Читать книгу Sophienlust Box 14 – Familienroman - Aliza Korten - Страница 6

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Alexander von Schoenecker war müde, aber in bester Laune. Sein Antrag auf der landwirtschaftlichen Tagung war angenommen worden, und die Sitzung hatte glücklicherweise nicht allzu lange gedauert. Denn gerade an diesem Tag lag ihm daran, einen gemütlichen Abend mit Denise zu verbringen. Es war schließlich der Jahrestag ihrer Hochzeit.

Alexander lächelte, weil es ihm vorkam, als sei es erst gestern gewesen, dass er die bildschöne junge Witwe heimgeführt hatte, die für seine beiden verwaisten Kinder zur innig geliebten zweiten Mutter geworden war. Ihm selbst aber war ihr Sohn aus erster Ehe, Dominik, inzwischen so ans Herz gewachsen, als wäre er sein eigen Fleisch und Blut. Ja, es war tatsächlich schon eine Reihe von Jahren her, dass er Denise geheiratet hatte, denn auch ihr gemeinsamer Sohn Henrik drückte nun bereits die Schulbank.

Der einsame Mann hinter dem Steuer seines Wagens warf einen Blick auf seine Armbanduhr. In einer knappen halben Stunde würde er daheim sein auf Gut Schoeneich! Er holte tief Atem, vergewisserte sich, dass die Straße frei war, und gab mehr Gas, um die Zeit etwas zu verkürzen.

In Bachenau sah Alexander ein paar Bekannte und winkte ihnen freundlich zu, ohne anzuhalten. Ich bin verliebt wie damals, belächelte er sich selbst. Ich kann es kaum erwarten, endlich meine Denise in die Arme zu schließen.

Der kleine Ort blieb hinter ihm zurück. Felder und Waldstücke säumten nun die Landstraße. Als er an einer Waldwiese vorüberkam, verlangsamte er unwillkürlich die Fahrt, weil sich ihm dort ein besonders reizendes Bild bot. Vielleicht hätte er nicht so gebannt hingeschaut, wenn es sich nicht um ein Kind gehandelt hätte. Kinder aber waren Denises Lebensinhalt. Auf Sophienlust – dem Gut, das unweit von Gut Schoeneich lag – bot sie heimatlos gewordenen Kindern oder solchen, die in Not geraten waren, Geborgenheit und Schutz. Sophienlust war eigentlich ihrem Sohn Dominik als Erbe von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin zugefallen. Aber Denise verwaltete den schönen Besitz und hatte das Vermächtnis der Erblasserin getreulich zu erfüllen gewusst. ›Das Haus der glücklichen Kinder‹ nannte Nick das Kinderheim Sophienlust gern. Obwohl noch Gymnasiast, fühlte er sich doch schon für Gut und Kinderheim mitverantwortlich.

Ja, und hier auf der Wiese spielte ein Kind! Ein ganz besonders reizendes Kind in einem gelben Kleidchen. Sein Spielzeug war ein großer blauer Luftballon. Es sah aus, als wäre das kleine Mädchen vom Himmel heruntergekommen.

Die Kleine schien die Welt vergessen zu haben. Sie tanzte und sprang glückselig mit dem Ballon umher, sodass Alexander von Schoenecker das Herz aufging. Erstaunlich erschien ihm allerdings, dass das Kind ganz allein war. Weit und breit konnte er keinen Erwachsenen erblicken.

Alexander fuhr noch langsamer und hielt schließlich an. War das kleine Mädchen vielleicht aus Sophienlust fortgelaufen? Von hier führte ein Waldweg hinüber nach Sophienlust. Es wäre immerhin denkbar. Doch nein, er hatte dieses kleine Mädchen noch nie gesehen. Aber er erkannte, obwohl im Kinderheim ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, die kleinen Heimbewohner doch recht genau.

Alexander von Schoenecker fühlte sich trotzdem für das kleine Ding verantwortlich. In einer Stunde würde es hier im Wald dunkel sein. Wohin gehörte das Kind?

Eine Weile wartete er. Die Kleine beachtete ihn nicht. Sie spielte fröhlich und unbekümmert. Dann schien sie müde geworden zu sein, denn sie setzte sich ins Gras, wobei sie die Schnur des Ballons fest mit der kleinen Hand umklammerte.

»Hallo, kleines Mädchen, bist du ganz allein hier?«, rief Alexander ihr vom Wagen aus zu.

Das Kind schaute zu ihm auf, freundlich, ohne Verwunderung.

»Ja, ich bin allein. Die böse Tante ist fortgefahren.«

Alexander stieg aus. »Kommt deine Tante wieder zurück, um dich zu holen? Sollst du auf sie warten?«

Ratlosigkeit zeigte sich deutlich auf dem süßen Gesichtchen. »Ich weiß nicht.«

Alexander schätzte das Alter des Kindes auf knapp drei Jahre. Es war ein besonders entzückendes Persönchen.

»Was hat denn die Tante gesagt?«, setzte der Mann das Verhör geduldig fort.

»Gar nichts.«

»Hm – aber sie hat dir den Luftballon geschenkt?«, versuchte Alexander es auf andere Weise.

Eifriges Nicken.

»Und was war dann?«

»Sie ist weggefahren. Mit ihrem Auto.«

»Aber sie kann dich doch nicht allein im Wald gelassen haben. Wie heißt du überhaupt?«

Das waren offensichtlich zu viele Fragen auf einmal. Das Kind sah ernst und nachdenklich aus, gab jedoch keine Antwort.

»Soll ich dich mitnehmen?«, schlug Alexander vor. »Ich weiß ein Haus, in dem viele Kinder wohnen. Da ist bestimmt Platz für dich. Oder sucht dich deine Tante dann?«

»Die Tante ist böse«, verkündete das namenlose kleine Ding. »Ich mag sie nicht.«

»Wir können einen Zettel schreiben, wo du zu finden bist«, überlegte Alexander halblaut. »Du darfst nicht allein hierbleiben, wenn es dunkel wird.«

»Ich … ich mag gern zu den Kindern«, sagte die Kleine stockend. »Die Tante soll mich nicht mehr holen. Sie mag mich nämlich auch nicht.«

Alexander von Schoenecker sah auf die Uhr und stellte fest, dass er nun schon eine Menge Zeit geopfert hatte. Immerhin wollte er keinen Fehler machen und nahm sich vor, zunächst noch eine Viertelstunde zu warten. Länger würde ein verantwortungsbewusster Erwachsener das Kind gewiss nicht allein auf der kleinen Wiese lassen.

Alexander nahm einen Zettel aus seiner Aktenmappe und schrieb in deutlich lesbaren Buchstaben darauf, dass das Kind mit dem blauen Luftballon im Kinderheim Sophienlust Unterkunft gefunden habe.

Neugierig schaute die kleine Dame zu. Alexander klappte das Handschuhfach im Wagen auf und fand darin eine angebrochene Tafel Schokolade. Das Kind aß alles hungrig auf. Offenbar hatte es schon längere Zeit keine vernünftige Mahlzeit bekommen. Bei näherem Hinschauen erwies sich auch das gelbe Kleidchen als nicht vollkommen sauber.

Wer mochte die sogenannte böse Tante sein? War es denkbar, dass sie das Kind mit dem Luftballon absichtlich hier zurückgelassen hatte?

Die Erfahrungen auf Sophienlust hatten den Gutsherrn von Schoeneich gelehrt, dass es in dieser Hinsicht die seltsamsten und traurigsten Dinge gab. Trotzdem vermochte er sich an diesem schönen Abend nicht recht vorzustellen, warum eine Frau diesem reizenden Kind einerseits einen Luftballon zum Geschenk macht, es aber andererseits schutzlos im Wald zurückließ. Doch das Wort von der ›bösen Tante‹ stimmte ihn nachdenklich.

Die gesetzte Frist war verstrichen. Alexander befestigte seinen Zettel kunstvoll und gut sichtbar an einem Baum, der mitten in der Wiese stand. Wer immer das Kind suchte, musste auf die Nachricht aufmerksam werden.

»Kommst du mit?«, fragte er und lächelte die Kleine aufmunternd an. »Es wird dir bestimmt gefallen.«

Der blonde Kopf nickte.

»Du darfst hier neben mir sitzen. Es ist nicht weit. Deine Tante wird dich abholen, wenn sie kommt.«

»Sie soll nicht kommen.«

Das hörte sich sogar ein bisschen ängstlich an.

Alexander ließ den Wagen an. Er war zu der Überzeugung gekommen, dass er hier weitere Nachforschungen doch nicht anstellen konnte. Das musste er seiner Frau, der Polizei oder anderen Berufenen überlassen.

»Du hast ein feines Auto«, piepste seine Beifahrerin. »Fahren wir weit? Mit der bösen Tante sind wir sehr lange gefahren. Ich habe sogar geschlafen.«

»Nein, wir sind gleich da. Aber du darfst später noch mal mit mir spazieren fahren, wenn du willst.«

»Ich mag schon gern.« Ein strahlender Blick aus den großen Kinderaugen belohnte ihn für sein Angebot.

Etwa zehn Minuten später hielten sie vor dem schönen Herrenhaus von Sophienlust. Ein Mädchen mit lustigen Sommersprossen im Gesicht lief eilig auf den Wagen zu, knickste artig und sagte: »Tag, Onkel Alexander.«

»Tag, Pünktlich. Eigentlich müsste man schon sagen, guten Abend. Habt ihr schon gegessen?«

Das Mädchen hieß eigentlich Angelina Dommin. Aber sogar die Lehrer in der Schule riefen es Pünktchen.

»Ja, ich wollte gerade noch einmal zum Stall. Wir sind heute Nachmittag auf den Ponys geritten, und ich habe etwas vergessen.«

»Ist Frau Rennert in der Nähe?«

»Ich kann sie holen!« Nun erst entdeckte Pünktchen das Kind im Auto. »Bringst du uns ein kleines Mädchen, Onkel Alexander? Das hat nicht mal Nick gewusst. Der ist nämlich schon drüben in Schoeneich, weil es bei euch doch heute ein Festessen geben soll.«

Alexander schmunzelte. »Stimmt genau, Pünktchen. Diese kleine Dame habe ich zufällig unterwegs aufgelesen. Vielleicht wird sie wieder abgeholt. Aber ich wollte sie nicht allein auf der Wiese im Wald lassen.«

»Nein, das geht nicht. Es wird ja bald dunkel.« Pünktchen schaute zum Himmel empor und rannte dann ins Haus, um die Heimleiterin zu rufen.

Frau Rennert erschien, umringt von einer Schar von Kindern. Die Nachricht, dass ein kleines Mädchen im Heim Einzug halten sollte, hatte sich natürlich sofort herumgesprochen.

Frau Rennert nahm die Kleine auf den Arm. Scheu, aber doch mit deutlichem Zutrauen legte sich der blonde Kopf gegen ihre mütterliche Schulter.

»Bist du müde?«, fragte die Heimleiterin verständnisvoll.

»Ja, aber ich will meinen Luftballon mit ins Bett nehmen.«

»Natürlich nimmst du ihn mit.« Frau Rennert strich dem Kind liebevoll über das wirre Haar. »Was sonst noch ist, können wir morgen besprechen, Herr von Schoenecker.«

Alexander hatte ihr in ein paar knappen Sätzen geschildert, wie er zu seinem Findling gekommen war.

»In Ordnung, Frau Rennert. Ich erzähle es meiner Frau. Sie wird sich morgen früh um das kleine Fräulein kümmern. Sollte sich allerdings noch heute Abend jemand melden, dann rufen Sie uns bitte an. Ich werde auch der Ordnung halber bei der Polizei anklingeln. Es wäre immerhin denkbar, dass wir einen kleinen Ausreißer aufgegriffen haben, der verzweifelt gesucht wird.«

Pünktchen knickste wieder, die anderen Kinder winkten fröhlich.

Alexander von Schoenecker fuhr langsam davon, über die vor ein paar Jahren erbaute Straße hinüber nach Schoeneich, wo Denise und die beiden Jungen ihn schon sehnsüchtig erwarteten.

Die schöne Frau mit dem dunklen Haar und den wundervollen braunen Augen, die Nick von ihr geerbt hatte, schmiegte sich mit glücklichem Lächeln an ihres Mannes Brust.

»Ich habe unterwegs an dich gedacht, Liebste«, raunte er ihr ins Ohr. »Es ist immer noch wie am ersten Tag – nein, es ist sogar noch schöner geworden.«

»Wir haben inzwischen große Kinder, Alexander«, meinte Denise lachend.

»Und drüben in Sophienlust mal wieder ein neues kleines Kind«, fiel er ein, indem er den Arm zärtlich um ihre schlanke Taille legte.

»Ein neues Kind?«, fragten Nick und Henrik wie aus einem Mund.

»Ja, ich erzähle euch bei Tisch, wie sich die Sache zugetragen hat. Ihr könnt aber auch mitkommen, wenn ich jetzt beim Polizeirevier anrufe.«

In der Diele wartete Andrea.

»Bist du auch gekommen? Das ist eine Überraschung, Kind. Hast du Hans-Joachim mitgebracht?«

»Natürlich, Vati. Er geht eben noch beruflichen Pflichten im Kuhstall nach. Aber er wird gleich hier sein.« Andrea, Alexanders Tochter aus erster Ehe, war seit einiger Zeit mit dem Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet.

»Fehlt nur Sascha, um die Familie vollzählig zu machen«, stellte Denise mit mütterlichem Stolz fest.

»Der steckt in irgendeiner Zwischenprüfung«, sagte Andrea. »Wir haben ihn gestern in Heidelberg angerufen. Er findet das Studentenleben zurzeit gar nicht lustig, weil er zu viel pauken muss.«

Es verging eine ganze Zeit, ehe die Familie sich endlich um den großen Tisch versammeln konnte. Das Telefongespräch mit der Polizei gab Anlass zu vielen Fragen, von denen Alexander die meisten nicht beantworten konnte, weil sein blonder Schützling nicht viel gesagt hatte.

»Für heute müssen wir es dabei bewenden lassen, dass es ein Kind mit einem blauen Luftballon ist. Vielleicht finden wir morgen mehr heraus«, beendete der Gutsherr die fruchtlosen Mutmaßungen, die sofort angestellt wurden.

»Vielleicht stellt sich alles als harmlos heraus«, meinte Denise. »Doch ich werde das Kind nicht eher hergeben, als bis ich weiß, warum es von einer bösen Tante spricht.«

Nick nickte mehrmals nachdrücklich. »Sehr richtig, Mutti. Man weiß nie, was dahintersteckt.«

Die Erwachsenen lächelten verstohlen über den Eifer des Jungen, der ein bisschen altklug wirkte. Doch niemand ließ ihn das merken, denn Nicks Eingreifen hatte sich schon oft als nützlich und segensreich erwiesen. Manchmal fand er den Kontakt zu einem fremden, verschüchterten Kind leichter als die Großen. Auch Henrik war inzwischen so vernünftig geworden, dass er sich hin und wieder eines Heimkindes annahm. Denise mochte jedenfalls auf die tatkräftige Hilfe ihrer Söhne nicht mehr verzichten, auch wenn sie manchmal über das Ziel hinausschossen.

Martha hatte mit dem Festessen wahrhaftig ein Meisterwerk vollbracht. Im Allgemeinen behauptete Nick, dass Marthas Schwester Magda drüben in Sophienlust nicht zu übertreffen sei – doch heute hatte er keine Zeit, solche Vergleiche anzustellen. Denn er war intensiv damit beschäftigt, die leckeren Genüsse zu vertilgen. Beim Vanille-Eis, das mit dampfend heißer Himbeersoße gereicht wurde, seufzte er nur einmal hingebungsvoll. Sonst verhielt er sich mucksmäuschenstill.

Nach dem Essen rief Denise in Sophienlust an. Sie erfuhr von Schwester Regine, dass das fremde Kind gebadet worden sei und nun bereits fest schlafe. Der Luftballon sei am Bett festgebunden worden.

Schulterzuckend kehrte Denise in den Kreis ihrer Lieben zurück. »Nichts Neues«, erzählte sie. »Die Kleine schläft. Sie hat nichts mehr gesagt. Wahrscheinlich war sie zu müde.«

Alexander füllte die Gläser.

»Kriege ich auch etwas?«, bat Nick.

»Ich auch!«, fiel Henrik ein.

»Jeder ein bisschen. Aber denkt daran, dass Wein müde macht. Morgen ist nämlich ein ganz normaler Schultag«, entschied der Vater.

»Ich bin älter als Henrik, also muss ich mehr bekommen als er. Als ich so klein war, habe ich überhaupt keinen Alkohol trinken dürfen«, beschwerte sich Nick.

Hans-Joachim von Lehn, der verliebt die Hand seiner jungen Frau hielt, nickte seinem jugendlichen Schwager versöhnlich zu. »Gönne doch dem Kleinen mal was, Nick. Bist doch sonst nicht so.«

Nick ergab sich in sein Schicksal, registrierte dann aber mit Genugtuung, dass sein Vater ihm ein ganzes Glas einschenkte, während Henrik sich mit einem Schlücklein begnügen musste. Es gab also doch noch Gerechtigkeit auf der Welt!

Es wurde ein fröhlicher Familienabend. Gegen zehn Uhr brachen die von Lehns auf. Als ihr Wagen in der Dunkelheit verschwunden war, schickte Denise ihre Söhne energisch zu Bett.

Die Kinder waren so erzogen, dass sie den Eltern hin und wieder ein ungestörtes Beisammensein gönnten. Sie wussten ja, wie stark ihre Mutter durch das Kinderheim und ihr Vater durch die Leitung der beiden Güter beansprucht waren.

Alexander machte eine neue Flasche auf und setzte sich in einen bequemen Sessel. Auf dem Kaminsims flackerten zwei Kerzen. Es war still und heimelig im Gutshaus.

»Ich bin sehr glücklich, Liebste. Komm zu mir!« Er zog Denise auf seine Knie, und sie schmiegte sich an ihn und ließ sich von ihm küssen.

»Vielen Dank für jeden Tag, den du mir geschenkt hast, Denise.«

»Bin ich es nicht, die dir zu danken hat, Alexander? Mein Leben war einsam geworden, bevor du kamst. Auch kannte ich nichts als harte Arbeit, bevor die große Erbschaft kam. Ich hatte die Sorge um Nick und musste das teure Heim für ihn bezahlen. Aber schlimmer als die Arbeit war die ständige Trennung von meinem kleinen Jungen. Doch dann wurde plötzlich alles anders. Wir konnten in Sophienlust beisammen sein. Trotzdem …«

»Nun, wir haben uns doch gleich am ersten Tag kennengelernt«, warf Alexander ein.

»Ja, Liebster, aber damals hatte ich nicht den Eindruck, dass aus uns einmal das glücklichste Paar der Welt werden sollte.«

»Du hast mein Leben reich gemacht, Denise. Sascha und Andrea bekamen endlich wieder eine Mutter. Ich glaube kaum, dass sie sich im Internat so entwickelt hätten, wie es hier geschehen ist. Meine kleine Andrea – jetzt ist sie schon selbst Ehefrau und in vieler Hinsicht bemüht, dir zu gleichen.« Er lächelte in väterlichem Stolz. »Und Sascha ist fast schon ein Mann geworden. Heutzutage haben viele Eltern Sorgen mit ihren studierenden Söhnen. Bei Sascha stimmt alles, weil du ihm den richtigen Weg gewiesen hast.«

»Warum stellst du dein Licht unter den Scheffel, Alexander?« Denise schlang die Arme fester um den geliebten Mann. »Du bist für deine Kinder ein Vorbild. Das ist es, was den jungen Menschen von heute leider oft genug fehlt. Nicht mit Moralpredigten erzieht man, sondern mit dem vorgelebten Beispiel.«

»Du darfst mich nicht so über den grünen Klee loben, Isi. Das bringt mich in Verlegenheit. Außerdem könnte ich jedes Wort zurückgeben, denn es passt auf dich weit mehr als auf mich.«

Sie plauderten mit gesenkten Stimmen von der Vergangenheit, der Gegenwart und ein wenig auch von der Zukunft. Dazu tranken sie vom besten Wein aus dem Keller und bemerkten kaum, wie die Stunden verstrichen. Endlich brach Denise auf.

»Wir müssen schlafen gehen, Alexander. Wein macht müde, und morgen ist wieder ein Tag. Das hast du vorhin zu den Buben gesagt.«

Der Mann legte die Lippen auf die seiner Frau. »Heute, Isi – denn Mitternacht ist längst vorüber. Gehen wir nach oben.«

Wenig später erlosch das letzte Licht im Gutshaus von Schoeneich.

*

Am nächsten Abend machte Nick, der als zukünftiger Besitzer von Sophienlust auch dort ein eigenes Zimmer besaß, in dem er übernachten durfte, wenn er dazu Lust hatte, wieder einmal von diesem Sonderrecht Gebrauch.

»Ich bleibe heute hier, Mutti, wenn es dir recht ist«, teilte er seiner Mutter mit, die in Sophienlust mit Frau Rennert das große Wirtschaftsbuch durchgesehen hatte.

»Gut. Bist du mit den Schulaufgaben fertig?«

»Nur in Englisch habe ich noch etwas durchzulesen. Das kann ich heute abend machen, wenn die Kleinen schlafen.«

Denise lächelte verständnisvoll. »Vorher möchtest du dich also mit den Kleinen beschäftigen? Schwester Regine wird dir für deine Unterstützung dankbar sein.«

Nick bekam rote Ohren. »Vielleicht sagt sie mir, wie sie heißt, Mutti.«

Natürlich meinte Nick die kleine Fremde mit dem blauen Luftballon, den er ihr nach dem Mittagessen, das er ebenfalls in Sophienlust eingenommen hatte, wunderbar prall aufgeblasen hatte, sodass er wieder aussah wie neu. Nick hatte es sich in den Kopf gesetzt, etwas über das Kind herauszufinden, und seine Mutter ließ ihn gewähren. Er hatte ein erstaunliches Geschick im Umgang mit großen und kleinen Kindern, obwohl das bei einem Jungen in seinem Alter recht ungewöhnlich war.

»Versuch’s, Nick. Ich habe heute früh ein bisschen mit ihr gespielt. Sie ist freundlich, aber schüchtern. Es kommt mir so vor, als hätte sie nicht viel Berührung mit anderen Menschen gehabt. Auf der Polizei liegt keine Suchmeldung vor, und der Zettel, den Vati geschrieben hat, ist nicht fortgenommen worden.«

»Bis jetzt haben wir noch bei jedem Kind herausgekriegt, woher es kommt und wie es heißt. Ich setze sie nachher auf ein Pony. Das macht ihr bestimmt Spaß.«

»Sie ist noch sehr klein, du musst vorsichtig sein.«

Nick trollte sich. Denise aber ging durchs Haus, um hier und da nach dem Rechten zu sehen. Die größeren Kinder saßen über ihren Schulaufgaben. Sie erledigten diese teils in ihren eigenen Zimmern, teils aber auch in einem großen Raum. Überall wurde ›Tante Isi‹ mit strahlenden Gesichtern begrüßt. Pünktchen wollte ihr unbedingt die letzte Klassenarbeit in Deutsch zeigen, in der das begabte Mädchen eine blitzblanke Eins bekommen hatte.

Denise nahm das Aufsatzheft und begann zu lesen. Es handelte sich um eine Tiergeschichte. Da war Pünktchen natürlich in ihrem Element gewesen. Denn Tiere spielten im Leben der Sophienluster Kinder eine wichtige Rolle – nicht nur die Tiere, die zum Gutsbetrieb gehörten, oder die Ponys, auf denen sie reiten durften, sondern auch Kleintiere aller Art, die persönliches Eigentum der Kinder waren. Habakuk, der sprechende Papagei, der im Wintergarten residierte, war im Laufe der Jahre zu einer gewichtigen Persönlichkeit des Heims geworden. Die genaue Zahl von Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Wellensittichen, Kanarienvögeln, Goldhamstern und Kaninchen, die zum Heiminventar gehörten, war Denise nicht immer bekannt.

So war Pünktchens Aufsatz über einen hartherzigen Bauern, der einen Wurf junger Katzen hatte ertränken wollen, ein kleines Meisterwerk geworden. Die vier Kätzchen wurden in Pünktchens Erzählung glücklicherweise in letzter Minute auf dramatische Weise gerettet. Der Junge, der die Tierchen aus dem Wasser fischte, wurde als Held geschildert und hatte deutliche Ähnlichkeit mit Pünktchens geliebtem großen Freund Nick. Denn Pünktchen war einst als unglückliches kleines Kind von Nick aufgefunden worden und hing seitdem mit echter, verehrungsvoller und manchmal sogar ein wenig eifersüchtiger Liebe an ihm.

Die kleinen Katzen in Pünktchens Klassenaufsatz führten den Leser in vier gänzlich verschiedene Familien, wo sie – wie hätte es anders sein können? – nur Segen stifteten. Vielleicht war die Erzählung ein wenig idealisiert, doch Denise freute sich, dass Pünktchen die positiven Seiten des Lebens aufzuzeigen versuchte. Sogar das Tierheim, das Andrea und Hans-Joachim von Lehn für kranke Tiere gegründet hatten, erschien in abgewandelter Form in Pünktchens Aufsatz.

»Fein hast du das gemacht, Pünktchen«, lobte Denise das Mädchen und gab ihr das Heft zurück. Dann ging sie weiter.

Im Park spielte Schwester Regine mit den Kleinsten. Das neue Kind hockte im Sand und backte Kuchen, sorgsam und mit noch ungeschickten Händchen. Der Luftballon war an der Rückenlehne einer Bank festgebunden.

»Tante Isi«, sagte das Kind leise, als Denise ihm über das weiche Haar strich, das frisch gewaschen war und in der Sonne glänzte wie Silber.

»Ja, mein Kleines? Wer bekommt denn die vielen guten Kuchen?«

»Die liebe Tante.«

War die ›liebe‹ und die ›böse‹ Tante ein und dieselbe Person? Denise seufzte. Es war schwer, ja, fast unmöglich, aus einem so kleinen Kind genaue Angaben über Herkunft und Namen herauszufragen. Um den kleinen Findling nicht zu verschüchtern, drang sie nicht weiter in das Kind und überließ alle Nachforschungen zunächst Nick.

Eben überlegte Denise, ob noch mehr in Sophienlust zu tun sei, als Isabel im Laufschritt in den Park kam. »Tante Isi, Telefon! Tante Ma schickt mich.« Damit meinte das Mädchen Frau Rennert, die von den Heiminsassen, ob groß oder klein, Tante Ma genannt wurde.

Denise eilte leichtfüßig auf das Herrenhaus zu. Dass sie früher einmal Tänzerin gewesen war, ließ sich nicht verleugnen. Ihr Gang wirkte leicht und schwebend, ihre Haltung aufrecht und stolz.

Im Büro reichte ihr Frau Rennert den Hörer. »Maria Berger«, sagte sie dabei.

Maria Berger war eine Verwandte von Frau Rennert. Als Waise war sie einstmals kurz in Sophienlust beheimatet gewesen. Jetzt war sie glückliche Ehefrau von Horst Berger, einem reichen Großindustriellen.

»Was gibt es?«, erkundigte sich Denise.

Maria brachte ihr Anliegen vor, nachdem sie sich zunächst vergewissert hatte, dass es in Sophienlust allen gut ging.

»Natürlich machen wir das, Maria«, antwortete Denise ohne Besinnen. »Wann möchte Frau von Rettwitz denn kommen? Je eher, desto besser. Du weißt ja, dass Sophienlust auch in Not geratenen Erwachsenen Heimstatt sein soll.«

Frau Rennert sah Denise fragend an, als diese schließlich den Hörer niederlegte. »Mir hat sie nichts erzählt, Frau von Schoenecker.«

»Es ist kein Geheimnis, Frau Rennert. Maria wollte es wohl nicht zweimal auseinandersetzen. Sie hat Freunde, eine Familie von Rettwitz, die von einem sehr traurigen Schicksal betroffen worden sind. Ihr einziges Töchterchen Renata ist im Alter von gut zwei Jahren an Hirnhautentzündung gestorben. Das war für die jungen Eltern ein schlimmer Schlag.«

»Schrecklich«, warf die warmherzige Heimleiterin ein. »Aber dann können wir für das Kind doch nichts mehr tun.«

»Nein, nein – es handelt sich um die Mutter, Isolde von Rettwitz. Sie leidet unter schweren Depressionen und kann den Verlust des Kindes nicht überwinden. Ihr Mann verspricht sich nun von einem Milieuwechsel Besserung und Heilung. Außerdem erwägt er, eventuell eines unserer Kinder zu adoptieren. Weitere Kinder kann das Paar nämlich aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, nicht haben.«

»Natürlich nehmen wir die Dame gern auf«, erklärte Frau Rennert. »Das Zusammenleben mit unserer fröhlichen Schar wird sie ihre Depressionen sicher bald vergessen lassen.«

Denise nickte nachdenklich. »Hoffentlich, Frau Rennert. Falls es ihr für den Anfang hier in Sophienlust zu lebhaft zugehen sollte, werde ich sie nach Schoeneich einladen.«

Denise reichte der Heimleiterin zum Abschied die Hand und verließ das Herrenhaus von Sophienlust. Als sie schon im Wagen saß, sah sie Nick, der das fremde Kind an der Hand zu den Ponyställen führte. Der blaue Luftballon war wieder einmal mit von der Partie.

