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II.

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„Ich muß Ihnen eine Eröffnung machen, Achim“, sagte Baron von Lauff am Abend, als sich die beiden Freunde in der Halle des Verbindungshauses gegenüberstanden. „Ich werde wohl auf das Vergnügen verzichten müssen, Sie meinen Leibfuchs nennen zu dürfen. Die Korporation hat beschlossen, Sie zum Fechtwart zu bestimmen. Da bleibt Ihnen leider keine Zeit, sich bei mir zum Burschendienst zu melden.“

„Was hätte ich als Fuchs denn tun müssen, Baron?“ fragte Achim naiv. „Vielleicht kann ich das noch nebenbei erledigen. Ich stehe ja sowieso in Ihrer Schuld, da möchte ich natürlich nicht verfehlen, wenigstens einen kleinen Teil davon abzutragen.“

„Die Aufgabe des Fuchses wollen Sie erläutert haben?“ fragte Baron von Lauff voller Staunen. „Aber da ist doch nicht viel zu erklären! Sie kennen doch die Rolle des Putzers beim Militär? Nun, so ähnlich ist es auch bei uns. Sie müßten mir, wenn Sie mein Fuchs wären, das Bier holen, mir die Pfeife anzünden oder auch, wenn ich das Bedürfnis habe, es mir einmal ganz gemütlich zu machen, die Pantoffeln anziehen.”

„So ist das also“, erwiderte Achim lachend. „Also gewissermaßen Mädchen für alles! Da weiß ich wirklich nicht, ob ich nun froh sein soll oder es bedauern muß, daß ich von meinem Leibburschen Dispens erhalten habe.“

„Bedauern natürlich, Achim!“ lachte Baron von Lauff ebenfalls und klopfte ihm mit der Hand auf die Schulter. „Bedenken Sie, Sie hätten auch das Recht gehabt, meinen Stiefel auszutrinken, wenn mein Durst wider Erwarten vorzeitig gelöscht gewesen wäre.“

„Und diese Herrlichkeiten sollen mir nun alle entgehen?“ fragte Achim mit gespielter Zerknirschung.

„Dafür tauschen Sie eine Menge anderer ein; nun, Sie werden schon sehen! Jetzt aber sehen Sie sich das Pauken an, und dann werden Sie anschließend bei der Kneipe feierlich in unseren Kreis aufgenommen.“

Er führte ihn auf die Tür zu, die zum Hauptraum des Hauses gehörte, den er bei seinem Besuch am Vormittag als Kneipraum kennengelernt hatte.

Doch wie hatte er sich inzwischen verändert! Die Tische waren an die Wand gerückt und die Stühle zu einer langen Bank zusammengestellt worden. Überall lagen Paukmasken, Rapiere und anderes Fechtgerät umher, in der Mitte des Raumes standen sich zwei Paukanten mit ihren Schlägern gegenüber, und die Sekundanten bemühten sich, sie nach allen Regeln der Kunst im Fechten zu unterweisen. Die große Schar der anderen aber saß auf Stühlen und Tischen herum und mimte begeisterte und sachverständige Zuschauermasse. Daß es auch an ‚Stoff‘ nicht mangelte, versteht sich am Rande. Der Pedell hatte alle Hände voll zu tun, die Gläser immer wieder aufs neue zu füllen und seine bierlüsterne Kundschaft bei guter Laune zu erhalten.

Sie waren kaum eingetreten, als die jungen Männer, die im Schmuck ihrer Farben herumsaßen und gerade einen Kantus angestimmt hatten, aufsprangen und ihr Lied unterbrachen. Im nächsten Augenblick waren die Ankömmlinge umringt, und Graf von der Holst begrüßte Achim mit Handschlag und vollem Gemäß.

Achim machte mit seinem Glas die Nagelprobe, und da er es schneller geschafft hatte als der zünftige Präside, erhob sich ringsum ein anerkennendes Beifallsgemurmel.

