Читать книгу Sophienlust 144 – Familienroman - Aliza Korten - Страница 3
ОглавлениеDie Überschwemmung war über Nacht gekommen. Niemand hatte damit gerechnet, dass das Wasser den Campingplatz erreichen würde. Doch die schweren Regenfälle hatten die Flüsse innerhalb weniger Stunden anschwellen lassen. Urlaubsfreuden hatten sich in Angst und Not gewandelt.
»Müssen wir ertrinken, Onkel Luchs?«, fragte die kleine Peggy mit entsetztem Gesichtchen, als sie vorsichtig zum Fenster des geräumigen Wohnwagens hinausspähte. »Es ist wie mitten im Meer.«
Eugen Luchs, Schriftsteller und Märchenonkel, ein etwas untersetzter Mann mit mächtigem rötlichem Vollbart, streichelte Peggy, sein dunkelhäutiges Pflegekind aus Swasiland, beruhigend.
»So ein Hochwasser geht schnell vorüber, Peggy. Wir sind hier noch ganz gut dran, weil der Campingplatz etwas höher liegt. Im Dorf mag es übel aussehen.«
Peggy kuschelte sich verschüchtert zusammen. Sie fürchtete sich, wollte das aber nicht eingestehen. Die Freude an der schönen Reise nach Kärnten war ihr gründlich vergangen.
Indessen versuchte Eugen Luchs sich über Peggys schwarzen Krauskopf hinweg ein wenig zu orientieren. Er sah, dass andere Wagen über die gut befestigte Anfahrt des Campingplatzes zur erhöhten Landstraße gelangten. Sofort entschloss er sich, das ebenfalls zu versuchen, denn ein weiteres Verbleiben auf dem überschwemmten Campingplatz erschien ihm sinnlos.
Es war eben acht Uhr, und der Schriftsteller schaltete das Radio ein, um sich zunächst über das Ausmaß der Katastrophe zu informieren. Peggy lauschte den Worten des Sprechers nicht weniger aufmerksam als ihr Pflegevater. Schließlich sagte sie bestürzt: »Überall sind die Flüsse so wild geworden wie hier, Onkel Luchs. Wie kommen wir jetzt hier weg?«
»Wir werden versuchen, das Überschwemmungsgebiet zu umfahren, Peggy. Das ist die einzige Möglichkeit. Du brauchst keine Angst zu haben. Schau mal, die anderen Wagen schaffen es auch bis zur Landstraße.«
Tatsächlich fuhren immer mehr Autos mit Anhängern sowie Campingwagen vom überfluteten Platz auf die Straße hinauf. Viel mehr als nasse Füße hatte sich hier offenbar keiner geholt. Doch der Rundfunk hatte berichtet, dass andernorts Menschen in ernste Gefahr geraten waren.
»Ob sie in Sophienlust jetzt denken, dass wir schon tot sind?«, fragte Peggy mit runden Kinderaugen.
»Ich hoffe, sie machen sich keine Sorgen um uns, Peggylein. Aber wir werden ihnen vielleicht ein Telegramm schicken, falls wir an einem Postamt vorüberkommen.«
Eugen Luchs richtete das Innere des Wohnwagens für die Weiterfahrt her und versorgte Peggy und sich selbst mit Frühstück. Auch Balthasar, Peggys kleiner Collie, bekam etwas.
Schließlich stapfte Eugen Luchs in hohen Gummistiefeln einmal um seinen Wohnwagen herum und überzeugte sich, dass alles in Ordnung war. Ein Blick unter die Motorhaube wirkte recht beruhigend. Die Wassermassen hatten keinen Schaden angerichtet.
Der Schriftsteller, das Kind aus dem fernen Afrika und der kleine Hund setzten sich nun auf die Vordersitze. Willig sprang der Motor an. Trotzdem erwies es sich als schwierige Aufgabe, den schweren Wagen im Wasser auf dem schlammigen Wiesengrund zu wenden und zur befestigten Anfahrt zu lenken. Erst nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen hatten sie festeren Boden unter den Rädern und erreichten endlich die höher gelegene Landstraße. Dort warteten andere Feriengäste, die vom Unwetter überrascht worden waren. Man tauschte Erfahrungen und Ratschläge aus. Doch Genaueres war nicht zu erfahren.
Eugen Luchs zog seine Karte zu Rate und beschloss, sich zunächst nach Westen zu wenden, um das mutmaßliche überschwemmte Gebiet in weitem Bogen zu umgehen.
Peggy schöpfte wieder Mut, sobald sie ein Stück gefahren waren. Im nahegelegenen Dorf sah es wider Erwarten gar nicht so schlimm aus. Einige Häuser am Fluss waren in Mitleidenschaft gezogen und standen im Wasser. Doch die Bewohner hatten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Niemand sei zu Schaden gekommen, hieß es.
Im Postamt gab Eugen Luchs ein Telegramm auf. Es war an Frau Denise von Schoenecker, Kinderheim Sophienlust, adressiert.
»In zwei bis drei Stunden weiß Tante Isi, dass uns nichts passiert ist«, sagte er zu Peggy, die brav im Wagen gewartet hatte.
»Das ist gut«, meinte die kleine Schwarze. »Sie würden sich bestimmt ängstigen. Und Henrik natürlich auch.«
»Die anderen Kinder nicht?«, fragte Eugen Luchs lächelnd.
»Alle, das ist doch klar, Onkel Luchs. Aber Henrik ganz besonders, weil er mein bester Freund ist.«
»Schon gut, Peggylein. Fahren wir weiter. Angeblich soll es weiter flussabwärts schlimmer sein mit dem Hochwasser. Wir werden es erleben.«
»Balthasar, einsteigen, wir fahren weiter«, rief Peggy dem entzückenden Collie zu, der ein bisschen auf der Dorfstraße herumgetollt hatte.
Nur ungern kehrte der kleine Hund in den Wagen zurück. Zwar liebte er Peggy abgöttisch und wollte sich um keinen Preis von ihr trennen, doch waren lange Wagenfahrten nicht unbedingt nach seinem Hundegeschmack.
Weiter ging’s. Leider stellte sich schon nach wenigen Kilometern heraus, dass sie nun erst richtig ins Hochwassergebiet hineinkamen. Zudem öffnete der Himmel unversehens erneut seine Schleusen und ließ nochmals riesige Wassermassen herab. Man konnte kaum noch etwas sehen. Aber an eine Umkehr war auf der verhältnismäßig schmalen Uferstraße auch nicht zu denken.
Eugen Luchs hielt an einer etwas geschützten Stelle an. Ringsum war plötzlich eine Wasserwüste. Im Fluss neben der Straße trieben Holzstücke und Bäume in rasendem Tempo vorbei. Mit Besorgnis stellte der Schriftsteller fest, dass das Wasser ständig stieg, und zwar sehr rasch. Er konnte sich ausrechnen, dass die Uferstraße bald überschwemmt sein würde. War es ein Fehler gewesen, dass er weitergefahren war?