Ob ihr Sohn etwas herausfinden würde?

*

Achim von Rettwitz kam etwas abgespannt nach Hause, denn es lagen zwei anstrengende Gerichtsverhandlungen hinter ihm. Er hatte sich als tüchtiger Staatsanwalt bereits einen Namen gemacht. Studium, Beruf, dann seine glückliche Ehe mit Isolde – anfangs war alles im Leben des jungen Juristen nach Wunsch gegangen. Die ersten Sorgen waren gekommen, als Isolde bei der Geburt der kleinen Renata fast ihr Leben eingebüßt hatte. Doch das Schicksal hatte es noch einmal gnädig gemeint. Mutter und Kind waren am Ende gesund gewesen. Die Eröffnung des Professors, dass dem Paar weitere Kinder versagt sein würde, hatte damals kaum eine Bedeutung gehabt.

Renata war der Liebling und Abgott der Eltern geworden. Das Glück war vollkommen gewesen, bis diese tückische Krankheit das Kind hinweggerafft hatte.

Seither hockte Isolde apathisch und ohne Tränen neben dem leeren weißen Bettchen. Seither vernachlässigte sie den Haushalt und auch ihr eigenes Äußeres. Selbst an ihrem Mann schien sie keinerlei Interesse mehr zu haben. Achim gab sich alle erdenkliche Mühe, aber nichts fruchtete. Er schlug eine gemeinsame Reise vor, doch Isolde wollte sich nicht von dem verwaisten Kinderzimmer trennen. Er umgab seine Frau mit Liebe und Rücksichtnahme, aber es war, als bemerke sie gar nichts davon.

Auch an diesem Tag fand er die jetzt übliche Situation vor. Isolde hatte ihr schönes dunkles Haar gewaschen, sich aber nicht einmal die Mühe genommen, es aufzustecken. Wie ein ganz junges Mädchen trug sie es lang bis zur Taille. Achim liebte dieses herrliche Haar. Er beugte sich über seine Frau und legte die Lippen auf ihren Scheitel.

»Guten Abend, Isolde. Du siehst wunderschön aus, weißt du das?«

Sie schaute nicht einmal auf. Starr war ihr Blick auf das leere Bettchen geheftet. Müde hob sie die Schultern. »Was ist denn schön an mir?«

»Dein Haar, Isolde. Die heutigen Teenager würden dich um diese Pracht glühend beneiden.«

Isolde von Rettwitz gab keine Antwort.

Ihr Mann seufzte etwas unterdrückt, doch er ließ sich nicht so rasch entmutigen.

»Wie wäre es, wenn wir gemeinsam ausgingen, Isolde? Oder hast du etwas vorbereitet zum Abend? Heute ist Freitag. Morgen und übermorgen habe ich keinen Dienst.« Er bemühte sich, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu verleihen.

»Ich war nicht fort, Achim. Vielleicht ist noch etwas im Kühlschrank. Du weißt, dass ich nichts essen mag.«

Das stimmte. Isolde war seit dem Tod des Kindes erschreckend mager geworden.

»Aber ich möchte essen«, wandte er ein. »Ich hatte heute so viel zu tun, dass ich nicht einmal ins Kasino gekommen bin mittags.«

»Das tut mir leid.« Es war eine gleichgültige, höfliche Bemerkung – mehr nicht.

Vor allem diese Gleichgültigkeit war es, die Achim Sorge bereitete. Wie sollte das weitergehen? Der Arzt, mit dem er sich mehrfach beraten hatte, empfahl einen Milieuwechsel, andere Eindrücke und vielleicht zu gegebener Zeit die Adoption eines Waisenkindes. Aber wie sollte er Isolde aus diesem Zimmer wegbekommen, in dem sie die meisten Stunden des Tages verbrachte, manchmal mit dem Lieblingsteddy der kleinen Renata im Arm?

Der Mann legte die Hände auf die Schultern seiner Frau. Seine Finger verfingen sich in ihrem seidigen, glänzenden Haar. »Komm, Liebste, ich möchte mit dir ausgehen. Du musst dein Haar ein bisschen aufstecken und dich umziehen. Ich kann inzwischen einen Tisch bestellen.«

»Ich will nicht, Achim«, wandte sie tonlos ein. »Geh du allein, wenn du hungrig bist.«

»Nein, Isolde. Allein mag ich nicht gehen.«

Er nahm sie bei den Händen und zog sie in die Höhe, obwohl sie sich sträuben wollte. Liebevoll legte er die Arme um sie und küsste sie. Doch ihre Lippen blieben kühl und gaben die Zärtlichkeit nicht zurück.

Wie anders war es früher zwischen ihnen gewesen. Isolde hatte ihn Abend für Abend ungeduldig an der Tür erwartet und sich stets mit einem Jubelruf an seine Brust geworfen. Wie Kinder hatten sie oft miteinander gelacht und gescherzt.

»Isolde – bitte!« Seine Lippen liebkosten ihren Mund, seine Hände streichelten ihren starren Körper. »Ich liebe dich, Isolde. Du darfst über der Trauer um unsere süße kleine Renata das Leben nicht vergessen«, mahnte er und zog sie noch fester an sich.

»Wir werden nie wieder ein Kind haben, Achim.« Tonlos, mutlos, verzweifelt klang es.

»Aber du bist mir geblieben, Isolde. Werden wir beide nicht die Kraft finden, mit unserem Schicksal fertig zu werden? Unsere Liebe muss stark genug sein.«

»Ich habe keine Kraft mehr, Achim. Aber wenn du darauf bestehst, können wir zusammen essen gehen. Ich bin keine gute Hausfrau mehr. Nicht einmal fürs Wochenende habe ich etwas eingekauft.«

»Das können wir morgen Vormittag gemeinsam tun, Isolde.« Es kam ihm vor, als habe er eben einen winzigen Fortschritt erzielt. Er streichelte sie liebevoll. »Weißt du noch? Als wir jung verheiratet waren, haben wir immer samstags Einkäufe gemacht. Das war sehr amüsant.«

»So wird es nie mehr sein, Achim.«

Wenn sie weinen würde, meinetwegen schreien und das Schicksal anklagen – alles wäre besser als diese völlige Teilnahmslosigkeit, dachte er.

Immerhin setzte Achim an diesem Freitagabend seinen starken Willen durch. Isolde wählte ein dunkles Kleid, das ihr leider viel zu weit geworden war. Trotzdem sah sie schön aus, als sie gemeinsam das nette Einfamilienhaus am Stadtrand verließen. Ihr Haar war hoch aufgesteckt und schimmerte wunderbar.

»Ich bin stolz auf dich, Isolde«, flüsterte er ihr ins Ohr, als sie das kleine, exquisite Restaurant in der Innenstadt betraten, wo er einen Tisch hatte reservieren lassen.

Sie antwortete nicht auf das zärtliche Kompliment, sondern schaute starr geradeaus. Verstohlen sah Achim um sich – zu seiner Erleichterung waren keine Bekannten zu erblicken. Für Isolde hätte eine erzwungene Unterhaltung mit Freunden sicherlich eine Qual bedeutet, die er ihr ersparen wollte. Er war schon glücklich, dass es ihm heute gelungen war, sie zu diesem Ausflug in ein Lokal zu überreden.

Beim Essen sprachen sie kaum. Isolde kostete nur wenig von den Gerichten, die ihr Mann bedachtsam für sie ausgewählt hatte. Aber von dem roten Wein trank sie durstig.

»Maria Berger hat mich heute angerufen«, berichtete Achim wie beiläufig, weil er die Sprache schließlich irgendwie auf sein Thema bringen musste.

»So? Geht es ihr gut? Sie hat mir zweimal geschrieben. Aber ich kann mich nicht aufraffen, ihr zu antworten.«

»Bei Bergers ist alles in schönster Ordnung. Maria macht sich Gedanken um dich. Das ist es.«

»Maria meint es gut. Helfen kann sie mir leider nicht. Sie will mich einladen. Aber ich passe nicht in ein fröhliches Haus.«

»Inzwischen hat sie einen anderen Vorschlag gemacht, Isolde.«

»Warum lasst ihr mich nicht in Frieden?«, begehrte sie auf.

»Weil ich dich liebe, Isolde«, erwiderte Achim mit seltsamem Ernst. »Auch ich habe viel verloren mit unserer kleinen Renata. Jetzt möchte ich nicht auch noch dich und deine Liebe verlieren.«

Isolde schwieg. Aus ihrem starren Gesicht war nicht herauszulesen, was hinter ihrer blassen Stirn vor sich ging.

»Maria schlägt vor, dass du aufs Land gehst«, fuhr Achim mutig fort. »Es ist ein ehemaliges Herrenhaus mit dem romantischen Namen Sophienlust.«

Isolde verzog den Mund zu einem winzigen Lächeln. »Sophienlust ist Marias ganze Liebe. Sie spricht oft davon. Aber was soll ich dort? Es ist ein Kinderheim.«

»Nicht nur – es bietet auch Erwachsenen Erholung an. Frau von Schoenecker würde sich freuen, wenn du kämest.«

Isolde schüttelte den Kopf. »Das ist wieder so ein Plan, den ihr in guter Absicht hinter meinem Rücken geschmiedet habt. Marias Brüder sind damals von Pflegeeltern adoptiert worden. Wahrscheinlich soll ich mir in Sophienlust ein Kind auswählen, nicht wahr?«

»So weit sind unsere Überlegungen noch nicht gegangen, Isolde. Maria meinte lediglich, dass Frau von Schoenecker eine Frau sei, mit der du dich vielleicht aussprechen könntest.« Achim ging so diplomatisch wie möglich vor.

»Aussprechen kann ich mich mit keinem Menschen, Achim. Niemand versteht mich.« Wie müde ihre Stimme klang.

»Wenn ich dich nun bitten würde, es mir zuliebe wenigstens zu versuchen, Isolde?« Er legte seine Hand auf die ihre, die kalt war.

»Ich …, ich will es mir überlegen, Achim.«

»Wie lange brauchst du Bedenkzeit?«, drängte er.

»Bis morgen, Achim. Wenigstens bis morgen. Ich …, ich mag Renatas Zimmer nicht verlassen. Warum begreifst du das nicht? Wenn ich dort sitze, ist es manchmal, als lebte sie noch.«

Erschüttert wandte er das Gesicht ab, damit sie nicht sah, wie tief ihn ihre Worte trafen. Arme, arme Isolde! Sie wollte noch immer nicht den Tod des Kindes wahrhaben. Sie klammerte sich an ihre Träume. Das war verhängnisvoll und für ihren Gemütszustand sogar gefährlich.

Nachdem er die Gläser ein letztes Mal gefüllt hatte, brachen sie auf. Es war nicht sehr spät geworden. Am Himmel gingen eben die ersten Sterne auf.

»Schau, Liebste, wie schön«, sagte Achim, als er Isolde über die Straße zum Wagen führte.

»Aber unsere kleine Renata kann die Sterne nicht mehr sehen«, erwiderte sie bitter.

Am späten Abend und in der Nacht gab sich Achim alle Mühe, Isolde zu beweisen, dass er ihre Liebe brauchte und suchte. Sie versagte sie ihm nicht, aber es war, als halte er ein lebloses Wesen in den Armen. Ihre Seele war nicht bei ihm, obwohl ihre Körper eins waren.

»Wirst du nach Sophienlust gehen?«, fragte er leise.

»Wenn du es willst …«

Er zog sie noch einmal zärtlich an sich. »Ja, Isolde, ich bitte dich darum. irgendetwas muss geschehen, sonst gehen wir beide daran zugrunde.«

Hatte sie es selbst gespürt? Hatte sie erkannt, dass sie einander fremd wurden?

»Also gut, ich werde hinfahren. Wenn du möchtest, können wir das Wochenende dazu verwenden.«

»Danke, Isolde.«

*

»Ich finde die Sache höchst kriminell«, platzte Nick heraus.

Alexander von Schoenecker legte die Hand auf des Jungen Schulter. »Was denn, mein Sohn?«, erkundigte er sich.

Nick war soeben mit dem Fahrrad von Sophienlust nach Schoeneich gekommen. Seit zwei Tagen war er nicht mehr zu Hause gewesen, weil er seinen Aufenthalt in Sophienlust für unerlässlich gehalten hatte.

»Na, mit der Kleinen, die du gefunden hast, Vati. Das gibt es doch gar nicht, dass man ein Kind im Wald zurücklässt und sich nicht mehr darum kümmert. Wenn ich mir überlege, was ihr hätte passieren können …«

»Glücklicherweise hat Vati sie gefunden und mitgenommen«, erinnerte Denise ihren Sohn, der sich aufgeregt mit den Fingern durch das wellige dunkle Haar fuhr.

»Und die Polizei? Weiß sie vielleicht etwas? Irgendwo muss die Kleine doch vermisst werden. Sie heißt übrigens Micki.«

Denise und Alexander waren überrascht. »Micki? Wie hast du das herausgefunden? Die Polizei tappt noch völlig im Dunkeln. Vielleicht hilft der Name weiter.«

»Carola hat Kuchen ausgeteilt. Plötzlich streckte die Kleine die Hand aus und rief: Micki auch!«, berichtete Nick. »Also heißt sie sicher Micki!«

»Das ist anzunehmen«, stimmte Alexander ihm bei. »Allerdings ist das sicherlich ein Kosename. Wenn man wenigstens den Familiennamen wüsste.«

Nickt lachte ein bisschen. »Wir haben beschlossen, sie Micki Luftballon zu nennen. Heute habe ich ihr einen neuen geschenkt, weil der andere leider das Zeitliche gesegnet hat.«

»Vom Taschengeld gekauft?«, fragte Alexander anerkennend.

»Na klar! Kostet ja bloß zwanzig Cent. Aber ich muss morgen in einen anderen Laden gehen. Sie hatten nämlich nur noch einen einzigen blauen. Aber ihr hättet sehen sollen, wie die Kleine sich gefreut hat. Komisch, dass ihr ausgerechnet die sogenannte böse Tante einen Luftballon geschenkt hat.«

»Bist du der Tantengeschichte ein bisschen auf die Spur gekommen, Sherlock Holmes?«, erkundigte sich Alexander.

Nick rieb sich die Nase. »Ich glaube, es gibt zwei Tanten«, erklärte er nachdenklich, »eine böse und eine liebe. Der Luftballon stammt von der bösen. Das lässt sich Micki nicht ausreden.«

»Sollte man gar nicht annehmen – es sei denn, die böse Tante hat dem Kind den Ballon gegeben, um unbemerkt abfahren zu können. Dann wäre es eine geplante Aussetzung des kleinen Mädchens gewesen«, überlegte Alexander von Schoenecker halblaut.

»Höchst kriminell«, wiederholte Nick, da ihm dieser Ausdruck besonders zu gefallen schien. »Die liebe Tante soll von fremden Männern in einem Kasten fortgetragen worden sein, sagt Micki.«

»Das könnte bedeuten, dass sie gestorben ist«, versetzte Denise kummervoll. »Die Geschichte wird immer rätselhafter.«

»Ich glaube, Micki Luftballon ist ein Waisenkind«, behauptete Nick. »Wir haben sie nach ihrer Mami oder Mutti oder Mama gefragt. Sie schien gar nicht recht zu verstehen, was wir meinten. Genauso ging es mir, als ich von einem Papi redete. Sie findet es in Sophienlust herrlich und will nicht mehr weg, weil so viele Kinder da sind«, beendete Nick nun seinen Bericht.

»Wir behalten das Kind selbstverständlich, falls sich keine Angehörigen finden sollten. Aber ich denke immer noch, dass wir der Sache auf den Grund kommen. Leider ist ein blauer Luftballon kein sehr gutes Erkennungszeichen.« Denise nickte ihrem Jungen zu. »Danke, Nick. Ich glaube, du hast mehr herausgefunden, als uns gelungen wäre.«

Nick setzte ein befriedigtes Gesicht auf. »Das war nichts Besonderes, Mutti. Außerdem hat mir Pünktchen geholfen. Sie findet, dass Micki aussieht wie eine Puppe.«

»Da hat sie so unrecht nicht. Es ist ein besonders niedliches kleines Ding«, sagte Denise fröhlich. »Was mich beschäftigt, ist die Tatsache, dass Micki Luftballon gut genährt und in tadellosem Gesundheitszustand ist. Man hat sie also gewiss nicht vernachlässigt oder schlecht behandelt. Dazu passt die Sache mit der bösen Tante nun wieder gar nicht.«

»Aber Micki würde nicht schwindeln«, wandte Nick ein. »Dazu ist sie noch viel zu klein.«

»Stimmt«, pflichtete Alexander ihm bei. »Die gleiche Überlegung habe ich bereits angestellt, als ich sie mitnahm.«

»Kommt morgen die neue Dame?«, wollte Nick nun wissen. »Das Zimmer ist heute schon geschrubbt worden. Sogar neue Gardinen hat Carola aufgehängt.«

»Ja, Frau von Rettwitz wird wohl morgen im Lauf des Tages eintreffen. Ich wollte mit dir darüber reden, Nick«, äußerste Denise etwas zögernd.

»Ist was Besonderes mit ihr?« Mit wacher Aufmerksamkeit richteten sich die dunklen Augen des Jungen auf seine Mutter.

»Sie hat etwas sehr Trauriges erlebt. Ihre kleine Tochter ist gestorben. Nun wollen wir versuchen, sie in Sophienlust wieder ein bisschen froh zu machen.«

Nicks hübsches Jungengesicht war ernst geworden. »Ich sag’s den anderen, Mutti. Vielleicht mag die Dame Tiere gut leiden. Pünktchen und Isabel könnten mit ihr zu Andrea fahren. Das Tierheim Waldi & Co. ist doch interessanter als ein Zoo.«

»Sicher ist das eine gute Idee, Nick. Wir hoffen sehr, dass Frau von Rettwitz unter den Kindern von Sophienlust wieder fröhlich wird.«

Nick rieb sich schon wieder die Nase und seufzte dazu. »Sie kriegt bei uns vielleicht aber auch neue Sehnsucht nach ihrem eigenen Kind«, orakelte er. »Oder sie nimmt eins mit. Ja, natürlich, so wird es enden. Es ist immer dasselbe. Irgendwann gehen unsere Kinder fort.«

Das war das Einzige, was Nick hin und wieder an Sophienlust störte. Er nahm leidenschaftlich gern neue Kinder auf, aber er trennte sich nur schwer von ihnen. Dennoch hatte er längst eingesehen, dass es für so manches Kind ein großes Glück bedeutete, in einer richtigen Familie zwischen liebenden Eltern eine bleibende Heimat zu finden.

»Möglich wäre es schon, dass Frau von Rettwitz später ein Kind adoptieren möchte. Im Augenblick ist jedoch nicht daran gedacht, Nick. Du schaust weiter in die Zukunft als unsere gute Huber-Mutter.«

Denise hatte die alte Kräuterfrau in Sophienlust aufgenommen. Die Huber-Mutter bewohnte ein schönes Zimmer und war für die Kinder eine sagenumwobene Gestalt, der sie geheimnisvolle Kräfte zutrauten und die sie dennoch liebten wie eine gute Großmutter.

Ob sie tatsächlich das Zweite Gesicht besaß, ließ sich weder beweisen noch widerlegen, obwohl Nick Stein und Bein schwor, dass es so sei. Gewiss aber verstand sich die Huber-Mutter auf das Sammeln von heilkräftigen Pflanzen aller Art, aus denen sie Tees zubereitete. Sogar der Drogist in Bachenau bezog regelmäßig gewisse Kräutermischungen von ihr. Und im Dorf sowie in der weiteren Umgebung von Sophienlust gab es eine Menge Leute, die die Heiltränklein der Huber-Mutter den Medikamenten des Arztes vorzogen.

»Ich kann ja die Huber-Mutter mal fragen, wenn Frau von Rettwitz da ist«, erklärte Nick.

»Lass das lieber, Nick. Du weißt, dass die alte Frau neugierige Fragen nicht besonders mag.«

»Hm, aber vielleicht weiß sie wenigstens, woher Micki Luftballon gekommen ist, Mutti.«

»Es wird sich herausstellen, mein Junge. Die Kleine ist jetzt in guter Hut. Das scheint mir das Wichtigste zu sein.«

Nick verzog sich. Denise aber sagte zu ihrem Mann, indem sie sich gegen seine Brust lehnte: »Ein klein wenig fürchte ich mich vor morgen, Liebster. Wenn Frau von Rettwitz echte Depressionen hat, werden sich die Kinder von ihr fernhalten. Möglicherweise wird sie durch unsere Kinder tatsächlich an ihr eigenes Töchterchen erinnert. Da hat Nick gar nicht so unrecht.«

»Sophienlust hat eine heilsame Luft, Liebste.« Zärtlich küsste Alexander seine Frau. »Warum bist du plötzlich so verzagt?«

»Sie tut mir schrecklich leid, Alexander«, gestand Denise. »Das einzige Kind zu verlieren, muss entsetzlich sein. Ich wage es gar nicht, mir einen solchen Schmerz auszumalen. Henrik zum Beispiel – ich fürchte, ich würde dann den Verstand verlieren.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, als wollte sie das Bild nicht einmal in Gedanken sehen.

»Du wirst der unglücklichen Mutter schon einen neuen Weg zu zeigen wissen, Denise. Es wäre nicht das erste Mal.«

Denise ließ sich umarmen und küssen. Dankbar empfand sie die Wärme und Geborgenheit, die Alexander ihr immer wieder gab. Dennoch sah sie dem kommenden Tag mit Bangen entgegen.

*

»Die Landschaft ist hübsch, Isolde.«

»Ja, Achim.« Die junge Frau saß neben ihrem Mann im Wagen und antwortete rein mechanisch, ohne einen Blick auf die Umgebung zu werfen.

Die beiden hatten ihr Ziel schon fast erreicht. Eben tauchte das Sophienluster Herrenhaus zwischen den Bäumen auf.

»Sieh mal, das Gebäude dort wirkt fast wie ein Schloss. Das muss es sein.«

»Ja, Achim.« Es hörte sich an wie die eingelernte Antwort eines gehorsamen Kindes.

Achim von Rettwitz empfand Mitleid mit seiner Frau. Er wusste genau, dass sie ihre Zusage inzwischen am liebsten rückgängig gemacht hätte.

Wenig später fuhr er vor dem Herrenhaus vor. Es war Sonntagnachmittag und sehr still. Zuerst hatte es den Anschein, als habe niemand den Wagen bemerkt. Achim wollte eben aussteigen, um zu läuten, als sich die Tür des Hauses öffnete und ein schlanker Junge mit dunklem Haar und dunklen Augen heraustrat. Ohne zu zögern kam er auf das Auto zu und verbeugte sich höflich.

»Willkommen in Sophienlust. Ich bin Dominik von Wellentin-Schoenecker. Meine Mutti erwartet Sie schon. Sie sind doch Herr und Frau von Rettwitz?«, vergewisserte er sich.

Achim half Isolde beim Aussteigen. Nick nahm zuerst ihre Hand, dann die ihres Mannes. Sein hübsches offenes Gesicht drückte deutlich Verwunderung aus.

»Ich zeige Ihnen den Weg«, erbot er sich. »Mutti ist im Biedermeierzimmer.«

»Danke, Dominik.«

Achim bot seiner Frau den Arm. Nick warf Isolde noch einen langen Blick zu, ehe er die Haustür öffnete und den Besuchern den Weg zum ehemaligen kleinen Salon seiner Urgroßmutter wies, jenem Raum, in dem alles unverändert geblieben war wie zu Lebzeiten Sophie von Wellentins.

Denise empfing das Paar mit weit geöffneten Armen. »Wie schön, dass Sie gekommen sind, Frau von Rettwitz.«

Achim küsste Denise ehrfürchtig die Hand. Zugleich sah er die Herrin von Sophienlust mit einem ähnlich verwunderten Gesichtsausdruck an, wie Nick ihn zuvor beim Anblick seiner Frau gezeigt hatte. Denn Isolde von Rettwitz und Denise von Schoenecker wiesen eine seltsame Ähnlichkeit auf. Isolde hätte ohne Weiteres die jüngere Schwester von Denise sein können. Das sah nun auch Achim von Rettwitz.

»Sag bitte in der Küche Bescheid, dass wir Tee haben möchten, Nick«, bat Denise. »Sie nehmen doch Tee?«, erkundigte sie sich bei den Ankömmlingen.

Beide bejahten. Nick trollte sich, um das Gewünschte zu bestellen. Wenig später erzählte er Pünktchen, Isabel, Angelika und Vicky die höchst verwunderliche Geschichte.

»Also, sie sieht aus wie Mutti«, berichtete er aufgeregt. »Natürlich nicht ganz genauso, mehr wie eine Verwandte von ihr. Aber sie hat schrecklich traurige Augen. Kann man ja auch verstehen, wenn ihr Kind tot ist.« Nick hatte ein weiches Herz. Am liebsten hätte er sofort etwas unternommen, um Isolde von Rettwitz, die durch ein wunderliches Spiel der Natur seiner Mutter ähnlich sah, fröhlich zu stimmen.

»Wenn sie heute Abend rote Grütze kriegt, freut sie sich bestimmt«, meinte Henrik, der eben von irgendwoher zu dem Kreis der Kinder gestoßen war, treuherzig.

»Hat Magda rote Grütze gemacht?«, erkundigte sich Nick.

»Ja, ich hab’ eben ein kleines Schüsselchen geschenkt gekriegt«, berichtete Henrik. »Schmeckt klasse.«

»Du bist verfressen«, konstatierte Nick würdevoll. Immerhin stand es für den künftigen Herrn von Sophienlust nun fest, dass er zum Abendbrot bleiben würde. Denn in Schoeneich gab es heute keine rote Grütze!

*

Indessen tranken Isolde und Achim von Rettwitz im Biedermeierzimmer vor dem Ölgemälde, das Sophie von Wellentin darstellte, ihren Tee. Dazu kostete sie von dem Gebäck, das Magda eigens für diesen Nachmittag frisch hergestellt hatte.

Denise setzte der neuen Hausgenossin behutsam auseinander, dass sie jederzeit nach Schoeneich übersiedeln könne, falls ihr der Betrieb im Heim zu laut und lebhaft sei. Andererseits meinte sie aber, dass sie sich in Sophienlust ungebundener fühlen könne.

»Reiten Sie, Frau von Rettwitz?«, fragte Denise danach, um ein möglichst neutrales Thema anzuschneiden.

»Ich habe es als junges Mädchen getan.«

»Sie sollten diesen schönen Sport hier wieder ausüben. Wir haben gute Pferde. Es gibt nichts Herrlicheres, als am frühen Morgen über die taufrischen Wiesen und Felder zu galoppieren. Mein Mann und ich nehmen Sie gern mit, wenn Sie Lust haben.«

»Ja, danke – vielleicht.«

Achim konnte feststellen, dass Isoldes Antwort nicht ganz so gleichgültig geklungen hatte wie sonst. Der Vorschlag mit dem Reiten schien sie ein kleines bisschen zu interessieren.

»Ich schicke dir deine Reitsachen, Isolde.«

»Der braune Koffer steht im Hochschrank. Die Stiefel sind auch dabei. Wie kommst du eigentlich zurecht – ohne mich?« Es war, als falle der jungen Frau das erst jetzt ein.

Achim machte eine weitschweifige Handbewegung. »Ich behelfe mich schon. Die Portiersfrau macht zweimal in der Woche sauber. Essen kann ich im Kasino. Die Wäsche gebe ich aus. Es muss schon mal gehen, Isolde.« Er sagte nicht, dass es in den vergangenen Wochen ja auch funktioniert hatte, obwohl Isolde sich um nichts gekümmert hatte.

»Vielleicht komme ich bald wieder, Achim.« Isolde warf Denise einen unsicheren Blick zu.

