Читать книгу Nie werde ich den Tag vergessen - Alrun von Berneck - Страница 4

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„Ich weiß wirklich nicht, Frau Steffen, ob ich das anziehen soll“, sagte Birgit und betrachtete kritisch das pompöse Kleid mit dem tiefen Ausschnitt, das Frau Steffen entfaltet hatte und mit ausgestrecktem Arm von sich hielt, um dem jungen Mädchen die ganze Pracht dieses Kleidungsstückes vor Augen zu führen.

„Ich finde, so etwas paßt doch nicht zu mir!“

„Aber Fräulein Lindberg!“ widersprach Frau Steffen. „Sie gehen doch zum Maskenball, und ich finde, zu Ihrer Figur paßt das Kleid großartig!”

Birgit errötete, als Frau Steffen ihre Figur erwähnte. Man hatte ihr oft genug gesagt, daß sie schön wäre, aber ebenso oft hatte man ihr auch den Vorwurf gemacht, ihre Reize nicht richtig zur Geltung zu bringen.

„Zu meiner Figur vielleicht“, antwortete Birgit mit halb nachsichtigem, halb überlegenem Lächeln, „aber nicht zu meinem Lebensstil! Und das, denke ich, dürfte das Entscheidende sein!“

„Für jede andere Gelegenheit würde ich Ihnen recht geben, Fräulein Lindberg“, beharrte Frau Steffen auf ihrer Meinung, „aber bei einem Maskenfest will man doch nicht seine persönliche Note unterstreichen, sondern da will man doch etwas darstellen, was niemand hinter der Maske vermutet!“

„Sie meinen, auf einem Maskenfest ließe man seinen Wunschträumen freien Lauf? Da ginge die Gemüsefrau als Kommerzienrätin und die kleine Sekretärin als Madame Pompadour?“

„So ähnlich denke ich mir das“, gab Frau Steffen zu. „Und darum sollten Sie dieses Kleid ruhig anziehen, Fräulein Lindberg!“

„Und was soll ich eigentlich darin darstellen?“

„Eine Hofdame aus der Rokokozeit natürlich! Die Perücke habe ich auch gleich mitgebracht. Und bevor wir heute abend ausgehen, muß ich Ihnen auch noch ein Schönheitspflaster auf die Wange kleben!“

„Was Sie alles mit mir vorhaben!“ seufzte Birgit und schien sich in ihr Schicksal zu ergeben.

„Ich glaube, Sie haben gar keine rechte Lust, dieses Fest aufzusuchen, Fräulein Lindberg?“ fragte Frau Steffen, und es lag ein leiser Vorwurf in ihrer Stimme. „Tun Sie es am Ende nur darum, weil Sie es mir versprochen haben?“

„Aber nein, Frau Steffen“, widersprach Birgit lebhaft. „Selbstverständlich komme ich gern mit. Schließlich muß mein Urlaub doch einen recht eindrucksvollen Abschluß finden!“

„Das denke ich auch! Sie sind jetzt fast drei Wochen in meinem Hause und haben noch kein einziges Fest mitgemacht!”

„Dazu war ich ja auch nicht hier“, meinte Birgit lächelnd, denn es amüsierte sie, wie sich Frau Steffen ihretwegen ereiferte. „Wenn man sich erholen will, kann man keine Feste feiern! Entweder das eine oder das andere, beides zusammen dürfte wohl unmöglich sein.“

„Nun, für Ihre Erholung haben Sie wirklich jetzt genug getan”, antwortete die Pensionswirtin. „Sie haben jeden Tag bis acht Uhr geschlafen, sind den ganzen Vormittag Ski, gelaufen, am Nachmittag waren Sie auf der Eisbahn, sind abends früh zu Bett gegangen; da haben Sie es direkt verdient, daß Sie sich auch einmal etwas Besonderes gönnen.“

„Und Sie glauben nicht, daß ich mit dem tollen Abend, der uns heute bevorsteht, die ganze Erholung in Frage stelle?“ fragte Birgit, und der Schalk blitzte in ihren Augen.

