«, erkundigte sich Denise.
»Ja, das möchte ich schon. Ich mag kleine Kinder sehr gern – meine Braut auch.«
»Sie sind also noch nicht verheiratet?«
»Nein. Doch das lässt sich ganz rasch nachholen, sobald wir dann drüben sind.«
»Man wird Ihnen Moira vielleicht nicht geben, weil ein Kind in diesem Alter vor allem eine Mutter braucht. Jedenfalls hier in Deutschland wäre das so.«
Glenn wiegte den Kopf. »Es erschien mir am wichtigsten, mich sofort um die Kleine zu kümmern. Sie hat doch nur noch mich. Daisy und ich können sofort heiraten. Das ist kein Problem.«
Denise stellte noch eine ganze Menge Fragen und konnte sich eines unguten Gefühles nicht erwehren. Der auffällige Anzug des Besuchers störte sie ebenso wie sein grellbunter Schlips. Sein Benehmen wirkte wie das eines Schauspielers, der seine Rolle nicht ganz beherrschte.
Besonders nachdenklich stimmte Denise die Äußerung des Amerikaners, dass er Moira an Kindes statt annehmen wolle, damit sie seine Farm erben könne. Außerdem werde er auf diese Weise in die Lage versetzt, Moiras Vermögen in der rechten Weise zu verwalten. Er traue dem jetzigen Nachlassverwalter nicht über den Weg!
Damit war ein Stichwort gefallen, das Denise bisher absichtlich nicht erwähnt hatte. Dass das Vermögen eines Kindes zur Triebfeder für die seltsamsten Handlungen werden konnte, das hatte sie in ihrer Sophienluster Praxis schon mehr als einmal erlebt. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn Glenn Cassels nicht von Geld gesprochen hätte. Denn sie wusste inzwischen zuverlässig, dass die kleine Moira mit ihren sieben Gänsen Alleinerbin eines nicht unbeträchtlichen Dollarvermögens war.
Denises Entschluss, den Freund und Juristen des Hauses, Dr. Lutz Brachmann, einzuschalten, stand nun fest. Sie wollte das sogar auch dann tun, wenn Cassels sich diesem Vorschlag weiterhin verschließen sollte. Man konnte eine zufällige Begegnung arrangieren, zum Beispiel bei einem gemütlichen Abendessen drüben in Schoeneich, zu dem sie ihre Freundin Claudia und deren Mann Lutz bitten würde. Der Rechtsanwalt konnte sich dabei persönlich ein Urteil über Glenn Cassels bilden und auch einige Fragen an ihn stellen.
»Ich habe einen Vorschlag zu machen«, sagte Denise freundlich. »Wollen Sie nicht drüben in Schoeneich unser Gast sein? Für einen Herrn ist der Aufenthalt im Kinderheim vielleicht ein bisschen ungewohnt. Mit meinem Mann werden Sie sich bestimmt gut verstehen.«
»Danke, Mrs von Schoenecker. Ich bleibe, wo es Ihnen am besten passt. Haben Sie denn noch ein Schloss?«
Denise wunderte sich über seine fast kindliche Frage und erklärte ihm die Zusammenhänge.
Glenn Cassels war sofort einverstanden. Denise allerdings hatte eigentlich in erster Linie den Wunsch, auch Alexander die Möglichkeit zu geben, sich ein umfassendes Urteil über den Amerikaner zu bilden.
Alle geschäftlichen Telefonate mit Frankfurt mussten auf den nächsten Tag verschoben werden, weil die Büros um diese Stunde schon geschlossen hatten.
Nick wurde beauftragt, Moira zu holen. Glenn Cassels erbot sich, den Jungen zu begleiten. Denn Moira war bei Roland Gerhardt im Malerhaus.
Gemeinsam machten sich die beiden auf den Weg, während Denise den Fremden vom Fenster her aufmerksam musterte, solange sie ihn sehen konnte.
Vielleicht ist mein Misstrauen nicht gerechtfertigt, hielt sie sich in Gedanken vor. Die Leute aus den Vereinigten Staaten sind anders als wir. Dass er vom Lande kommt und deshalb ein bisschen geschmacklos angezogen ist, sollte ich ihm nicht zum Vorwurf machen.
Zudem sagte ihr ihr Verstand, dass Glenn Cassels als der einzige Verwandte Moiras das Recht ohnehin auf seiner Seite hatte. Wer sollte sich des Kindes denn annehmen, wenn nicht er?
Vielleicht war es nur seine unbekümmerte und etwas forsche Art, die sie störte …
*
Nick erfuhr, dass der VW ein Leihwagen war, den Mr Cassels sich auf dem Flughafen verschafft hatte. Die Verständigung zwischen den beiden klappte gut. Es machte Nick Spaß, seine Sprachkenntnisse an den Mann zu bringen. Er erzählte allerlei von Moira und ihren Gänsen sowie von ihrer Freundschaft mit dem Maler Roland Gerhardt, der neuerdings recht oft in Sophienlust sei, um sich mit Carola Rennert, die der Amerikaner noch kennenlernen werde, über Malerei zu unterhalten.
»Wenn das Bild gut ist, werde ich es Mr Gerhardt abkaufen«. verkündete Glenn Cassels großspurig.
Nun erreichten sie das kleine Haus, vor dem die Gänse auf der Wiese weideten, während von Moira und ihrem Freund zunächst nichts zu sehen war.
Nick, der sich inzwischen hier auskannte, rief laut. Sofort zeigte sich Moiras vergnügtes Gesichtchen oben in der geöffneten Tür des Ateliers.