„Und nun, mein lieber Hollmann, sehen Sie sich unseren Paukbetrieb einmal genau an!” forderte Graf von der Holst auf. „Das hier ist nun Ihr zukünftiges Reich, hier haben Sie zu bestimmen, und hier sollen Füchse und Burschen von Ihnen lernen, wie man eine gute Klinge führt!“

„Aber die Kameraden können doch fechten!“ entgegnete Achim, mit der Hand auf die beiden Duellanten weisend, die sich forsch und unermüdlich mit heftigen Hieben bedachten.

„Das ist alles nur Handwerksarbeit, Herr Hollmann“, erklärte der erste Chargierte der Saxo-Borussen leichthin. „Sie sollen jetzt dafür sorgen, daß es eine Hohe Schule des Fechtens wird! Im Vertrauen gesagt, wir haben bei unseren letzten Freundschaftsmensuren nicht besonders gut abgeschnitten! Das muß unbedingt anders werden, und eben dies zu erreichen, wird Ihre Aufgabe sein. Glauben Sie, daß Sie es bis zum Semesterschluß schaffen werden?“

„Ich will mein möglichstes versuchen, Graf! Es kommt ja wohl nur darauf an, daß jeder nach seiner besonderen Veranlagung richtig geschult und eingesetzt wird.“

„Was wollen Sie damit sagen, Hollmann?“ fragte Graf von der Holst neugierig.

„Jedem Fechter muß eine besondere Taktik beigebracht werden. Die kräftigsten müssen angehalten werden, den Gegner zu ermüden, während die schwächeren versuchen müssen, durch besondere Geschicklichkeit zu schnellen Erfolgen zu kommen. Entsprechend muß natürlich auch die Auswahl bei der Mensur sein!“

„Großartig, ich sehe schon, Sie verstehen etwas von Ihrem Fach! Bis Ende Juli müssen wir fit sein, denn da treten wir gegen die Heidelberger Rhenanen an!“

Achim verbeugte sich zustimmend. Er würde jedenfalls alles tun, um seine Kameraden das zu lehren, was er selber konnte. Daß sich die Saxo-Borussen mit dem Gedanken trugen, ihn selber als Renommierfechter herauszustellen, der jeweils gegen den stärksten Fechter anderer Verbindungen anzutreten hatte, sagte ihm Graf von der Holst an diesem Abend allerdings nicht.

Bei den nun folgenden Paarungen war Achim Hollmann ein aufmerksamer Zuschauer, der nicht mit Ratschlägen sparte, wenn es darum ging, eine Steigerung der Leistung zu erzielen. Und da sie sahen, daß er wirklich etwas vom Fechten verstand, fügten sich ihm die Kameraden gern.

Zum Schluß forderte ihn der zweite Chargierte Bodo Herwarth zu einer Partie auf, um ihm Gelegenheit zu geben, sein Können zu demonstrieren. Herwarth wählte aber statt des Rapiers das Florett, weil er wußte, daß sich Achim Hollmann im Florettfechten schon eine Meisterschaft geholt hatte. Es war eine sehr schöne kameradschaftliche Geste, die Achim wohl zu würdigen verstand.

Die Partie erregte helle Bewunderung, und oft gab es lauten Beifall und heftiges Trampeln, denn Bodo Herwarth war ein durchaus gleichwertiger Partner, der seinem Gegner schwer zu schaffen machte. Er war zwar nicht so groß und kräftig wie Achim, aber er war ein drahtiger Sportsmann mit einem durchtrainierten Körper. Und gerade seine geschmeidige Gewandtheit kam ihm besonders zugute, denn beim Florett geht es nicht um ein besonders gutes Stehvermögen, sondern um die Geschicklichkeit im Angriff und Ausfall.

Inzwischen war es zehn Uhr geworden. Da brach Graf von der Holst das Pauken ab, und mit Hilfe des Pedellen wurde der Raum in kürzester Zeit wieder in die ursprüngliche Kneipe verwandelt. Die Burschen nahmen, unter Aufsicht des Präsiden, an der oberen Tafel Platz, die Füchse saßen, der Fuchtel ihres Fuchsmajors übergeben, am unteren Teil. Für diese eine Kneipe war Achim Hollmann der Ehrenplatz neben dem Präsiden eingeräumt worden, galt es doch heute, ihn feierlich als neuen Korpsbruder in die Saxo-Borussia aufzunehmen.