„Fräulein Lindberg, wenn Sie überall so zurückhaltend sind, wie Sie es seit Ihrer Ankunft waren, dann fürchte ich, Sie merken nicht einmal, daß das Maskenfest heute abend ein Fest des Übermuts und der frohen Laune ist!“

„Nun, frohe Laune muß ja nicht unbedingt in Übermut ausarten!“ wies sie Birgit mit feinem Spott zurecht. Damit kam sie aber bei Frau Steffen an die falsche Adresse, denn diese sagte erregt:

„Gerade ein bißchen Übermut könnte Ihnen nicht schaden, Fräulein Lindberg! Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich das sage, aber als ich so jung war wie Sie, habe ich mich nicht so zurückgehalten, ich bin keinem Vergnügen aus dem Wege gegangen. Und ich habe es nicht zu bereuen gehabt!“

„Aber ich kann doch nicht aus meiner Haut!“ antwortete Birgit mit einem tiefen Seufzer. „Ich will es ja versuchen, Frau Steffen, aber ob es mir gelingt, weiß ich wahrhaftig nicht!“

„Wenn Sie erst dieses Kostüm anhaben, sind Sie auch ein anderer Mensch! Sie müssen nur darauf achten, daß Sie sich recht natürlich und ungezwungen darin bewegen.“

„Ich will es versuchen, Frau Steffen, Ihnen zuliebe!“ versprach Birgit, nahm das Kleid in die Hand und trat zum Spiegel, um die Wirkung abzuschätzen. Da sie aber noch ihren Pullover trug, gewann sie keine rechte Vorstellung davon, wie ihr der tiefe Ausschnitt stehen würde.

„Ziehen Sie es ruhig einmal an!“ sagte Frau Steffen aufmunternd. „Ich schaue dann gleich noch einmal herein, um es zu begutachten!“

Sie nickte dem jungen Mädchen aufmunternd zu und verließ das Zimmer. Birgit blieb mit ihren Gedanken allein.

Sie hatte in der Pension der Frau Steffen drei herrliche Urlaubswochen verlebt, und ihre Wirtin hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Und da Birgit von Natur aus zur Dankbarkeit neigte und es stets anerkannte, wenn ihr jemand Gutes getan hatte, war es für sie selbstverständlich gewesen, sich für diese Betreuung, die in einem Badeort durchaus nicht immer zu den Pflichten der Quartiergeber gehörte, zu revanchieren. Und da sie wußte, daß Frau Steffen trotz iher fünfzig Jahre sehr lebenslustig war, schien ihr eine Einladung zum Sommernachtsball das Gegebene zu sein. Sie hätte ihre Wirtin auch zu jeder anderen Veranstaltung eingeladen, aber es traf sich nun einmal so, daß ihre Urlaubszeit gerade mit diesem Kostümfest abschloß.

Birgit Lindberg war eigentlich nicht für laute Fröhlichkeit, denn diese paßte nicht zu ihrem Wesen. Sie war ein ernst veranlagter Mensch mit besonders stark ausgeprägter Pflichtauffassung, was sowohl ihr bisheriges Leben, als auch ihre Berufswahl bestimmt hatte. Sie hatte sich als Krankenschwester ausbilden lassen und besaß den Ehrgeiz, es in ihrem Beruf zu etwas zu bringen. Als höchstes Ziel schwebte ihr vor, Operationsschwester bei einem bekannten Chirurgen zu werden. Gerade in den letzten Monaten hatte sie den ersten Schritt auf diesem Wege getan.

Und nun saß sie hier in den Bergen, hatte zwischen ihren Arbeitsabschluß auf ihrer alten Stelle und ihren Neuantritt im St. Kunibert-Hospital ein paar unbeschwerte Ferienwochen eingeschoben und freute sich bereits mit brennender Ungeduld darauf, sich bald wieder mit frischen Kräften in die Arbeit stürzen zu können.

Aber heute sollte sie feiern. Sie hatte es nicht nur ihrer Wirtin versprochen, sie war auch ein ganz klein wenig neugierig auf sich selbst. Ob sie wirklich noch die Unbeschwertheit ihrer ersten Mädchenjahre aufbrachte und fähig war, sich in den Trubel zu stürzen, ohne ihr Herz und ihre Gedanken andere Wege gehen zu lassen? Sie konnte es sich kaum vorstellen, daß sie sich völlig loslöste von dem, was die anderen den Ballast des Alltags nannten.

Mit einem skeptischen Lächeln ging sie daran, ihren Pullover über den Kopf zu ziehen und sich ihrer Wäsche zu entledigen. Dann griff sie mit spitzen Fingern nach dem Brokatkleid, dessen fremde Pracht sie ein wenig verwirrte.

Doch sobald sie das Kleid auf ihrem Körper spürte, war es ihr, als ginge eine Verwandlung mit ihr vor, als sei sie plötzlich ein anderer Mensch geworden.