Im fast undurchdringlichen Regen wurden jetzt die Umrisse eines Personenwagens sichtbar, der unmittelbar hinter dem Wohnwagen des Schriftstellers hielt. Eine verängstigte Familie saß in dem Wagen. Eugen Luchs stieg aus und verständigte sich mit dem Fahrer, der Mühe hatte, seine Frau und seine beiden Kinder zu beruhigen. Man beschloss, zunächst einmal abzuwarten.
Nass, aber zufrieden, kehrte Eugen Luchs zu Peggy und Balthasar zurück. Er gab Peggy einen Apfel und sagte ermunternd: »Jedenfalls kannst du später in Sophienlust erzählen, dass wir ein richtiges Abenteuer erlebt haben.«
»Ist das ein Abenteuer?«
»Das kann man wohl sagen. Wir sind regelrecht vom Wasser abgeschnitten. Die Straße führt dort hinten bergab und mitten hinein ins Wasser. Schau, jetzt kommen schon ein paar Wellen bis zu uns herauf.«
»So ein Wohnwagen müsste schwimmen können«, piepste Peggy besorgt.
»Seetüchtig sind wir leider nicht. Aber es ist anzunehmen, dass wir hier keine nassen Füße bekommen werden. Wir müssen nur Geduld haben.«
Peggy schwieg. Sie war nicht ganz getröstet.
Nach etwa zwei Stunden war die Straße völlig überflutet. Eugen Luchs betrachtete das gelblich-schmutzige Wasser des sonst so harmlos wirkenden Flüsschens mit gerunzelter Stirn und strich nachdenklich über seinen Vollbart. »Ich rede noch einmal mit dem Herrn im Auto da hinten, Peggy. Versprich mir, dass du dich nicht von der Stelle rührst.«
»Kommst du auch gleich wieder?«, fragte Peggy unsicher. »Ich bleibe nicht gern allein.«
»Balthasar ist ja bei dir. Es dauert auch nur ein paar Minuten, dann bin ich wieder da.«
»Okay, Onkel Luchs. Aber bestimmt nur ein paar Minuten. Sonst habe ich nämlich Angst – wegen des Wassers. Es wird immer mehr.«
Damit hatte die kleine schwarze Peggy wirklich recht. Eugen Luchs wollte nicht zugeben, dass auch ihm das ständig steigende Wasser bereits unheimlich wurde. Vorsichtig öffnete er die Seitentür des Wagens, um auszusteigen. Doch er hatte dabei nicht auf den kleinen Collie geachtet, der sich eingeschlossen fühlte und ausgerechnet in diesem ungeeigneten Augenblick einen unwiderstehlichen Drang nach Freiheit verspürte. Der Hund schlüpfte, ohne die Gefahr zu erkennen, ins Freie und wurde sofort vom Wasser weggerissen.
»Balthasar!«, schrie Peggy so laut, dass Eugen Luchs zusammenfuhr. Schon wollte sie ihrem Liebling nachspringen, um ihn zu retten. Doch dem Schriftsteller gelang es, sie zurückzuhalten. Peggy wehrte sich und strampelte wild um sich. »Lass mich, ich muss Balthasar retten«, keuchte sie. »Er ertrinkt.«
Eugen Luchs hatte Mühe, sein Pflegetöchterchen zu bändigen. »Du willst wohl auch weggeschwemmt werden, du Dummchen?«, schalt er liebevoll. »Das Wasser ist gefährlich. Nur hier im Wagen bist du sicher.«
»Sehe ich Balthasar nie wieder?«, schluchzte Peggy verzweifelt. »Ich habe ihn doch lieb. Du darfst ihn nicht ertrinken lassen.«
»Ich will alles versuchen, Peggy. Aber ich fürchte, jede Hilfe kommt für unseren kleinen Freund schon zu spät. Erst einmal musst du vernünftig sein und mir dein Ehrenwort geben, dass du im Wagen bleibst.«
Peggy beruhigte sich. »Gut, ich bleibe hier. Schau mal, da ist er!«, die scharfen Augen des Naturkindes aus Afrika hatten den Collie erspäht. Der Hund klammerte sich ein Stück flussabwärts an einen Baum, der vom Wasser schon teilweise entwurzelt war.
Eugen Luchs platzierte zunächst Peggy sicher auf dem Vordersitz und ergriff ihre braune Patschhand.
»Ehrenwort – du rührst dich nicht von der Stelle?«
»Großes Ehrenwort, Onkel Luchs. Mach bloß schnell, sonst kann sich Balthasar nicht mehr halten.«
Das Missgeschick des Hundes war auch vom anderen Wagen aus beobachtet worden. Gleichzeitig mit Eugen Luchs schickte sich der Vater der beiden Kinder an, einen Rettungsversuch zu unternehmen, obwohl seine Frau ihn zurückzuhalten versuchte.
Atemlos vor Spannung und Angst verfolgte Peggy das Manöver. Ihr geliebter Onkel Luchs und der Fremde arbeiteten sich Schritt für Schritt durch das Wasser vorwärts, das ihnen bis über die Waden reichte. Sie mussten äußerst vorsichtig sein, um nicht am Rande der schmalen Uferstraße ins tiefe Wasser zu geraten. Deshalb hielten sie sich ganz dicht am Hang und fassten einander bei den Händen um jedes Risiko auszuschalten.
Peggy hatte das Fenster heruntergekurbelt. »Halte dich fest, Balthasar. Es dauert nicht mehr lange«, rief sie ihrem kleinen Hund zu.
Endlich konnte Eugen Luchs das zitternde Tier in die Arme nehmen und den Rückweg antreten. »Dummer kleiner Balthasar«, schalt er mit seiner tiefen Stimme. »Das hättest du dir und uns ersparen können.«
Der Collie winselte leise. Wahrscheinlich sollte das heißen, dass es ihm leid tue.
Nun, da der Hund in Sicherheit war, spähten die beiden Männer über die tosende Wasserwüste. Man sah jetzt nicht nur Möbelstücke flussabwärts treiben, sondern auch Teile eines Daches. Das waren Anzeichen einer Katastrophe, die flussaufwärts im Gange sein musste.
Kurz vor dem Wohnwagen verhielt Eugen Luchs plötzlich den Schritt. »Da sehen Sie, ein Kind!«, rief er erregt aus.
In unmittelbarer Nähe des Ufers trieb ein großes Brett, an das sich voller Angst ein kleines Kind festklammerte.
Die beiden Männer verstanden einander auch ohne Worte. Keiner kannte vom anderen den Namen, aber beide wussten, dass sie das Kind retten mussten, koste es, was es wolle.
»Pass auf, Peggy!« Eugen Luchs öffnete die Tür des Wohnwagens und stieß den Hund hinein. Dann wandte er seine volle Aufmerksamkeit dem Kind im Wasser zu.