*

Komtesse Beatrix hatte sich in den wenigen Wochen ihres bisherigen Verweilens im ‚Haus Friederike‘ schon recht gut eingelebt, und es machte ihr auch besondere Freude, an den Unterrichtsstunden teilzunehmen, die im Pensionat obligatorisch waren, um den jungen Mädchen den letzten gesellschaftlichen Schliff zu geben. Zu diesen Stunden gehörte auch ein sogenannter Anstandsunterricht, der, soweit er die typisch weiblichen Belange betraf, von Frau von Ergste selbst erteilt wurde, die allgemeinen Begriffe aber lehrte ein Herr von Hasley, der die einzige männliche Lehrkraft des Pensionats darstellte.

Ulrich von Hasley war ein Mann Mitte der Vierzig, er war groß und stattlich, und sein markantes, männlich-schönes Gesicht hob ihn weit über den Durchschnitt seiner Altersgenossen hinaus. Kein Wunder, daß die Schülerinnen alle für ihn schwärmten.

Auch Beatrix fand ihn ausnehmend sympathisch, aber nicht deshalb, weil er den Typ verkörperte, für den sie schwärmte, sondern weil er ihr Vertrauen einflößte. Es ging etwas Beruhigendes und Selbstsicheres von ihm aus, das ihm die Herzen der jungen Mädchen zufliegen ließ und das sie mehr als einmal veranlaßte, ihm ihr Vertrauen zu schenken und ihn in den delikatesten Herzensangelegenheiten um seinen Rat zu bitten. Ulrich von Hasley hatte nicht nur graue Schläfen, sondern er hatte auch gute, seelenvolle Augen.

Er wußte aber auch mit den jungen Damen umzugehen! Niemals ließ er sich anmerken, daß es ihm bewußt war, wie sie ihn umschwärmten, keine Regung von Eitelkeit war ihm anzusehen, und niemals stellte er seine Männlichkeit heraus. Er gab sich ganz als guter Kamerad und das mit einer Selbstverständlichkeit, die als solche kritiklos hingenommen wurde. So war er der gute Geist des Pensionats und mehr noch als die eigentliche Leiterin des ‚Hauses Friederike‘ der Mittelpunkt einer kleinen Gemeinschaft, die seine Autorität anerkannte und ihn vergötterte.

Und diesem Ulrich von Hasley oblag es nun, in den jungen Mädchen den Sinn für gesellschaftliche Formen zu vertiefen und ihnen jene Sicherheit zu geben, die die Dame der Gesellschaft auszeichnet. Es mag einleuchten, daß es bei solcher Aufgabe nicht damit getan war, sich auf das Studium des Lebenswerkes eines Freiherrn von Knigge zu beschränken und dessen Regeln für ein gutes Benehmen auswendig zu lernen.

Seine Lehrstunden waren nicht einmal Unterricht im Sinn dieses Wortes, er vermittelte sein Wissen in zwangloser Unterhaltung, und keine seiner Schülerinnen, die ja immerhin schon junge Damen waren, hatte das Empfinden, belehrt oder gar bevormundet zu werden.

So saßen sie auch heute wieder zwanglos in der großen Veranda, Herr von Hasley mitten unter ihnen, und er sagte:

„Meine Damen! Sie sollen mir jetzt einmal einen Vorschlag machen. Und zwar sagen Sie mir bitte, was ich tun soll, wenn ich mit einer Dame die Treppe hinaufgehe und diese verliert unterwegs ihr Taschentuch. Nun, was meinen Sie wohl dazu?“

„Einfach liegen lassen“, schlug Klothilde von Rausch vor, „es wäre ja möglich, daß die Dame einen Schnupfen hat.“

„Der Ritterdienst verlangt aber von mir, der Dame zu helfen, selbst wenn ein Risiko damit verbunden ist. Ich darf mich also nicht darumdrücken, weil ich fürchte, nun selbst einen Schnupfen zu bekommen. Einen anderen Vorschlag bitte! Nun, Fräulein Heintzelmann?“