Jede Selbstgefälligkeit hatte ihr bisher ferngelegen, und wenn sie auch auf sich hielt, so hatte das mit Eitelkeit doch nicht das geringste zu tun. Jetzt aber trat sie vor den Spiegel, der sich auf der Innenseite ihrer Kleiderschranktür befand, und betrachtete ihr Konterfei mit ständig wachsendem Wohlgefallen.

Braun von Sonne und Wind schimmerte ihre gesunde Haut aus den zarten Spitzen des prunkvollen Brokatkleides.

Zuerst begnügte sie sich damit, den Sitz des Kleides kritisch zu mustern, aber sie hätte keine echte Evastochter sein müssen, wenn sie es dabei hätte bewenden lassen. Schon bald versuchte sie einige kokette Bewegungen, und als das Spiegelbild bei dieser Prozedur ihren Beifall fand, begann sie sich sehr bald in dem Kleide heimisch zu fühlen.

In diesem Augenblick betrat Frau Steffen das Zimmer.

„Sie sehen großartig aus, Fräulein Lindberg!“ sagte sie voll echter Bewunderung. „Ich sehe schon, wie sich die Männer die Köpfe nach Ihnen verdrehen werden!“

„Das sollen die Männer lieber bleiben lassen!“ lachte Birgit und warf noch einen Blick in den Spiegel.

„Aber warum denn, Fräulein Lindberg? Es ist doch schön, bewundert und angebetet zu werden!“

Birgit warf ihr einen verständnislosen Blick zu. In die Rolle der bewunderten und angebeteten Frau hatte sie sich noch nicht hineingedacht, und darum konnte sie sich auch nicht vorstellen, wie es sein würde, von den Männern umschwärmt zu werden.

„Ich könnte mir denken, daß das recht lästig sein muß“, meinte sie leichthin. Doch nun war es an Frau Steffen, erstaunt zu sein, darum sagte sie:

„Sie sind wirklich ein seltsamer Mensch! Was andere junge Mädchen mit lautem Jubel erfüllen würde, das betrachten Sie als lästig. Nein, Fräulein Lindberg, da kann ich einfach nicht mit!“

„Aber es ist doch so, wie ich sage!“ verteidigte sich Birgit. „Ich fühle es nun einmal so, und darum glaubte ich, es auch aussprechen zu dürfen.“

„Die armen Männer!“ seufzte Frau Steffen tief auf. „Ich fürchte, die haben bei Ihnen nicht die geringste Chance!“

„Warum sollten sie auch?“ antwortete Birgit lächelnd. „Ich habe ja meinen Beruf, bin also nicht darauf angewiesen, einen dieser Herren der Schöpfung als Vormund anzuerkennen und mich seinen Launen auszuliefern, und zu einem Flirt tauge ich nun mal nicht. Einfach kein Talent, da kann man halt nichts machen!“

„Aber heute abend müssen Sie wenigstens gute Miene zu unserem frohen Spiel machen, das versprechen Sie mir doch, nicht wahr?“

Frau Steffen schien ehrlich besorgt zu sein, denn wenn sich Fräulein Lindberg nicht amüsierte, hätte ihr das ganze Fest auch keine Freude gemacht.

„Sie können ganz beruhigt sein, Frau Steffen“, tröstete Birgit. „Wenn ich mich schon mal entschlossen habe, dieses Fest mitzumachen, dann werde ich auch kein Spielverderber sein!“

Das schien Frau Steffen tatsächlich zu beruhigen, denn das hatte sie in den drei Wochen, die Fräulein Lindberg nun bei ihr wohnte, schon feststellen können: wenn das junge Mädchen etwas versprach, dann hielt sie das auch. Und so sah sie dem Abend mit froher Erwartung entgegen.

Die Kostümprobe war am Vormittag gewesen, die eigentliche Kostümierung fand in den frühen Abendstunden statt. Und da war es wiederum Frau Steffen, die Birgit hilfreich zur Seite stand, um letzte Hand anzulegen. Da war noch die gepuderte Perücke aufzusetzen und so zu befestigen, daß Birgits blonde Lockenpracht nirgendwo zum Vorschein kam, da war auch noch ein Schönheitspflästerchen aufzukleben, und schließlich mußte auch der Teint der jungen Dame der Rokokomode angepaßt werden, denn die Damen, die vor zwei Jahrhunderten lebten, hatten noch keinen Wintersport gekannt und recht wenig vom Sonnenbaden gehalten.