»Ein paar Wochen sollten Sie es schon bei uns aushalten, liebe Frau von Rettwitz«, bat Denise. »Lassen Sie es wenigstens auf einen Versuch ankommen. Ihr Mann wird es gewiss einrichten, Sie ab und zu übers Wochenende zu besuchen.«

Achim nickte. »Wenn das möglich ist, gnädige Frau? Dies ist doch kein Hotel.«

»Nein, aber ein Haus, in dem man sich immer über Gäste freut.«

Isolde machte eine Bewegung. »Ich bin kein erfreulicher Gast, Frau von Schoenecker.«

»Das müssen Sie den anderen zur Entscheidung überlassen«, erklärte Denise ruhig. »Jedenfalls ist Ihr Gatte uns immer herzlich willkommen – sowohl hier in Sophienlust wie drüben in Schoeneich.«

Achim sah auf seine Uhr. »Ich fürchte, ich muss an die Rückfahrt denken, gnädige Frau.«

Isolde begleitete ihn bis zum Auto. Wieder einmal war Nick im rechten Augenblick zur Stelle und erbot sich, Isoldes Gepäck ins Gästezimmer zu tragen.

Denise führte Frau von Rettwitz noch einmal ins Biedermeierzimmer zurück. »Wenden Sie sich bitte immer an mich, wenn Sie einen Wunsch haben«, bat sie. »Sollte ich einmal nicht erreichbar sein, so hilft Ihnen Frau Rennert oder auch deren Schwiegertochter Carola.«

»Ich hoffe, dass ich niemandem Mühe machen werde, Frau von Schoenecker. Vielleicht passe ich gar nicht in dieses Haus. Maria Berger hat meinen Mann gedrängt. Und er hat mir keine Ruhe gelassen, bis ich zustimmte. Mein armer Mann hat es schwer mit mir.« Sie seufzte tief auf.

»Ihr Mann möchte Ihnen helfen, Frau von Rettwitz. Den gleichen Wunsch haben wir. Ich begreife, dass Ihnen das unmöglich erscheinen muss, denn niemand kann Ihnen Ihr geliebtes Kind zurückgeben. Trotzdem wollen wir versuchen, Ihnen Ihr bitteres Leid tragen zu helfen.«

»Sie sind sehr gütig, Frau von Schoenecker. Der Arzt meint, ich sollte Abstand gewinnen. Aber man nimmt den Kummer mit sich, fürchte ich.«

»Trotzdem geht das Leben weiter. Ihr Mann braucht Sie – auch er trauert um das Kind«, mahnte Denise sanft.

»Achim kommt immer allein zurecht. Das haben Sie doch vorhin selbst mit angehört. Er ist viel stärker als ich. Wenn ich tot wäre wie Renata, könnte er sich anderweitig binden und sicherlich wieder glücklich werden.«

»Diese Einstellung werden Sie bald aufgeben, liebe Frau von Rettwitz! Wenn Ihr Mann Sie nicht so innig liebte, hätte er Sie wohl kaum hierhergebracht.«

Denise sprach an diesem Sonntagnachmittag nicht lange mit der neuen Bewohnerin von Sophienlust. Dennoch blieb es Nick vorbehalten, das Eis bei Isolde von Rettwitz ein wenig zu brechen. Er stand sozusagen rein zufällig im Weg, als Isolde ihr Zimmer aufsuchte, während seine Mutter mit Henrik zum Abendessen nach Schoeneich zurückfuhr.

»Kann ich noch etwas helfen?«, erkundigte er sich jetzt artig. »Ich habe die beiden Koffer auf den Ständer gestellt. Aber vielleicht ist der falsche oben.«

»Danke, Nick. Ich denke, es ist nicht wichtig, in welcher Reihenfolge ich die Koffer auspacke. Wohnst du denn hier?«

»Ich habe ein Zimmer in Sophienlust. Heute bleibe ich, weil …«

»Doch nicht meinetwegen?«, warf Isolde erschrocken ein.

»Nein, sondern wegen der roten Grütze«, gestand Nick in schöner Aufrichtigkeit. »Die gibt es nämlich zum Abendbrot. Magdas rote Grütze ist einmalig. Sie werden es ja erleben.«

Isolde von Rettwitz setzte sich in den geblümten Sessel und wies auf den zweiten Stuhl im Zimmer, damit auch Nick Platz nehme.

»Rote Grütze hab’ ich als Kind auch schrecklich gern gemocht. Es ist viele Jahre her, dass ich sie zum letzten Mal aß.«

»Rote Grütze mögen nicht nur Kinder«, stellte Nick fest. »Überhaupt wird Ihnen Magdas Essen guttun. Sie sind nämlich viel zu dünn.«

Nick redete so altklug wie ein Vater zu seiner Tochter. Doch Isolde von Rettwitz war von dem hübschen Jungen fasziniert. Ohne es recht zu merken, ging sie aus ihrer sonstigen Reserve heraus.

»Mir hat das Essen nicht mehr geschmeckt, Dominik«, erzählte sie.

»Das kann ich mir vorstellen, Frau von Rettwitz. Mutti hat mir gesagt, dass Sie Ihre kleine Tochter verloren haben. Das ist schrecklich traurig für Sie.«

Isolde nickte stumm. Ihr war die Kehle von aufsteigenden Tränen eng. Sie hatte auf einmal das Bedürfnis, zu weinen – zum ersten Mal seit Renatas Tod!

»Meine Mutti hat auch viel Trauriges erlebt«, fuhr Nick unbefangen fort, während die Frau im Sessel beklommen dem Schlag ihres eigenen Herzens lauschte. »Mein Vater starb, noch ehe ich geboren wurde. Ich habe ihn also nie gekannt. Damals war Mutti ganz arm und musste Geld verdienen. Sie war Tänzerin. Später konnten wir dann hierher nach Sophienlust, weil meine Großmutter mir alles vererbt hatte. Seitdem sind wir glücklich. Alle Leute, die nach Sophienlust kommen, werden glücklich. Das müssen Sie mir glauben.«

Isolde von Rettwitz nickte ihm zu. »Du bist ein guter Junge, Dominik. Ich danke dir.«

»Sie können mich Nick nennen, wie alle«, erlaubte er großzügig. »Zu bedanken brauchen Sie sich nicht. Wofür eigentlich?«, fügte er hinzu.

»Weil du mir von euch erzählt hast, Nick.«

Er hob die Schultern. »Na ja, ich dachte, es interessiert Sie, weil Sie jetzt bei uns sind. Außerdem möchte ich gern, dass es Ihnen in Sophienlust wirklich gefällt.«

»Ich werde mir Mühe geben, Nick«, versprach Isolde von Rettwitz.

»Ich glaube, das ist gar nicht nötig. Es kommt von selbst«, behauptete Nick. »Kommen Sie nachher zum Essen in den Speisesaal oder möchten Sie lieber allein essen am ersten Abend? Mutti hat mir aufgetragen, Sie zu fragen.«

»Wenn du neben mir sitzen willst, komme ich mit. Ich möchte mich nicht ausschließen.«

»Prima, Frau von Rettwitz. Ich hole Sie nachher ab. Jetzt will ich nicht länger stören. Und nicht wahr, Sie sind schon gar nicht mehr so schrecklich traurig – wenn’s auch schlimm ist mit Ihrer kleinen Tochter?« Unsicher sah er sie an.

Isolde konnte ihm nur stumm zunicken. Als er hinausgegangen war, warf sie sich über ihr Bett und schluchzte wild auf. Zum ersten Mal schwemmte eine Flut von heißen Tränen den Panzer fort, der sich um ihre Seele gelegt hatte.

*

Achim von Rettwitz war etwa eine halbe Stunde zu Hause, als das Telefon läutete. Er ging an den Apparat und meldete sich.

»Hallo, wie geht’s?« Eine fröhliche Stimme erklang, die Stimme einer Frau.

»Wer spricht denn da? Ich fürchte, Sie sind falsch verbunden.« Er hatte tatsächlich keine Ahnung, wer die Anruferin war.

»Aber Achim – jetzt musst du mal raten.«

Ein verhaltenes Lachen brachte ihn auf die richtige Spur. »Lieselott?«, vergewisserte er sich.

»Na also. Ich wollte mich nur erkundigen, ob Isolde richtig im Kinderheim gelandet ist. Warum ihr ausgerechnet ein Kinderheim ausgesucht habt, wird mir zwar ewig ein Rätsel bleiben, aber das ist eure Sache.«

Lieselott Engel war mit Isolde in die gleiche Schulklasse gegangen. Obwohl Isolde mit der unverheiratet gebliebenen sogenannten Freundin nicht allzu viel verband, war die Verbindung zwischen ihnen doch niemals abgerissen. Lieselott kam zu Besuch. Lieselott schloss Brüderschaft mit Achim. Lieselott hielt es für selbstverständlich, dass sie Renatas Patin wurde – kurz: Lieselott sorgte von sich aus dafür, dass sie mit dazugehörte, obwohl man das eigentlich gar nicht wollte.

Lieselott hatte fast täglich bei Isolde oder Achim angerufen. So war ihr auch Isoldes geplante Abreise nicht verborgen geblieben.

»Wir hatten eine glatte Fahrt. Ich glaube, es wird Isolde in Sophienlust gefallen«, antwortete Achim etwas kühl und abweisend.

»Umso besser. Aber was wird jetzt aus dir, du armer Mann?«

»Ich gehe nicht so schnell verloren, Lieselott. Es ist alles gut organisiert, und ein paar kleine Unbequemlichkeiten kann man schon mal in Kauf nehmen.«

»Isolde hat mir ans Herz gelegt, mich ein bisschen um dich zu kümmern. Morgen Abend komme ich vorbei und bringe etwas zu essen mit«, ließ sich Lieselott mit der ihr eigenen Entschlossenheit vernehmen.

»Morgen Abend bin ich leider verhindert, Lieselott. Wir haben eine Ausschusssitzung, die bestimmt ziemlich lange dauern wird. Mach dir bitte meinetwegen keine Umstände.«

»Das tue ich gern, Achim. Übermorgen also. Abgemacht?«

Es blieb ihm gar keine Wahl, denn wenn Lieselott zu etwas entschlossen war, dann setzte sie ihren Kopf auch durch.

»Schlaf schön, Achim. Hoffentlich fürchtest du dich nicht allein im Haus.« Und wieder dieses Lachen, das er so gut kannte.

»Ich bin keine ängstliche Natur, Lieselott. Gute Nacht und vielen Dank für deinen Anruf.«

Achim lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen. Lieselott war in jeder Hinsicht das Gegenteil von Isolde. Sie hatte lichtblondes Haar und tiefblaue Augen. Sie sah tatsächlich ein bisschen wie ein Engel aus, wenn auch ihr resolutes Auftreten durchaus nichts Überirdisches an sich hatte. Lieselott stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit und neigte durchaus nicht zu Trauer und Trübsal. Ihre Nähe war herzerfrischend und aufmunternd, wenn sie ihm auch hin und wieder ein kleines bisschen auf die Nerven ging.

Nun suchten Achims Gedanken Isolde. Ob sie schon zu Bett gegangen war? Zugleich meinte er Denise von Schoenecker wieder vor sich zu sehen – eine Persönlichkeit, der sein Herz sofort zugeflogen war. Diese Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen! War das ein gutes Vorzeichen?

Achims Zuversicht wuchs. Zwischen den Kindern würde Isolde ihr Leid überwinden lernen und vielleicht sogar eines von ihnen für immer heimbringen.

Achim von Rettwitz stand auf. Er reckte die Arme und löschte das Licht im Wohnzimmer. Ehe er einschlief, stellte er sorgfältig den Wecker neben sein Bett.

Lieselott hat recht, dachte er zu seiner eigenen Verwunderung im Einschlafen. Es ist ein seltsames Gefühl, allein im Haus zu sein. Isolde fehlt mir bereits in der ersten Nacht.

*

»Wie viele Luftballons hast du Micki eigentlich inzwischen schon gekauft?«, fragte Carola Rennert Nick, der soeben wieder einen Ballon aus seiner Hosentasche hervorgezaubert hatte und ihn mit vollen Backen aufblies.

»Ich hab’ sie nicht gezählt, Carola. Aber sie freut sich jedesmal so niedlich. Ich kann’s einfach nicht lassen. Außerdem möchte ich gern herauskriegen, wieso sie die blauen Luftballons mag, aber die böse Tante, die ihr den ersten geschenkt hat, nicht. Das ist doch paradox, oder?«

»Vielleicht finden wir es nie heraus, Nick«, seufzte Carola. »Ich bin nur froh, dass die Kleine sich gut eingelebt hat. Gestern kam sie zu mir in die Wohnung und hat die Zwillinge bestaunt. Sie war ganz andächtig.«

Carola, früher ein Sophienluster Schützling, war mit Wolfgang Rennert, dem Hauslehrer des Heims, glücklich verheiratet.

»Hm, Frau von Rettwitz lebt sich nicht so gut ein«, seufzte Nick. »Mit Erwachsenen ist es viel schwieriger. Micki kann man deine Babys zeigen oder einen Luftballon schenken …«

» … Frau von Rettwitz sitzt meist irgendwo in einer abgelegenen Ecke des Parks oder auch in ihrem Zimmer«, ergänzte Carola Rennert. »Ich glaube, sie weint sehr viel.«

»Ja, das stimmt«, äußerte Nick betrübt. »Ich habe es ein paar Mal gesehen und schon mit Mutti darüber gesprochen. Sie meint, es ist gut, wenn sie weint. Aber das kann ich nicht verstehen.«

Carola hob die Schultern. »Vielleicht muss man erst einmal richtig weinen, wenn man einen so schlimmen Schmerz hinter sich hat wie Frau von Rettwitz.«

»Wenn ich mich mit ihr unterhalte, ist sie manchmal recht fröhlich«, setzte Nick seine Betrachtungen fort. »Gestern ist sie mit Vati und Mutti morgens ausgeritten. Ich glaube, das hat ihr Freude gemacht. Weißt du, ich möchte ihr gern mal von Micki Luftballon erzählen. Sie denkt, es gibt keinen auf der Welt, der so unglücklich ist wie sie. Aber Micki zum Beispiel hat es auch schwer. Wir können ihre Eltern nicht finden. Sie hat nicht einmal einen Namen, wenn sie auch zu klein ist, um das schon zu begreifen.«

»Du kannst Micki und Frau von Rettwitz kaum miteinander vergleichen. Micki scheint unter der Ungewissheit über ihr Schicksal gar nicht zu leiden. Sie ist seelenvergnügt bei uns, so weit ich das überschauen kann.«

Carola Rennert war nur gelegentlich und zur Aushilfe im Kinderheim tätig. Ihre Arbeitskraft gehörte vor allem dem eigenen kleinen Haushalt, ihrem Mann und den Zwillingen. Denise hatte dem jungen Paar eine Wohnung ausgebaut, sodass es sein eigenes Reich besaß und doch auf Sophienlust war. Blieb Carola mal ein wenig Zeit, so holte sie ihre Farben hervor und malte. Sie war eine begabte Künstlerin, hatte ihre Bilder schon erfolgreich auf Ausstellungen gezeigt und verkaufte sie zu recht beachtlichen Preisen.

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass Mutti und Frau von Rettwitz sich ähnlich sehen?«, fragte Nick nun.

Carola nickte. »Es ist ganz erstaunlich.«

»Ich mag sie gut leiden, weil sie Mutti so ähnlich sieht«, gestand Nick. »Deshalb rede ich auch oft mit ihr.«

»Wenn es sie nicht stört …«

»Nein, sie hat mich schon zweimal aufgefordert, in ihr Zimmer zu kommen. Das würde sie doch nicht tun, wenn ich ihr auf den Wecker ginge.«

Carola Rennert lachte. »Deine Ausdrücke, Nick! Zur Konversation mit einer richtigen Dame bist du wirklich nicht geeignet.«

Nick zog einen Flunsch. »So was sag’ ich doch bloß zu dir, Carola. Ich weiß schon, wie man sich benimmt.«

»Vielleicht hat sie ein bisschen Spaß, wenn du dich mit ihr unterhältst«, mutmaßte Carola.

»Klar, wir müssen es schaffen, dass Frau von Rettwitz sich hier glücklich fühlt. Das ist die Aufgabe von Sophienlust.« Seine dunklen Augen leuchteten, und Carola war plötzlich gerührt und sogar ein bisschen beschämt.

»Du hast recht, Nick«, pflichtete sie ihm bei.

»Wenn wir uns alle gemeinsam Mühe geben, wird sie bestimmt wieder fröhlich und will am Ende nie mehr weg von Sophienlust«, behauptete Nick begeistert.

»Nun, damit wäre ihr Mann vielleicht nicht einverstanden«, wandte die junge Frau ein. »Du darfst nicht vergessen, dass sie verheiratet ist.«

»Ja, natürlich. Dann wird sie wohl fortgehen, wenn wir es endlich mit ihr geschafft haben«, seufzte der Junge. »Dabei passt sie so gut zu uns.«

Carola lächelte. Sie verstand nur zu gut, was Nick zu Isolde von Rettwitz hinzog – die Ähnlichkeit mit Denise von Schoenecker. Zwar sah Carola mit ihrem scharfen Malerauge, dass diese Ähnlichkeit mehr im Typus und in den Bewegungen der neuen Bewohnerin von Sophienlust lag als in tatsächlicher Gleichheit der Züge. Doch fand auch sie dieses Spiel der Natur verwunderlich und erfreute sich daran.

»Ich muss nach den Zwillingen sehen, Nick«, fiel ihr ein. »Willst du mitkommen? Ich habe noch etwas Kuchen vom Sonntag.«

Da sagte Nick nicht nein. Wenig später saß er in Carolas blitzblanker Küche und verzehrte schweigend und erstaunlich rasch zwei riesige Kuchenstücke, während die junge Hausfrau und Mutter die Fläschchen für ihre Sprösslinge vorbereitete.

»Viel Arbeit, gleich zwei Kinder«, meinte Nick mit vollem Mund.

»Im Kinderheim sind es doch weit mehr«, lachte Carola glücklich. »Ich bin dankbar und froh, dass ich nicht nur ein Kind habe. Zwillinge waren genau richtig für unsere Familie.«

»Das finde ich auch«, erklang unvermutet Wolfgang Rennerts Stimme. Der Lehrer war hereingekommen, ohne dass die beiden ihn bemerkt hatten. Er umarmte seine Frau liebevoll und so stürmisch, dass die Fläschchen dabei in Gefahr gerieten. Schließlich einigten sie sich, indem jeder ein Fläschchen und ein Kind übernahm. Nick verabschiedete sich, denn mehr Kuchen war leider nicht vorhanden.

Noch am gleichen Tag suchte und fand der Junge eine Gelegenheit, die Geschichte von Micki Luftballon mit ein paar phantasievollen Ausschmückungen Isolde von Rettwitz zu erzählen. Zu seiner Enttäuschung hörte seine große Freundin zwar höflich und aufmerksam zu, doch sie schien von dem ungeklärten Schicksal des Kindes nicht sonderlich beeindruckt zu sein.

*

Lieselott Engel bremste ihren knallroten Mini-Minor genau vor dem Gartentor des Bungalows. Vom Rücksitz angelte sie zwei große Tüten aus dem Supermarkt, ehe sie ausstieg und den Mini abschloss.

Die blonde Lieselott war als Sekretärin in einem großen Bürohaus in der Innenstadt tätig. Sie verdiente recht gut und konnte sich außer dem Mini-Minor eine nette Kleinwohnung und einen verhältnismäßig anspruchsvollen Lebensstil leisten. Trotzdem strebte sie nach mehr. Die Verbindung mit Isolde hatte sie ursprünglich in der Hoffnung aufrechterhalten, durch die Familie mit reichen jungen Männern Kontakt zu bekommen. Denn Lieselott hatte durchaus nicht die Absicht, ihr Dasein bis in alle Ewigkeit hinter einer elektrischen Schreibmaschine zu fristen. Bisher war ihr jedoch der richtige Freier noch nicht über den Weg gelaufen. Insgeheim beneidete sie Isolde um ihr Glück. Achim von Rettwitz war von Haus aus vermögend, führte einen klangvollen Namen und würde im Staatsdienst unter allen Umständen eine steile Karriere machen.

Seit Isolde nun in Sophienlust war, gaukelte sich Lieselott vor, dass Achim sie nicht entbehren könne. Fast jeden Abend war sie mit ihm zusammen, und heute wollte sie in seiner Küche für ihn und sich selbst ein leckeres Abendessen zubereiten. Anfangs war Achim noch ein wenig abweisend und zurückhaltend gewesen, doch inzwischen schien er für ihre ständige Hilfsbereitschaft dankbar zu sein.

Lieselott drückte auf den Klingelknopf. Als niemand öffnete, angelte sie aus ihrer Handtasche den Schlüssel, den sie sich schon vor ein paar Tagen von Achim ausgebeten hatte. Kurz darauf betrat sie das Haus.

Mustergültige Ordnung empfing sie. Es stimmte, Achim kam im Grunde genommen auch ohne Hilfe zurecht. Offenbar war heute gründlich geputzt worden. Lieselott konnte kein Stäubchen entdecken. In der Küche stand auch kein schmutziges Geschirr herum. Die Küche war blitzblank und aufgeräumt.

Lieselott stellte ihre Tüten ab und packte aus. Da sie nicht zum ersten Mal in dieser Küche war, brauchte sie nicht lange zu suchen. Sie legte kaltes Fleisch auf eine Platte, verteilte leckere Salate in kleine Glasschalen und überzeugte sich, dass im Kühlschrank Wein kalt gelegt war. Ja, das hatte Achim also nicht vergessen! Um ihren vollen Mund spielte ein befriedigtes Lächeln.

Leise vor sich hinsummend, deckte Lieselott im Speisezimmer den Tisch. Sie nahm die weißen Stickerei-Sets und gute Servietten. Auch das beste Silberbesteck und die kostbaren Kristallgläser kamen auf den Tisch, dazu die beiden Leuchter. Es sollte ein ganz festlicher Abend werden – und natürlich sehr gemütlich und intim.

Als Vorspeise sollte es eine klare Schildkrötensuppe geben, die Lieselott aus einer Dose in den Topf tat, sodass sie später nur eben gewärmt zu werden brauchte. Zum Fleisch und den Salaten würde sie heißes französisches Weißbrot reichen, das sie bereits in den Backofen geschoben hatte.

Fertig!

Lieselott ging ins Bad, wusch sich sorgsam die tadellos manikürten Hände und überprüfte ihr Aussehen. Das neue hellgrüne Kleid umschloss ihre schlanke Figur eng wie eine zweite Haut. Ihr blondes Haar hatte sie in der Mittagspause beim Friseur waschen und legen lassen. Am Make-up war nicht das Geringste auszusetzen. Vielleicht noch ein bisschen Parfüm hinter die Ohren …

So, nun konnte Achim kommen.

Leider ließ der Hausherr zunächst einmal auf sich warten. Lieselott schaltete das Radio ein und setzte sich in einen tiefen Sessel. Doch sie war unruhig und sprang immer wieder auf, um aus dem Fenster zu sehen. Während sie unverwandt auf die Straße starrte, gingen ihre Gedanken seltsame Wege.

Wenn ich seine Frau wäre, dachte sie, würde ich jeden Abend hier so stehen. Lieselott von Rettwitz! Das hört sich wirklich phantastisch an. Isolde will ja von Achim nichts mehr wissen, seit das Kind gestorben ist. Wenn sie einfach fortgeht, dann ist das ihre Sache.

Lieselott presste die Hände gegen ihr wild schlagendes Herz. Bis zu diesem Abend war es eigentlich nur ein Spiel gewesen, vielleicht sogar ein kleiner Flirt. Doch sie hatte respektiert, dass Achim verheiratet war. Jetzt sah sie die Situation anders an.

Achim hat ein Recht auf Glück, überlegte sie. Isolde hätte sich nicht so gehenlassen dürfen. Der arme Mann wird ja nach und nach zugrunde gerichtet, wenn sie so weitermacht.

Lieselott fand sehr viele Gründe für ihren einmal gefassten Plan. Als Achim gegen halb neun erschien, fiel sie ihm atemlos um den Hals. »Gott sei Dank, dass du da bist«, sprudelte sie hervor. »Ich hatte schon Angst, dass dir etwas passiert sei.«

Lächelnd befreite er sich aus ihrer Umarmung, hielt ihre Handgelenke jedoch mit beiden Händen fest. »Was soll mir schon passieren, Lieselott? Ich bin leider aufgehalten worden. Wir haben da einen komplizierten Fall, der mir Kopfzerbrechen verursacht.«

»Das nächste Mal musst du anrufen«, flüsterte sie. »Ich habe mir hier die schlimmsten Dinge ausgemalt und bin ganz durcheinander.«

Noch einmal kam sie dicht an ihn heran. Ihr Mund war so nahe vor dem seinen, dass es eigentlich ganz von selbst geschah. Sie schmiegte sich an ihn und küsste ihn leidenschaftlich. Dann zog sie sich mit einem Lächeln zurück.

»Ich bin völlig durcheinander«, wiederholte sie. »Jetzt will ich das Essen fertig machen. Du musst ganz verhungert sein.«

»Ja, Lieselott, Hunger habe ich tatsächlich.« Seine Stimme klang anders als sonst. Er fand die blonde Lieselott an diesem Abend in ihrer gut gespielten Verwirrung verführerisch und bezaubernd.

»Schenk uns einen Sherry ein. Die Suppe ist in fünf Minuten warm, Achim«, rief sie von der Küche her, wo sie unterdessen auch den Ofen für das Weißbrot eingeschaltet hatte.

Achim erwartete sie mit den gefüllten Gläsern.

»Auf einen schönen Abend, Achim.« Ihre blauen Augen grüßten ihn. Wenn er nur wollte, konnte er viel darin lesen.

»Es ist nett, dass du heute hier bist«, gab er leise zurück. »Ein leeres Haus wirkt bedrückend.«

»Ich gebe mir Mühe, dir ein bisschen Fröhlichkeit ins Haus zu bringen, Achim. Du darfst nicht immer nur trauern.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, sicher nicht, Lieselott.«

Sie steckte die Kerzen an und bat zu Tisch.

»Du verwöhnst mich«, stellte Achim fest.

»Es ist nichts Besonderes, Achim. Aber wenn es dir gefällt, freue ich mich.«

Er zog ihre Hand an die Lippen. »Es ist nett, wenn man bei sich selbst zu Gast sein kann. Vielen Dank.«

»Ich sagte dir doch, dass es hier gemütlicher ist als in einem Lokal. Du bist den ganzen Tag nicht daheim. Mal willst du gewiss auch deine eigenen vier Wände um dich haben.«

Sie traf genau den richtigen Ton. Achim ließ es sich schmecken und plauderte vergnügt. Die Anspannung des Arbeitstages fiel rasch von ihm ab.

Nach Abschluss der Mahlzeit trug Lieselott das Geschirr in die Küche und räumte die Reste in den Kühlschrank. Als sie in das Wohnzimmer zurückkehrte, spielte noch immer leise das Radio.

Achim holte Gläser und schenkte Kognak ein, nachdem Lieselott zugestimmt hatte.

»Du bist eine gute Freundin, Lieselott«, sagte er leise und strich ihr rasch über die Wange, ehe er trank.

Lieselott lächelte und seufzte. »Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun, Achim. Es ist viel zu wenig. Du bist in keiner beneidenswerten Lage.«

Lieselott ging nicht näher auf das Thema ein. Es war sicherlich klüger, wenn sie nicht über Isolde redeten. Stattdessen reckte sie den Arm und stellte das Radio etwas lauter. »Ich würde ganz gern tanzen«, schlug sie vor.

»Bitte, wenn du magst.«

Isolde tanzte nicht besonders gern. Lieselott hingegen war eine leidenschaftliche Tänzerin. Sie suchte Platten heraus und legte sie auf. Übermütig forderte sie ihrerseits Achim auf. Sie beherrschte die modernen Tänze perfekt und riss ihren Partner innerhalb von wenigen Augenblicken dazu hin, es ihr gleichzutun. Aus ihrem Haar löste sich eine Locke, die ab und zu sein Gesicht streifte. Einmal kam sie unversehens aus dem Takt und warf sich lachend in seine Arme.

»Du bist toll«, flüsterte sie und küsste ihn mitten auf den Mund. Und dann tanzte sie weiter, während ihre Augen leuchteten und lockten.

Endlich wurden sie müde. »Hol neuen Wein, Achim. Ich verdurste.«

Der Mann sah nicht auf die Uhr, obwohl er wusste, dass es schon sehr, sehr spät war. Er machte die nächste Flasche auf und trank dem blonden Mädchen zu, das nun keinen Hehl mehr daraus machte, dass es in ihn verliebt war.

Der kleine Mini-Minor stand bis zum anderen Morgen vor dem Gartentor. Achim erwähnte am nächsten Morgen der Portiersfrau gegenüber, dass er Besuch von einer Kusine habe.

*

Seltsam genug. Nick war der Einzige, der zu Isolde von Rettwitz’ verschlossenem Wesen Zugang fand. Gewiss, sie ließ sich von Denise freundlich zureden, ritt auch hin und wieder mit dem Ehepaar Schoenecker aus, doch sie zog sich alsbald wieder wie eine Schnecke in ihr Haus zurück.