»Hallo, Nick.«
Wenig später waren die Besucher im Atelier, und Nick übernahm die Vorstellung. Glenn Cassels hielt sich nicht mit langen Vorreden auf, sondern sprach sofort eifrig auf Moira ein.
Roland und Nick hatten einige Mühe, sein rasches Englisch zu verstehen. Immerhin war den beiden klar, dass er dem Kind sehr direkt sagte, dass seine Eltern tot seien und dass er es deshalb mit auf seine Farm nehmen werde. Er sei Onkel Glenn.
Moira starrte den Amerikaner, den sie nie in ihrem Leben gesehen hatte, ängstlich an. Scheu drängte sie sich an Roland, zu dem sie unbegrenztes Vertrauen hegte.
»Na, verstehst du deine eigene Sprache nicht mehr?«, fragte Glenn Cassels unbekümmert.
»Wer ist der Onkel?«, fragte Moira auf deutsch.
Roland Gerhardt streichelte Moiras blondes Haar. Er hatte sich an die ständige Gesellschaft des kleinen Mädchens so sehr gewöhnt, dass ihn die Mitteilung des Fremden fast genauso bestürzte wie das Kind.
»Er kommt aus Amerika, Moira. Du bist auch von dort.«
»Ich bin von Sophienlust«, erklärte Moira mit größter Entschiedenheit.
Der Maler umging weitere Konflikte, indem er seine Gäste ins Wohnzimmer bat. Doch Glenn Cassels wollte zunächst das Bild von Moira anschauen. Es war ausgezeichnet gelungen. Roland setzte dem Besucher auf englisch auseinander, dass er die Absicht habe, auch andere Kinder aus dem Heim zu malen, vielleicht jedes mit einem Tier. Er hoffe, dass ihm die übrigen Bilder genauso gut gelingen würden wie dieses.
Dann kletterten alle die Leiter hinunter.
Roland Gerhardt bewirtete den Amerikaner mit einem Schnaps, die Kinder mit Saft. Die Unterhaltung wurde auf englisch geführt, weil Glenn Cassels nicht Deutsch verstand. Moira sprach allerdings hartnäckig ihr lustiges Deutsch, wobei sie sich bemühte, möglichst jedes englische Wort zu vermeiden. Ihre Zurückhaltung, ja, Abneigung gegen ihren Onkel war unverkennbar.
Als die Zeit zum Abendessen herannahte, mahnte Nick zum Aufbruch. Die Gänse wurden in ihren Stall gesperrt. Dann wanderten Glenn Cassels und die beiden Kinder zurück nach Sophienlust, wo Denise gerade Henrik in ihrem Wagen verstaute, um abzufahren.
»Kommen Sie gleich mit uns?«, forderte sie den Gast auf. »Ich habe in Schoeneich angerufen. Ihr Zimmer ist schon bereit. Mein Mann freut sich auf Sie.«
Glenn Cassels stimmte zu. Moira aber stürmte auf Denise zu und schlang die Ärmchen um sie. »Der Onkel will mich holen, Tante Isi. Ich mag stay here – bleiben – bitte, Tante Isi.« Ängstlich und zugleich voller Vertrauen in die Allmacht der geliebten Tante schauten die großen blauen Kinderaugen zu Denise auf.
»Wir werden sehen, Moira«, flüsterte Denise dem Kind ins Ohr, das seinerseits auch nur ganz leise gesprochen hatte, damit die anderen seine Worte nicht hatten hören können.
»I love you, Tante Isi.«
Das schlichte Bekenntnis kindlicher Liebe griff Dominiks Mutter ans Herz.
»Ja, mein Kleines, ich habe dich auch sehr lieb«, antwortete sie mit Innigkeit.
»Willst du hierbleiben oder kommst du mit uns nach Schoeneich?«, wandte sie sich an Nick, der sich angeregt mit dem Amerikaner unterhielt.
»Wenn Mr Cassels in Schoeneich wohnt, komme ich gern mit, Mutti.« Nick hatte in Sophienlust ein eigenes Zimmer, in dem er übernachten durfte. wenn er Lust dazu hatte. Dies war ein Sonderrecht, weil ihm Sophienlust gehörte und er sich trotz seines jugendlichen Alters schon für das Geschehen im Heim und auf dem Gut verantwortlich fühlte. Denise wollte, dass er in seine zukünftige Aufgabe hineinwuchs. Das geschah ganz unmerklich von Tag zu Tag mehr.
Glenn Cassels forderte den aufgeweckten Jungen, mit dem er sich fließend unterhalten konnte, auf, in seinem VW mitzufahren. Nick nahm den Vorschlag an. Moira aber schloss sich einer Gruppe von Kindern an, die eben mit schmutzigen Händen und Knien aus dem Park ins Haus stürmten, um sich fürs Essen zu säubern. Man merkte dem kleinen Mädchen an, dass es froh war, aus der unmittelbaren Nähe seines Onkels zu gelangen.
Denise betrachtete die Entwicklung der Dinge mit einiger Besorgnis. Wie sollte das enden? Moira hatte sich ohne Schwierigkeiten mit dem völlig veränderten Leben in Sophienlust abgefunden. Auch mit den netten Bauersleuten, die sie gepflegt hatten, war sie gut Freund gewesen. Warum sträubte sie sich gegen den Onkel, der ihre Sprache sprach, aus ihrem Land kam und zudem noch verwandt mit ihr war – wenn auch nur weitläufig