Als Birgit fertig war, sah sie allerliebst aus, und Frau Steffen hätte es ihr auch gern noch einmal gesagt, wenn sie nicht gefürchtet hätte, die junge Dame würde es mißverstehen und sich schon halb und halb verkuppelt vorkommen.

Frau Steffen selbst ging als Marketenderin.

„Das paßt zu meinem Habitus“, erklärte sie lachend. „Und außerdem brauche ich mich dann nicht so etepetete zu benehmen.“

Sie hatten eine Taxe bestellt, um zum Kurhotel zu fahren. Als sie die Pension verließen, war es draußen schon dämmrig geworden. Vom Pavillon her wehten hin und wieder ein paar Klänge der Kurkapelle herüber und zauberten eine romantische Stimmung in den Winterabend, der aber schon vom Hauch des nahenden Frühlings durchweht wurde.

Sie waren keineswegs zu früh gekommen, denn als sie die Halle des Hotels betraten, herrschte dort bereits drangvolle Enge, und es wimmelte von Harlekinen, Haremsdamen, Seeräubern und emigrierten Spaniern. Der Spiegel in der Garderobe war besonders umlagert, denn hier drängten sich die Damen zur letzten Kontrolle. Noch einmal wurde der Sitz der Maske überprüft, die Wirkung des Kostüms und der aus der Kosmetikindustrie stammende Teint, und dann betrat man den großen Ballsaal, entweder mit der naseweisen Neugier des erlebnishungrigen, jungen Mädchens oder mit der abgeklärten Sicherheit der großen Dame, die ebensowenig echt war wie die Maske, die die Erhabene vor den Augen trug.

Birgit war weder besonders neugierig, noch trat sie besonders hoheitsvoll auf, sie bewegte sich vielmehr mit einer natürlichen Anmut, die helles Entzücken bei den Herren hervorrief, die den Gang zwischen den Tischen bevölkerten und ihr mit Wohlgefallen nachschauten.

Da Frau Steffen aus früheren Jahren wußte, daß der Andrang beim Kostümfest besonders groß war, hatte sie vorsorglich zwei Plätze bestellt. Als sie sich jetzt an den Oberkellner wandte, führte sie dieser liebenswürdig an ihren Platz. Der Tisch, der ihnen zugewiesen wurde, stand dicht an der Tanzfläche, was die beiden Damen mit zufriedenen Gesichtern zur Kenntnis nahmen.

Frau Steffen war offenbar in bester Stimmung, was nicht nur darin seinen Grund hatte, daß sie sich vorgenommen hatte, an diesem Abend einmal richtig zu feiern und im Schutz ihrer Maske allerlei Allotria zu treiben, sie freute sich auch aus ganzem Herzen über die Haltung ihrer Begleiterin. Es war, als sei alles Schwere von Birgit abgefallen und als habe sie mit dem Kostüm zugleich auch einen anderen Menschen angezogen.

Birgit empfand dies alles selbst, und mit Verwunderung erlebte sie die eigene Verwandlung. Sie hatte sich zwar vorgenommen, sich so zu benehmen, wie man es auf einem Kostümfest von jedem Besucher erwartete, aber sie hätte nie gedacht, daß ihr dies so leichtfallen würde. Es schien tatsächlich so, als ob sie von der Stunde an, in der sie das Kostüm übergestreift, nicht mehr die Krankenschwester Birgit Lindberg war, sondern das Hoffräulein von X., das sich im Kreise hoffähiger Freunde mit angeborener Selbstsicherheit bewegte.

Konnte das an der Umgebung liegen? War das der Einfluß der Feststimmung, der sich kein Besucher entziehen konnte? Oder lag das einfach daran, daß sich hier ein alter, stets zurückgedrängter Wunschtraum erfüllte? Denn ihren geheimen Wünschen hatte Birgit Zeit ihres Lebens entsagen müssen.

Sie erinnerte sich sehr wohl ihrer Jugend, wo sie oftmals den Wunsch gehabt hatte, einmal genau so übermütig zu sein wie ihre Freundinnen, aber sie hatte solche Wünsche immer unterdrükken müssen, weil sie sich immer, wenn sie gerade dabei war, sich gehen zu lassen, das strenge Gesicht ihres Vaters vorstellte, der sie mit tadelndem Blick anschaute, oder sie hörte den Ausspruch ihrer Mutter, der ihr noch heute in den Ohren klang: Aber Birgit, so etwas gehört sich doch nicht für ein junges Mädchen! Und so war es geblieben, als ihre Eltern längst tot waren. Aber da sprach zu ihr das Leben selbst, und ihr Beruf setzte auch ihrem Gefühlsleben Grenzen, die sie nicht einfach überspringen konnte.