Nick unterhielt sich jedoch gern mit Isolde, deren Ähnlichkeit mit seiner Mutter ihn immer wieder von Neuem verwunderte und anzog. So manchen Abend verbrachte er mit der vereinsamten, trauernden Frau im Gästezimmer, im Park oder auch auf einem langen Spaziergang über die Felder. Isolde erkundigte sich nach seinen Erfolgen in der Schule, half ihm sogar gelegentlich bei seinen Aufgaben und wurde im Gespräch mit dem Jungen von ihrem eigenen Schmerz abgelenkt, ohne es zu bemerken.

Es war ein Freitagabend, als Nick Frau von Rettwitz fragte, ob sie einmal mit ihm ausreiten wolle. Sie stimmte sofort zu, denn es hatte im Laufe des Nachmittags geregnet. Jetzt roch die Luft würzig und lockte zu einem Ritt.

Nick holte sein Reitzeug und sattelte mit Hilfe des alten Justus zwei Pferde – seinen eigenen Braunen und einen Schimmel, den die größeren Mädchen liebten, weil er ein ausgezeichnetes Springpferd war, aber so gut wie nie durchging und auch sonst keine Schwierigkeiten machte.

Es war ein hübsches Bild, als der Junge auf das Herrenhaus zutrabte. Er saß tadellos im Sattel und führte den Schimmel am Zügel mit. Isolde schlug das Herz ein wenig rascher.

Als vollendeter Kavalier sprang Nick ab und half seiner Dame in den Sattel, ehe er selbst wieder aufstieg. Seite an Seite trabten die Pferde an.

Nick schlug den Waldweg ein, der zum See führte. Der Boden unter den Pferdehufen war feucht, sodass das Getrappel kaum zu hören war. Ab und zu tropfte es noch ein wenig von den Zweigen.

»Es ist schön hier, nicht wahr?« stellte Nick mit echter Begeisterung fest.

»Ja, Nick.«

»Gefällt es Ihnen jetzt in Sophienlust – wenigstens ein kleines bisschen?«

»Ich glaube schon«, antwortete die junge Frau nachdenklich. »Es kann sogar sein, dass es mir zu gut gefällt. Vielleicht möchte ich nie mehr fort.«

»Aber Sie haben einen Mann, der auf Sie wartet«, mahnte Nick.

Sie nickte. Die Pferde gingen jetzt im Schritt, weil die Reiter keine Eile hatten. »Mein Mann kommt morgen und bleibt übers Wochenende. Er hat am Nachmittag angerufen«, berichtete sie.

»Freuen Sie sich nicht?«, erkundigte sich Nick.

»Ich weiß es nicht. Ich habe etwas Angst.«

»Das verstehe ich nicht. Sie haben ihn doch lieb!« Für Nick stand fest, dass jedes Ehepaar so innig in Liebe verbunden war wie seine Eltern oder wie Andrea und Hans-Joachim.

»Natürlich«, versicherte Isolde hastig. »Aber wenn er da ist, muss ich an Renata denken.«

Nick wusste längst, dass ihr Töchterchen diesen Namen getragen hatte. »Renata ist im Himmel, Frau von Rettwitz«, erklärte er mit fester Stimme. »Mein erster Vati ist auch tot, und die erste Mutti von Sascha und Andrea lebt schon lange nicht mehr. Sie dürfen nicht immer nur an Renata denken. Sie kann nicht mehr zurückkommen – es ist unmöglich.«

Betroffen sah Isolde den Jungen an. Eben tauchte zwischen den Stämmen der See auf. »Du hast recht, Nick, ich kann mich nicht damit abfinden. Mein Mann ist stärker als ich. Deshalb habe ich wohl Angst.«

»Sie sollten sich unsere Micki Luftballon mal genauer ansehen, Frau von Rettwitz. Sie muss doch ungefähr so alt sein wie Renata.«

»Ein bisschen älter – aber Renata sah ganz anders aus«, erklärte Isolde abweisend. »Ich kann kein fremdes Kind annehmen. Das wäre mir vollkommen unmöglich.«

Nick seufzte verstohlen. Die Unterhaltung mit Frau von Rettwitz stellte große Anforderungen an ihn. Immer wieder zerbrach er sich den Kopf, wie er sie fröhlich und glücklich machen könnte. Aber er kam nicht weiter, sosehr er sich auch anstrengen mochte. Sie bemerkte nicht einmal, dass der Vorschlag ihn Überwindung gekostet hatte, denn er tat nur ungern etwas dazu, dass ein Kind Sophienlust für immer verließ.

»Ist der See tief?«, fragte Isolde in das plötzliche Schweigen hinein.

»Ja, an manchen Stellen schon. Wir haben auch ein Boot. Aber es ist angekettet, damit keine Dummheiten gemacht werden.«

Nick ritt wieder an. Er gab noch einige Erläuterungen zum See und erzählte auch, dass die Kinder am nächsten Tag zum See reiten und da ein Picknick veranstalten wollten.

»Es ist wirklich schön hier«, antwortete die Reiterin versonnen. »Glaubst du, dass ich morgen oder übermorgen mit meinem Mann hierhergehen oder -reiten könnte?«

»Warum nicht?«, lachte Nick. »Wenn das Wetter gut ist, schwimmt es sich prima im See. Unsere Badestelle ist da drüben am anderen Ufer.«

Allmählich wurde es dunkel. »Ich glaube, wir müssen zurück«, mahnte Isolde.

»Ja, es ist besser.« Nick sah sie forschend an. »Einen Galopp bis Sophienlust?«, schlug er mit blanken Augen vor.

Sie nickte. Nick übernahm die Führung. Durch den dämmerigen Wald galoppierten sie heimwärts. Erst im Wirtschaftshof zügelten sie die Pferde.

»Das machen sie gern, wenn sie wissen, dass es zum Stall geht«, lachte Nick. »Warten Sie, ich helfe Ihnen beim Absitzen.«

Justus hatte gewartet und rieb den Schimmel ab, während Nick sich um seinen Braunen kümmerte. Ein wenig legte auch Isolde mit Hand an. Endlich wanderten die Frau und der Junge zum Herrenhaus hinüber.

»Freuen Sie sich jetzt, dass Ihr Mann morgen kommt?«, fragte Nick leise.

»Hm – ein wenig schon, Nick.«

Nick verabschiedete sich mit einer Verbeugung. »Ich muss noch eine Partie Schach mit Pünktchen spielen. Das habe ich ihr heute Mittag fest versprochen. Schlafen Sie gut, Frau von Rettwitz.«

»Gute Nacht, Nick. Vielen Dank für deine Begleitung. Es war ein schöner Ritt.«

»Das können wir mal wieder machen, wenn Sie wollen. Auch können Sie morgen an unserem Picknick teilnehmen, wenn Sie Lust haben. Ihren Mann nehmen wir natürlich auch mit.«

*

Das Wiedersehen zwischen Achim und Isolde stand unter keinem günstigen Stern. Achim dachte an die verliebten Stunden, die er zu wiederholten Malen mit Lieselott Engel verbracht hatte, und fühlte sich seiner Frau gegenüber unsicher und gehemmt.

Isolde kämpfte mit ihrer Angst vor der Erinnerung an das Traurige, das hinter ihnen lag.

Mit den Kindern fand Achim fast sofort Kontakt. Er ließ sich das Gut zeigen und bewunderte alles, was ihm von den Sophienlustern vorgeführt wurde.

Zum Abendessen war das Ehepaar am Sonnabend in Schoeneich zu Gast. Alexander und Denise gaben sich die größte Mühe, heiter und unbefangen mit Isolde zu plaudern – doch die Unterhaltung wurde ausschließlich von Achim bestritten. Isolde saß schweigsam und in sich gekehrt an ihrem Platz. Später, als sie mit ihrem Mann zurück nach Sophienlust fuhr, wo man in ihrem Zimmer ein zweites Bett aufgestellt hatte, sagte sie traurig: »Wir sind uns fremd geworden, Achim. Es ist meine Schuld. Ich bin dir nur im Weg und mache dir das Leben schwer.«

»Isolde – wieso deine Schuld?« Er war tief bestürzt, denn die Schuld lag ja bei ihm!

»Weil ich nicht loskomme von der Vergangenheit. Schau, ich habe rein äußerlich ein wenig Ähnlichkeit mit Frau von Schoenecker …«

»Sehr viel Ähnlichkeit sogar«, bekräftigte er und verlangsamte die Fahrt, um schließlich an einem stillen Platz ganz anzuhalten.

»Aber ich bin ganz anders als sie«, fuhr Isolde leise und mutlos fort. »Sie ist in ihrem Leben mit den größten Schwierigkeiten und Kümmernissen fertig geworden. Ich könnte das nicht.«

»Warum traust du dir so wenig zu, Isolde?«

»Es ist die Wahrheit, Achim. Am liebsten würde ich mich für alle Zeit hier in Sophienlust vor der Welt verkriechen. Hier ist eine schöne, heile Welt, und wenn ich mit Nick spreche, kann ich hin und wieder für ein Viertelstündchen aufhören, an Renata zu denken.«

Achim erschrak. »So stark beschäftigt es dich immer noch, Isolde?«

»Ich glaube, ich denke sogar dann an unser Kind, wenn ich schlafe.« Sie stöhnte leise. »Es wird niemals besser werden, Achim. Verzeih mir bitte.«

»Was hätte ich dir zu verzeihen, Isolde?« Ihm war das Herz schwer. Gewiss, er betrauerte den Tod des süßen Kindes ebenfalls. Aber er wollte nicht weiterhin im Schatten bleiben, sondern wieder am lebendigen Leben teilhaben. Lieselott Engel hatte es ihm leichtgemacht. Sie hatte ihn getröstet und ihn seine Last vergessen lassen.

»Mag sein, dass ich krank bin, Achim. Wenn ich dir eines Tages im Weg sein sollte, dann sag es mir. Das hast du nicht verdient.«

Er legte die Hand auf ihren Arm. »Isolde, was redest du da?« Das schlechte Gewissen schnürte ihm fast die Kehle zu. »Wir zwei gehören doch zusammen. Du wirst es überwinden. Schau, heute können wir wenigstens schon darüber reden. Das ist ein Fortschritt.«

Sie wehrte sich, als er sie an sich zog und küsste.

»Es wird alles gut werden, Isolde«, raunte er ihr ins Ohr. »Komm – ich liebe dich.«

Doch sie schüttelte den Kopf. »Lass mich, Achim, es hat keinen Sinn. Du musst mir verzeihen …«

Dennoch beteiligten sich die beiden am nächsten Tag an dem Ausritt der Kinder zum See. Nick betätigte sich allerorten, und Achim lernte den besonderen Freund seiner Frau näher kennen. Er plauderte auch mit Pünktchen, Isabel und den Geschwistern Angelika und Vicky. Mit ehrlichem Entzücken ließ er die lange Kavalkade der kleinen Ponyreiter mehrfach an sich vorüberziehen.

»Hier muss einem doch das Herz aufgehen, Isolde«, rief er seiner Frau zu, die schweigsam auf dem Schimmel saß und dem fröhlichen Treiben scheinbar unbeteiligt zuschaute. Als dann am See das Picknick abgehalten wurde, half sie beim Austeilen von Kuchen, belegten Broten, Limonade und Kakao. Doch sie tat es mit so ernstem Gesicht, dass die Kinder sich ihr nur zögernd und scheu näherten. Wo Isabel austeilte, drängte man sich und lachte ständig. Achim von Rettwitz stellte es mit Betrübnis und leichtem Ärger fest.

Warum macht meine Frau es allen Menschen so schwer?, dachte er. Wir könnten eines von diesen reizenden Kindern mit heimnehmen und würden es nach einiger Zeit genauso liebgewinnen wie unsere Renata.

Achim sah Micki, die mit den Kleinsten im Leiterwagen gekommen war, selig mit ihrem blauen Luftballon spielen. Nick hatte ihm anvertraut, dass dieses kleine Mädchen keine Angehörigen zu haben schien. Nun ja – warum nicht Micki? Aber auch jedes andere Kind aus dieser fröhlichen Schar wäre ihm recht gewesen, wenn sich seine Ehe mithilfe des Kindes wieder zu dem hätte gestalten lassen, was sie früher gewesen war.

Oder war seine Ehe bereits zerstört? Verstohlen beobachtete er Isolde, die traumverloren mit einem Zweig spielte. Wer von uns beiden hat angefangen, sich vom anderen zu entfernen?, fragte er sich bestürzt. Vielleicht wäre das mit Lieselott nie geschehen, wenn Isolde sich nicht so hartnäckig in ihren Kummer vergraben hätte. Ja, es war egoistisch von ihr! Sie hätte auch an mich denken müssen. Ich habe seit Monaten eine doppelte Last getragen. Einmal wird das zu viel. Selbst jetzt nimmt sie nicht einmal Notiz von mir. Dabei bin ich nur ihr zuliebe gekommen!

Lieselott war durchaus nicht einverstanden gewesen, als Achim ihr erklärt hatte, dass er nach Sophienlust fahren wolle. Doch er hatte das für seine Pflicht gehalten und nicht mit sich handeln lassen. Jetzt dachte er mit einiger Verbitterung daran, dass ein Wochenende mit Lieselott unter allen Umständen erfreulicher verlaufen wäre.

Plötzlich langweilten ihn die Kinder und ihr fröhliches Treiben am Ufer des Sees. Ungeduldig wartete er auf den allgemeinen Aufbruch. Als es endlich so weit war, ritt er mit Isolde an der Spitze des Zuges und bat sie, sich zu beeilen. Es sei für ihn reichlich spät geworden, erklärte er gereizt. Er werde die halbe Nacht auf der Landstraße sein, wenn er nicht bald abfahre.

Achim von Rettwitz verabschiedete sich per Telefon von Denise von Schoen­ecker und dankte ihr für ihre großzügige Gastfreundschaft. Ein ungestörtes Gespräch mit ihr hatte er nicht gesucht.

»Alles Gute, Achim«, sagte Isolde leise, als sie ihn – noch im Reitkostüm – zu seinem Wagen begleitete. »Ich glaube, du bist ohne mich besser dran.«

»Wie kannst du dir nur so etwas einreden«, schalt er. »Das Haus ist leer. Ich werde froh sein, wenn du erst wieder bei mir bist.«

Sie winkte ihm nach, doch ohne zu lächeln.

*

Die Zeit ging hin. Alle Nachforschungen nach Micki Luftballons Herkunft blieben ergebnislos. Das kleine Mädchen, das immer noch eine Vorliebe für blaue Ballons hatte, die ihm Nick großzügig von seinem Taschengeld spendierte, fühlte sich inzwischen vollkommen zu Hause in Sophienlust. Hin und wieder sprach Micki von ihrer lieben Tante. Die böse Tante schien sie dagegen vergessen zu haben.

Dann kam ein Mittwoch, an dem Isolde von Rettwitz ans Telefon gerufen wurde. Sie nahm an, es sei Achim. Doch es war keine andere als Lieselott Engel, die sie sprechen wollte.

»Kann ich dich dort mal besuchen, Isolde? Ich hätte was mit dir zu besprechen«, erklärte Lieselott.

»Warum nicht? Aber kann man es nicht am Telefon erledigen? Der Weg ist ziemlich weit. Sogar Achim ist erst einmal hiergewesen.« Isolde legte auf eine Begegnung mit Lieselott keinen besonderen Wert.

»Es gibt nun mal Dinge, die sich besser mündlich erledigen lassen, Isolde. Glaubst du, dass du mich dort irgendwo unterbringen kannst?«

»Ja, ich denke im Gasthof, Lieselott. Das würde sich schon einrichten lassen. Aber ist es tatsächlich so wichtig? Mit deinem kleinen Wagen wird es eine Strapaze und kostet dich das ganze Wochenende.«

»Das lass nur meine Sorge sein, Isolde. Besorge mir also bitte eine Unterkunft von Samstag auf Sonntag. Ich kreuze irgendwann gegen Mittag dort auf. Bis dann, Isolde.«

Isolde legte auf. Sie fühlte sich wenig glücklich. Sicher meinte Lieselott es gut. Doch leider war sie die letzte Person, die verstehen würde, dass sie, Isolde, sich vor ihrem Haus und vor dem leeren Kinderbett jetzt noch mehr fürchtete als zuvor.

»Was ist, Frau von Rettwitz?« Denise von Schoenecker war ins Büro gekommen, wo Isolde noch neben dem Telefon stand. Ihr Gesicht drückte Verwirrung aus. Denises Frage war verständlich.

»Ich bekomme Besuch. Eine Freundin hat sich angesagt. Aber es wäre mir lieber, wenn sie nicht käme«, stammelte Isolde hilflos.

»Kommen Sie, bei einer Tasse Tee kann man besser plaudern«, schlug Denise heiter vor. Sie schob den Arm unter den von Isolde und führte die Jüngere ins Biedermeierzimmer. Im Vorbeigehen bat sie eines der jungen Mädchen, die im Haus für Ordnung sorgten, ihnen Tee und etwas Gebäck oder Toast und Butter zu bringen.

»Sie verwöhnen mich«, wehrte sich Isolde. »Ich bin ein völlig nutzloses Mitglied dieser Gemeinschaft.«

»Das finde ich durchaus nicht«, widersprach Denise herzlich. »Sie üben einen ausgesprochen guten Einfluss auf meinen Nick aus. Er neigte in letzter Zeit gelegentlich zu kleineren und größeren Flegeleien – das ist nun mal das Alter, in dem er sich befindet – aber seit Sie sich mit ihm beschäftigen, entwickelt er sich zu einem Gentleman.«

»Nick ist ein ungewöhnlicher Junge, Frau von Schoenecker«, erklärte Isolde warm. »Ich unterhalte mich sehr gern mit ihm. Dass er ein Raubein wäre, habe ich noch nie bemerkt. Sie haben ihn und Henrik sowie alle Kinder hier in Sophienlust erstaunlich gut erzogen.«

»Danke für das Kompliment. Unsere Kinder wissen, dass Geborgenheit und eine Heimat nicht Selbstverständlichkeiten sind. Fast jedes Kind hat irgendein schweres Schicksal hinter sich. So nehmen sie dankbar hin, was manche Kinder draußen kaum zu schätzen wissen. Wir achten darauf, dass sie das nicht vergessen. Wir bringen ihnen bei, an andere Menschen zu denken.«

Isolde hob die Hand. »An andere Menschen denken – sehen Sie, daran habe ich es fehlen lassen, Frau von Schoenecker«, rang es sich von ihren Lippen. »Ich habe mich nur mit mir selbst und dem Tod meines Kindes beschäftigt. Doch jetzt sehe ich plötzlich, was es für meinen Mann bedeutet haben muss, neben mir zu leben und niemals von mir beachtet zu werden. Dass es für ihn schwerer war als für mich, ist mir bis heute nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen.«

Es klopfte. Das junge Mädchen brachte den Tee. Erst als es wieder gegangen war und der Tee in den Tassen dampfte, sprachen die Frauen weiter.

»Ich möchte ganz neu beginnen, Frau von Schoenecker«, flüsterte Isolde mit bebender Stimme. »Glauben Sie, dass ich mich hier nützlich machen könnte?«

»Bei uns fehlt es ständig an helfenden Händen«, lächelte Denise. Sie war beglückt, dass ihr nun ein Vorstoß bei Isolde zu gelingen schien. »Ich weiß nicht, was Sie am liebsten täten. Wollen Sie in der Wirtschaft mit Hand anlegen oder lieber unmittelbar bei der Betreuung der Kinder? Wir zieren uns nämlich überhaupt nicht, wenn uns jemand seine Unterstützung anbietet.«

»Frau Rennert stöhnte neulich über die zerrissenen Wäschestücke. Ich bin ziemlich geschickt auf der Nähmaschine. Vielleicht könnte ich damit einen Anfang machen«, schlug Isolde vor, die nicht ahnte, dass Frau Rennert diesen Stoßseufzer mit voller Absicht in Hörweite des Hausgastes von sich gegeben hatte.

»Nun, da werden Sie sich sehr beliebt machen. Die Flickberge nehmen bei uns eigentlich nie ab. Manchmal lassen wir ein paar junge Frauen aus dem Dorf kommen, wenn es gar zu sehr überhandnimmt.«

»Also gut, ich werde gleich morgen früh anfangen«, beschloss Isolde.

»Fein! Und was ist mit Ihrer Freundin?«

»Ach so, Lieselott! Die hätte ich fast wieder vergessen. Ich werde mit ihr reden, wenn sie es will. Sie sagt, es sei wichtig.«

»Sie kann selbstverständlich hier übernachten«, bot Denise in ihrer gewohnten Gastfreundschaft an.

»Ich glaube, es ist ihr lieber, wenn sie im Gasthof bleiben kann«, entgegnete Isolde. »Wir haben es so ausgemacht.«

»Wie Sie wollen, liebe Isolde.« Denise nickte ihr zu. »Ist es Ihnen recht, wenn wir uns beim Vornamen rufen?«

»Wenn ich das darf? Sie … Sie sind sehr gütig zu mir. Ich verdiene das gar nicht.«

»Sie dürfen sich nicht ständig selbst mit Vorwürfen überhäufen, Isolde. Es ist keine Schande, wenn man von einem Schmerz tiefer getroffen wird als andere Menschen. Ich habe immer gewusst, dass Sie eines Tages zu sich selbst und damit auch zu Ihrer Umwelt zurückfinden würden. Sie sind jung. Das Leben hat Ihnen noch viel zu geben, auch wenn Ihnen das heute unmöglich erscheinen mag.«

»Ich habe nichts mehr zu erwarten, Denise«, widersprach Isolde scheu. »Aber ich möchte versuchen, wenigstens irgendetwas für andere zu tun, und sei es noch so wenig.«

*

Am Donnerstag und Freitag nähte Isolde emsig und brachte eine erstaunliche Menge an Flickarbeiten fertig. Frau Rennert bedankte sich begeistert und stellte fest, dass Isolde sorgfältiger und schneller arbeitete als manche andere Hilfskraft, die sich an dieser undankbaren Aufgabe schon versucht hatte.

Am Samstagmittag fuhr im gleißenden Sonnenschein Lieselotts roter Mini-Minor vor. Isolde, die Ausschau gehalten hatte, ging ihrer Freundin sofort entgegen und begrüßte sie freundlich.

»Lieb von dir, dass du diese weite Fahrt auf dich genommen hast, Lieselott. Ich habe dich im Dorfkrug einquartiert. Es ist zwar ländlich einfach, aber blitzsauber und sehr gemütlich. Wollen wir gleich hinfahren?«

Lieselott war von dem warmherzigen Empfang ein wenig überrascht. Seit Renatas Tod war ihr Isolde stets starr und mit deutlicher Zurückhaltung begegnet. Darauf hatte sie sich eingestellt gehabt.

»Ich habe unterwegs gegessen, Isolde, vielen Dank. Und auf den Gasthof bin ich jetzt noch nicht neugierig.«

»Dann komm ins Haus. Ich habe ein sehr gemütliches Zimmer. Eine Erfrischung kann ich dir auch anbieten.«

In der großen Diele trafen sie Frau Rennert. Isolde übernahm die Vorstellung.

»Setzen Sie sich bitte mit Fräulein Engel ins Biedermeierzimmer«, bot die Heimleiterin liebenswürdig an. »Ich lasse Ihnen etwas zu trinken bringen.«

Wenig später saßen die beiden Frauen in Denises Biedermeierzimmer.

»Toll ist es hier. Wie in einem Schloss«, stellte Lieselott ungeniert fest. Dann erzählte sie ein bisschen umständlich von ihrer Fahrt. Achim sei leider dienstlich in Hamburg. Das wisse sie ja wohl. Sonst wäre er vielleicht auch gekommen.

Isolde schüttelte den Kopf. »Ich wusste nicht, dass er in Hamburg ist, Lieselott. Wir telefonieren nur sehr selten miteinander. Und mit dem Schreiben haben wir es eigentlich nie gehabt. Was sollte ich auch von hier berichten?«

Lieselott holte tief Atem. Eben wollte sie einen Anlauf nehmen, um auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen zu kommen, als eine Wirtschaftspraktikantin im hellblauen Leinenkleid nach leisem Klopfen eintrat und Eiskaffee servierte.

»Wunderbar«, freute sich Lieselott. »Das hätte ich kaum zu erwarten gewagt.«

»Wir machen an heißen Tagen gern Eis, weil die Kinder es lieben. Es ist ja heutzutage keine besondere Mühe«, antwortete das Mädchen.

»Ihre Schützlinge sind zu beneiden. Vielen Dank.«

Lieselott nippte an dem hohen Glas, in dem sich Kaffee und Vanilleeis mit Sahne befand.

»Ich habe Achim übrigens nicht gesagt, dass ich dich besuchen und mit dir sprechen will, Isolde.«

»Und was hast du auf dem Herzen?« Ohne besondere Spannung oder Unruhe blickte die dunkelhaarige Frau die blonde an, die sich angelegentlich damit beschäftigte, ihren Eiskaffee umzurühren.

»Es ist nicht ganz leicht, aber ich bin der Meinung, dass man mit Offenheit am besten zum Ziel kommt, Isolde. Immerhin kennen wir uns schon seit der Schulzeit.«

»Ja, gewiss.« Isolde tappte völlig im Dunkeln.

»Darf ich dich etwas fragen?«

»Bitte!«

»Wie stehst du heute zu Achim?«

»Ist das wichtig?« Isolde zog sich – wachsam geworden – in sich selbst zurück. Ihr Gesicht wirkte nun starr und maskenhaft.

»Ja, für Achim und mich schon«, erwiderte Lieselott mit Bedacht.

»Für Achim und dich? Soll das bedeuten, dass ihr …« Isolde sprach nicht weiter. Ihr Gesicht zeigte auch jetzt keinerlei Bewegung.

»Ich habe mich um ihn kümmern müssen«, erklärte Lieselott mit verhaltener Leidenschaft. »Irgendjemand musste es doch tun. Er ist ständig allein gewesen. Du hättest nicht fortgehen sollen.«

»Ja, das habe ich auch schon gedacht, Lieselott.« Die müde, tonlose Entgegnung klang verwirrend.

»Achim und ich verstehen uns sehr gut, Isolde. Man kann nichts dafür, wenn aus Freundschaft plötzlich mehr wird. Es kam, ohne dass wir uns dagegen wehren konnten.« Auch dies hörte sich fast wie eine Anklage gegen Isolde an.

Isolde schwieg und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Sie fand das Getränk entsetzlich kalt. Mit einem leichten Erschauern stellte sie das Glas auf den Tisch zurück. Ihr Blick traf das Gemälde der alten Sophie von Wellentin. Nick hatte ihr von seiner Urgroßmutter erzählt, die eine warmherzige Frau mit einer starken Seele gewesen war. Sie hatte sich über Familienvorurteile hinweggesetzt und das getan, was ihr gerecht und richtig erschienen war.

Gerecht und richtig … Musste sie auf Achim verzichten, wenn er mit Lieselott ein neues Glück finden konnte?

»Achim denkt natürlich nicht daran, sich von dir zu trennen«, fuhr Lieselott leise fort. »Er meint, dass du krank bist und man dich schonen müsse. Vielleicht später einmal …«

»Er wünscht die Scheidung?«, fragte Isolde geradezu.

Lieselott fühlte sich ein wenig in die Enge getrieben. Es widerstrebte ihr, eine Sache, die so hässlich klang, ungeniert beim Namen zu nennen. Außerdem war zwischen ihr und Achim so klar noch nicht darüber gesprochen worden.

»Du und er, ihr habt euch sehr weit voneinander entfernt, Isolde. Wie soll das weitergehen? Achim reibt sich auf. Er ist ein Mann, der mit beiden Füßen im Leben steht und eine Frau braucht. Als er dich hier besuchte, kam er sehr enttäuscht zurück, wenn ich dir das verraten darf.«

Isolde nickte. »Ich weiß.«

»Warum hast du dich nie um ihn bemüht?«, warf Lieselott ihr vor. »Ist er dir denn wirklich gleichgültig geworden?«

»Muss ich dir darauf antworten?«

Lieselott senkte den Blick. »Wenn

er frei wäre, würden wir heiraten, Isolde.« Ihre Worte waren kaum zu verstehen.

Isolde schaute noch einmal auf das Bild von Nicks Urgroßmutter. Sie fühlte sich hier in Sophienlust geborgen. Niemand würde sie fortschicken …

»Wenn Achim es will, werde ich ihm keine Schwierigkeiten in den Weg legen«, hörte sie sich sagen und wunderte sich, dass ihre Stimme nicht einmal schwankte.