Die beiden Männer mussten sich beeilen, damit das Brett nicht vorübertrieb. Ohne zu zögern verließ der Schriftsteller die noch einigermaßen sichere Straße und trat auf die tiefer liegende Uferwiese, die zu diesem Zeitpunkt schon mit zum Flussbett gehörte. Der Fremde folgte ihm.
Wieder hielten die beiden Männer sich bei den Händen. Glücklicherweise verloren sie nicht den Boden unter den Füßen. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das Brett zu fassen, als es herantrieb. Es drehte sich zunächst ein paarmal und drohte in die Mitte des Flusses gewirbelt zu werden, kam aber schließlich wie durch ein Wunder genau auf Eugen Luchs zu, der es mit beiden Händen packte, ohne auf seine eigene Sicherheit zu achten.
Der Fremde griff ebenfalls sofort zu. Das Kind, ein kleines Mädchen, war durchnäßt und vor Angst oder Kälte völlig erstarrt. Es war ein hartes Stück Arbeit für die beiden Männer, mit dem Kind zu den beiden Wagen zurückzukehren.
»Welch ein Segen«, flüsterte die Frau des unbekannten Helfers. »Ich habe gezittert. Sie schwebten beide in Lebensgefahr. Doch nun ist das Kind gerettet.«
Fürsorglich und liebevoll nahm sie sich des kleinen Mädchens an. Ihre Kinder halfen ihr dabei. Das kleine Mädchen wurde entkleidet, trockengerieben und in eine Decke eingewickelt, die Eugen Luchs brachte. Da im Wohnwagen mehr Platz war, legten sie das Kind auf Peggys Bett, wo es teilnahmslos, mit geschlossenen Augen vor sich hin dämmerte.
Nun endlich ergab sich die Gelegenheit einer gegenseitigen Vorstellung. »Ich bin Arzt«, sagte der Fremde. »Mein Name ist Dr. Henseler.«
»Eugen Luchs«, entgegnete der Schriftsteller und machte dazu eine kleine Verbeugung. »Wollen Sie die Kleine untersuchen? Sie gefällt mir nicht. Wasser hat sie nicht geschluckt. Aber so, wie sie da liegt …«
Dr. Henseler beugte sich über das schmale Bett. Er fühlte den Puls des Kindes, tastete den kleinen Körper nach Verletzungen ab und prüfte einige Reflexe.
»Wie heißt du?« fragte er freundlich. »Dir ist nichts passiert. Du brauchst jetzt auch keine Angst mehr zu haben. Schau nur, der Regen hat aufgehört. Sobald wir durchkommen können, bringen wir dich nach Hause.«
Das Kind starrte ihn nur an und schwieg. Es weinte nicht einmal.
Der Arzt stellte einige weitere Untersuchungen an und deckte die Kleine schließlich wieder sorgsam zu. »Setz dich zu ihr«, wandte er sich an Peggy. »Es tut ihr sicher gut, wenn jemand recht freundlich mit ihr spricht. Sie fürchtet sich.«
»Warum denn?«, wunderte sich Peggy, die Balthasar trockengerubbelt hatte und ihn nun zärtlich an sich drückte. »Balthasar ist schon wieder ganz lustig. Sie kann sich doch freuen, dass sie aus dem Wasser heraus ist.«
Dr. Henseler strich über Peggys Krauskopf, aber erst draußen sagte er zu Eugen Luchs: »Sie hat einen Schock erlitten. Es muss schrecklich für sie gewesen sein, so hilflos im Wasser zu treiben. Wir wollen sie jetzt nicht unnötig mit Fragen quälen.«
»Du musst endlich etwas Trockenes anziehen«, drängte Frau Henseler ihren Mann.
Da besann sich auch Eugen Luchs, dass er bis auf die Haut durchnäßt war und obendrein einen seiner schönen Gummistiefel verloren hatte. Dennoch war er glücklich. Er sagte sich, dass sie das kleine Mädchen ohne Balthasars waghalsigen Ausflug möglicherweise nicht bemerkt hätten. Was wogen ein paar nasse Kleidungsstücke und ein verlorener Stiefel schon gegen die Rettung eines Kindes?
Er blickte zum Himmel empor. Zwischen den jagenden Wolkenfetzen zeigte sich ein erster Sonnenstrahl. In ein paar Stunden würden sie es wagen können, zum nächsten Ort zu fahren, sofern die Uferstraße nicht an irgendeiner Stelle weggerissen worden war.
In der Abgeschiedenheit der Wasserwüste entstand von selbst eine freundschaftliche Gemeinschaft. Frau Henseler teilte Vorräte aus, und Eugen Luchs steuerte aus seinem Proviant etwas bei. Die Kinder bewunderten Balthasar, der jedoch jetzt nicht mehr dazu zu bewegen war, den sicheren Wohnwagen zu verlassen.
»Das Wetter wird besser«, stellte Dr. Henseler fest. »Es kommt mir vor, als fange das Wasser schon an zu fallen.«
Eugen Luchs nickte. »Das geht rasch hier. Ehe man sich’s versieht, ist man vom Hochwasser eingeschlossen, aber fast ebenso schnell verschwindet der Spuk wieder. Trotzdem richtet ein solches Unwetter oft viel Unheil an. Wer weiß, was aus den Eltern des kleinen Mädchens geworden ist, das wir gerettet haben.«
Es dauerte dennoch bis zum frühen Abend, ehe sie vorsichtig die Weiterfahrt antreten konnten, ständig darauf gefasst, von einem Hindernis aufgehalten zu werden.
Peggy kauerte auf dem Fußboden des Wohnwagens neben dem Bett und flüsterte auf das fremde Kind ein, das etwa drei oder vier Jahre alt sein mochte.
Mit Dr. Henseler verständigte sich Eugen Luchs durch laute Zurufe. Einmal blieb der Personenwagen im Schlamm stecken. Die beiden Männer schoben ihn wieder an, während Frau Henseler am Steuer saß. Eine Vergnügungsfahrt war es nicht, und sie brauchten zu den sieben Kilometern anderthalb Stunden. Es war wie eine Erlösung, als das erste Haus auftauchte, ziemlich hoch am Hang gelegen und vom Hochwasser unberührt. Sie hielten an und erkundigten sich, was im Dorf geschehen war.
Nur die alte Großmutter war daheim. Alle anderen Hausbewohner waren ins Dorf geeilt, um zu helfen. Die Großmutter berichtete, dass es Tote und Verletzte gegeben habe. Einige Häuser seien völlig zerstört worden. Auch Vieh sei ertrunken.
Bedrückt setzten sie die Fahrt fort. Im Ort wandten sie sich sogleich an die Polizei, um die Rettung des Kindes zu melden.
»Der Name?«, fragte der Beamte.