Heute aber schien das alles vergessen zu sein. Für drei selige Ferienwochen hatte sie alle Fesseln abgestreift, und heute war nun der Höhepunkt dieser sorgenfreien und beschwingten Stunden. Sie wollte nicht an das Morgen und an die kommenden Pflichten denken, einmal wollte auch sie nichts anderes sein als ein junger Mensch, der sich seines Daseins freut.

„Gefällt es Ihnen, Fräulein Lindberg?“ fragte Frau Steffen und schaute ihr erwartungsfroh in die Augen.

„Ich finde es ganz nett“, antwortete Birgit, und Frau Steffen erkannte trotz der Maske, die das halbe Gesicht des jungen Mädchens verdeckte, das Strahlen ihrer Augen.

„Sie bereuen es also nicht, mit mir gegangen zu sein?“

„Das kann ich doch jetzt noch nicht sagen“, gab Birgit zurück, „der Abend hat ja erst begonnen.“

Das war zwar eine Einschränkung, aber Frau Steffen war weit davon entfernt, sich darüber zu grämen. So war dieses Fräulein Lindberg nun einmal, sachlich bis zur letzten Konsequenz. Sie hätte sich schon vorher sagen können, daß sie auf eine solche Frage keine begeisterte Antwort bekommen würde.

„Dann wollen wir uns schleunigst eine Flasche Wein bestellen“, schlug Frau Steffen vor. „Welche Marke bevorzugen Sie denn?“

„Darin bin ich nun wirklich nicht sachverständig“, antwortete Birgit lachend. „Aber ich erinnere mich, daß ich bei der Geburtstagsfeier meines früheren Chefarztes mehrere Gläser Bordeaux getrunken habe, die mir ausgezeichnet geschmeckt haben.“

„Gut, trinken wir einen Bordeaux!“ stimmte die Marketenderin zu, die sich nun in Positur setzte, wie es das Kostüm vor ihr verlangte.

Bevor der Wein kam, spielte die Kapelle zum Tanz. Und Birgit gehörte zu den ersten Damen, die aufgefordert und zur Tanzfläche entführt wurden. Ihr Tänzer war ein Torero mit einem großen, lackledernen Hut und einem knallroten Schal.

Sie tanzte hingerissen, denn ihr Tänzer führte sie gut, und die Musik ging ins Blut. An Unterhaltung dachte sie nicht, so sehr auch der Torero versuchte, ein paar Worte aus ihr herauszulocken. Birgit wollte eben tanzen, nichts als tanzen, und der Mann, der sie dabei in den Armen hielt, war ihr nur Mittel zum Zweck, das sie wohl oder übel in Kauf zu nehmen hatte. Es kam zu keinem anderen persönlichen Kontakt als eben dem, den der gleiche Grad ihrer Musikalität in ihnen auslöste. Und der war unterbrochen, sobald der Tanz abbrach.

So war es bei Birgit bisher immer gewesen, so war es auch heute.

Doch das war plötzlich alles ganz anders, als die Kapelle zum dritten Male an diesem Abend ansetzte und plötzlich ein Herr im Frack vor ihr stand und sich verbeugte. Als sie aufschaute, sah sie eine gehörnte Maske. Es war für sie nicht schwer zu erraten, daß sie einen modernen Mephisto vor sich hatte.

Der Mann ging schweigend neben ihr zur Tanzfläche. Als er aber seinen Arm um ihre Taille legte, war es ihr, als durchzuckte sie ein elektrischer Strom. Aber das hatte seltsamerweise nichts Erschreckendes für sie, im Gegenteil, sie fühlte sich in seinem Arm sicher und geborgen.

Der Mephisto war ein guter Tänzer, er war aber auch ein großer Schweiger, denn zunächst sprach er nicht ein einziges Wort. Und Birgit sah keine Veranlassung, nun von sich aus zu sprechen und eine Unterhaltung zu bestreiten.