Lieselott konnte ihre freudige Überraschung nicht ganz verbergen. Ihre Wangen färbten sich dunkelrot. »Das ist …, das ist sehr großzügig von dir«, brachte sie etwas heiser hervor. »Für uns wird dadurch die ganze Sache sehr viel unkomplizierter. Möglicherweise ist es für dich der richtige Ausweg aus deinen Schwierigkeiten. Du bist dann zu nichts mehr verpflichtet.«

»Nein, ich bin dann zu nichts mehr verpflichtet.«

Plötzlich wusste Lieselott nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie trank von ihrem Eiskaffee und rutschte unruhig auf ihrem Sessel hin und her.

»Deshalb bist du also hergefahren«, stellte Isolde gleichmütig fest.

»Ja, man kann so etwas nicht schreiben und auch nicht am Telefon sagen. Irgendwie hab’ ich gespürt, dass du einverstanden sein würdest. Wir werden noch etwas Zeit verstreichen lassen. Achim wird sicher am besten wissen, wie man die Scheidung ohne viel Aufsehen regelt. Wie ist es eigentlich mit den Möbeln?«

Lieselott merkte nicht, dass ihre Frage reichlich taktlos war. Doch seltsamerweise schien Isolde nicht gekränkt.

»Die Möbel gehören uns gemeinsam, Lieselott. Aber ich würde wahrscheinlich darauf verzichten, weil ich sie nicht brauche. Es ist eben aus.«

»Du musst das mit Achim besprechen«, besann sich Lieselott. »Es fiel mir nur so ein, weil alles passend für das Haus angefertigt worden ist.«

»Ja.« Isolde hätte jetzt hinzufügen können, dass das Haus ihr persönlicher Besitz sei. Aber sie presste die Lippen zusammen und sagte nichts mehr.

Wieder trat eine Pause ein, länger noch als die erste. Lieselott hatte erreicht, was sie wollte. Nun war es schwer, zu einem neutralen Gesprächsstoff zurückzufinden.

»Ich sehe Achim am Montagabend«, erklärte sie schließlich mit einem Seufzer. »Dann kommt er aus Hamburg zurück. Ich hole ihn am Flughafen ab. Er wird dir danach wohl schreiben.«

»Ja.« Isolde tat nichts, um es Lieselott zu erleichtern.

»Ich bin sicher, dass er dir genauso dankbar sein wird wie ich. Heutzutage sieht man die Dinge so, wie sie sind, und macht um eine Scheidung kein Theater wie früher. Das ist vernünftig. Ich glaube, so hundertprozentig hat es zwischen Achim und dir nie gestimmt.«

Nun stand Isolde auf. »Ich denke, du brauchst nicht weiter darüber zu sprechen«, schnitt sie der blonden Besucherin etwas abrupt das Wort ab. »Ich habe ja gesagt – sofern Achim mir den gleichen Wunsch vorträgt. Mehr wolltest du doch nicht.«

»Ich möchte nicht so gehen, Isolde. Wir waren immer die besten Freundinnen. Kann das nicht so bleiben?«

»Wir werden wohl nicht mehr oft Gelegenheit haben, uns zu sehen, Lieselott.«

Die blonde Frau biss sich auf die Unterlippe. Das war nun doch, ob sie es wahrhaben wollte oder nicht, eine Abfuhr gewesen.

»Wenn du dich beeilst, könntest du heute noch zurückfahren«, fuhr Isolde kühl fort. »Du hast sicher nicht geglaubt, dass es so schnell gehen würde. Das Zimmer im Gasthof kann ich absagen.«

Nun stand auch Lieselott auf. »Du hast recht, es ist das Beste, wenn ich gleich losfahre.«

Isolde öffnete die Tür des Biedermeierzimmers. »Bitte, Lieselott. Ich bringe dich noch bis zu deinem Auto.«

»Nicht nötig, Isolde. Aber es sieht natürlich besser aus.«

Sie gingen nebeneinander her, ohne sich anzusehen.

»Gute Fahrt, Lieselott.«

»Danke … und überhaupt … ich möchte mich bedanken. Du hast es mir leichtgemacht. Das ist anständig von dir.«

Isolde hob die Schultern. Es war eine matte, resignierende Geste.

*

»Warum fährt Ihre Freundin denn schon ab?«

Der rote Mini war gerade vom Gutshof gefahren, als Nick vom Park her auftauchte. Er trug Reitzeug und war im Begriff, mit Pünktchen und ein paar anderen Kindern ein kleines Turnier zu veranstalten.

»Sie hatte nicht viel Zeit.«

»Schade, wir hätten ihr gern Sophienlust richtig gezeigt.«

Nick forderte Isolde auf, beim Reiten zuzusehen. Doch sie lehnte die gut gemeinte Einladung ab. Sie habe in der Nähstube noch eine Kleinigkeit zu erledigen, erklärte sie. Nachher werde sie spazieren gehen und vielleicht später noch zum Turnier kommen.

Isolde floh ins Haus. In der Nähstube nahm sie einen Bettbezug und versah ihn mit einer neuen Knopfleiste. Das war eine kniffelige Beschäftigung. Sie hoffte, dadurch von ihrer Erregung etwas abgelenkt zu werden. Leider war das nicht der Fall, sodass die Knopflöcher nicht ganz akkurat gerieten.

Gegen Abend kam Denise kurz von Schoeneich herüber. Sie hatte Alexander und Henrik bei sich und wollte Isoldes Gast willkommen heißen. Ihre Verwunderung war groß, als sie erfuhr, dass Lieselott Engel schon wieder abgereist sei.

»So brauchte sie nicht auch noch den Sonntag opfern«, erklärte Isolde leise. »Was zu besprechen war, ließ sich rasch regeln.«

Denise warf ihr einen forschenden Blick zu, doch sie stellte keine Frage. Dagegen lud sie Isolde für den Abend zu einem Umtrunk ein.

Isolde nahm an, obwohl sie sich lieber in ihrem Zimmer verkrochen hätte. Sie fühlte, dass Denise ihr helfen wollte.

»Wir schicken Ihnen den Wagen, Isolde.«

»Ich kann zu Fuß kommen, Denise. Es tut mir gut, wenn ich mal ein ordentliches Stück gehe. So weit ist es ja nicht.«

»Falls Sie es sich anders überlegen sollten, rufen Sie uns an, Frau von Rettwitz«, schaltete sich Alexander ein. »Meine Tochter und mein Schwiegersohn sind heute Abend auch da. Nächste Woche müssen Sie endlich einmal nach Bachenau fahren und das Tierheim besichtigen. Es ist wirklich eine Besonderheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte.«

»Ja, ich werde mit Nick hinfahren, Herr von Schoenecker«, erwiderte Isolde höflich, obwohl sie sich nicht allzu sehr für das Tierheim Waldi & Co. interessierte, von dem in Sophienlust so viel die Rede war. Zwar mochte sie Tiere gut leiden, aber sie brachte nicht die innere Schwungkraft auf, sich von ihren eigenen Problemen abzuwenden, die jetzt noch größer geworden waren.

Gegen Abend schaute Isolde den Kindern beim Reiten zu. Das eigentliche Turnier war zwar schon beendet, doch ließ Nick die jungen Reiter jetzt über zwei Hindernisse springen und machte ihnen geduldig auf seinem Braunen immer wieder vor, wie man sich halten, wie man dem Pferd Hilfen geben musste und auch, wie man es keinesfalls machen durfte.

Nach dem Abendessen wanderte sie zu Fuß hinüber nach Schoeneich, wo man sie herzlich empfing. Doch auch hier fühlte sie sich überflüssig und fremd.

Die jungen von Lehns brachten sie später in ihrem Wagen nach Sophienlust zurück, als sie selbst heimfuhren. Andrea forderte Isolde auf, sie zu besuchen.

Isolde bedankte sich und blickte dem Auto mit dem glücklichen Paar nach, bis es nicht mehr zu sehen war. Hans-Joachim hatte Andrea umarmt und geküsst, als er geglaubt hatte, dass Isolde es nicht mehr beobachten könne. Erst dann war er wieder angefahren.

Der einsamen Frau, die im Dunkeln stand, tat das Herz weh. Die liebende Umarmung eines Mannes würde es für sie nun nicht mehr geben. Als Achim das letzte Mal in Sophienlust gewesen war, hatte sie ihn abgewiesen. Und nun wollte er Lieselott zu seiner Frau machen …

Erst als Isolde in der nächtlichen Kühle zu frieren begann, zog sie den Hausschlüssel, den Frau Rennert ihr anvertraut hatte, hervor und betrat auf leisen Sohlen das Herrenhaus.

»Gehöre ich wirklich hierher?«, fragte sie sich verzagt, als sie durch die matt erleuchtete Diele huschte und ihr Zimmer aufsuchte.

In der Nacht ließ sie Lieselotts Besuch noch einmal an sich vorüberziehen. Ja, sie konnte Achim verstehen. Lieselott war fröhlich und resolut. Sie liebte das Leben und hielt sich nicht mit Kummer und Sorgen auf. Es war ihre – Isoldes – eigene Schuld, dass ihr Mann sich Lieselott zugewandt hatte, denn sie hatte ihn allein gelassen. Nicht erst mit der Reise nach Sophienlust, sondern schon vorher. Seit Renatas Tod!

Ich habe ihn längst verloren, dachte Isolde. Ich wusste es nur noch nicht.

*

Die Maschine aus Hamburg hatte Verspätung. Ungeduldig saß Lieselott im Flughafenrestaurant und bestellte nun schon die dritte Tasse Kaffee. Sie war mit Achims Wagen gekommen. So hatten sie es ausgemacht.

Endlich, als Lieselott schon am Rande der Verzweiflung war, wurde die Ankunft der Maschine durch den Lautsprecher angekündigt.

Etwa zehn Minuten später kam Achim durch die Sperre. Er trug nur eine kleine Tasche und seinen Regenmantel über dem Arm.

Lieselott eilte ihm entgegen. »Endlich, Achim.«

Er warf ihr einen warnenden Blick zu. Nun erst bemerkte sie, dass er von einem Herrn begleitet wurde.

»Ihre Gattin, Herr von Rettwitz?«, fragte der Fremde und lächelte Lieselott liebenswürdig an.

»Nein, eine gute Freundin unserer Familie. Fräulein Engel, lieber Professor.«

Lieselott reichte dem Herrn die Hand. Erst im Wagen waren sie endlich ungestört.

»Du musst vorsichtiger sein und darfst mir nicht in aller Öffentlichkeit auf dem Flughafen um den Hals fallen«, sagte Achim etwas atemlos.

»Ich habe nicht nachgedacht. Es ist ja auch nicht so entsetzlich. Immerhin hättest du mich dem Professor nicht vorzustellen brauchen wie eine kleine Angestellte. Man nennt den Namen des Herrn zuerst!«

Lieselott war etwas beleidigt. Achim lächelte. »Na, ich glaube, du wirst es verschmerzen, Lieselott. Er war mein Professor an der Universität. Noch heute ist er für mich eine Respektsperson. Deshalb ist mir dieser kleine Fauxpas passiert.«

Achim setzte den Motor in Gang und lenkte den Wagen vom Parkplatz.

»Was hast du am Wochenende getan?«, erkundigte er sich. »Ich habe versucht, dich anzurufen. Aber es meldete sich niemand.«

»Wann?«, fragte sie lächelnd.

»Am Samstag. Dass ich gestern nicht abkömmlich war, wusstest du doch.«

»Samstag war ich nicht da. Das stimmt. Ich erzähle es dir zu Hause.«

Achim stellte keine weitere Frage.

»Ich habe etwas zu essen vorbereitet, Achim. Hoffentlich hast du auch ein bisschen Hunger«, sagte Lieselott vergnügt.

»Offen gestanden habe ich damit fest gerechnet. Du hast mich so sträflich verwöhnt, dass mir das schon ganz selbstverständlich erscheint.«

»Ich tu’s gern, Achim. Allein schmeckt es mir schon gar nicht mehr.«

»Du bist eine erstaunliche Frau, Lieselott. Wie schaffst du das nur neben deinem Beruf?«

»Hinter der Schreibmaschine sitze ich eben nur meine Stunden ab, Achim. Das richtige Leben findet nach vier Uhr dreißig nachmittags und an den Wochenenden statt.«

»Dann bist du diesmal betrogen worden, fürchte ich. Es ließ sich leider nicht ändern, dass ich bis heute abend in Hamburg blieb. Kannst mir glauben, dass ich lieber bei dir gewesen wäre, Kleines.«

»Ich habe die Zeit nützlich angewendet, Achim.«

»Umso besser. Nächsten Samstag könnten wir mal ’rausfahren – irgendwohin, wo uns keiner kennt.«

Achim von Rettwitz war den Reizen der blonden Lieselott bereits verfallen.

Sie fuhren vor dem Bungalow vor, wo der rote Mini-Minor wie üblich parkte. Lieselott, die den Hausschlüssel nun ständig in Besitz hatte, schloss auf und genoss das Gefühl, Hausfrau zu sein. In der Diele hatte sie Blumen aufgestellt, auch im Wohnzimmer war alles festlich geschmückt und der Tisch schon gedeckt.

»Darf ich dich jetzt endlich umarmen, hoher Herr?«, fragte sie schelmisch und breitete die Arme aus.

»Schäfchen!« Achim küsste sie ausgiebig und fuhr mit den Fingern durch ihr blondes Haar.

»Ich liebe dich, Achim«, flüsterte das Mädchen mit heißen Lippen. »Du hast mir schrecklich gefehlt.«

»Du mir auch, kleine Maus.«

Es dauerte eine ganze Weile, ehe ihr einfiel, dass sie essen wollten. Sie hatte Reis und ein serbisches Fleischgericht vorbereitet, das in der Backröhre warm geblieben war. Nur der bunte Salat war noch anzurichten und die Suppe aufzuwärmen.

»Manchmal kommt es mir vor, als könntest du zaubern, Lieselott. Heute ist Montag. Du bist im Büro gewesen, hast anschließend hier Hausmütterchen gespielt und bist dann zum Flughafen gefahren, um mich abzuholen. Trotzdem siehst du phantastisch aus und bist nicht ein bisschen müde.«

Lieselott hob die Schultern und strahlte ihn an. »Müde, wenn ich mit dir zusammen bin, Achim? Da – trink mal einen Schluck auf unser Wohl.«

Achim tat es. Inzwischen trug Lieselott bereits die Suppentassen auf.

»Ich bitte zu Tisch, Herr Dr. von Rettwitz.«

Er rückte ihr den Stuhl zurecht und küsste sie aufs Ohr. »Du bist ein Wunder, Lieselott.«

»Dabei weißt du noch nicht alles«, verkündete sie geheimnisvoll. »Willst du die Überraschung als Vorspeise, Zwischengang oder Dessert haben?«

»Ist es etwas zu essen?«

»Nein. Du kannst getrost mit der Suppe anfangen. Es ist etwas, was ich dir zu erzählen habe.«

»Dann spanne mich nicht länger auf die Folter. Ich werde langsam neugierig.«

»Passt gar nicht zu dir, Herr Staatsanwalt. Also, rat mal, wo ich am Samstag war, als du mich telefonisch nicht erreichen konntest!«

»Keine Ahnung. Einkaufen, Friseur, Besuch bei einer Freundin – Frauen haben immer sehr viele Möglichkeiten, ihre freie Zeit zu verbringen. Die männliche Phantasie reicht da kaum aus.«

»Danke. Besuch bei einer Freundin war schon ein bisschen warm.«

»Kenne ich die Dame?«

»Hm – sollte man meinen.« Sie lachte dieses seltsame, leise Lachen, das typisch für sie war.

Er überlegte. »Ich fürchte, ich muss passen. Sag’s mir!« Er küsste ihr verliebt die Hand.

»Also gut, wenn du darauf bestehst. Ich habe Isolde in Sophienlust besucht.«

Betroffen starrte er sie an. »Machst du Spaß?«, fragte er ungläubig.

Sie schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich? Ich habe mich schon am Mittwoch telefonisch bei ihr angemeldet, als ich nämlich von dir erfuhr, dass du nicht da sein würdest.«

»Aber warum bist du denn zu ihr gefahren?«, erkundigte er sich zögernd.

»Ich habe mit ihr gesprochen – unseretwegen, Achim.«

Er hob die Hand. »Das hättest du nicht tun sollen, Lieselott«, rief er leise und erschrocken aus.

Sie lächelte überlegen. »Keine Sorge, Achim. Isolde hat meine Mitteilung ganz ruhig aufgenommen. Sie lässt dir sagen, dass sie mit einer Scheidung einverstanden ist. Eure Ehe existiert ja nur noch auf dem Papier. Isolde fühlt sich in Sophienlust wohl und wird wohl für immer dort bleiben. Sogar eine Tätigkeit scheint sie gefunden zu haben.«

»Isolde ist also für eine Scheidung?«, wiederholte er zögernd.

»Ja, die Unterhaltung hat nicht viel länger als eine Viertelstunde gedauert. Weißt du, ich bin noch nie in meinem Leben für Heimlichtuerei gewesen. Immerhin ist Isolde meine beste Freundin. Deshalb fand ich es richtig, dass ich ihr die Wahrheit sagte.«

»Du hast viel Mut, Lieselott. Isolde ist gemütsmäßig nicht ganz intakt seit dem Tod des Kindes. Es hätte ihr einen Schock geben können.«

»Aber es hat ihr gar nichts ausgemacht, Achim«, versicherte Lieselott eifrig. »Es kam mir sogar vor, als wäre sie erleichtert gewesen.«

»Habt ihr … Einzelheiten erörtert?«, erkundigte er sich, während Lieselott ihm fürsorglich Fleisch und Reis vorlegte.

»Nein, das ist schließlich nicht meine Sache. Ich glaube, dass ihr euch rasch einigen werdet. Sie sagte ausdrücklich, sie möchte dir keine Schwierigkeiten machen.«

»Ja, so ist Isolde. Das kann ich mir vorstellen. Trotzdem …«

»Was ist, Achim? Auf die Dauer konnte es so nicht weitergehen. Das ist doch auch deine Meinung?«

»Natürlich, Lieselott.«

»Ich habe gesagt, dass du alles in die Hand nehmen wirst. Gewiss weißt du am besten, wie man die Scheidung rasch und ohne Aufsehen über die Bühne kriegt.«

Er schwieg und stocherte auf seinem Teller herum, als sei ihm der Hunger vergangen.

»Ich dachte, dass du dich freuen würdest. Wir sind doch jetzt um einen entscheidenden Schritt weitergekommen«, schmollte sie.

»Ja, gewiss, ich freue mich, Lieselott.« Aber es klang nicht sehr überzeugend.

Lieselott brauchte eine ganze Weile, bis sie ihn wieder aufzuheitern vermochte. Eigentlich gelang es ihr erst, als sie Sekt herbeiholte und den Pfropfen übermütig gegen die Zimmerdecke fliegen ließ, wo ein kleiner Abdruck entstand.

»Liebst du mich überhaupt noch, Achim?«, fragte sie und setzte sich auf seine Knie, die Arme um seinen Hals schlingend.

»Das weißt du ganz genau, Lieselott.« Nun lächelte er schon wieder. Isolde war weit weg, aber Lieselott war nahe – voller Liebe und Leidenschaft und Zärtlichkeit.

*

Das Ereignis, das zur Wandlung in Isoldes Verhalten führte, war nicht besonders dramatisch. Es trat an einem trüben Vormittag ein, als die größeren Kinder in der Schule waren und die kleinen in Sophienlust spielten.

Isolde saß an der Nähmaschine, wobei sie ein Stück des Parks mit dem kleinen Ententeich überblicken konnte. Die Kinder waren selten auf dieser Seite zu sehen. Deshalb wurde Isolde auch sofort aufmerksam, als Micki mit einem besonders großen blauen Luftballon mutterseelenallein angesprungen kam. Das Kind spielte mit dem leichten Ballon und stupste ihn mit sanften Schlägen vor sich her. Allerdings hielt es dabei die Schnur fest in der einen Hand. Micki hatte im Laufe der Zeit schon ihre Erfahrungen mit davonfliegenden Luftballons gemacht und kannte sich aus.

Die einsame Frau lächelte, ohne es zu wissen. Sie dachte an ihren Freund Nick, der immer wieder kleine Opfer von seinem Taschengeld brachte, um Micki eine Freude zu machen. Sie nahm sich vor, die Ballonkasse des gutherzigen Jungen einmal gründlich aufzufüllen.

Indessen lief Micki über die etwas abschüssige Wiese zum Ententeich. Dann geschah es. Das Kind stolperte, glitt aus und fiel kopfüber in den Teich.

Isolde besann sich keine Sekunde. Zwar wusste sie, dass der kleine Teich nicht so tief und gefährlich war wie der See, doch konnte Micki auch ein flaches Wasser zum Verhängnis werden.

Der Weg durch die Diele, hinaus und ums Gebäude herum dehnte sich scheinbar endlos. Isolde jagte wie gehetzt. Endlich erreichte sie die abschüssige Wiese. Das nasse Gras war etwas glitschig. Kein Wunder, dass Micki ausgerutscht war.

Da – der Ballon! Isolde streifte die Schuhe ab und watete ohne Besinnen ins Wasser, das mit grünem Entenflott bedeckt war. Der Grund des kleinen Teiches war weich und morastig. Isolde sank ein und fand keinen Halt. So war es auch Micki ergangen. Zweimal musste sich Isolde tief hinunterbücken, ehe sie das Kind aufheben konnte.

Der Weg zurück auf die Wiese war beschwerlich, obwohl es doch nur wenige Schritte waren. Noch immer umklammerte die kleine nasse Hand die Schnur des Ballons.

Micki hatte etwas Wasser geschluckt, aber sie kam allmählich wieder zur Besinnung und begann jämmerlich zu weinen.

»Arme kleine Micki … keine Angst«, flüsterte Isolde zärtlich. »Du hast nicht achtgegeben. Aber ich habe dich gleich wieder aus dem Wasser geholt. Es ist gar nichts passiert.«

»Ich bin ganz nass«, schluchzte Micki.

»Wir gehen in dein Zimmer und holen neue Sachen. Vorher schrubben wir dich in der Wanne ab. Schau, du hast überall grünen Tang an dir.«

»Ich …, ich bin so …, so erschrocken, Tante.«

»Ich auch, Micki. Was meinst du, wie ich gelaufen bin, damit ich dich schnell wieder herausholen konnte.«

Micki, pitschnass wie Isolde, schmiegte sich fester an ihren Arm. »Bloß gut, dass du gleich da warst, Tante.«

Der dankbare, vertrauensvolle Blick aus den großen Kinderaugen rührte Isolde von Rettwitz seltsam ans Herz. Unwillkürlich neigte sie den Kopf und drückte die Lippen auf Mickis runde Stirn.

»Ja, Micki, ich bin auch froh darüber.« Plötzlich erfasste sie nachträglich der Schrecken. Wenn die Kleine nun zu Schaden gekommen wäre!

Im Haus trafen sie Schwester Regine, die Micki schon vermisst hatte und über den triefenden Aufzug von Isolde mit dem kleinen Mädchen recht erschrak. Doch Isolde beruhigte sie mit ein paar Worten. Es sei nichts Schlimmes geschehen. Micki sei gestolpert und dadurch ins Wasser gefallen.

Schwester Regine wollte Micki auf den Arm nehmen, um sie ins Bad zu tragen. Da klammerte sich Micki fest an Isolde.

»Nein, die Tante soll mich waschen und anziehen. Nicht wahr, Tante, du hast es mir versprochen.«

»Schau doch«, legte sich Schwester Regine ins Mittel. »Die Tante ist doch selbst nass und muss sich erst umziehen.«

Isolde nickte Schwester Regine zu. »Lassen Sie nur! Micki hat einen Schrecken bekommen. Jetzt wollen wir zwei ganz gern noch ein bisschen beisammenbleiben. Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, dann holen Sie mir bitte aus meinem Zimmer den blauen Bademantel.«

»Natürlich gern, Frau von Rettwitz.« Schwester Regine lief weg.

»Wo ist das Bad?«, erkundigte sich Isolde indessen bei Micki.

Die kleine Person, den Luftballon immer noch fest an der Schnur haltend, zeigte ihr die richtige Tür. Isolde drehte den Hahn auf und begann Micki auszuziehen. Auf dem sauberen Fliesenboden bildete sich ein hässlicher, schmutzignasser Fleck, wo die beiden standen.

»Du musst auch baden«, lachte Micki plötzlich. »Du bist so dreckig wie ich.«

Isolde stimmte in das Kinderlachen ein. Besonders das Wort dreckig fand sie komisch.

»Erst du und dann ich, Micki. Bei mir kommt es auf ein paar Minuten nicht an.«

Endlich war auch das letzte klebrig­nasse Kleidungsstück von Mickis Körperchen abgezogen. Isolde hob das Kind in die Wanne, nachdem sie sorgsam geprüft hatte, ob das Wasser auch nicht zu heiß war.

»Das ist besser als der olle Ententeich, nicht wahr?«

»Ja, Tante.« Micki strahlte und hatte ihren Schock bereits vollkommen überwunden.

Nun erschien Schwester Regine mit dem Bademantel. Eilig schlüpfte Isolde aus ihrem durchweichten Zeug und streifte den Bademantel über. Glücklicherweise war es nicht kalt. So würde sich weder Micki noch sie selbst einen Schnupfen von dem kleinen Unfall holen.

»So, jetzt wasche ich dich, Micki.«

»Kannst du das denn?«

»Aber natürlich. Das wirst du gleich sehen. Die Haare müssen wir auch säubern, Schwester Regine.«

»Ich tue es gern, Frau von Rettwitz.« Schwester Regine wollte sie ablösen, aber Micki setzte ihren Dickkopf wieder durch.

»Nein, die Tante soll alles machen.«

Isolde wusch also das kleine Persönchen von oben bis unten ab, seifte die Haare ein und duschte am Ende den Schaum wieder herunter. Dann wurde Micki in ein riesiges weißes Badelaken eingewickelt und trockengerubbelt. Am Schluss wurden Kamm und Fön benutzt, um das Blondhaar in Ordnung zu bringen.

Schwester Regine brachte frische Wäsche und ein neues Kleidchen, dazu Schuhe und Strümpfe.

»So, jetzt ist unsere Micki fein, aber die Tante Isolde sieht aus wie eine gebadete Maus«, stellte Isolde vergnügt fest.

»Gebadete Maus«, lachte Micki.

Isolde raffte ihre nassen Sachen zusammen und wollte sich in ihr Zimmer zurückziehen.

Micki setzte ein weinerliches Gesicht auf. »Geh nicht weg, Tante Isolde.«

»Also gut, du kannst mitkommen.«

Hand in Hand gingen die beiden in Isoldes Zimmer. Sie boten ein etwas wunderliches Bild. Das Kind war blitzsauber, und sein helles Haar schimmerte wie Seide. Isolde lief auf bloßen Füßen und trug nichts als den Bademantel.

»Wohnst du hier, Tante Isolde?«, erkundigte sich Micki und schaute sich neugierig in dem Gästezimmer um, wo Isolde nun rasch frische Sachen für sich aus dem Schrank nahm.

»Ja, es ist hübsch, nicht wahr?«

»Hm.« Micki öffnete die schmale Tür zum angrenzenden Bad. »Jetzt musst du auch in die Wanne«, erklärte sie triumphierend.

»Natürlich. Du kannst inzwischen hier warten.« Isolde zögerte einen Moment, dann ging sie noch einmal an den Wandschrank und nahm ein in Seidenpapier gehülltes Päckchen heraus. Sie reichte es Micki. »Hier, wenn du damit spielen willst.«

Ein kleiner Teddybär kam zum Vorschein – Renatas Bettspielzeug. Isolde hatte den Teddy eingepackt, aber bisher im Schrank liegen lassen, ohne ihn auch nur ein einziges Mal angeschaut zu haben.

»Das ist lieb. Ich mag ihn, Tante Isolde.« Micki presste den Teddy an sich.

Isolde lächelte dem Kind zu und ging ins Bad, wo sie duschte und anschließend ihr Haar wusch. Beim Fönen durfte Micki sie kämmen, worauf die Kleine wirklich mächtig stolz war.

»Jetzt sind wir beide schön, Micki.«

Isolde hatte ein helles Kleid angezogen. Sie hätte selbst nicht erklären können, warum sie plötzlich eine Abneigung gegen alle dunklen Farben empfand.

»Ja, Tante Isolde. Was machen wir nun?«

»Ich glaube, ich werde mich wieder an die Nähmaschine setzen.«

»Ich komme mit.« Micki drückte den Teddy an sich und hielt ihren unvermeidlichen Luftballon in der Hand.

Isolde ließ sie gewähren. Unter dem allerliebsten und zutraulichen Geplauder des kleinen Mädchens verging der Rest des Vormittags rasch. Als die beiden roten Schulbusse vorfuhren, die die Volksschüler und Gymnasiasten heimbrachten, war der Zwischenfall im Ententeich schon fast vergessen.

Aber für Isolde von Rettwitz war etwas Entscheidendes geschehen: Sie hatte mit Micki Freundschaft geschlossen.