»Das Kind hat ihn uns bis jetzt nicht genannt«, erwiderte Eugen Luchs. »Aber es muss ja aus der Gegend hier sein. Wahrscheinlich aus einer der kleinen Ortschaften flussabwärts.«
»Das ist richtig. Vielleicht kann jemand die Kleine erst einmal aufnehmen. Mit den Personalien beschäftigen wir uns später. Es gibt Wichtigeres zu tun. Sie können sowieso nicht weiterfahren.«
»Wieso nicht?«, fragte Eugen Luchs betroffen.
»Die Brücke ist weggerissen worden. Ein paar Tage werden Sie wohl hierbleiben müssen. Bis dahin dürfte sich auch herausstellen, wem das Kind gehört.«
Eugen Luchs kehrte zu den Henselers und zu Peggy zurück.
»Ja, ich habe schon gehört, dass man nicht weiterfahren kann«, sagte der Doktor. »Außerdem fehlt hier dringend ein Arzt. Ich habe mich zur Verfügung gestellt. Wir können glücklicherweise ein Zimmer im Gasthof bekommen. In allen übrigen Zimmern wohnen bereits Obdachlose. Genügt Ihnen Ihr Wohnwagen? Sonst bringen wir Sie und die beiden Kinder eben auch noch in dem einen Raum unter. Es sind Notzeiten.«
»Danke, Doktor. Wir sind daran gewöhnt, im Wagen zu übernachten. Sie werden es zu viert gerade eng genug haben. Selbstverständlich helfe ich gern bei den Aufräumungsarbeiten, falls man mich brauchen kann.«
»Fragen Sie den Bürgermeister. Er leitet den gesamten Einsatz. Es ist erstaunlich, wie umsichtig und besonnen diese Katastrophe hier gemeistert wird.«
So mussten sie zunächst in dem kleinen Ort am Fluss ausharren. Eugen Luchs stellte den Wohnwagen neben dem Gasthof ab. Das gerettete Kind bekam Kleider aus dem Dorf. Es ließ sich ankleiden wie ein Püppchen. Doch nach einer Weile begann es leise vor sich hin zu weinen.
»Kümmere dich um sie, Peggy«, flüsterte der Schriftsteller der kleinen Schwarzen ins Ohr. »Ich muss im Dorf helfen. Es ist allerlei passiert.«
Peggy nickte ernsthaft. Sie kam sich sehr wichtig vor.
»Musst nicht weinen«, sagte sie zu der Kleinen. »Schau, Balthasar mag dich.«
Der Collie schnupperte am Beinchen des Kindes.
»Mutti«, schluchzte die Kleine auf. »Wo ist meine Mutti?«
Peggy legte das Krausköpfchen schief. »Weiß ich nicht«, gestand sie freimütig. »Ich kenne sie doch gar nicht.«
»Mutti«, wiederholte das Kind kläglich.
»Onkel Luchs findet deine Mutti vielleicht. Er ist furchtbar klug und kann beinahe alles. Als ich niemanden mehr hatte, ist er einfach gekommen und hat mich aus Afrika nach Deutschland mitgenommen. Kannst du dir das vorstellen?«
Das Kind schüttelte den Kopf. Es war ein hübsches kleines Mädchen mit langem Blondhaar. Aber es sah erbärmlich traurig aus, weil es sich nach seiner Mutter sehnte.
»Onkel Luchs hat gesagt, wir müssen warten, bis das dumme Wasser weg ist. Nachher suchen wir deine Mutti. Oder die Polizei sucht sie. Sie kann doch nicht einfach weg sein.«
»Meine Mutti ist weg«, stieß das Kind mutlos hervor.
Peggy schlang das kaffeebraune Ärmchen um den Hals des kleinen Mädchens. »Mach dir bloß keine Sorgen«, sagte sie altklug. »Onkel Luchs schafft schon Rat. Vielleicht nimmt er dich mit nach Sophienlust. Dort ist es wunderschön. Es wohnen viele Kinder dort. Wer mag, kann auf einem Pony reiten. Einen Papagei gibt es auch, einen schönen Park, einen Märchenwald, eine prima Köchin und natürlich unsere liebe Tante Isi.«
»Was ist das – ein Papagei?«, fragte das Kind und schien seinen Kummer für den Augenblick vergessen zu haben.
»Ein Papagei ist ein großer bunter Vogel aus einem fremden Land. Dort sind die Vögel so klug, dass sie sprechen können. Unser Papagei gehört Nick. Er heißt Habakuk und redet einen Haufen lustiges Zeug.«
»Das glaube ich nicht, dass ein Vogel reden kann wie ein Mensch.«
»Wenn Onkel Luchs wieder da ist, musst du ihn fragen. Ich schwindle nicht.« Peggy rollte ihre Kulleraugen.
»Ich will zu meiner Mutti«, begann das Kind erneut zu jammern. »Warum ist sie nicht da?«
Peggy hob ratlos ihre Schultern. »Vielleicht hat es etwas mit dem Unwetter zu tun. Wohnst du hier in der Nähe?«
»Nein, ich …, ich weiß nicht. Wir sind schon lange unterwegs.«
»Weißt du wenigstens, wie du heißt? Oder magst du’s nicht sagen?«
Peggy hatte eine entwaffnende Art, die ihr bei groß und klein stets sofort die Herzen öffnete. Auch das verstörte Kind verlor jetzt seine Scheu.
»Gudrun«, antwortete es leise.
»Und weiter? Man hat doch meistens noch einen zweiten Namen.«
Gudrun zog das Näschen kraus und dachte nach. »Gudrun«, wiederholte sie mit Entschiedenheit. »Sonst gar nichts?«
Peggy reckte sich zur vollen Höhe ihres noch nicht ganz schulpflichtigen Alters auf. »Du bist eben noch sehr klein«, erklärte sie etwas von oben herab. »Aber es macht nichts. Gudrun ist auch schon etwas. Willst du mit mir spielen?«
Gudrun seufzte. »Ich will zu meiner Mutti, Peggy. Warum bist du eigentlich so braun?«
»Ich hab’ dir doch schon erzählt, dass ich aus Afrika gekommen bin. Dort sind die Leute halt so braun. Gefällt’s dir etwa nicht?«
»Doch, ich möchte auch so aussehen. Schau mal, mein Arm ist ganz weiß neben deinem. Deinen möchte man aufessen. Es ist wie aus Schokolade.«
Peggy lachte. »Wenn du mich anbeißt, beiße ich dich auch, Gudrun. Ich bin nicht aus Schokolade. Also – spielen wir etwas?«
Gudrun schüttelte den Blondkopf mit dem seidigen Haar. »Ich mag nicht, Peggy. Ich bin zu traurig.«
»Schade, wenn man so richtig spielt, vergisst man die Sorgen. Oder wenn Onkel Luchs Geschichten erzählt. Leider ist er nicht hier.«
»Was für Geschichten? Märchen?«
»Nein, Tiergeschichten. Er ist schon in der ganzen Welt herumgereist und hat viel Tierbücher geschrieben. Bei uns daheim erzählt er sogar im Radio Tiergeschichten.«
Gudrun schwieg. Sie war sicherlich noch zu klein, um das, was Peggy ihr erzählte, zu verstehen. Immerhin weinte sie nicht mehr. Das war ein erster Erfolg von Peggys Bemühungen.