Und dennoch vermißte sie durchaus nichts. Der Tanz nahm sie so vollauf in Anspruch, daß sie gar nicht auf den Gedanken kam, ihr Tänzer versäume es, ihr gegenüber eine gesellschaftliche Pflicht zu erfüllen. Sie konzentrierte sich ganz darauf, wie er sie mit leisem Druck seiner Hand durch das Gewoge der tanzenden Paare führte. Seine Rechte lag auf ihrem Rücken, aber von dieser Hand ging ein Strom aus, der sie bis in die Fingerspitzen hinein vibrieren ließ. Und wenn es einmal vorkam, daß sein Griff sich lockerte, beugte sie sich weit zurück, nur um noch einmal diese Hand zu fühlen, die ihr Inneres in Aufruhr setzte. Es war ein erregendes Spiel.

Plötzlich bemerkte sie, daß er sie unentwegt anschaute. Da fühlte sie sich entdeckt und durchschaut, und das Blut schoß ihr ins Gesicht. Glücklicherweise verhinderten Maske und Puder, daß ihr Tänzer dies bemerken konnte.

Sie sah, daß er dunkle Augen hatte. Als sie seinen Blick erwiderte, spielte ein Lächeln um seinen Mund, das ihr irgendwie vertraut vorkam und ihr die Befangenheit nahm. Da lächelte auch sie.

„Sie tanzen wunderbar!“ sagte der Mann. Es schien mehr eine Feststellung als ein Kompliment zu sein. Vor Männern, die Komplimente machten, war sie auf der Hut, denn hinter jedem Kompliment steckten meist recht egoistische Wünsche. Aber bei diesem Mann hatte sie nicht das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen.

„Vielleicht liegt es daran, wie Sie mich führen“, gab sie zurück.„Ich habe in meinem Leben viel zu wenig getanzt, um beurteilen zu können, ob ich etwas davon verstehe.“ Sie lächelte abermals, aber es war ein wenig Verlegenheit in ihrer Stimme, denn sie kam sich im gleichen Augenblick so klein und unbedeutend vor.

„Dann ist es eine Naturbegabung!“ sagte er, und wieder war es eine Feststellung, die er wie einen Grundsatz und etwas Unwiderrufliches aussprach. „So geht es mit vielen Dingen im Leben: entweder man kann sie, ohne die geringste Mühe auf sie verwendet zu haben, oder man lernt es nie. Das haben Sie doch sicher auch schon erfahren, nicht wahr?“

„Im Augenblick wüßte ich kein Beispiel“, gab sie zur Antwort, „aber mir scheint, Sie haben durchaus recht!“

In diesem Augenblick brach die Musik ab. Sofort ließ er sie los und bot ihr den Arm, um sie an ihren Tisch zurückzubringen.

„Ich werde mir erlauben, Sie beim nächsten Tanz noch einmal zu bitten!“ sagte er und verbeugte sich.

„Bitte!“ antwortete sie, ohne lange zu überlegen.

Als er gegangen war, drang der Sinn seiner Worte erst in ihr Bewußtsein ein. Wie hatte er gesagt? Ich werde mir erlauben ... Als ob es an ihm wäre, hier etwas zu erlauben! War es denn eine Auszeichnung oder gar eine Gnade, daß er zu ihr kam? Wer hier etwas zu erlauben hatte, das war doch sie, nur sie allein! Fast war sie geneigt, sich über die Anmaßung, die in seinen Worten zu liegen schien, zu ärgern.

Aber dann dachte sie daran, wie er sie geführt hatte. Und noch in der Erinnerung verspürte sie jenes seltsame Prickeln, das ihre Nerven bis in die Fingerspitzen hinein hatte vibrieren lassen.

„Sie hatten ja einen tollen Tänzer!“ sagte in diesem Augenblick jemand in ihrem Rücken. Als sie sich umschaute, hob die Marketenderin lachend ihr Glas und trank ihr zu.

„Meinen Sie seine Maske oder die Art, wie er tanzte?“ fragte Birgit interessiert.