„Einfach ignorieren!“

„Frauendienst duldet kein Ignorieren, so würde nur ein ausgemachter Flegel ohne jede Erziehung handeln! Ihr Vorschlag kommt also auf dasselbe heraus wie der von Fräulein von Rausch. Nein, meine Damen, so geht das nicht. Also bitte, wie soll ich mich nun verhalten, ohne gegen den guten Ton zu verstoßen?“

„Sie heben das Taschentuch auf und überreichen es der Dame mit einer Verbeugung, sobald Sie oben auf der Treppe angekommen sind“, schlug Jutta von Freitag vor.

„Nein, Baronesse, auch das werde ich nicht tun!“ antwortete er unerbittlich.

„Dann heben Sie es auf, stecken es in die Tasche und geben es der Dame zurück, wenn Sie es zu Hause gewaschen haben!“ meinte Komtesse Beatrix.

„Das geht leider nicht, Komtesse, denn ich kenne die Dame überhaupt nicht! Ich sehe schon, meine Damen, die Frage ist viel schwieriger, als Sie sich das vorgestellt haben. Und doch ist die Lösung so einfach. Vergegenwärtigen Sie sich doch einmal die Situation! Die beiden steigen zusammen die Treppe hinauf, in unserem Falle also die unbekannte Dame und ich. Wie geschieht das und wie verhalte ich mich da?”

„Sie werden es wahrscheinlich gar nicht bemerken, wenn die Dame ihr Taschentuch verliert“, antwortete Komtesse Beatrix.

„Und warum nicht, Komtesse? Ich habe doch gute Augen und bin auch sonst nicht gerade unaufmerksam jungen und älteren Damen gegenüber. Oder könnte mir eine von Ihnen diesen Vorwurf machen?“

Lachend bestätigten sie ihm, daß er der wiedererstandene Knigge sei, Komtesse Beatrix aber ergänzte:

„Sie können es aber nicht bemerken, Herr von Hasley, weil Sie ja vor der Dame die Treppe hinaufgehen würden.“

„Bravo, Komtesse! Das ist also der springende Punkt: der Kavalier hat zwar überall seiner Dame den Vortritt zu lassen, nur nicht auf der Treppe. Dort geht er entweder neben der Dame oder, wenn die Treppe zu schmal ist, vor ihr die Stufen hinauf! Das haben Sie doch alle gewußt, nicht wahr, meine Damen?“

Einhellige Bestätigung bewies ihm, daß sie in diesem Punkt des guten Benehmens kapitelfest waren. In der Praxis hätten sie ohne Zweifel alle richtig gehandelt, nur die Theorie war ein bißchen verzwickt.

„Sie sehen also, meine Damen, daß wir auf Grund unserer Erziehung das meiste instinktiv richtig machen, aber wir wollen — und das ist der Zweck des Unterrichts — dieses richtige Handeln durch wirkliches Wissen unterbauen. Darum gehen wir einmal zu einem anderen Thema über, zu unseren Tischsitten. Sie sind sich doch klar darüber, daß dies ein Gebiet ist, wo der gewöhnlich Sterbliche schon einmal irren kann?“

„Fisch mit dem Messer aber ißt heutzutage kein Mensch mehr“, warf Baronesse von Freitag ein, „das habe ich sogar bei unseren Gutsleuten beobachtet!“

„Neben den groben Verstößen gibt es aber auch solche, die kaum ins Gewicht fallen, und gerade an ihnen erkennt man den Mann, dessen Erziehung zu wünschen übrig ließ. Nehmen wir einmal an, Herr Tobias Schulze ist zu einer illustren Gesellschaft geladen und er schneidet dort die Kartoffeln mit dem Messer, dann wird man ihm ganz gewiß sehr erstaunte Blicke zuwerfen, würde er sich aber bei seiner Unterhaltung mit der Dame des Hauses zwanglos mit der Gabel hinter dem Ohr kratzen, darf er sicher sein, das nächste Mal nicht wieder eingeladen zu werden.”