Es wurde ziemlich spät, ehe Dr. Henseler und Eugen Luchs zurückkehrten. Sie waren erschöpft, aber mit der geleisteten Arbeit zufrieden. Ein Hubschrauber hatte einige Verletzte nach Klagenfurt ins Krankenhaus gebracht, nachdem Dr. Henseler sie notdürftig versorgt hatte.
Das Gastwirt brachte allen warmes Essen.
»Gudrun heißt du also«, sagte Eugen Luchs, nachdem Peggy berichtet hatte, und steckte der Kleinen ein Stück Schokolade in den Mund. »Jetzt kommen wir sicherlich weiter.«
»Wo ist meine Mutti?«, fragte Gudrun leise.
»Vielleicht finden wir sie morgen«, tröstete der Schriftsteller die Kleine sanft. »Jetzt müssen wir schlafen. Es ist schon viel zu spät für euch Kinder.«
»Ich bin älter als Gudrun«, ließ sich Peggy vernehmen.
»Wenn schon – ins Bett gehörst du jetzt auch.«
Eugen Luchs versorgte die beiden Kinder. Es gab im Wohnwagen eine zusätzliche Schlafgelegenheit. Peggy schlief sofort ein, während Gudrun noch ein Weilchen nach ihrer Mutter jammerte, dann aber von der Müdigkeit überwältigt wurde. Der Collie machte es sich in seinem Korb zu Peggys Füßen bequem. Nun konnte auch der Schriftsteller endlich daran denken, sich auszustrecken. Ein Glück, dass sie in Sophienlust nicht ahnen, wie es uns nach der Absendung des Telegramms ergangen ist, dachte er, bevor er einschlief.
*
Denise von Schoenecker stand vom Frühstückstisch auf.
»So eilig?«, fragte Alexander von Schoenecker etwas enttäuscht. »Ich dachte, wir hätten noch ein wenig Zeit.« Er erhob sich ebenfalls und schloss seine Frau zärtlich in die Arme. »Wenn ich dich festhalte, kommst du einfach nicht weg«, scherzte er.
Denise küsste ihn. »Sei nicht böse, Alexander. Frau Rennert musste dringend für ein paar Tage verreisen, deshalb werde ich in Sophienlust gebraucht.«
»Du wirst auch in Schoeneich gebraucht, und zwar in erster Linie von mir.« Alexander sagte es lächelnd und ohne Vorwurf. Längst hatte er die von seiner Frau übernommene schöne Aufgabe akzeptiert und sie sich zu eigen gemacht. Dennoch bedauerte er gelegentlich, dass ihnen die mannigfachen Pflichten nur wenig Zeit für ungestörte Mussestunden zu zweit ließen.
Arm in Arm verließen die beiden die Halle des Gutshauses. Vor der Tür stand Denises Wagen. Höflich hielt ihr Mann ihr den Schlag auf.
Eben wollte sie den Gang einlegen, als zwei Buben aus dem Hause stürmten. »Nimmst du uns mit, Mutti?«
»Aber ihr habt nicht gefrühstückt, ihr Faulenzer«, wandte der Vater ein. »Die Ferien verderben hier alle guten Sitten.«
»Wir kriegen bei Magda schon etwas«, antwortete Henrik, der jüngste der Familie, unbekümmert. Seine Eltern konnten manchmal kaum glauben, dass er inzwischen schon ein Schulbub geworden war.
»Magda macht uns bestimmt Spiegeleier auf Speck«, fügte Nick, ein lang aufgeschossener Gymnasiast hinzu, der seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war.
»Kommt schon, ich habe nicht viel Zeit«, drängte Denise.
Die Jungen kletterten in den Wagen. Alexander von Schoenecker hob grüßend die Hand. »Ich komme mittags nach Sophienlust«, rief er fröhlich hinterher.
»Weil Magda so gut kocht«, stellte Nick, der eigentlich auf den Namen Dominik getauft war, fest. »Vati lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, einmal drüben zu essen.«
Denise lachte. »Er kommt, weil er mich sonst den ganzen Tag nicht sieht, Freundchen. Nicht alle Leute denken nur ans Essen.«
Henrik zog eine Flunsch, was Denise im Rückspiegel deutlich sehen konnte. »Aber Magda ist die beste Köchin der Welt«, stellte er rechthaberisch fest.
»Streiten wir uns nicht. Habt ihr gut geschlafen? Wie steht’s mit dem Zähneputzen, Henrik?«
»Geschlafen – prima, Mutti. Aber die Zähne habe ich leider vergessen. Ich musste doch so schnell machen, damit wir dich noch erwischten.«
»Als ob ihr keine Fahrräder hättet! Die Zähne sind wichtig, Henrik. Versprich mir, dass das Putzen in Zukunft nicht vergessen wird.«
»Geht in Ordnung, Mutti«, sagte der Knirps im Tone eines älteren Herrn.
Denise schmunzelte verstohlen. Henrik, ihr Benjamin, vereinigte in der heitersten Weise Eigenschaften aus ihrer eigenen Familie mit denen ihres Mannes. Er war das einzige Kind aus ihrer glücklichen Ehe mit Alexander von Schoenecker. Nick stammte aus ihrer ersten Verbindung mit Dietmar von Wellentin, der noch vor der Geburt seines Sohnes gestorben war.
Auch Alexander war verwitwet gewesen, als Denise ihn kennengelernt hatte. Er hatte zwei Kinder mit in die Ehe gebracht. Sascha und Andrea. Sascha studierte bereits in Heidelberg, während Andrea von der Schulbank weg den Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn geheiratet hatte und nun schon stolze Mutter eines Söhnchens war.
An diesem klaren Sommermorgen lenkte Denise von Schoenecker ihren Wagen in rascher Fahrt auf der Verbindungsstraße zwischen Gut Schoeneich und Sophienlust dahin. Sie sah, wie sich die Sonne im See spiegelte, und das Herz ging ihr auf, weil sie glücklich und dankbar war.
Nun tauchte das ehemalige Herrenhaus von Sophienlust vor ihnen auf. Es war ein stolzes Gebäude, und die Kinder, die hier eine neue Heimat gefunden hatten, sagten gern, dass es wie ein Schloss wirkte.
Nick, dem Sophienlust als Erbteil von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin zugefallen war, nannte Sophienlust stets das Haus der glücklichen Kinder. Denise aber hatte sich nach dem Willen der alten Dame der segensreichen Aufgabe verschrieben, aus dem ehemaligen Herrenhaus eine Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder zu machen und dieses Kinderheim zu leiten, bis sie die Verantwortung ihrem Sohn Dominik übertragen konnte.