„Beides, mein Kind, natürlich beides! Mephisto im Frack, schon der Gedanke daran läßt mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen! Ich glaube, in seinen Armen könnte selbst ich noch schwach werden.“

„Sie übertreiben, Frau Steffen! Zugegeben, der Frack steht ihm ausgezeichnet, so ist damit doch immer noch nicht gesagt, daß sich unter seiner Maske ein routinierter Verführer verbirgt. Vielleicht ist er ein ganz harmloser Volksschullehrer oder gar ein kleiner Angestellter, der hier für ein paar Stunden den großen Herrn spielt.“

„Das glauben Sie doch selbst nicht, Fräulein Lindberg“, antwortete die Marketenderin und schüttelte den Kopf über so viel Weltfremdheit. „Dem liegt das Tanzen im Blut, der versteht sich auf den Umgang mit Frauen!“

„Nun, wenn schon!“ meinte Birgit wegwerfend. „Mir kann er nicht gefährlich werden!“

„Abwarten, mein Kind, ganz schön abwarten! Noch ist nicht aller Tage Abend, und das Fest beginnt ja erst!“

Frau Steffen spreizte sich und nickte siegesgewiß mit dem Kopf. Schließlich besaß sie ein gerüttelt Maß an Lebenserfahrung, und außerdem hatte sie Augen im Kopf. Der Mann wußte genau, was er tat.

Die Musik hatte kaum wieder begonnen, als gleich zwei Tänzer vor Birgit standen, um sie zum Tanz aufzufordern. Da sie keinen von beiden durch eine Bevorzugung des anderen beleidigen wollte, erklärte sie, diesmal sitzenbleiben zu wollen. Die Herren zogen sich zurück.

„Aber was denn, Fräulein Lindberg“, sagte die Marketenderin mit verständnislosem Kopfschütteln. „Darum brauchen Sie doch keinen Tanz auszulassen. Einen der Herren hätte ich schon auf meine Kappe genommen!“

Da lachte Birgit laut heraus.

„Richtig, die Bedingung hätte ich allerdings stellen können! Wenn wieder einmal zwei zu gleicher Zeit kommen sollten, will ich mich entsprechend verhalten!“

Doch die Marketenderin brauchte keine Angst zu haben, an diesem Abend sitzen zu bleiben. Der dicke Türke an ihrem Tisch rückte seinen Turban zurecht und erhob sich.

„Sie gestatten, gnädige Frau?“

„Aber selbstverständlich, Sie alter Haremswächter“, lachte die Marketenderin und ging ihm voraus. Der Türke wußte seine Chance wohl zu nutzen, denn eben erst hatten ihn Frau und Tochter verlassen, nachdem sie laut und dringend nach etwas Kleingeld gefragt hatten.

Birgit saß allein, denn auch der junge Räuber war inzwischen eigene Wege gegangen. Und die anderen hatten längst ihre Dame gefunden.

So saß sie also am Tisch und ließ ihre Blicke über das festliche Gewoge schweifen. Und da sah sie ihn plötzlich. Der Mephisto stand am Rande der Tanzfläche, leicht an eine Säule gelehnt, und schaute unentwegt zu ihr herüber.

„Ein fabelhafter Mann!“ sagte die Marketenderin, als sie zurückkehrte und meinte nicht etwa ihren Tänzer. Birgit, die sich in ihren geheimsten Gedanken entdeckt fühlte, errötete bis unter die Haarwurzeln. Erschreckt blickte sie auf.

„Wen meinen Sie denn?“ fragte sie in der vagen Hoffnung, Frau Steffen täuschen zu können und von dem Gegenstand ihrer Gedanken abzulenken.

„Nun, den Mephisto natürlich! Haben Sie denn noch nicht bemerkt, wie er dauernd zu Ihnen herüberschaut?“

„Ich habe ihm den nächsten Tanz versprochen“, sagte Birgit und hoffte, daß es Frau Steffen als Erklärung dienen möchte.

„Ich glaube, der weiß, was er will!“ fuhr Frau Steffen fort.

Und ob er das weiß, hätte Birgit beinahe geantwortet, aber sie verkniff sich dieses Geständnis, das ihrer Begleiterin nur allzu viel verraten hätte, noch im letzten Augenblick.

Plötzlich setzte die Musik ein.

Birgit schaute zur Bar hinüber und sah, daß der Herr langsam auf sie zukam.

Birgit blickte ihm entgegen und lächelte schwach. Noch bevor er ihren Platz erreicht hatte, erhob sie sich. Er bot ihr den Arm.

„Über Mangel an Tänzern brauchen Sie sich gewiß nicht zu beklagen“, sagte er, und es schien Birgit, als ob ein leichter Spott in seiner Stimme mitschwänge.

„Kunststück“, lachte, sie zurück, „bei dem Männerüberschuß hier im Saal!“

„Sie wissen selbst, daß das nicht der wahre Grund ist“, gab er ihr zur Antwort. Er sah ihr in die Augen, und seinen Mund umspielte ein seltsames Lächeln. Als er jetzt den Arm um sie legte, war es wie eine Liebkosung.