„Das geht ja auch etwas zu weit, Herr von Hasley!“ warf Inge Heintzelmann ein. „Vornehme Leute kratzen sich überhaupt nicht, die nehmen Insektenpulver!“

Herr von Hasley stimmte in das Lachen seiner Schülerinnen ein, das die Bemerkung der vorlauten Inge ausgelöst hatte. Dann aber fuhr er fort:

„Über die groben Verstöße brauche ich hier also nicht zu sprechen, über die Feinheiten jedoch wäre wohl noch etwas zu sagen. Stellen Sie sich einmal vor, meine Damen, Ihre Eltern geben Ihnen ein Galadiner zur Verlobung ...“

„Das tun meine bestimmt nicht!“ warf Klothilde von Rausch ein. „Ich heirate nämlich gar nicht!“

Diese Unterbrechung mit einem feinen Lächeln abtuend, fuhr Herr von Hasley fort:

„Sie sollen es sich ja auch nur vorstellen, strategische Fragen und taktische Erwägungen im Kampf der Geschlechter scheiden in unserer Unterhaltung sowieso aus, meine Damen! Ein solches Diner also besteht wahrscheinlich aus acht bis zehn Gängen, und zu jedem dieser Gänge ist ein anderes Besteck erforderlich. Sind Sie sicher, daß Sie sich da unbedingt auskennen werden?“

„Das ist doch kinderleicht, Herr von Hasley!“ erwiderte Baronesse von Freitag. „Man wählt einfach von außen nach innen! Die Bestecke, die neben dem Teller am äußersten Rande liegen, kommen zuerst an die Reihe. Da bedarf es doch keiner besonderen Überlegung!”

„Richtig, Baronesse!“ pflichtete ihr Herr von Hasley bei. „Aber gesetzt den Fall, Sie haben selbst eine solche Tafel herzurichten, wie machen Sie es denn da?“

„Da verlasse ich mich eben auf den Diener, denn der muß so etwas ja gelernt haben!“

„Und wenn der es nun zufällig nicht weiß?” drang der Lehrer weiter in sie.

„Dann gebe ich eben nur ein paar Gänge“, wich sie mit echt weiblicher List aus.

„Das ist allerdings eine Lösung, aber immerhin nur eine Notlösung!“ gab er lachend zu. „Damit soll sich die zukünftige Dame des Hauses aber nicht bescheiden. Nun, darüber wird Sie Frau von Ergste später noch belehren. Ich möchte Ihnen nur noch einen kurzen Rückblick geben auf die Entwicklung unserer Tischsitten, um Ihnen zu beweisen, daß es eine direkte Notwendigkeit war, daß der Freiherr von Knigge geboren werden mußte.“

„Knigge ist aber auch noch nicht vollkommen”, warf Inge Heintzelmann ein. „Die Sitten anderer Völker hat er uns noch nicht nahegebracht. Mein Vater war im vorigen Jahr in China und wurde von seinen Geschäftsfreundden wiederholt zu Tisch gebeten. Was meinen Sie wohl, Herr von Hasley, wie verständnislos die gelben Gentlemen meinen Vater angeschaut hätten, wenn er nach einem guten Essen nicht vernehmlich gerülpst hätte?”

„Es ist ja auch im Land der Mitte das Rülpsen eine schöne Sitte“, deklamierte Klothilde von Rausch mit erhobenem Zeigefinger. „Ich finde das gar nicht tragisch, wenn das Essen wirklich gut war!“

Herr von Hasley sah, daß er diese Unterhaltung nicht weiter einreißen lassen durfte, denn ihr Gespräch drohte seinen für Damen schicklichen Charakter zu verlieren, darum bog er auch sofort ab und kam auf etwas anderes zu sprechen:

„Unser vielgepriesener Knigge hat übrigens vor mehreren hundert Jahren schon einen Vorgänger gehabt. Weiß jemand von Ihnen vielleicht, wer das war?“

„Erasmus von Rotterdam!” antwortete Baronesse Jutta wie aus der Pistole geschossen. „Man nannte ihn auch den Arbiter elegantiarum des Goldenen Jahrhunderts.”