Schwester Regine, für die Kleinsten im Heim verantwortlich, kam Denise am Portal des Herrenhauses entgegen und begrüßte die Angekommenen herzlich. Sie hatte in Sophienlust nach schwerem Schicksal einen neuen Wirkungskreis gefunden, den sie sehr liebte. In Abwesenheit der tüchtigen Heimleiterin, Frau Rennert, hielt sie die Zügel in Sophienlust in den Händen.
»Wo ist Pünktchen?«, fragte Nick.
Pünktchen, mit vollem Namen Angelina Dommin genannt, war Nicks besondere Freundin. Sie hatte lustige Sommersprossen auf dem kecken Näschen und wurde deshalb von jedermann Pünktchen genannt.
»Alle Kinder sind im Park, Nick«, entgegnete Schwester Regine. »Es ist eine tote Amsel gefunden worden. Die soll eingegraben werden.«
»Da müssen wir uns drum kümmern«, erklärte Henrik wichtigtuerisch. Schon waren die beiden Brüder verschwunden.
»Vergesst das Frühstück nicht«, rief die Mutter hinter ihnen her, ehe sie sich Schwester Regine zuwandte. »Sonst alles in Ordnung, Schwester Regine?«, fragte sie warm.
»Ja, Frau von Schoenecker. Wir wollen später im See baden, falls das Wetter sich hält. Oder haben Sie etwas dagegen?«
»Nein, warum denn? Die Ferientage müssen genutzt werden. Haben Sie die Post schon durchgesehen?«
»Nein. Sie ist gerade erst gekommen, Frau von Schoenecker.«
»Nun, dann weiß ich gleich, was ich zu tun habe.«
Denise betrat die Halle des Herrenhauses. Es war nicht sonderlich schwierig gewesen, dieses Gebäude für den neuen Zweck umzugestalten. Nur ein einziges war von allen Neuerungen unberührt geblieben. Das war das Biedermeierzimmer, das einst Sophie von Wellentin bewohnt hatte. Dort grüßte das lebendig gemalte Ölbildnis der alten Dame von der Wand, dort stand noch ihr Sekretär aus Kirschbaumholz, dort wehte auch heute noch ihr Geist. Denise zog sich gern in diesen Raum zurück und empfing dort auch Gäste. Oftmals hatte sie sich in Zweifelsfragen in stummer Zwiesprache mit dem Gemälde der alten Dame Rat geholt.
Auch heute nahm Denise die Post aus dem kleinen Büro mit ins Biedermeierzimmer, um ungestört arbeiten zu können. Sie fand Rechnungen, Anfragen, einen Bericht vom Jugendamt und einen Brief von Eugen Luchs. Diesen Brief öffnete sie zuerst.
»Da hätte er wirklich nicht zu fragen brauchen«, sagte sie nach dem Lesen halblaut vor sich hin. »Ich muss gleich mit Schwester Regine sprechen.«
Denise fand die Kinderschwester damit beschäftigt, das Badezeug der Kleinen zusammenzupacken. Die größeren Kinder konnten das schon selbst tun.
»Herr Luchs bringt uns ein Kind mit, Schwester Regine. Der Brief ist eine gute Woche unterwegs gewesen. Ich nehme an, dass Herr Luchs morgen oder übermorgen eintreffen wird. Vielleicht sogar noch heute.«
»Platz haben wir ja, Frau von Schoenecker. Ist es ein Waisenkind?«
»Das steht noch nicht fest. Herr Luchs hat die kleine Gudrun beim Hochwasser aus dem Fluss gerettet. Obwohl sofort eingehende Nachforschungen angestellt wurden, ließ sich nicht herausfinden, wem das Kind gehört. Es scheint nicht einmal seinen Familiennamen zu kennen. Wie es Herr Luchs fertiggebracht hat, die österreichischen Behörden davon zu überzeugen, dass es für Gudrun das Beste ist, nach Sophienlust gebracht zu werden, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er die Genehmigung erwirkt und bringt das Kind mit. Es soll bei uns bleiben, bis seine Herkunft geklärt ist.«
»Wo wäre ein solches Kind besser aufgehoben als hier bei uns?«, fragte Schwester Regine lächelnd. »Herr Luchs hat bestimmt richtig gehandelt.«
»Es bleibt immerhin zu hoffen, dass die Eltern sich finden. Das kleine Mädchen wird jedoch nirgends vermisst. Auch erinnert sich in den flussaufwärts gelegenen Ortschaften niemand daran, das Kind gesehen zu haben. Eine höchst mysteriöse Geschichte.«
»Ein armes kleines Ding.«
»Ja, das ist auch meine Meinung. Zuerst hatte Gudrun einen Schock. Peggy hat dann nach und nach wenigstens ihren Vornamen aus ihr herausgefragt.«
Schwester Regine lachte. »Peggy ist ein Tausendsassa. Wie alt ist Gudrun?«
»Drei bis vier Jahre.«
»Dann werde ich sie zu Heide Holsten ins Zimmer legen. Sicher ist es gut für die Kleine, wenn sie nicht allein schlafen muss.«
»Das ist ein guter Vorschlag. Nun will ich Sie nicht aufhalten, denn Sie möchten zum See. Viel Spaß.«
»Darf ich den Kindern schon etwas von Gudrun verraten?«
»Natürlich. Das ist kein Geheimnis. Möglicherweise steht Herr Luchs mit Peggy und Gudrun schon in ein paar Stunden hier vor der Tür.«
Denise kehrte ins Biedermeierzimmer zurück und konzentrierte sich auf die übrige Post, während Schwester Regine sich mit den Kindern auf den Weg zum See machte.
*
Nick hatte dem Bericht der Kinderschwester aufmerksam zugehört. Er fühlte sich für das Geschehen in Sophienlust schon durchaus verantwortlich.
»Ich bin froh, dass Herr Luchs das Kind einfach mitbringt«, meinte er und streckte die langen Glieder in der warmen Sonne am Seeufer aus. »Wer weiß, wie die kleine Gudrun überhaupt in den Fluss gekommen ist? Bei uns ist das Kind jedenfalls sicher.«
Schwester Regine warf ihm einen kurzen Blick zu.
»Wie meinst du das?«
»Na ja. Das Kind trieb hilflos im Wasser. Kein Mensch will es je gesehen haben. Da liegt doch der Gedanke an etwas Schlimmes ziemlich nahe.«
»Deine Phantasie reicht weit, Nick«, rief die Kinderschwester aus. »Du denkst doch nicht etwa an ein Verbrechen?«
Nick hob die Schultern. »Völlig ausschließen lässt es sich nicht, Schwester Regine.«
»Was für ein Verbrechen, Nick?«, fragte Irmela atemlos. Sie war eben mit Pünktchen und ein paar anderen Kindern um die Wette geschwommen und schüttelte nun das lange nasse Blondhaar aus.