Es gongte zu Tisch. Fröhlicher Lärm erfüllte das Herrenhaus.

»Ist es jetzt mein Teddy?«, fragte Micki bettelnd.

Ohne zu zögern nickte Isolde.

»Ja, ich schenke ihn dir, Micki. Du sollst ihn immer lieb haben.«

Die Kinderaugen leuchteten auf. »Ich mag ihn, den Teddy.«

Bei Tisch setzte sich Micki eigenmächtig neben ihre Tante Isolde. Natürlich ließ man sie gewähren. Die anderen Kinder stellten mit heimlicher Verwunderung fest, dass Frau von Rettwitz plötzlich fröhlich plaudern und lachen konnte.

Nach dem Essen musste Micki wie die anderen Kleinen schlafen. Sie bestand darauf, dass Isolde sie zu Bett brachte.

Henrik und Nick waren an diesem Tag zum Essen in Sophienlust geblieben.

Henrik fragte zutraulich: »Sind Sie jetzt gar nicht mehr traurig?«

»Nein, Henrik, heute bin ich nicht traurig«, konnte Isolde zu ihrer eigenen Verwunderung erwidern. Es war ihr sogar leichtgefallen, Micki den Teddy von Renata zu schenken. Beinahe schämte sie sich deswegen ein bisschen, denn es kam ihr vor, als habe sie damit ihr Töchterchen im Stich gelassen.

*

Von diesem Tag an blieben Micki und Isolde unzertrennlich. Ganz von selbst brachte es diese neue Situation mit sich, dass auch die anderen Kinder ein neues Verhältnis zu Isolde fanden. Wie Micki nannten sie nun auch die übrigen Kinder Tante Isolde. Nur die größeren Bewohner von Sophienlust ließen es weiter bei der formellen Anrede, weil sie sich schon zu erwachsen vorkamen, um Tante zu sagen. Zu ihnen zählte natürlich auch Nick, was jedoch der Freundschaft zwischen ihm und Isolde keinen Abbruch tat.

Denise beobachtete die Entwicklung mit heimlicher Freude, hütete sich allerdings, so direkte Fragen zu stellen, wie es ihr kleiner Sohn Henrik getan hatte.

So verging einige Zeit. Der Brief, den Isolde eigentlich von Achim erwartet hatte, traf vorerst nicht ein. Sie hörte gar nichts von ihrem Mann. Auch Lieselott hüllte sich in Schweigen.

Isolde dachte darüber nicht nach. Sie lebte von einem Tag zum anderen und suchte sich immer neue Pflichten in Sophienlust, sodass sie sich auf diese Weise ebenso beliebt wie unentbehrlich machte.

Auch der Ausflug nach Bachenau wurde endlich unternommen, sodass Isolde das so viel gerühmte Tierheim zu sehen bekam. Andrea zeigte ihr ihre Schützlinge, und Nick wusste jeweils die genaue Geschichte des Tieres zu erzählen.

Anschließend bewirtete Andrea, die mithilfe ihrer getreuen Betti Kuchen gebacken hatte, Frau von Rettwitz sowie Nick, Henrik, Pünktchen und noch vier weitere Kinder aus dem Heim.

»Gefällt es Ihnen in Sophienlust?«, fragte Andrea, nachdem auch die letzte Kakaotasse gefüllt war und sie sich mit ihrem Tee zu Isolde setzen konnte.

»Es ist wirklich ein Haus, in dem man glücklich sein kann, Frau von Lehn«, gab Isolde leise zurück. »Am liebsten möchte ich für immer hierbleiben.«

Andrea nickte. »Das kann ich verstehen. Unsere Mutti hat in Sophienlust etwas ganz Einmaliges geschaffen. Aber ich denke, dass Sie eines Tages zurück zu Ihrem Mann wollen. Das kommt ganz von selbst.«

Isolde wurde ernst. »Ich weiß es noch nicht«, erwiderte sie zurückhaltend.

Andrea warf ihr einen forschenden Blick zu. Eine weitere Frage stellte sie nicht, sondern liebkoste den riesigen Kopf ihrer Dogge Severin, die niemals von ihrer Seite wich.

Am Abend, als der Kleinbus mit den Ausflüglern längst wieder in Sophienlust war und Isolde eben Micki abschrubbte, um sie wie immer zu Bett zu bringen, rief Andrea in Schoeneich an.

Denise kam sofort an den Apparat und hörte geduldig zu, als ihre Tochter ein wenig umständlich über den Besuch dieses Tages berichtete.

»War denn etwas Besonderes, Andrea?«, erkundigte sich Denise schließlich. »Es hört sich an, als wärest du ein bisschen bedrückt. Dabei sagst du, dass die Kinder wie immer begeistert gewesen seien und vom Kuchen kein Krümelchen übrig geblieben sei. Wo steckt denn Hans-Joachim?«

Denise tippte zunächst auf einen kleinen ehelichen Streit des jungen Paares.

»Er ist eben heimgekommen und steht unter der Dusche. Wie du weißt, wird ein Tierarzt manchmal ganz schön schmutzig in Ausübung seines Berufes.« Dazu lachte Andrea so fröhlich, dass Denise sofort wieder beruhigt war.

»Was hast du also?«, forschte die Mutter freundlich.

»Es ist wegen Frau von Rettwitz, Mutter. Sie trägt ja jetzt endlich keine schwarzen Kleider mehr und kann auch mit den Kindern fröhlich sein wie jeder von uns. Aber sie hat etwas gesagt, was mir jetzt nachgeht.«

»Und – das wäre?«

»Es hörte sich an, als wollte sie nicht mehr zurück zu ihrem Mann. Sie meinte, es sei wunderbar in Sophienlust. Sie möchte für immer dort bleiben. Jedenfalls drückte sie sich so ähnlich aus.«

»Er ist nur ein einziges Mal hiergewesen«, überlegte Denise halblaut. »An dem Abend habe ich mich gewundert, weil Isolde gar so schweigsam und er gar so lebhaft war.«

»Man kann schlecht fragen, aber ich meine, sie sollte ihren Mann nicht gar zu lange allein lassen, Mutti. Mit Hans-Joachim täte ich das ganz gewiss nicht«, sprudelte Andrea hervor, die sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass man den geliebtesten Menschen der Welt wegen eines seelischen Kummers verlassen konnte.

»Vielleicht kann ich mal ein Wort fallen lassen. Aber man muss in solchen Dingen behutsam sein, Andrea. Wie schnell ist etwas Falsches gesagt. Mach dir nur keine Sorgen. Isolde ist zu uns gekommen, damit sie wieder fröhlich wird und am tätigen Leben teilnimmt. In dieser Hinsicht erweist sich unser liebes Sophienlust mal wieder als richtig. Alles weitere wird sich schon finden.«

Andrea seufzte. »Hoffentlich, Mutti.« Immerhin war ihr leichter, als sie sich die Sache vom Herzen geredet hatte.

*

Lieselott und Achim waren mit dem Wagen ins Grüne gefahren und lagen Seite an Seite in der Sonne, nachdem sie zuvor ein Picknick veranstaltet hatten. Wie immer war alles von Lieselott liebevoll und bis in die kleinste Einzelheit vorbereitet worden.

Das blonde Mädchen nahm einen Grashalm und kitzelte Achim am Kinn. Er lächelte. »Lass mich, ich bin jetzt müde und faul. Du hast mich zu gut gefüttert.«

Lieselott legte sich zurück und schloss ihrerseits die Augen. Vielleicht hatte er recht. Es war wunderschön hier. Warum sollten sie nicht ein bisschen ausruhen oder sogar schlafen?

Aber Lieselott war nicht müde. Ihre Gedanken wanderten ohne ihr Zutun und gingen den Weg, den sie eigentlich immer gingen. Lieselott dachte an Isolde und vor allem daran, dass Achim endlich etwas wegen der Scheidung unternehmen müsste.

»Schläfst du?«, fragte sie leise.

»Nöö, ich döse bloß ein bisschen. Es ist wunderbar hier.« Achim war in bester Laune.

»Dann könnten wir ein bisschen reden?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

»Wenn du willst.«

»Ja, Achim.« Mit einem Ruck richtete sie sich auf und umschlang die sonnenbraunen Beine mit den nackten Armen.

Er blinzelte ihr zu. »Hübsch siehst du aus, Lieselott. Du passt auf diese Wiese.«

Sie lächelte geschmeichelt. »Danke für das Kompliment.« Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn lange.

»Nennst du das reden?« Er war ein wenig außer Atem gekommen und legte den Arm um sie, damit sie ihm nicht wieder entglitt. Denn ihm gefiel ihre warme Nähe und ihre verhaltene Leidenschaft recht gut.

Eine ganze Weile tauschten sie Zärtlichkeiten aus. Dann aber befreite sich Lieselott entschlossen und saß nun wieder aufrecht neben ihm.

»Bleib doch«, bat er und streckte die Hand aus.

»Nein, Achim, jetzt möchte ich reden.«

»Worüber denn, Teufelchen?«

»Über uns beide und über Isolde. Es geht so nicht weiter. Das musst du einsehen. Hast du ihr geschrieben?«

Sie wusste, dass er bisher rein gar nichts unternommen hatte.

»Ich finde, so etwas lässt sich schlecht schreiben, Lieselott. Du selbst hast das herausgefunden und bist deshalb nach Sophienlust gefahren. Ich muss auch hin und mit Isolde persönlich sprechen.«

»Aber sie hat mir ausdrücklich erklärt, dass sie einverstanden ist, Achim.«

»Trotzdem meine ich, dass ich ihr das schulde, Lieselott. Wenn überhaupt, dann sollte alles auf faire, anständige Weise geregelt werden.«

Sie horchte auf. »Wieso sagst du, wenn überhaupt?«, fragte sie spitz. »Das ist doch längst entschieden.«

»Entschuldige, Lieselott. Ich bin nun mal Jurist. Wir zweifeln grundsätzlich alles an, solange wir uns nicht selbst davon überzeugt haben.«

»Manchmal frage ich mich, ob du mich wirklich liebst.« Sie strich über sein Haar und ließ es geschehen, dass er sie wieder zu sich herabzog.

Seine Lippen liebkosten die ihren. »Natürlich liebe ich dich, Schäfchen. Aber eine Scheidung ist nun mal eine ziemlich ernste und komplizierte Sache, die man nicht in fünf Minuten erledigen kann. Isolde ist vor dem Gesetz meine Frau und hat auch ein Wort mitzureden.«

»Du küsst mich und sprichst von Isolde – nicht sehr geschmackvoll«, beklagte sie sich. »Was wird also mit der Scheidung?«

»Darüber reden wir ein andermal, Lieselott.«

So war es immer. Lieselott fühlte sich manchmal auf verlorenem Posten. Dennoch war sie Achims Liebe sicher. Aber auf die Dauer mochte sie nicht im Schatten leben und nur die Rolle seiner heimlichen Geliebten spielen. Sie wollte seine rechtmäßige Gattin sein, wollte seinen adeligen Namen führen und wollte vor allem die eintönige Arbeit im Büro so bald wie möglich aufgeben. Deshalb musste Achim sich endlich zum entscheidenden Schritt durchringen.

*

In der Nacht hatte ein Gewitter getobt. Die Kinder hatten es nicht gehört, aber Isolde war wach geworden und hatte eine Zeit lang am offenen Fenster gestanden, um die grellen Blitze am dunklen Himmel zu beobachten. Trotzdem fühlte sie sich an diesem klaren Morgen erfrischt. Von Schoeneich war schon um sechs Uhr angerufen worden, ob sie mit dem Ehepaar ausreiten wolle. Nun trabte sie auf dem Schimmel auf das andere Gut zu, wo man einen Treffpunkt am Roggenschlag verabredet hatte.

Isolde sah den See in der Morgensonne glitzern und lächelte. Vielleicht konnten sie am Nachmittag mit allen Kindern zum Baden fahren. Sie lebte jetzt ganz und gar mit den Sophienlustern und ihren Sorgen und Freuden.

Verwundert schaute sie auf, als Denise ihr entgegengetrabt kam – allein, ohne die Begleitung ihres Mannes.

»Guten Morgen, Isolde«, rief Denise ihr schon von Weitem zu. »Bei uns hat sich etwas geändert, weil zwei Kühe krank geworden sind. Mein Mann ist sofort in den Stall gegangen. Man fürchtet natürlich gleich eine ansteckende Seuche, wenn es sich um zwei Fälle handelt. Unser Schwiegersohn will so schnell wie möglich kommen.«

»Wollen Sie trotzdem mit mir ausreiten?«, fragte Isolde höflich.

»Natürlich«, versicherte Denise heiter. »Man soll die Feste feiern, wie sie fallen. Ein solcher Tag muss mit einem Ritt begonnen werden, meine ich.«

Sie wandten sich dem Wald zu, wo die Sonne golden und geheimnisvoll durch die grünen Zweige schimmerte. Auf allerlei Umwegen kamen sie wieder zum See, wo Denise eine kleine Rast vorschlug. Die Pferde wurden an den Bäumen festgebunden, und die beiden Damen setzten sich auf einen großen, flachen Stein in der Nähe der Badestelle.

Isolde hatte plötzlich den innigen Wunsch, sich Denise anzuvertrauen. Also begann sie zu sprechen.

»Denise, ich möchte Ihnen danken«, sagte sie leise.

»Wofür, Isolde? Sie sind uns ein lieber Gast, bezahlen für Ihren Aufenthalt und helfen uns außerdem noch nach Kräften. Beinahe kommt es mir vor, als müsste ich mich bei Ihnen bedanken.«

»Gewiss nicht, Denise. Wenn ich nicht wenigstens ein paar Euro für meine Unterkunft an die Stiftung Sophienlust zahlen dürfte, könnte ich nicht bleiben. Wir sind nicht arm. Es gibt hier Kinder, denen man helfen muss.«

Denise nickte. Sie freute sich, dass Isolde sich inzwischen für das, was sie in Sophienlust anstrebte, aufrichtig interessierte und auch über die sich daraus ergebenden Probleme nachdachte.

»Glauben Sie, dass ich für dauernd bei Ihnen bleiben könnte, Denise?«, fragte Isolde nun etwas unvermittelt in das nachdenkliche Schweigen hinein.

»Warum nicht, Isolde? Wir haben Sie gern bei uns, und wir schicken niemanden fort. Aber ich fürchte, Ihr Mann wird damit nicht einverstanden sein. Er wollte, dass Sie nur so lange bei uns bleiben, bis es Ihnen wieder bessergeht.«

Isolde schaute zu den Pferden hinüber, die ab und zu die Köpfe hochwarfen.

»Mein Mann hat mich um die Scheidung bitten lassen, Denise«, bekannte Isolde leise.

Denise strich sacht über die Schulter der Jüngeren. »Warum hat er nicht selbst darum gebeten?« Sie hatte den schwachen Punkt an dieser Geschichte sofort erkannt.

»Meine Freundin war hier …«

»Ich verstehe. Das war die junge Dame, die so eilig wieder abreiste. Ihr liegt wohl an dieser Scheidung?« Denise fragte ruhig und freundlich. Sie wusste, dass es Ehen gab, die nicht mehr zu retten waren. Allerdings hatte sie die Erfahrung gemacht, dass die meisten Ehen mit dem nötigen guten Willen wieder repariert werden konnten.

»Ja, wir sind zusammen in die Schule gegangen. Ich habe nie geglaubt, dass mein Mann sich für sie interessieren würde. Aber ich muss zugeben, dass ich über meinen Mann wohl zu wenig nachgedacht habe. Am Anfang waren wir zu glücklich, als dass ich mir den Kopf darüber zerbrochen hätte – und dann erschien mir das Unglück zu groß.«

»Ich möchte vorausschicken, dass Sie bei uns bleiben können, solange Sie wollen, Isolde«, erklärte Denise herzlich. »Sie haben hier eine Heimat.«

»Danke, Denise. Darüber bin ich sehr glücklich. Ich habe allmählich wieder zu mir selbst gefunden in Sophienlust. Und jetzt habe ich täglich neue Freude an der kleinen Micki. Wie ist es eigentlich? Haben Sie immer noch nichts über irgendwelche Verwandten des Kindes in Erfahrung bringen können?«

»Nein, alle routinemäßigen Nachforschungen amtlicherseits blieben ohne Erfolg. Micki selbst kann uns nur wenig helfen. Wir wissen, dass sie zwei Tanten gehabt haben muss. Die eine ist vermutlich gestorben, die andere hat sie im Auto mitgenommen, um sie schließlich nicht weit von hier mit dem Luftballon auszusetzen. Es ist möglich, dass wir niemals mehr erfahren werden. Dann bleibt das Kind bei uns. Wir werden ihm einen Namen geben und dafür sorgen, dass es seinen Weg im Leben mit unserer Hilfe findet.«

»Eine wunderbare Aufgabe, die Sophienlust zu erfüllen hat. Ich finde, Micki ist ein besonderes Kind.«

»Ja, das sagt Dominik auch. Aber wollten wir nicht über Ihren Mann sprechen?«, kam Denise behutsam auf das Thema zurück, das Isolde ja doch am meisten am Herzen liegen musste.

»Ich habe meiner Freundin erklärt, dass ich mit allem einverstanden bin und meinem Mann kein Hindernis in den Weg legen will. Das kam mir richtig vor.«

»Hat Ihr Mann sich inzwischen persönlich über das Problem mit Ihnen in Verbindung gesetzt?« Wieder einmal traf Denise den Nagel auf den Kopf.

»Nein, ich habe nichts mehr von ihm gehört.«

»Dann wissen Sie also nur durch Ihre Freundin, dass eine Scheidung angestrebt wird?«

»Nur durch sie. Sie ist eigens hierhergereist, um sich mit mir auszusprechen.«

Denise lächelte unmerklich. »Immerhin wäre es denkbar, dass es sich um die Wunschträume einer jungen Frau handelt, die den Strohwitwer tröstete und an diesem Spiel etwas mehr Gefallen gefunden hat, als guttut. Wie stehen Sie selbst zu Ihrem Mann? Sie brauchen mir diese Frage nicht zu beantworten. Es ist nur wichtig, dass Sie selbst sich darüber klar werden.«

»Ich hatte mich innerlich sehr weit von Achim entfernt«, flüsterte Isolde, deren Blick über das glitzernde Wasser schweifte. »Einmal, als ich mit Nick hier am See war, habe ich überlegt, ob ich hinausschwimmen sollte, um nicht wiederzukommen. Jetzt ist das anders geworden. Micki, Dominik, die anderen Kinder und vor allem Sie, Denise, haben mir bewiesen, dass das Leben lebenswert ist – selbst wenn man sein einziges Kind zu Grabe tragen musste. Heute möchte ich, dass Achim glücklich ist. Ich wüsste gern, ob er meine Freundin Lieselott wirklich liebt und von mir frei sein will.«

»Das können Sie erfahren, indem Sie ihn fragen, Isolde. In Ihrem Fall wäre eine Scheidung wahrscheinlich leicht zu erreichen. Trotzdem sollte man sich eingehend prüfen. Eine große Liebe zerbricht nicht am ersten großen Schmerz. Als Ihr Mann mit mir sprach, gewann ich den Eindruck, dass er aufrichtig um Sie besorgt war und von sich aus alles tun wollte, um Ihnen zu helfen. Ich gestehe, dass ich mir unter der Affäre mit Ihrer Freundin ein Strohfeuer vorstellen könnte – von der jungen Dame sorgsam angeblasen.«

»Achim ist ein Mann, der auf Frauen Eindruck macht«, räumte Isolde ein. »Aber er spielt eigentlich nicht mit den Mädchen.«

Denise lächelte nun ganz deutlich. »Wissen Sie das so genau, Isolde? Die Männer können es manchmal nicht lassen. Ihr Mann war allein. Wenn ihm nun noch eine günstige Gelegenheit geboten wurde … Ich will das alles nicht felsenfest behaupten. Es sind nur Vermutungen. Sie sollten ihn bitten, Sie zu besuchen, damit Sie sich in Ruhe aussprechen können. Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann.«

Isolde seufzte tief auf. »Die Vorstellung, in unser Haus zurückzukehren, erschreckte mich anfangs. Dort würde alles wieder so schrecklich sein wie unmittelbar nach Renatas Tod. Dem wollte ich so gern für immer entfliehen.«

»Heute denken Sie anders darüber?« Aufmerksam sah Denise die jüngere Frau an, die fast wie ihre eigene Schwester wirkte.

»Mich beschäftigt etwas, wozu ich erst einmal Ihre Einwilligung brauche, Denise. Bis in jede Einzelheit habe ich es mir noch nicht überlegt.« Isolde zögerte.

Denise nahm ihre Hand. »Micki? Möchten Sie sie mit heimnehmen?«, fragte sie ahnungsvoll.

Isoldes Wangen färbten sich dunkler. »Ja, Denise. Ist es nicht wie ein Fingerzeig des Schicksals, dass sich gerade dieses verlassene Kind an mich angeschlossen hat? Bei uns daheim steht ein Gitterbett leer, wartet Spielzeug. Ja, ich möchte Micki mitnehmen, wenn das möglich ist.« Sie hob hilflos die Hand. »Aber ich habe Angst, dass es viel zu spät ist. Achim hat sich von mir bereits abgewandt und ist sich mit Lieselott wirklich längst einig. Ich habe sogar ganz ausdrücklich erklärt, dass ich mit der Scheidung einverstanden sei.«

»Nun, ein solches Gespräch ist sicherlich nicht bindend, Isolde. So rasch ist auch nach unserem modernen Recht eine Ehe nicht getrennt. Erst heute sind Sie wohl ganz in der Lage, Ihre eigenen Gefühle richtig zu beurteilen. Was hindert Sie eigentlich, Ihren Mann anzurufen und ihn um seinen Besuch zu bitten?«

Isolde nickte mehrmals. »Ich werde heute abend anrufen. Vielleicht kann er es zum Wochenende einrichten. Natürlich wird es nicht leicht sein, darüber zu reden.«

»Lassen Sie ihn den Anfang machen. Das ist immer das Klügste.«

»Ich fürchte, ich bin keine Diplomatin, Denise.«

»Das wird sich herausstellen, Isolde. Wesentlich scheint mir, dass Sie Ihren Mann noch lieben und zu ihm zurückkehren möchten.«

Isolde neigte den Kopf. »Ja, es ist seltsam genug. Oft ertappe ich mich bei dem Wunsch, dass mein Mann die kleine Micki sehen möge. Manchmal stelle ich mir auch vor, wie sie mit uns am Tisch sitzen würde. In Gedanken habe ich mir unsere neue Familiengemeinschaft schon in allen Einzelheiten ausgemalt. Achim ist sehr kinderlieb. Micki würde sein Herz bestimmt gleich erobern.«

Isolde redete sich in Eifer, ohne es zu merken. Denise hörte zu und war innerlich erleichtert. Denn es war sicherlich besser, wenn Isolde in ihr Haus und zu ihrem Mann zurückkehrte. Für Micki würde sich auf diese Weise ein neues Zuhause ergeben. Auch das war in Denises Sinn.

»Es kommt auf die Probe an, Isolde«, rief sie und sprang von ihrem Sitz auf. »Doch jetzt müssen wir zurück, denn ich habe heute allerlei an Arbeit auf meinem Programm stehen. Laden Sie Ihren Mann ein, Isolde. Ein zweites Bett ist rasch in Ihrem Zimmer aufgestellt, wie Sie wissen.«

»Danke, Denise. Dieses Gespräch hat mir tatsächlich sehr am Herzen gelegen.«

Isolde wollte Denise beim Aufsitzen behilflich sein, doch die schlanke Herrin von Sophienlust benutzte den flachen Stein, und schwang sich gewandt auf ihr Pferd. Isolde tat es ihr gleich, doch sie fand, dass es ihr nicht so vollendet gelang wie Denise.

In verschiedenen Richtungen ritten die beiden Frauen davon.

*

Lieselott umarmte Achim stürmisch und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.

»Ich muss mich beeilen, Lieselott«, drängte er.

»Für mich wird es ein schreckliches Wochenende werden, Achim. Musstest du wirklich schon heute Abend losfahren?«

»Ich möchte genügend Zeit vor mir haben, Lieselott. Isolde hat mich um eine Unterredung gebeten und Frau von Schoenecker hat mich ausdrücklich eingeladen. Da kann ich nicht nur so auf einen Sprung vorbeikommen. Ich weiß ja nicht einmal genau, was Isolde von mir will.«

»Aber du weißt, was du vorhast«, erinnerte Lieselott ihn. »Nicht wahr, du wirst ihr alles, was wir ausgemacht haben, auseinandersetzen?«

Achim strich ihr über das blonde Haar.

»Natürlich, Lieselott«, versicherte er. »Sie wollte es ja selbst.«

»Ja, Achim.« Ein allerletzter zärtlicher Kuss, dann setzte sich Achim in den Wagen und fuhr ab. Lieselott stand neben ihrem roten Mini-Minor vor dem Bungalow an der Straße und winkte, bis das Auto nicht mehr zu sehen war. Dann wandte sie sich um und ging langsam ins Haus. Sie wollte bleiben und warten, bis Achim am Sonntag zurückkam.

Indessen lenkte Achim seinen Wagen auf dem kürzesten Weg zur Autobahn. Lieselott hatte darauf bestanden, ihm erst noch einen Imbiss zu servieren, weil er abgespannt aus dem Gericht nach Hause gekommen war. Nun würde er kaum vor elf Uhr oder sogar noch später in Sophienlust eintreffen.

Lieselott! Ja, das war gekommen wie ein Wirbelsturm. Zuerst hatte er nur ihre aufmerksame Fürsorge hingenommen und sich bei ihren Zärtlichkeiten nicht allzu viel gedacht – nur hin und wieder ein schlechtes Gewissen gehabt. Doch seit Lieselott ihm mitgeteilt hatte, dass Isolde einverstanden sei, fühlte er sich im Recht.

Trotzdem wurde ihm die Kehle etwas trocken bei der Vorstellung, dass sein Leben mit Isolde nun endgültig beendet sein sollte.

Wie sollte er es Isolde genau erklären – das mit Lieselott? Es würde bestimmt nicht leicht sein, die richtigen Worte zu finden. Dabei war es doch als Staatsanwalt sein Beruf, für jedes Problem die passenden Worte bereit zu haben.

Achim von Rettwitz, der ursprünglich so schnell wie möglich nach Sophienlust hatte fahren wollen, verlangsamte unwillkürlich sein Tempo. Er achtete nicht darauf, dass es spät und später wurde. Erst als er sich der Autobahnausfahrt näherte, die er nehmen musste, warf er einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits halb zwölf geworden war.

Entschlossen hielt er an der nächsten Raststätte an und rief in Sophienlust an. Er werde unterwegs übernachten und am anderen Morgen gegen neun Uhr dasein.

Isolde, die am Apparat war, antwortete ihm leise, dass sie am nächsten Tag auf ihn warten werde.

Es ist besser so, dachte er erleichtert. Wir hätten sonst die ganze Nacht lang miteinander reden müssen. Dazu bin ich heute viel zu müde.

Achim fuhr bis Bachenau und fand tatsächlich noch ein Hotelzimmer. Völlig erschöpft ließ er sich ins Bett fallen und schlief sofort ein.

Isolde dagegen lag wach in ihrem Zimmer in Sophienlust. Neben dem ihren stand das zweite Bett, das herrlich nach frischer Wäsche duftete. Aber es war leer geblieben.

Am Sonnabend pünktlich um neun Uhr fuhr Achims Wagen vor. Isolde ging vors Haus, um ihren Mann zu begrüßen. Der Tag war kühl und regnerisch. Sie trug ein hellblaues Wollkleid, das sie besonders jung erscheinen ließ. Auch hatte sie ihr Haar am Vortag gewaschen und besonders kleidsam aufgesteckt. Über dem einen Ohr ringelte sich eine dunkle Locke. Dass ihre braunen Augen erwartungsvoll und erregt glänzten, wusste sie freilich nicht. Sie war eine schöne Frau, die auf den Mann gewartet hatte, den sie liebte. Würde Achim sich dieses Eindrucks ganz erwehren können? Oder bedeutete sie ihm gar nichts mehr?

Achim war vollkommen überrascht. Isolde schien verwandelt. Sie war plötzlich wieder die Frau, die er liebte. Sie trug ein helles Kleid, und ihr Gesicht war nicht mehr starr von Trauer um das tote Kind.

»Willkommen in Sophienlust.« Ihre Stimme klang weich und voll.