„Sehr richtig, Baronesse! Und dieser Mann hat uns beschrieben, wie man sich benehmen mußte, wenn man in einer vornehmen Gesellschaft nicht unliebsam auffallen wollte. Bekanntlich gab es nur eine gemeinsame Schüssel, die in der Mitte der Tafel stand. Schon damals galt es als unschicklich, mit der ganzen Hand in diese Schüssel hineinzufahren und sich die besten Brocken herauszufischen. Der vornehme Mann nahm dazu nur die ersten drei Finger seiner rechten Hand.“

„Da mußte man aber sicher besonders geschickt sein, denn die anderen fischten doch wohl zur gleichen Zeit, nicht wahr, Herr von Hasley?“ fragte Inge Heintzelmann neugierig.

„Geschicklichkeit gehörte schon dazu”, bestätigte er lachend. „Aber auch damals gab es schon Kavaliere. Hatte jemand ein besonders schönes Stück Fleisch erwischt, so legte er es seiner Dame mit den Fingern auf ihre Brotscheibe, die bei damaligen Gastmählern den Teller ersetzte.“

„Hatten die es gut damals”, warf Beatrix ein und verdrehte genüßlich die Augen. „Wenn sie abgespeist hatten, verzehrten sie ihren Teller als Nachtisch!“

„Sie irren, Komtesse!“ entgegnete Herr von Hasley. „Das mit den herrlichsten Saucen getränkte Brot wurde nach dem Essen an die Armen verteilt.“

„Ein solches Geschenk sollte man heute mal einem Arbeitslosen zumuten!“ sagte Komtesse Thekla von Ophüls.

„Sie sehen also, Komtesse, der Segen des Fortschritts hat alle Lebensgebiete erfaßt”, antwortete Herr von Hasley höflich. „Mit dem Brot durfte man nicht einmal die Schüssel auskratzen, denn darin hätte man eine Mißachtung des Brotes gesehen. Fingerschalen, wie sie heute zum Spargel oder zu gebratenem Huhn gereicht werden, gab es allerdings damals schon. Je feiner der Gast war, desto öfter wusch er sich die Finger.“

„Das wird ja auch wohl dringend notwendig gewesen sein“, warf Inge Heintzelmann ein. „Stellen Sie sich nur vor, die Ärmsten mußten sämtliche Knochen abnagen!“

„Ja, das durften sie, aber es war verpönt, mit dem Knochen auf die Tischkante zu schlagen. Unschicklich war es aber auch, den Löffel abzulecken, bevor man ihn weitergab, oder dem Nachfolger einen ‚schäbigen Rest‘ im gemeinsamen Glase zu lassen.”

„Es war also ein Kreuz, ein feiner Mann zu sein!” stellte Baronesse von Freitag lachend fest.

„Damals genau so wie heute!“ seufzte Klothilde von Rausch. „Was man da alles wissen muß!“

„Und doch sind sich viele Dinge auch gleichgeblieben“, fuhr Herr von Hasley fort, „wenn sie auch heute in keinem Kodex verzeichnet stehen. Es war zum Beispiel ein Zeichen besonderer Vornehmheit, wenn man zu Beginn der Mahlzeit seine Serviette langsam und sorgfältig entfaltete, denn man brachte damit zum Ausdruck, daß man seine Gier nach den bevorstehenden Genüssen zu bezähmen wußte. Ich glaube, meine Damen, diese Zurückhaltung ist auch heute noch ein Zeichen von Takt und guter Erziehung. Und heute wie damals war es verpönt, eine Bemerkung über die aufgetragenen Speisen zu machen, es sei denn, man lobe die Kunst der Hausfrau. Und vom Trinken ist zu berichten, daß es eine zu beherzigende Vorschrift war, beim Ansetzen des Glases die Augen zu schließen, damit der Blick nicht im Raume umherlief und somit ablenkte von einem hohen und konzentrierten Genuß.”

„Genau wie beim Küssen!” warf Inge Heintzelmann leise ein, aber immer noch laut genug, daß es auch Herr von Hasley hören mußte.