»Sagen wir einmal, die Eltern hätten das Kind auf dem Brett ausgesetzt«, erklärte Nick zögernd.
»Blödsinn. So etwas tut doch keiner. Es war bestimmt gefährlich im Katastrophengebiet. Du hast doch die Aufnahmen von der Überschwemmung im Fernsehen gesehen. Außerdem hat uns Herr Luchs sogar ein Telegramm geschickt, dass ihm und Peggy nichts passiert ist. Also muss es ziemlich arg gewesen sein. Da setzt doch kein normaler Mensch ein kleines Mädchen auf einem Brett ins Wasser.«
»Stimmt – wenigstens theoretisch«, meinte Pünktchen, die meist dieselbe Ansicht vertrat wie Nick. »Aber praktisch bleibt die Tatsache bestehen, dass das Kind aus dem Wasser gefischt wurde und dass es niemand kennt. Das ist verdächtig.«
»Können es nicht Touristen gewesen sein? Vielleicht sind die Eltern umgekommen bei dem Hochwasser«, schaltete Irmela sich ein.
»Mir kommt die Geschichte nicht geheuer vor«, beharrte Nick auf seiner düsteren Behauptung. »Aber wir werden ja noch sehen, was herauskommt.«
»Sie ist noch nicht einmal vier«, stellte Fabian etwas verächtlich fest. »Mit so einem kleinen Mädchen kann man nicht richtig spielen.«
»Ich schon«, piepste Heidi Holsten. »Und sie wird auch in meinem Zimmer schlafen. Damit du es weißt, Fabian.«
»Bin gar nicht neidisch«, erwiderte der Bub patzig.
Schwester Regine griff ein. »Zankt euch nicht, Kinder. Wir freuen uns, dass ein kleines Mädchen zu uns kommt und werden alle sehr nett zu ihm sein.«
»Klar, sind wir nett«, brummelte Fabian. »Bloß spielen kann ich halt nicht mit ihr.«
Schwester Regine sah auf ihre Uhr. »Es ist schon spät. Wer noch einmal ins Wasser will, muss es jetzt tun. Magda wartet nicht gern mit dem Essen.«
Eine letzte fröhliche Wasserschlacht entwickelte sich. Henrik ließ sich auf dem Wasser treiben und spielte »Gudrun im reißenden Fluss«. Fabian »rettete« ihn unter lautem Geschrei. Die größeren Kinder beobachteten dieses Treiben ein wenig herablassend. Doch auch sie beschäftigten sich in Gedanken mit dem Schicksal des kleinen Mädchens, das aus den gefährlichen Fluten gerettet worden war.
*
»Es ist so schön wie ein richtiges Schloss. Der Papagei Habakuk wohnt in einem goldenen Käfig im Wintergarten, und alles gehört Nick.«
»Dem Nikolaus?«
Peggy lachte schallend. »Nick ist ein Junge, Gudrun. Er ist schon ziemlich groß. Aber er geht noch zur Schule.«
»Wenn er noch ein Junge ist, kann ihm das Schloss nicht gehören.«
»Du wirst schon sehen, es gehört ihm wirklich.«
»Ist er ein Prinz?«
»Nein, ein ganz richtiger Junge und sehr nett. Er macht sich nichts daraus, dass ihm Sophienlust gehört. Erst wenn er erwachsen sein wird, übernimmt er es richtig. Jetzt ist dafür Tante Isi da.«
Eugen Luchs stupste Peggy an. »Du redest und redest, Peggy. Es ist für Gudrun völlig unmöglich, sich aus deinen krausen Erklärungen einen Vers zu machen.«
»Es stimmt also nicht, Onkel Luchs?«, fragte Gudrun scheu. »Hat Peggy bloß ein Märchen erzählt? Gibt es gar keinen Vogel, der sprechen kann?«
»Doch, Kleines. Den Vogel werden wir dir zeigen. Wir sind nämlich gleich da. Und das Haus, das ein bisschen so ausschaut wie ein Schloss, gibt es ebenfalls. Lass dich überraschen.«
Die dunkle gütige Stimme hatte der kleinen Gudrun schon so oft Mut gegeben. Sie vertraute dem freundlichen Mann mit dem dichten Vollbart, obwohl es ihm bisher nicht gelungen war, ihre Mutti zu finden.
»Da ist das Haus«, schrie Peggy jetzt begeistert, sodass Balthasar erschrocken zusammenzuckte. Er war etwas geräuschempfindlich. Doch Peggy nahm darauf keine Rücksicht. Dazu war sie viel zu temperamentvoll.
Eben tauchte das Dach des Herrenhauses von Sophienlust zwischen den dicht belaubten Bäumen auf.
»Na, wie findest du es?«, wandte sich Peggy triumphierend an Gudrun.
»Wie ein Schloss«, bestätigte die Kleine. »Das stimmt.«
Wenige Minuten später hielt der große Wohnwagen vor dem Portal. Es blieb ein Rätsel, wie es möglich war, dass sofort sämtliche Sophienluster Kinder vor dem Haus erschienen, um die Heimkehrer und das neue Kind willkommen zu heißen.
Die kleine schwarze Peggy sprang als erste aus dem Wagen, gefolgt von Balthasar, der heilfroh war, dass er nicht länger fahren musste.
»Wir sind wieder da«, verkündete Peggy.
»Was du nicht sagst«, spottete Henrik, der den Collie zärtlich tätschelte.
Blitzschnell steckte Peggy dem Jungen die Zunge heraus. Henrik war zwar ihr bester Freund, doch kabbelten sich die beiden ständig.
Eugen Luchs hob Gudrun aus dem Wagen und stellte sie mitten zwischen die Kinder.
»So viele?«, fragte die Kleine verwundert.
»Wohnt ihr alle im Schloss?«
»Ein Schloss ist es nicht. Aber wir wohnen drin«, antwortete Pünktchen. »Du kannst es dir anschauen.«
»Ich … ich möchte den Vogel sehen, der sprechen kann«, verlangte Gudrun.
»Kannst du haben. Komm nur.«
Henrik nahm Gudruns Händchen und zog sie mit sich fort. Die übrigen Kinder folgten den beiden. Eugen Luchs stellte verwundert fest, dass er allein geblieben war. Sogar der Collie Balthasar hatte ihn im Stich gelassen. Das ist der Zauber des Hauses der glücklichen Kinder, dachte er bewegt. Sollten wir Gudruns Mutter nicht finden, dann weiß ich das Kind hier wohlgeborgen.
Eugen Luchs betrat die Halle. Aus dem Wintergarten hörte er die kreischende Stimme des Papageis Habakuk, der mit Begeisterung seine Künste zum besten gab. Mit einem Lächeln auf den Lippen klopfte er an die Tür des Biedermeierzimmers.