»Guten Morgen, Isolde.« Achim stieg aus und zog ihre Hand an die Lippen. »Es tut mir leid, dass ich nicht früher hier sein konnte. Ich bin aufgehalten worden, und die Strecke dehnt sich länger, als ich in Erinnerung hatte.«

»Jetzt bist du ja hier. Hast du schon gefrühstückt?«

»Ja, danke, ausgezeichnet. In Bachenau bekommt man Landschinken und andere gute Dinge zum Frühstück im Hotel.«

»Wir könnten ein Stück spazieren gehen, wenn du Lust hast. Das Wetter ist zwar nicht sehr schön, aber es redet sich am besten, wenn man läuft. Oder bist du anderer Ansicht? Wir können auch bei mir im Zimmer sitzen oder im Biedermeierzimmer von Frau von Schoenecker.«

»Gehen wir, Isolde. Mein Gepäck kann wohl im Auto bleiben?«

»Natürlich. Hier kommt nichts weg, Achim. Es ist ein besonderer Platz, unser Sophienlust.«

»Du bist also gern hier?«

»Ja, Achim. Ich glaube, es war ein guter Rat, den uns Maria Berger gegeben hat.«

Achim nahm seinen Regenmantel. »Willst du dir auch einen Mantel holen, Isolde?«

»Ja, ich habe ihn schon in der Diele hängen. Es dauert nur eine Minute.«

Wenig später sah Frau Rennert das Paar Arm in Arm in den Park gehen. Die Heimleiterin nickte befriedigt. Da sie nichts von den ehelichen Schwierigkeiten wusste, war das für sie ein Bild vollkommenen Glückes und friedlicher Eintracht.

»Die Fahrt war also anstrengend«, sagte Isolde etwa im gleichen Augenblick etwas unbeholfen.

»Das ist schon vergessen«, gab Achim eilig zurück. »Dieser Park ist wirklich phantastisch«, rief er dann in ehrlicher Begeisterung aus.

»Ja, Achim. Schau, da hinten ist der kleine Ententeich. In den ist vor einiger Zeit ein kleines Mädchen gefallen, und ich habe es herausgeholt.«

»Tüchtig von dir«, lobte er sie. »Zum Ertrinken wäre der Tümpel wohl nicht tief genug.«

»Für ein sehr kleines Kind ist das trotzdem gefährlich. Der Grund ist weich. Man findet keinen Halt.«

»Ach so – dann hast du dir also eine Medaille verdient?«

»Nein, nein, es war nicht wirklich gefährlich. Es fiel mir nur eben ein. Die Kinder spielen hier nicht oft.«

»Wo stecken sie eigentlich jetzt? Für ein Kinderheim kommt es mir hier recht still vor.«

»Die großen Kinder sind in der Schule, die kleinen spielen im Pavillon, da drüben, auf der anderen Seite des Parks. Bei Sonnenschein sind sie natürlich draußen.«

Achim schwieg. Plötzlich fiel ihm nichts Rechtes mehr ein. Isolde hielt sich an Denises Rat und kam ihm mit keiner Frage entgegen. So blieb ihm schließlich nichts anderes übrig, als das entscheidende Thema selbst anzuschneiden.

»Lieselott hat mir berichtet, dass du dich gegen eine Scheidung nicht sträuben würdest, Isolde«, begann er leise. »Aber ich finde, das wir das zwischen uns klären müssen.«

»Ja, Achim.«

»Lieselott ist hierhergefahren, ohne dass ich etwas davon wusste. Ich hatte in Hamburg zu tun. Es war mir nicht unbedingt recht, dass sie …« Er brach ab. Er kam sich ein bisschen albern vor. Warum entschuldigte er sich für Lieselotts Besuch? Hatte er das nötig?

»Lieselott war nur kurz hier. Für sie stand alles fest, Achim. Sie fragte sogar, ob die Möbel im Haus bleiben könnten.«

Achim blieb stehen. »Hat sie das wirklich wissen wollen? Die Möbel gehören doch zur Hälfte dir.«

»Nun ja, es war mir nicht wichtig.«

Sie erreichten eine kleine Pforte, von der aus man einen schmalen Feldweg betreten konnte. »Wollen wir?«, fragte Achim.

Isolde folgte ihm. Vom grauen Himmel fiel jetzt feiner Regen. Isolde zog die Kapuze ihres Regenmantels über das Haar.

»Es ist nicht einfach, darüber zu reden, Isolde«, stieß Achim etwas atemlos hervor. »Ich fürchte, Lieselott hat es dir nicht in der richtigen Weise erklärt.«

»Sie hat nicht allzu viel gesagt. Es sei meine Schuld, weil ich mich nicht um dich gekümmert hätte nach Renatas Tod. Nun, damit hat sie vollkommen recht, Achim. Es tut mir leid, dass ich mich von dem Schmerz um unser Kind so habe hinreißen lassen. Heute erkenne ich, dass ich durchaus nicht der einzige Mensch auf der Welt bin, der einen schweren Verlust erlitten hat. Du hast in dieser Zeit eine doppelte Last tragen müssen …«

Achim legte die Hand auf ihren Arm. »Es war für mich nicht so schlimm, Isolde. Du hast mir schrecklich leid getan. Ich wusste nicht, wie ich dir helfen sollte.«

»Siehst du, das war mein Fehler«, antwortete sie traurig. »Du hast dich um mich gesorgt, aber ich war nur mit mir selbst beschäftigt. Du hättest mich gebraucht. Daran habe ich nie gedacht.«

Sie waren sich jetzt sehr nahe. Keiner von ihnen dachte an Lieselott. Für ein paar Sekunden war jeder Gedanke an das blonde Mädchen ausgelöscht.

»Ich habe hier ein kleines Mädchen kennengelernt, etwas älter als unsere Renata, Achim. Die Kleine hat keine Angehörigen. Dieses Kind würde ich gern zu mir nehmen.«

Isolde hatte sich fest vorgenommen, nicht davon zu sprechen. Nun war es beinahe das Erste, das sie äußerte.

Die beiden sahen sich an. Mit einem Schlag stand Lieselott wieder zwischen ihnen.

»Entschuldige, Achim«, stammelte Isolde verwirrt. »Das …, das interessiert dich ja gar nicht. Ich …, ich möchte dir erklären, das du freie Hand hast.«

»Mit der Scheidung?«, warf er leise hin.

»Natürlich mit der Scheidung, Achim. Das wenigstens schulde ich dir.«

Er schloss die Lider, als werde er von einem hellen Licht geblendet. »Du schuldest mir nichts, Isolde. Gar nichts.«

Zögernd trat sie näher an ihn heran. Unter einem Baum war er stehen geblieben, weil sie hier vor dem Regen geschützt waren.

»Isolde, ich glaube, das mit der Scheidung ist Wahnsinn«, stieß Achim hervor und umarmte seine Frau. »Du warst nicht da. Lieselott kam zu mir – ich fürchte, ich habe mich dir gegenüber sehr gemein benommen. Ich kann nichts tun, als dich um Verzeihung bitten.«

Sie bot ihm still ihre Lippen. Ach, wie lange hatte sie nach seinem Kuss gedürstet.

»Meine Isolde – wie töricht war ich doch. Lieselott hat es natürlich darauf angelegt …«

»Sei still, Achim. Wir wollen nicht mehr von ihr sprechen. Wenn du willst, komme ich bald heim und bringe Micki mit.«

Er nickte und strich ihr über das seidige dunkle Haar, von dem die Kapuze herabgeglitten war. »Du musst mir das Kind zeigen, Isolde. Mein Gott, bin ich froh, dass ich hergefahren bin. Das andere – es war wie eine Krankheit.«

Zärtlich schmiegte sie sich an seine Brust, während rundum unaufhaltsam der Regen rann.

»Nein, nein, Achim, es lag daran, dass ich mich innerlich von dir entfernt hatte. Was hättest du denn tun sollen, als ich dich im Stich ließ?«

»Du bist sehr großzügig, Isolde. Man könnte es auch anders ausdrücken.«

»Das will ich aber nicht, Liebster. Du wirst mit meiner blonden Freundin noch genug Ärger haben. Sie war ihrer Sache nämlich sehr sicher.«

»Nun, sie muss verstehen, dass sich manchmal etwas im Leben ändert. Du bist meine Frau, Isolde!« Wieder legte er seine Lippen auf ihren durstigen Mund.

»Wie du mir gefehlt hast, Achim. Am liebsten käme ich gleich mit dir zurück. Aber die Sache mit Micki muss erst geregelt werden, meine ich. Dann bringe ich sie gleich mit.«

»Ja, Isolde. Außerdem muss ich die Angelegenheit mit – nun, du weißt schon, mit wem – noch in Ordnung bringen. Das wird vielleicht ein bisschen schwierig werden.«

Isolde stellte keine Fragen. Dazu war sie viel zu glücklich. Ihre Liebe hatte die Prüfung bestanden. Sie war stärker als das Leid, stärker als Lieselott!

Am Ende liefen sie wie Kinder in den Regen hinaus und wanderten weiter über Wiesen und Felder, ohne darauf zu achten, dass sie nach und nach vollkommen durchnässt wurden.

»Wollen wir in Sophienlust mit den Kindern essen?«, fragte Isolde. »Du bist natürlich eingeladen. Morgen Mittag werden wir in Schoeneich erwartet.«

»Ich mache alles mit, was hier üblich ist, Isolde.«

»Micki muss zwischen uns sitzen, damit sie sich langsam an dich gewöhnt. Sie ist ein wunderliches kleines Mädchen. Sie weiß nicht, dass Kinder normalerweise einen Vater und eine Mutter haben. Sie spricht nur manchmal von zwei Tanten. Ich bin in ihren Augen auch eine Tante.«

»Armes kleines Ding – keine Mutterliebe, keinen Vater. Du, das ist eine echte Aufgabe für uns. Es wird sein, als wäre Renata wiedergekommen.« Ein wenig erschrocken schaute er sie an. Hätte er das nicht sagen dürfen?

Doch Isolde schlug nur glückstrahlend die Augen zu ihm auf. »Ja, Achim, es ist so, als wäre sie zurückgekommen – und mit ihr unser Glück.«

Sie kamen zu spät zum Essen und mussten erst Schuhe und Kleider wechseln, ehe sie bei Tisch erscheinen konnten. Aber niemand machte ihnen deshalb Vorwürfe.

»Wer ist der Onkel?«, fragte Micki und betrachtete Achim misstrauisch und eifersüchtig.

»Er ist sehr lieb, Micki. Du kannst ihn Onkel Achim nennen.«

Micki schaute ihn prüfend an. »Magst du ihn, Tante Isolde?«, erkundigte sie sich, während Achim seinerseits seine zukünftige Tochter amüsiert beobachtete.

»Ja, ich mag ihn sehr, Micki«, antwortete Isolde fröhlich.

Micki schob die Unterlippe vor.

»Weißt du, er ist Tante Isoldes Mann«, schaltete sich Pünktchen ein, die Micki gegenübersaß.

»Braucht sie denn einen Mann?«

Pünktchen lachte. »Ich glaube schon. Tante Isi hat doch auch einen Mann. Ebenso Tante Carola.«

Micki schaute etwas ratlos drein. Sie fand das nicht so überzeugend oder auch nicht so wichtig.

Isolde brach das Thema ab, indem sie ein Versprechen gab: »Onkel Achim schenkt dir bestimmt einen Luftballon, wenn du einen willst.«

»Einen blauen?«, fragte Micki. »Die krieg’ ich immer von Nick.«

»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir natürlich einen gekauft, Micki. Aber das holen wir nach.« Achim blinzelte ihr zu.

»Fein, Onkel Achim. Ich mag nämlich die Luftballons, weil ich Micki Luftballon heiße.« Für Micki war die Sache inzwischen in der Reihenfolge umgekehrt worden. Von der bösen Tante sprach sie nicht mehr.

Die Unterhaltung wurde nun lebhaft, und Achim schloss auf Anhieb Freundschaft mit dem kleinen Ding.

So verlief dieses Wochenende in Sophienlust für Achim von Rettwitz ein wenig anders, als er geplant hatte. Doch es kam ihm vor, als habe er auf eine solche Lösung im Unterbewusstsein gehofft.

Isolde war gelöst und glücklich. Auch der letzte Rest von Unsicherheit und Verzweiflung war von ihr abgefallen, seit sie der Liebe ihres Mannes wieder sicher sein konnte. Gewiss, sie hatte ihr Töchterchen Renata nicht vergessen. Aber sie kannte nun den Ausweg, den ihr das Schicksal gezeigt hatte: sie und Achim würden sich um Mickis Adoption bemühen.

Der Sonntag auf Schoeneich verlief harmonisch und erfreulich. Denise von Schoenecker brauchte Isolde und Achim nur anzusehen, um zu wissen, dass sich hier ein Eheproblem gelöst hatte. Fragen erübrigten sich.

Erst am späten Nachmittag trat Achim die Heimreise an. Das Paar trennte sich nur sehr schwer voneinander.

»Bis bald, Isolde.«

»Ja, Achim, bis bald. Denise sagte, dass wir möglicherweise sehr schnell eine Genehmigung erwirken könnten, Micki als Pflegekind zu uns zu nehmen. Denn mit der Adoption wird es sich ziemlich hinziehen, weil ja nicht einmal feststeht, wer das Kind ist.«

»Die Hauptsache, man nimmt uns die Kleine dann nicht mehr weg, Isolde. Das wäre schlimm.«

Achim legte ein letztes Mal die Arme um Isolde. Sie küssten sich und dachten voller Dankbarkeit an dieses Wochenende zurück, das sie hatte trennen sollen und das sie nur um so fester zusammengefügt hatte.

»Ich liebe dich, Isolde.«

»Ich liebe dich, Achim.«

Dann fuhr der Wagen davon, und Isolde kehrte ins Herrenhaus zurück, wo Micki ihr fröhlich entgegenlief, Renatas Teddy im Arm.

*

Achims Gesicht wurde ernst, als Isolde ihn nicht mehr sehen konnte. Solange er mit seiner Frau zusammen gewesen war, war ihm alles ganz einfach und problemlos erschienen. Doch nun, da er sich auf der Heimfahrt befand, musste er den Tatsachen ins Auge sehen. In seinem Haus – Isoldes Haus, genau gesagt – wartete Lieselott.

Das war einerseits unangenehm, andererseits wurde er auf diese Weise gezwungen, noch heute Nacht klare Verhältnisse zu schaffen. Er musste offen mit Lieselott reden. Es war sicherlich nicht ihre Schuld, dass es so gekommen war. Sich selbst musste er die Vorwürfe machen.

Es ist meine Strafe, dachte er. Aber es tut mir leid, dass ich Lieselott wehtun muss.

Achim erreichte sein Ziel rascher, als ihm lieb war. Er hielt vor dem hübschen Bungalow, als es eben von der nahen Kirche zehn Uhr schlug.

Hatte sie ihn kommen hören?

Natürlich! Wahrscheinlich wartete sie schon eine ganze Weile. Da kam sie aus dem Haus, fröhlich und ahnungslos wie ein Kind. Ihr blondes Haar wehte im Abendwind. Sie hatte die Beleuchtung an der Einfahrt eingeschaltet.

»Hallo, da bist du ja!«

»Guten Abend, Lieselott. Ja, ich bin eine gute Zeit gefahren.«

»Bist du müde? Nun ja, so etwas ist kein Spaß. Warte, ich mache das Garagentor auf.«

Es war unmöglich, sich gegen ihren Eifer und ihre Hilfsbereitschaft zur Wehr zu setzen.

Im Haus erwartete sie, dass er sie in die Arme nahm. Daraus erkannte er, dass er sofort sprechen musste.

»Lieselott …«

»Hast du Hunger? Es ist alles da. Ich war einkaufen.«

»Danke, ich brauche nichts. Ich muss dir etwas sagen, Lieselott, was dich vielleicht sehr enttäuschen wird.«

Zwischen ihren sorgsam nachgezogenen Brauen entstand eine steile böse Falte. »Es hat nicht geklappt? Schwierigkeiten?«

»Komm, wir gehen ins Wohnzimmer.«

Sie wollte sich auf seine Knie setzen, doch er drückte sie in einen zweiten Sessel.

»Was hast du auf einmal?«, rief sie nervös aus.

»Lieselott, Isolde und ich haben uns ausgesprochen. Ich weiß, dass es dir wie ein …, wie ein Betrug vorkommen muss. Trotzdem: wir werden uns nicht scheiden lassen, sondern neu anfangen. Isolde hat dort ein Kind gefunden, das wir adoptieren wollen.«

Die blonde Frau sprang auf und starrte ihn an. »Aber … das …, das geht nicht, Achim. Isolde hat es mir versprochen. Ich habe ihr Wort.«

»Es handelt sich auch um mich, Lieselott. Isolde wollen wir mal aus dem Spiel lassen.«

»Du hast mir tausendmal versprochen, dass du mich heiraten willst«, fuhr sie auf. Ihr hübsches Gesicht wurde vom Ärger entstellt.

»Ich kann mich nicht genau an das erinnern, was ich zu dir gesagt habe, Lieselott. Es gibt eigentlich keine Entschuldigung für mein Verhalten. Ich hätte mich auf diese Affäre niemals einlassen dürfen. Alles, was geschah, ist meine Schuld. Ich kann dich nur bitten, mir zu verzeihen und mich so rasch wie möglich zu vergessen. Die Rolle, die ich gespielt habe, gefällt mir selbst am wenigsten. Jetzt hilft nichts als Ehrlichkeit, Lieselott.«

Sie kämpfte mit den Tränen. »Achim, magst du mich plötzlich nicht mehr? Hast du vergessen, was in diesen Wochen zwischen uns war?«

»Ich muss vergessen, Lieselott. All das hätte eigentlich niemals geschehen dürfen.«

»Du bist ein Feigling«, zischte sie. »Isolde hat plötzlich ein kleines Mädchen gefunden, das sie adoptieren will. Natürlich braucht sie auch einen Vati für ihr neues Kind, und nun überlegt sie sich alles anders. Innerhalb von zwei Tagen hat sie es geschafft, deine Ansichten umzuwerfen.«

Er schüttelte den Kopf. »So ist es nicht, Lieselott. Aber ich begreife, dass es für dich eine Enttäuschung sein muss. Von meiner Seite ist es dir gegenüber nur Verliebtheit gewesen – nicht Liebe. Ich sag’ dir das offen, weil dir die Trennung dann sicher leichterfallen wird. Ich habe mir etwas vorgegaukelt, weil ich allein war und nicht gern allein bleiben wollte.«

Sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Schon gut. Ihr Männer kommt ja immer aus so einer Sache fein heraus. Der Herr Staatsanwalt zieht natürlich eine ehrbare, ungeschiedene Ehe vor. Ist ja auch für die Karriere besser, nicht wahr?«

Achim schwieg. Irgendwie konnte er Lieselotts Bitterkeit verstehen. Er war gerecht genug, sich einzugestehen, dass es an ihm gewesen wäre, von vornherein nein zu sagen.

»Es tut mir leid, Achim«, fuhr sie fort. »Wir zwei passen so gut zusammen. Wenn Isolde nicht von sich aus fortgegangen wäre, hätte ich wahrscheinlich keinen Schritt in dieses Haus gesetzt.«

»Ich weiß, Lieselott, dich trifft ganz gewiss keine Schuld.«

Sie hob die Schultern. »Dafür kann ich mir nichts kaufen, Achim. Aber sei beruhigt, ich laufe dir nicht nach. Ich bin noch nie einem Mann nachgelaufen. In fünf Minuten gehe ich. Dann siehst du mich nie wieder.« Ihr Stolz schien tief verletzt zu sein.

Er senkte den Blick. Es war keine besonders angenehme Situation für ihn. Insgeheim war er ihr dankbar, dass sie die Szene von sich aus beendete – resolut, wie es ihre Art war.

Sie verließ das Wohnzimmer. Er hörte sie durch die anderen Räume gehen. Wahrscheinlich suchte sie ihre Sachen zusammen, die überall verteilt waren. Denn Lieselott hatte sich zu Hause gefühlt.

Dann steckte sie den Kopf wieder durch die Tür. »Leb wohl, Achim.«

Er kam in die Diele und nahm ihre Hand, die eiskalt war.

»Ich kann dich nur um Entschuldigung bitten, Lieselott. Wenn ich dir sonst irgendwie helfen kann?« Es war ihm sehr peinlich.

»Meinst du etwa Geld?«, spottete sie. »Ich verdiene genug und wäre die Letzte, die dich erpresst. Alles Gute, Achim. Gegen die Ehefrau hat man nun mal keine Macht.«

Achim kam sich ziemlich miserabel vor, als er sie bis zu ihrem roten Mini begleitete, der unter der Laterne parkte. Sie warf ihren kleinen Koffer auf den Rücksitz, stieg ein und fuhr an, indem sie viel zu viel Gas gab.

Ihm war, als habe er Tränen auf ihren Wangen gesehen.

Warum habe ich das nur getan?, fragte er sich. Ich habe sie niemals wirklich geliebt. Das hätten wir uns ersparen können.

*

Achim von Rettwitz hatte nicht gut geschlafen, als er sich am Montagmorgen zur gewohnten Stunde erhob. Auch unter der kalten Dusche wurde er nicht recht frisch. In der Küche braute er sich einen starken Kaffee, der ihm aber bitter auf der Zunge brannte.

Ehe er zum Gericht fuhr, wo er an diesem Tag zwei wichtige Sitzungen hatte, rief er in Sophienlust an und sprach mit Isolde. Sie plauderte glücklich und ahnungslos mit ihm. Wahrscheinlich werde sie noch heute mit Denise zu Dr. Brachmann, dem Rechtsanwalt der Familie, fahren, um so bald wie möglich den Antrag auf die Adoption des Kindes zu stellen.

»Wunderbar, Isolde«, antwortete Achim. »Ruf mich heute Abend an und erzähle mir, was daraus geworden ist. Ich wünschte, du wärest schon hier.«

»Ich beeile mich, Achim. Es wird sicherlich nicht lange dauern. Ich möchte mich nur jetzt nicht von Micki trennen, sondern sie darauf vorbereiten, dass sie mit uns kommen soll. Du hast ihr übrigens gut gefallen.«

»Da bin ich aber froh«, seufzte er. »Man muss doch bei seiner zukünftigen Tochter einen guten Eindruck machen.« Isolde sollte nicht merken, wie schwer es ihm fiel, sich unbefangen und fröhlich zu stellen.

Nachdem er aufgelegt hatte, nahm er seine Aktenmappe. Am Montag kam stets die Portiersfrau, um gründlich sauber zu machen. Vielleicht würde sie sich wundern, dass seine sogenannte Kusine so plötzlich abgereist war.

Achim holte den Wagen aus der Garage und fuhr in die Stadt zum Gericht. Irgendwie musste er mit sich und seinem schlechten Gewissen fertig werden. Lieselott tat ihm schrecklich leid, aber er war fest entschlossen, sich nie wieder mit ihr in Verbindung zu setzen, weil er damit nur alles schlimmer machen würde.

Der Tag schleppte sich mühselig hin. Es gab Ärger in einer Gerichtsverhandlung, weil einige Unterlagen sich nicht auffinden ließen. Auch sonst schien an diesem Montag eigentlich nichts so recht zu klappen.

Erst nach sechs Uhr abends verließ Achim das ehrwürdige Gebäude mit dem Abbild der Justitia über dem Portal wieder. Sein Wagen war einer der letzten auf dem Parkplatz.

Kaum war er zu Hause, klingelte auch schon das Telefon. Er lächelte und nahm ab. Das musste Isolde sein!

»Hallo? Bist du es, Achim?« Das war Lieselotts Stimme.

»Ja, natürlich – guten Abend.« Ihm wurde plötzlich heiß und dann wieder eiskalt. Mit einem Anruf von Lieselott hatte er nicht gerechnet.

»Bist du allein?« Vorsichtig klang es, zögernd.

»Ja.« Er kam ihr mit keinem Wort entgegen.

»Tut mir leid, dass ich mich doch noch einmal melden muss, Achim. Es ist eine ziemlich dumme Geschichte.«

Das hörte sich alarmierend an. Nun fragte er doch: »Was ist los, Lieselott? Kann ich dir helfen?«

»So einfach ist es nicht, Achim. Ich sag’ es dir nicht gern am Telefon. Soll ich zu dir kommen? Es ist nicht in fünf Minuten besprochen, fürchte ich.«

Achim war erschrocken. Nein, sie durfte nicht mehr in sein Haus kommen – nicht ein einziges Mal. Wahrscheinlich wollte sie jetzt versuchen, um ihn zu kämpfen. Es mochte ihr nun leidtun, dass sie gestern abend so rasch gegangen war.

»Unmöglich, Lieselott. Ich erwarte nachher noch Besuch.«

»Verschieben wir es auf morgen, Achim?«

»Morgen geht es auch nicht. Möglicherweise kommt Isolde«, log er, um ihr klarzumachen, dass es gänzlich unmöglich sei. »Sage mir doch, was du möchtest.«

»Es handelt sich nicht unbedingt um mich, Achim – oder wenigstens nicht allein um mich.«

Wie rätselhaft sie sich ausdrückte! Wahrscheinlich wollte sie sich damit interessant machen. Lieselott, die ihm heute früh noch leid getan hatte, wurde ihm plötzlich unsympathisch.

»Ich möchte jetzt gern wissen, worum es geht, Lieselott«, drängte er. »Jetzt sind wir ungestört. Du kannst es also auch am Telefon sagen, meine ich.«

»Wenn du darauf bestehst, nun gut. Ich war heute nicht im Dienst, sondern beim Arzt. Eigentlich habe ich es schon geahnt. Aber nun steht es fest, dass ich ein Kind erwarte.«

Achim schluckte einmal und schloss die Augen.

»Du hast mir nie etwas davon angedeutet, Lieselott«, brachte er schließlich gepresst hervor. »Das ist freilich in unserer Lage etwas kompliziert.«

»Ich habe mir keine Gedanken und keine Sorgen gemacht, weil wir bald heiraten wollten, Achim«, fuhr sie leise fort. »Als ich heute früh aufstehen wollte, wurde mir übel. Da bekam ich einen gewaltigen Schrecken und meldete mich beim Arzt an. Ich versuche schon seit zwei Stunden, dich telefonisch zu erreichen.«

»Lieselott, selbstverständlich werde ich für das Kind aufkommen. Ich mache mir jetzt die schrecklichsten Vorwürfe, dass ich dich in solche Schwierigkeiten gebracht habe.«

Er hörte, dass sie leise schluchzte. Das war sonst wahrhaftig nicht ihre Art.

»Es …, es ist so unsinnig, Achim«, begehrte sie auf. »Du willst ein fremdes Kind adoptieren, weil Isolde keins mehr haben kann – und ich werde dir ein eigenes Kind schenken. Warum willst du dich an Isolde klammern? Ihr hattet euch nichts mehr zu sagen, und wir sind so glücklich gewesen.«

»Lieselott, ich gebe zu, dass man das kaum am Telefon besprechen kann. Ich muss nachdenken, damit wir einen Ausweg finden. Finanziell nehme ich selbstverständlich alle Konsequenzen auf mich.«

»Sprich doch mit Isolde darüber, Achim«, bat sie. »Sie ist sehr einsichtig. Vielleicht wird sie ihren Entschluss noch einmal überprüfen. Warum zerschlägt sie auf einmal unser Glück?«

Achim schwieg und dachte, dass es dieses Glück in Wahrheit nie gegeben hatte und auch niemals geben würde.

»Bitte, Lieselott, halte mich nicht für kalt oder unfreundlich. Isolde und ich haben uns entschieden. Daran ist nun nichts mehr zu ändern.«

»Aber … es …, es ändert doch alles, wenn ich ein Kind haben werde. Vielleicht ist es ein Junge, Achim. Sollte er nicht deinen Namen tragen?«

»Das kann ich kaum erwarten und verlangen, Lieselott. Ich werde mein Kind nicht verleugnen. Darauf kannst du dich verlassen. Aber ich gehöre nun einmal zu Isolde.«

»Wirst du ihr sagen, was zwischen uns war und dass ich ein Kind erwarte?«

»Ja, das wird sich kaum umgehen lassen, Lieselott. Ich habe mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Aber es soll keine Heimlichkeiten zwischen Isolde und mir geben. Das schulde ich ihr und auch dir. Was geschehen ist, können wir nicht rückgängig machen. So weit es sich vermeiden lässt, sollst du nicht darunter leiden – und auch das Kind nicht.«

Sie lachte hart auf. »Das sind wunderschöne Worte. Ich bleibe trotzdem mit dem Kind sitzen, Achim.«

»Ja, ich weiß, Lieselott.« Die Last seiner Schuld senkte sich schwer auf ihn. Doch er spürte, dass er durch dieses Kind nicht enger an Lieselott gebunden wurde, sondern sich sogar weiter von ihr entfernte.

»Wann sehen wir uns, Achim? Ich fühle mich schrecklich verlassen.«

»Ich weiß es noch nicht, Lieselott. In den nächsten Tagen ist es unmöglich.« Nein, er wollte sie nicht wiedersehen.