„Sie wollen aus eigener Erfahrung beisteuern, gnädiges Fräulein?” fragte er voll liebenswürdiger Aufmerksamkeit und brachte sie mit dieser Bemerkung in schreckliche Verlegenheit. Aber warum mußte er auch so gute Ohren haben! Daß die Kameradinnen lachten, war Inge durchaus nicht recht, denn es mißfiel ihr im höchsten Grade, dem Spott des vergötterten Lehrers ausgesetzt zu sein.

In diesem Augenblick aber wurde die Unterrichtsstunde unterbrochen, denn Frau von Ergste erschien in der Tür und bat Herrn von Hasley hinaus. Die Schülerinnen waren sich selbst überlassen. Aber da sie schon junge Damen waren, benahmen sie sich durchaus manierlich.

Aber Klothilde von Rausch, die nichts vom Heiraten hielt und die einzige in der Runde war, die Ulrich von Hasley nur als Lehrer aber nicht als Mann gelten ließ, verspürte das Bedürfnis, das Gespräch fortzusetzen. Sie wandte sich an Inge und sagte:

„Meinst du nicht, daß es recht reizvoll wäre, Herrn von Hasley beim Küssen tief in die Augen zu schauen? Er hat doch einen so seelenvollen Blick!“

„Du kannst es ja mal versuchen, Klothilde!“ gab Inge Heintzelmann bissig zurück. „Vielleicht gelingt es ihm, den Eisklumpen, den du in der Brust trägst, zum Schmelzen zu bringen.”

„Kaum, Inge, ein solches Höllenfeuer gibt es für mich nicht! Die Männer sind es ja gar nicht wert, daß man ein solches Theater um sie macht!”

„Du irrst, Klothilde“, widersprach ihr Jutta von Freitag, „das Theater machen die Männer, und das ist gut so. Wir führen nur ein wenig Regie! Und diese Kunst zu beherrschen, gibt uns die Sicherheit der wirklichen Dame. Meinst du, es hätte keinen Reiz, einen feurigen Komparsen aus der Menge der Statisten auszuwählen und ihm die Rolle des ersten Liebhabers zu übertragen?“

Klothilde hob die Schultern und lächelte überlegen.

„Jede nach ihrer Façon! Wenn du meinst, das Zeug einer Pompadour in dir zu haben, bitte, versuch’s! Aber sei dir darüber klar, damit auch den Ruf dieser Kurtisane auf dich zu ziehen. Ich hatte bisher nicht den Eindruck, daß dir daran gelegen wäre!“

„Meinst du nicht, Klothilde, daß es noch einen weiten Spielraum gibt zwischen einem weiblichen Hagestolz und einer Circe, die auf Männerfang ausgeht?”

„Für mich nicht! Für mich gibt es nur das eine oder das andere!”

„Wenn du dich da nur nicht gewaltig irrst!“ lachte Inge von Heintzelmann. „Was du dir da ausgerechnet hast, ist nichts weiter als eine Hypothese. Aber das Leben ist keine ausgeklügelte Theorie, die man sich zurechtlegen kann, wie es einem gerade paßt!“

„Weißt du, was ich dir wünsche, Klothilde?“ fragte Baronesse Jutta und gab ihr gleich darauf die Antwort: „Einen kleinen Hochofen zum Einschmelzen deines Eisklumpens!”

„Und ich wünsche euch einen Eisschrank für euren hanebüchenen Optimismus. Es würde euren Gefühlen gar nicht schaden, wenn sie einmal eine Weile auf Eis gelegt würden! Wer nichts erwartet, wird auch nie enttäuscht werden!“

„Aber es ist doch das Los der Frau, enttäuscht zu werden“, sagte Beatrix weise.

„Für solche Erkenntnis bin ich leider noch nicht dumm genug!“ erwiderte Klothilde nun ernstlich böse, denn sie hatte das Gefühl, von den Freundinnen veralbert zu werden.

„Ach, Klothilde“, seufzte Beatrix, „für die Liebe kann man gar nicht dumm genug sein!”

Da eilte Klothilde von Rausch hinaus und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

Ich will stets Dein Beschützer sein

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