»Herein!« Denise war kaum überrascht, als der Schriftsteller vor ihr stand. »Halb und halb haben wir Sie schon heute erwartet, Herr Luchs. Ich freue mich, dass Sie heil wieder bei uns sind. Ihre Erlebnisse in Kärnten waren ein wenig anders als geplant.«
Eugen Luchs küsste Denises Hand. Er verehrte diese schöne gütige Frau aufrichtig. »Dafür bringe ich Ihnen die kleine Gudrun Namenlos, Frau von Schoenecker. Beinahe erscheint es mir fraglich, dass sich die Herkunft des Kindes je herausstellen wird. Deshalb war es mir wichtig, Gudrun zu Ihnen zu bringen.«
»Das haben Sie gut gemacht, Herr Luchs.«
»Es war nicht ganz einfach. Aber ich habe einen friesischen Dickschädel und setze ihn im Allgemeinen auch durch. Genau wie Nick bin ich felsenfest davon überzeugt, dass heimatlose Kinder nirgends auf der Welt besser aufgehoben sind als hier in Sophienlust bei Ihnen.«
»Danke. Das haben Sie lieb gesagt, Herr Luchs. Wo steckt denn Gudrun? Ich möchte sie begrüßen.«
»Die Kinder haben sie mit in den Wintergarten genommen. Peggy hat ihr von Habakuk erzählt. Deshalb wollte sie den Papagei sofort sehen.«
»Das Eis ist also bereits gebrochen, wie mir scheint.«
»Peggy und Gudrun verstehen sich ausgezeichnet. Sie kennen ja Peggys betuliche Art. Trotzdem kommt bei Gudrun immer wieder die Sehnsucht nach ihrer Mutter durch. Das wird wohl ziemlich lange dauern.«
»In der großen Gemeinschaft vergisst sich ein Schmerz leichter als anderswo, Herr Luchs. Wir wollen versuchen, die kleine Gudrun wieder glücklich zu machen.«
Denise ging in den Wintergarten. Die Kinder umringten sie und vergaßen Habakuk, der eben seine schönsten Schimpfworte herunterrasselte. Es war eine beachtliche Sammlung.
»Was soll die arme Gudrun denn von uns denken?«, schalt Denise lachend. Freundlich beugte sie sich zu dem kleinen Mädchen hinab und schloss es in die Arme. »Ich bin Tante Isi und habe dich lieb, Gudrun. Willst du bei uns in Sophienlust bleiben?«
Gudrun schaute sie zutraulich an.
»Bis meine Mutti kommt, Tante Isi«, sagte sie leise.
Denise strich über das weiche Haar des Kindes. »Ja, Gudrun, bis deine Mutti kommt.«
»Nick, altes Mistvieh«, keifte Habakuk höchst unfeierlich.
Gudrun lachte silberhell. »Er ist komisch, Tante Isi. Er bringt alle zum Lachen. Und jetzt möchte ich die kleinen Pferde sehen.«
»Klar, wir zeigen sie dir«, rief Henrik. »Kommt ihr alle mit?«
Die große Kinderschar verschwand mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Denise führte Eugen Luchs wieder ins Biedermeierzimmer und gab einem jungen Mädchen den Auftrag, Tee zu bringen.
»Auf eine gute Tasse Tee bei Ihnen hier in diesem Zimmer habe ich mich gefreut, Frau von Schoenecker«, gestand der Schriftsteller, als er das duftende Getränk vor sich hatte. »Nirgends schmeckt der Tee so gut wie bei Ihnen.«
»Haben Sie etwas Heimweh nach Sophienlust gehabt, Sie unsteter Vagabund?«, scherzte Denise.
»Das habe ich oft, wenn ich unterwegs bin. Doch allzu lange hält es mich trotzdem nicht hier. Ich stamme wahrscheinlich von Zigeunern oder anderen Nomadenvölkern ab und wurde rein zufällig auf der Hallig Hooge geboren. Schon als Junge war ich voller Unruhe und wollte in die Ferne.«
Denise nickte ihm zu. »Ich weiß es, Herr Luchs, Ihrem Fernweh verdanken wir viele schöne Bücher und Erzählungen. Mein Mann und ich rechnen es uns zur besonderen Ehre an, dass Sie Ihren zeitweiligen Wohnsitz hier genommen haben.«
»Sie stellen die Dinge auf den Kopf, Frau von Schoenecker. Das Stückchen Land, das mir von Ihrem Gatten für meinen Wohnwagen zur Verfügung gestellt wurde, könnte ich niemals mit Geld bezahlen. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«
»Sophienlust wäre um eine wichtige Attraktion ärmer, wenn es Ihr Fleckchen Swasiland nicht gäbe, Herr Luchs. Peggy erinnert es an ihre Heimat in Afrika, und für die übrigen Kinder ist es der wunderbare Wohnsitz auf Rädern, in dem der Märchenonkel seine herrlichen Geschichten schreibt. Sie müssen mir versprechen, dass Sie immer wiederkommen, auch wenn Ihre Reisen Sie noch so weit wegführen sollten.«
Eugen Luchs sah Denise fest in die dunklen Augen. »Ich verspreche es, Frau von Schoenecker. Peggy wird größer. Bald muss sie in die Schule. Dann kann ich sie nicht mehr auf meinen Fahrten mitnehmen. Die Liebe zu diesem Kind wird mich immer hierher zurückführen. Deshalb kann ich mein Versprechen mit gutem Gewissen abgeben.«
»Ich bin überglücklich darüber, Herr Luchs. Wollen Sie Peggy jetzt bei uns lassen?«
»Sie soll selbst darüber entscheiden. Ich verlange nicht von ihr, dass sie meine Einsamkeit im Wohnwagen teilt.«
»Ihr Zimmer ist immer bereit. Sie kann wählen.«
Peggy betrachtete sowohl den Wohnwagen ihres Pflegevaters als auch Sophienlust als ihre Heimat. Sie fühlte sich hier wie dort zu Hause, denn sie wusste, dass sie überall gern und mit Liebe aufgenommen wurde. Ihre traurige Vergangenheit, den Tod ihrer Eltern, hatte sie längst überwunden. Es genügte ihr, dass das hübsche Plätzchen, auf dem der Wohnwagen seinen Standplatz hatte, den Namen Swasiland trug.
Damit war die Brücke zur fernen Heimat geschlagen.
Nach einer zweiten Tasse Tee gingen Denise von Schoenecker und Eugen Luchs zu den Kindern, die sie bei den Ställen fanden.
Nick hatte mit Hilfe von Justus, dem pensionierten Verwalter, einige Ponys gesattelt, und die Kinder zeigten ihre Reitkünste. Auch Peggy schüttelte die Reisemüdigkeit ab und schwang sich in den Sattel.
Ein wenig neidvoll, aber doch bewundernd, schaute Gudrun zu.