»Rufst du mich wenigstens mal an?«

»Ja, ich melde mich, Lieselott. Gehst du morgen wieder ins Büro?«

»Natürlich. Was sollte ich sonst tun?« Resigniert und bitter klang diese Antwort.

»Wir müssen überlegen, ob wir das ändern, Lieselott.«

»Wie stellst du dir das vor? Ich behalte meinen Job. Darauf kannst du dich verlassen.« Das war trotzig und böse gesagt.

Er seufzte unterdrückt. Dann hörte er, dass es bei Lieselott in der Wohnung klingelte.

»Da kommt meine Nachbarin«, sagte sie. »Ich muss Schluss machen, Achim. Leider hat sie mich vorhin gesehen. Sonst würde ich nämlich nicht öffnen. Wiedersehen, Achim. Alles Gute.«

»Dir alles Gute, Lieselott.«

Er legte auf und schüttelte den Kopf. Noch weigerte sich sein Verstand, es wirklich zu glauben. Lieselott erwartete ein Kind! Damit hatte er nun wahrhaftig nicht gerechnet. Wie würde Isolde das auffassen? Gewiss, sie wusste um seine Beziehung zu Lieselott. Aber ein Kind – das war etwas anderes.

Er wanderte durch das Wohnzimmer und versuchte Ordnung in seine Überlegungen zu bringen. Doch was er sich auch ausdachte, alles sah schief aus und schien zu keiner guten Lösung zu führen.

Ich hab’ es mir zu leicht gemacht, warf er sich selbst vor. Jetzt weiß ich keinen Ausweg. Der Preis, den Lieselott zahlen muss, ist zu hoch. Das hat sie nicht verdient. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihr helfen könnte!

Dann dachte er an das Kind, das an allem schuldlos war und nun in einem Heim aufwachsen musste – vielleicht in Sophienlust? Ja, Sophienlust wäre immerhin ein Ausweg. Dort würde das Kind in einer Umgebung aufwachsen, in der es glücklich sein konnte. Lieselott musste sich damit einverstanden erklären.

Aus dem ersten Gedanken ergab sich der zweite. Er wollte sich Denise von Schoenecker anvertrauen und sie um ihren Rat bitten. Dieser ungewöhnlichen Frau, die rein äußerlich eine so starke Ähnlichkeit mit Isolde aufwies, gehörte sein ganzes Vertrauen. Ihr war es gelungen, Isolde zu helfen und sie aus ihrer verhängnisvollen seelischen Erstarrung herauszulösen. Vielleicht konnte sie ihm einen Weg weisen in seiner jetzigen Situation.

Achim fühlte sich freier, nachdem er mit seinen Erwägungen so weit gekommen war. Gleich am folgenden Wochenende würde er wieder nach Sophienlust fahren. Er durfte keine Zeit verlieren.

Als er sich zu später Stunde niederlegte, ging ihm schmerzlich durch den Sinn, dass man nicht ungestraft blieb, wenn man sich aus Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit auf ein Abenteuer einließ. Aber war er es eigentlich, der die Rechnung zu zahlen hatte? War es nicht Lieselott und mit ihr das Kind?

Ich fürchte, ich kann es niemals ganz gutmachen. Oder wird Denise von Schoenecker mir helfen?, überlegte er.

*

Achim arbeitete im Gericht wie ein Besessener, um seine Sorgen zu vergessen. Er hatte sich in Sophienlust für das Wochenende angemeldet und Denise in einem zweiten Anruf, von dem Isolde nichts wissen sollte, um eine persönliche Unterredung gebeten. Denise hatte keine Fragen gestellt, sondern ihm angeboten, zuerst in Schoeneich vorbeizukommen. Sie werde ihn dort erwarten.

Mit Lieselott traf sich Achim nicht. Zweimal rief er sie in ihrem Büro an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Er wusste, dass sie niemals allein im Zimmer war, sodass sich ein allzu privates Gespräch dabei nicht ergeben konnte. Zwar schämte er sich ein wenig wegen dieses Verhaltens, doch hätte er im Augenblick nicht gewusst, was er Lieselott sagen sollte. Ein wenig fürchtete er auch, sie werde sich mit Isolde in Verbindung setzen, wie sie es schon einmal getan hatte. Doch er brachte es zunächst nicht über sich, Isolde zu schreiben. Auch am Telefon schwieg er über die Angelegenheit. Erst wollte er mit Frau von Schoenecker sprechen.

Zweimal klingelte im Laufe der Woche abends in seinem Haus das Telefon. Es war beide Male Isolde, die fröhlich anrief, nur um seine Stimme zu hören.

Der einsame Mann in dem stillen Haus fühlte jähe Angst, das eben zurückgewonnene Glück erneut zu verlieren. Die Erkenntnis, dass er die Schuld allein bei sich zu suchen hatte, war bitter.

Am Sonnabend fuhr Achim bereits um vier Uhr morgens ab und erreichte Schoeneich im Laufe des frühen Vormittags. Denise begrüßte ihn herzlich und führte ihn in ihr gemütliches Damenzimmer.

»Hier sind wir ungestört, Herr von Rettwitz. Was kann ich für Sie tun?«

Achim holte tief Atem. »Es beschämt mich, dass ich Sie heute um Rat fragen muss, gnädige Frau. Aber seltsamerweise sind Sie der einzige Mensch, dem ich meine Sorgen anvertrauen kann.«

Denise rückte das Tablett mit dem Imbiss, den sie hatte kommen lassen, bequemer für ihn zurecht. »Wollen Sie sich nicht erst ein bisschen stärken?«, bot sie ihm an. »Wir haben Zeit. Isolde erwartet Sie erst gegen Mittag, nicht wahr?«

»Ja, das ist richtig.«

»Es handelt sich also um eine Angelegenheit, von der Isolde keine Kenntnis hat?«, half Denise ihm, da sie merkte, dass ihm der Anfang schwer wurde.

»So ist es, Frau von Schoenecker. Aber ich will meiner Frau die Sache nicht verheimlichen.«

»Erzählen Sie«, forderte Denise ihn auf.

Ihr schönes Gesicht, das ihn so stark an das von Isolde erinnerte, flößte ihm Ruhe und Vertrauen ein. Plötzlich konnte er über sein Verhältnis zu Lieselott sprechen und Denise auch von dem Kind erzählen, das Lieselott erwartete.

»Das ist freilich ein ernstes Problem«, erklärte die Zuhörerin, als er zu Ende gekommen war. »Fräulein Engel versucht also, Sie in Ihrem Entschluss wieder schwankend zu machen?«

»Von ihr aus ist das begreiflich, gnädige Frau. Sie ist betrogen worden, denn sie hat fest damit gerechnet, dass ich mich scheiden lasse und sie heirate. Ich wusste ja selbst nicht, was für ein verhängnisvoller Irrtum das war.«

»Liebe lässt sich nicht erzwingen. Das ist eine alte Weisheit«, meinte Denise nachdenklich. »Fräulein Engel wäre gar nicht damit gedient, wenn Sie sie um des Kindes willen heiraten würden. Nicht einmal das Kind könnte gedeihen, wenn die Eltern sich nicht aufrichtig lieben. Glauben Sie, dass ich einmal mit Fräulein Engel reden sollte? Ich will das Kind gern hier in Sophienlust aufnehmen. Auch die junge Mutter könnte bei uns eine Heimstatt finden, und wäre es nur vorübergehend.«

»Ich hatte Sie darum bitten wollen, das Kind in Sophienlust aufzunehmen«, gestand Achim. »Wenn Sie mit Lieselott sprechen würden, so wäre mir damit außerdem sehr geholfen. Sie besteht auf einer persönlichen Unterredung, die ich gern vermeiden möchte. Es nützt ja jetzt nichts mehr …«

Denise lächelte ihn an. »Sie brauchen nicht gar so zerknirscht zu sein, Herr von Rettwitz. Fräulein Lieselott Engel trägt genau die Hälfte der Schuld an allem, was geschehen ist. Sie wusste, dass Sie verheiratet sind. Erwachsen ist sie auch. Obwohl Sie alles tun, um die gesamte Verantwortung auf Ihre eigenen Schultern zu laden, schaut es für mich ein wenig so aus, als habe Fräulein Engel nur auf eine solche Gelegenheit gewartet. Sehr freundschaftlich hat sie an Isolde jedenfalls nicht gehandelt.«

Achim schüttelte den Kopf. »Sehen Sie das nicht zu kritisch an?«

»Ich glaube nicht, Herr von Rettwitz. Traurig ist das Ganze in erster Linie für das Kind. Deshalb möchte ich mit Fräulein Engel sprechen und schon jetzt dafür sorgen, dass ich das Kind in Pflege bekomme.«

»Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar. Soll ich mit Isolde darüber reden?«, fuhr er unsicher fort. »Ich möchte ungern Heimlichkeiten vor ihr haben, aber ich fürchte, dass es ein Schock für sie sein könnte.«

»Diese Entscheidung ist schwer. Aber bei einer Frau wie Lieselott Engel muss man wohl damit rechnen, dass sie mit allen Mitteln kämpfen und vielleicht von sich aus an Isolde herantreten wird. Dann ist es nur umso schlimmer, wenn Sie schweigen.«

»Ich werde es meiner Frau sagen, gleich heute«, äußerte Achim nach einigem Besinnen.

»Sicherlich ist das richtig, Herr von Rettwitz. So, und nun stärken Sie sich erst einmal.«

Achim langte zu, während Denise ihm berichtete, dass der Antrag wegen Micki beim Jugendamt bereits laufe. Es werde sicherlich gar nicht so lange dauern, bis das Kind zu ihnen kommen könne.

Denise notierte sich auch Lieselotts Adresse und fragte: »Glauben Sie, dass ich sie gleich morgen, am Sonntag, überfallen könnte?«

»Das weiß ich leider nicht. Man müsste anrufen. Aber es bedrückt mich, wenn Sie Ihren Sonntag opfern.«

»Nun gut, vielleicht ist es auch ein wenig überstürzt. Ich nehme besser

den Dienstag. Mein Mann gibt mir sicherlich den Chauffeur mit. Dann kann ich die Sache in einem Tag erledigen. Ich werde noch heute anrufen, damit ich die Verabredung mit ihr treffen kann.«

Achim küsste ihr dankbar die Hand.

Wenig später fuhr er nach Sophienlust hinüber, wo Isolde sich nicht wenig wunderte, dass er von Schoeneich kam und nicht auf dem gewohnten Weg.

Achim umarmte Isolde und lehnte die Stirn gegen die ihre, als sei er sehr müde.

»Was ist?«, fragte sie zärtlich. »Hast du eigentlich an einen Luftballon für Micki gedacht?« Sie hatte ihn bei ihren Telefongesprächen an dieses wichtige Mitbringsel erinnert.

»Keine Sorge, Isolde. Ich bringe sechs Luftballons und zwei große Kartons mit Schokoladentafeln für die Kinderschar mit.«

»Fein, Achim.« Doch seine Miene hellte sich auch jetzt nicht auf. Schließlich nahm er sein Gepäck aus dem Wagen und ging mit ihr ins Herrenhaus in ihr Zimmer.

»Ich muss gleich mit dir reden, Isolde. Eher finde ich keine Ruhe.«

»Was hast du nur?« Sie schmiegte sich an ihn, sodass seine Hände liebkosend durch ihr Haar fuhren.

»Isolde, es fällt mir wahnsinnig schwer, es dir zu sagen. Aber ich darf es dir nicht verheimlichen. Lieselott erwartet ein Kind von mir.«

Die Frau schloss für einen Herzschlag die Augen. Es tat weh – sehr weh sogar, denn sie wusste ja, dass sie nie wieder ein eigenes Kind in den Armen halten würde.

»Ich habe es nicht gewusst«, fuhr er fort. »Lieselott sagte es mir, nachdem ich dachte, es sei alles bereinigt zwischen uns.«

»Was soll nun werden?«, fragte Isolde und streifte seine Wange mit ihren Lippen.

»Frau von Schoenecker will mit Lieselott sprechen. Sie würde das Kind in Sophienlust aufnehmen. Auch Lieselott könnte hierbleiben, wenn sie das möchte.«

»Dann will Lieselott sich also von dem Kind trennen?«

Achim spürte voller Dankbarkeit, dass Isolde sich nicht von ihm abwendete. Ihre sanfte, vertrauensvolle Zärtlichkeit blieb unverändert. Sie nahm seine Mitteilung als das hin, was sie war: eine Tatsache, an der man nicht vorübergehen konnte.

»Ich habe sie bis jetzt nicht gefragt. Aber sie will ihren Beruf behalten. Da wird es schwierig sein mit dem Kind. Weißt du, Lieselott passt nicht recht in die Rolle der Mutter, die sich tagsüber hinter der Schreibmaschine abrackert, um nachher noch genügend Zeit für ihr Kind aufzubringen. Sie wird jede Lösung begrüßen, die ihr die Sorge um das Kind für immer abnimmt.«

Isolde atmete heftig. »Jede Lösung?«, fragte sie stockend.

»Ich denke schon.«

»Hast du schon erwogen, dass wir das Kind zu uns nehmen könnten?«

Er sah sie tief betroffen an. »Das würdest du tun?«, rief er aus.

»Es ist dein Kind, Achim. Vielleicht wird es ein Junge. Micki würde sich ganz gewiss über ein Brüderchen freuen. Aber ich weiß nicht, ob Lieselott auf das Kind verzichten würde.«

Achim riss seine Frau an sich. Wie eiserne Klammern umspannten seine starken Arme die zarte Frau. »Isolde, ich liebe dich. Du bist eine wunderbare Frau. Wie soll ich dir nur danken?«

»Du hast mir für gar nichts zu danken, Achim. Wir werden es Denise sagen, damit sie mit Lieselott auch darüber reden kann. Es war ein guter Gedanke von dir, mit ihr zu sprechen. Sie wird ganz gewiss bei Lieselott den rechten Ton treffen.«

Ihre Lippen fanden sich. Für Achim war es eine neue erschütternde Erkenntnis, dass Isolde ihm wieder ganz gehörte und dass sie sogar bereit war, diese Last mit ihm zu teilen und zu tragen.

*

Carola hatte Kindergesellschaft abgehalten. Ab und zu tat sie das und lud einmal die kleinen, einmal die großen zu sich in ihre hübsche Wohnung im Anbau des Herrenhauses ein. Heute waren es die größeren Kinder gewesen, mit denen sie Kuchen gegessen hatte. Es war jedoch ein ungeschriebenes Gesetz, dass stets so viel Kuchen und Torten vorhanden sein mussten, dass auch für die nicht eingeladenen Heimbewohner etwas übrig blieb.

Wolfgang Rennert hatte nach dem Kaffee mit den Kindern gesungen. So war der regnerische Sonntag fröhlich vergangen. Jetzt, kurz nach acht Uhr abends, war alles vorüber und sogar das Geschirr schon gespült.

Draußen hörte man einen Wagen abfahren. Carola nickte ihrem Mann zu. »Das ist Herr von Rettwitz. Er wird erst in der Nacht heimkommen. Seine Frau will in ein bis zwei Wochen von hier fortgehen. Es ist schade. Sie hat uns viel geholfen und sich mit den Kindern sehr gut verstanden.«

Wolfgang Rennert kam zu ihrem Stuhl und küsste sie auf die Nasenspitze. »Du, in der Küche steht noch Kuchen …«

Carola lachte. »Tut mir schrecklich leid, mein lieber Mann. Das ist Micki Luftballons Kuchen. Sie war den ganzen Nachmittag mit ihren zukünftigen Eltern unterwegs. Wahrscheinlich kommt sie gleich, um sich ihren Anteil zu holen. Irgendjemand wird ihr bestimmt gesagt haben, dass hier noch Kuchen steht. Hast du denn nicht genug bekommen?«

»Doch, doch – es war nur so eine Frage.« Wolfgang Rennert schaltete das Fernsehgerät ein. Weder er noch Carola achteten sonderlich auf den Film, denn nun erschien tatsächlich Micki, gemeinsam mit Isolde.

»Dürfen wir wirklich noch Kuchen holen? Micki gibt keine Ruhe«, entschuldigte sich Isolde.

»Der Kuchen steht bereit«, erwiderte Carola heiter.

»Das ist die böse Tante! Ich hab’ Angst! Die böse Tante ist da drin!« Mit entsetzten Augen starrte Micki auf den Bildschirm.

»Wer ist das?«, fragte Isolde und kniete besorgt bei Micki nieder, die totenbleich geworden war.

»Die böse Tante! Bitte, sie soll nicht ’rauskommen!« Das Kind zitterte und bebte am ganzen Körper.

Wolfgang Rennert betrachtete die Szene kopfschüttelnd und schlug das Fernsehprogramm auf, während Micki die Händchen vor die Augen presste, um das Bild nicht mehr zu sehen. Carola tat ein übriges und schaltete das Gerät aus. Die Großaufnahme hatte eine blonde junge Frau gezeigt.

»Die Schauspielerin heißt Kyra Meister«, berichtete Wolfgang Rennert. »Aber sie hat sicherlich nur eine gewisse Ähnlichkeit mit Mickis Tante.«

Isolde war anderer Meinung. Obwohl Micki ihr leid tat, drückte sie auf den Knopf des Fernsehers und bat Micki, noch einmal hinzuschauen und zu sagen, ob es auch wirklich die Tante sei. Aus dem Kasten könne sie gewiss nicht heraus.

Micki blieb dabei. Es sei die böse Tante, die ihr den Luftballon geschenkt habe.

Isolde ging nicht weiter auf die Sache ein. Sie verständigte sich nur durch einen Blick mit dem jungen Ehepaar. Dann durfte Micki ihren Kuchen essen. Sie plauderte dabei höchst vergnügt von Onkel Achim, der sie und Tante Isolde bald in ein schönes Haus holen wolle.

Erst als die kleine Micki schon längst schlief, Renatas Teddy wie immer neben sich, kehrte Isolde zu den jungen Rennerts zurück. Sie notierte sich den Namen der hübschen blonden Schauspielerin sowie den Sender, der den Film ausgestrahlt hatte.

»Warum wollen Sie es nicht auf sich beruhen lassen?«, fragte Carola. »Wäre es nicht besser?«

»Micki hat ein Recht darauf zu erfahren, woher sie kommt. Wenn diese Frau uns weiterhelfen kann …«

»Und wenn sie nun Rechte anmeldet?«

»Wenn sie das will, wird sie es zu irgendeinem Zeitpunkt sowieso tun. Ich werde Frau von Schoenecker fragen, was man tun kann.«

Carola nickte. »Ja, Tante Isi weiß immer Rat.«

Isolde dankte den beiden Rennerts und verabschiedete sich.

Denise hörte sich am Telefon Isoldes Bericht an, doch sie wollte die Sache auf den anderen Tag verschieben. Aber da hatte sie nicht mit Nick gerechnet. Er erbat sich das Einverständnis seiner Eltern und bekam das Kunststück zuwege, noch am Sonntagabend die Anschrift der Schauspielerin zu erfahren, ebenso ihre Telefonnummer.

Alexander von Schoenecker schüttelte den Kopf über seinen Sohn. »Man wird dich für einen Kyra-Meister-Fan halten«, lächelte er.

»Ist doch egal, Vati. Jetzt haben wir ihre Telefonnummer und können einfach anrufen.«

Denise sah auf die Uhr. Kurz nach neun Uhr. Warum sollte sie eigentlich nicht anrufen? Sie nahm Nick den Zettel aus der Hand und wählte die angegebene Nummer.

Eine Frauenstimme meldete sich, ohne ihren Namen zu nennen. »Hallo!«

Denise gab sich zu erkennen und fragte, ob sie mit der Schauspielerin Kyra Meister spreche, deren Film eben gesendet worden sei.

»Ja, hat es Ihnen so gut gefallen?« Die Künstlerin schien geschmeichelt. Denise aber musste eingestehen, dass sie den Film gar nicht gesehen hatte. Möglichst kurz umriss sie, dass ein Kind aus dem Heim geglaubt habe, sie zu erkennen – ein kleines Mädchen namens Micki, das vor einiger Zeit hier in der Nähe aufgefunden worden sei mit einem blauen Luftballon.

Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Sehr still!

»Hören Sie noch, Frau Meister?«, vergewisserte sich Denise.

»Ja, ich höre. Ich musste mich erst fassen. Vielleicht denken Sie sehr schlecht von mir, wenn ich Ihnen sage, dass Micki meine Tochter ist.«

»Ihre eigene Tochter?« Denise wollte es nicht glauben.

»Sie heißt mit vollem Namen Mareike Hagemeister. Nachdem ich von meinem Mann geschieden war, gab ich sie meiner Schwester in Österreich. Dort war sie gut aufgehoben, denn in meinem Beruf kann man ein Kind nun mal nicht gebrauchen. Mareike weiß nicht, dass ich ihre Mutter bin. Dann starb meine Schwester sehr plötzlich. Ich musste Mareike abholen.«

»Sie haben sie also im Wald gelassen?«, fragte Denise streng.

»Ich …, ich wollte es eigentlich nicht. Dann sah ich, wie ein Auto kam und das Kind mitnahm.«

Denise wusste, dass die Schauspielerin jetzt log. »Sie werden sich dazu noch vor dem Jugendamt zu äußern haben, Frau Meister«, erklärte sie ruhig. »Immerhin kann ich Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, dass sich ein Ehepaar gefunden hat, das Ihre kleine Tochter adoptieren möchte. Wären Sie damit einverstanden?«

»Selbstverständlich. Ich verzichte sofort auf das Kind. Unsere Ehe war nicht glücklich. Immer, wenn ich Micki – so nannte sie meine arme Schwester – sah, wurde ich an die ganze Misere erinnert. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Frau von Schoenecker.« Ihre Erleichterung war unverkennbar.

Das Gespräch dauerte insgesamt zwanzig Minuten. Denise war etwas erschöpft, als sie den Hörer niederlegte. »Schrecklich, dass eine Mutter so leichten Herzens auf ihr Kinder verzichtet«, seufzte sie. »Micki hat wohl ganz recht gehabt, dass sie von der bösen Tante gesprochen hat. Das arme Kind hatte keine Ahnung, dass es ihre eigene Mutter war. Aber wir werden nun mit der Adoption keinerlei Schwierigkeiten haben.«

Alexander umarmte seine Frau. »Großartig hast du das gemacht, Isi. Ich habe die Dame nicht beneidet. Du bist nicht gerade sanft mit ihr umgesprungen.«

»Na ja, es ist ja auch kriminell«, ließ sich Nick vernehmen.

»Das finde ich auch«, bekräftigte Henrik, obwohl er nicht genau verstanden hatte, worum es ging. Aber das hätte er niemals zugegeben.

*

Denise hatte Lieselott ein Café im Stadtzentrum als Treffpunkt vorgeschlagen, das in der Nähe des Bürohauses lag, in dem das Mädchen arbeitete. Pünktlich um vier Uhr dreißig fand sich Denise ein und bestellte eine Tasse Kaffee. Kaum fünf Minuten später erschien eine elegant gekleidete blonde Dame, von der sich unschwer erraten ließ, dass sie Lieselott Engel sein musste.

Die Begrüßung war freundlich, aber von beiden Seiten zurückhaltend. Denise fragte, was Lieselott haben wolle. Es sei ihr gleich, vielleicht Kaffee, meinte Lieselott und schlug die Beine übereinander.

Denise kam direkt auf ihr Anliegen zu sprechen. Während sie ruhig und freundlich vortrug, dass Achim sich an sie gewandt habe und sie nun hier sei, um ihr für sich selbst und das Kind eine Heimat in Sophienlust anzubieten, zuckte es unruhig um den Mund des blonden Mädchens.

»Ist das etwa alles, was Achim mir zu bieten hat?«, fragte Lieselott schließlich trotzig. »Er hat wohl leider nicht den Mut, selbst mit mir zu sprechen?«

»Ich glaube, es ist keine Frage des Mutes, Fräulein Engel. Herr von Rettwitz bedauert, dass Sie in Schwierigkeiten gekommen sind. Wir alle möchten Ihnen helfen.«

»Und wenn ich mich nun mit Isolde in Verbindung setze?«, stieß Lieselott unbeherrscht hervor.

»Das würde nicht viel ändern, Fräulein Engel. Isolde weiß, dass Sie ein Kind erwarten. Ihr Mann hat es ihr selbst mitgeteilt.«

Lieselott warf den Kopf zurück und lachte, als habe Denise ihr eben den schönsten Witz erzählt.

»Was ist daran so lächerlich?«, erkundigte sich Denise befremdet.

»Weil alle Welt sich anstrengt, mich und mein Kind unterzubringen. Soll ich Ihnen etwas anvertrauen, Frau von Schoenecker? Ich habe Achim belogen. Ich wollte ihn zwingen, zu seinem Wort zu stehen. Ich dachte, dass er vor Isolde Angst haben würde. Leider ist die Rechnung nicht aufgegangen. So – damit wäre das Problem wohl aus der Welt.«

Denise brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen. Ein Blick in Lieselotts kalte, triumphierend blickende Augen belehrte sie, dass diese Frau ganz gewiss zu einem solchen Manöver fähig war.

»Ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit, Fräulein Engel«, brachte Denise mühsam hervor. Davon, dass sie sich die beschwerliche Fahrt hätte ersparen können, sprach sie nicht.

»Einmal musste Achim es ja herausfinden – früher oder später«, erklärte Lieselott schulterzuckend. »Ich bin doch nicht so unerfahren, dass ich mich auf ein derartiges Risiko eingelassen hätte.«

Ihre zynischen Worte verletzten Denise. Doch sie blieb freundlich und höflich, denn im Grunde ihres Herzens war sie grenzenlos erleichtert. Schon fünf Minuten später verließ sie das Café und ging zu dem Parkplatz, wo der Chauffeur im Wagen auf sie wartete.

»Nach Hause«, sagte sie. »Es ist schneller gegangen, als ich dachte.«

*

Achim kam persönlich nach Sophienlust, um Isolde und Micki abzuholen.

»Vati«, jubelte Micki. »Tante Isolde ist jetzt meine Mutti. Weißt du das schon?«

Achim hob das kleine Mädchen empor und küsste es zärtlich. »Ja, Micki, sie hat es mir schon verraten«, flüsterte er dem kleinen Ding ins Ohr.

Die Koffer wurden gebracht, die Abschiedsstunde schlug. Alle Kinder von Sophienlust bildeten ein Spalier, wobei sie blaue Luftballons in den Händen hielten. Das hatte sich Nick ausgedacht.

»Viel Glück, Micki Luftballon«, riefen die Kinder. »Vergiss uns nicht.«

Nein, das würden weder Achim noch Isolde noch die kleine Micki tun. Wer einmal zur Gemeinschaft von Sophienlust gehört hatte, fühlte sich für alle Zeit dazugehörig.

Der Wagen fuhr langsam an. Micki hielt Renatas Teddy auf dem Schoß und winkte eifrig durch das Heckfenster des Wagens.

Achim nahm Isoldes Hand ganz rasch in die seine, ehe er Gas gab. »Wir hätten das andere Kind auch genommen«, flüsterte Isolde ihm zu. »Es tut mir sogar ein ganz kleines bisschen leid.«

»Dass du gar nicht eifersüchtig bist«, gab er zurück. »Du beschämst mich sehr.«

»Lassen wir das Vergangene ruhen, Achim. Schauen wir in die Zukunft.«

»Kann man das Haus schon sehen?«, piepste Micki aufgeregt.

»Aber nein, wir müssen ein paar Stunden fahren«, erklärte Achim.

»Fein, ich fahr’ gern mit euch.«

Doch es dauerte nicht allzu lange, bis das kleine Mädchen eingeschlafen war. Wie ein Kätzchen zusammengerollt, lag Micki auf dem rückwärtigen Sitz.

»Süß sieht sie aus«, lächelte Isolde. »Ich bin sehr, sehr glücklich.«

»Sophienlust ist ein Zauberreich«, antwortete Achim strahlend. »Es hat uns alles, was wir verloren hatten, zurückgegeben. Weißt du, mir war gleich seltsam zumute, als ich sah, wie ähnlich du Frau von Schoenecker bist.«

»Dabei ist das nichts als ein zufälliges Spiel der Natur.«

»Genau weiß man so etwas nie. Frau von Schoenecker ist eine wirklich außergewöhnliche Frau – und du bist es auch.«

Isolde errötete. »Oh, Achim, sag das bitte nicht. Ich habe so schrecklich versagt.«

»Wenn das Anhalten auf der Autobahn nicht verboten wäre, würde ich jetzt an den Rand fahren und dich so lange küssen, bis du mich um Gnade bittest, Isolde.«

Während in Sophienlust eine Luftballonpolonaise durch sämtliche Räume des Herrenhauses veranstaltet wurde, fuhr der Wagen, in dem sich die neu vereinte Familie von Rettwitz befand, heimwärts ins Glück.

Sophienlust Box 14 – Familienroman

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