Eigentlich hatte sie ihn zur Rede stellen wollen wegen seines selbstherrlichen Auftretens, sie wollte ihm sagen, daß es durchaus keine Selbstverständlichkeit gewesen war, daß sie auf ihn gewartet hatte, denn kommandieren ließe sie sich nicht. Aber als sie nun in seinem Arm über das Parkett dahinglitt, war dieser Vorsatz in alle Winde zerflattert. Ergeben und voller Seligkeit vertraute sie sich seiner Führung an.

Auch diesmal war er schweigsam. Es schien ihr, als konzentriere er sich ausschließlich auf den Tanz. Doch dann spürte sie mit leisem Erschauern, wie er ihre Rechte mit festem Druck umschloß. Fast war es wie ein Besitzergreifen. Doch sie konnte sich nicht dagegen wehren, sie duldete es, ohne mit der Wimper zu zucken, ja, sie wagte nicht einmal, ihre Hand zu bewegen, um den Griff zu lockern.

Nun schien es ihr, als ob auch der Griff seiner Rechten fester geworden sei, wenn er es auch nicht wagte, sie an sich zu drücken. Aber er versuchte so zu tanzen, daß sie ihm in die Augen schauen konnte. Da wandte sie sich ab, denn sie wand sich in tödlicher Verlegenheit.

So etwas war ihr noch nie passiert! Gerade Männern gegenüber hatte sie stets ein selbstsicheres Auftreten gehabt, das ihr aus der Tatkraft erwuchs, mit der sie ihren Beruf ausübte. Und nun trat ihr ein Mann entgegen und alle Sicherheit, alle Überlegenheit waren dahin. Und was das Schlimmste war, sie empfand darüber nicht einmal Bedauern.

Wer war denn dieser Mann überhaupt? Sie kannte ja nicht einmal sein Gesicht! Nur seine Augen konnte sie hinter der Maske erkennen, gütige, hellbraune Augen, in denen zuweilen ein wenig Spott aufblitzte. Ja, und dann kannte sie seinen Mund und sein männlich-festes Kinn. Aber sie kannte diesen Mund nur flüchtig, denn sie hatte noch nicht gewagt, ihn genauer zu betrachten, aus Angst davor, ein spöttischer Blick aus seinen Augen könne sie treffen.

Und dann kannte sie seine Figur und seine Haltung. Er sah wunderbar aus, und sein Gang war der eines Mannes mit Stolz und Selbstvertrauen, der fest und unerschütterlich im Leben stand und auch anderen Vertrauen einflößte. Das war es ja, was sie so stark beeindruckt hatte, es ging Vertrauen von ihm aus, man mußte sich in seiner Nähe geborgen fühlen.

Was aber am stärksten auf sie einwirkte, war seine Stimme. Schon die ersten Worte, die er an sie richtete, hatten verborgene Saiten in ihrer Seele zum Klingen gebracht und sie sehnte sich direkt danach, sie wieder zu hören, und wenn es auch nur Worte ohne Inhalt und ohne besondere Bedeutung gewesen wären.

Aber es verlangte ihn offenbar nicht danach, landläufige Konversation zu machen. Sonst hätte er sie doch sicher gefragt, wielange sie schon hier sei, ob sie sich gut erholt hätte und was dergleichen Fragen mehr waren, mit denen die Badegäste ihre Gespräche einzuleiten pflegten.

Doch nichts dergleichen. Ihr Mephisto blieb stumm.

Und dann ging der Tanz zu Ende. Er reichte ihr den Arm, führte sie aber nicht zu ihrem Tisch zurück, sondern drängte nach der anderen Seite des Saales.

„Aber wohin führen Sie mich denn?“ fragte sie und bemühte sich, Unwillen und Abwehr in ihre Stimme zu legen.

„Bitte, wir gehen zur Bar und trinken ein Glas Sekt zusammen!“ sagte er, als sei dies das Selbstverständlichste von der Welt.

Da war sie wieder, diese Selbstsicherheit, diese Überlegenheit, die ihr jeden eigenen Willen nahm. Sie empfand es zwar nur undeutlich, aber dennoch begehrte sie auf:

„Aber ich kann doch meine Begleiterin nicht allein lassen!“

„Sie meinen die Dame mit der großen Markttasche?“

„Ja, die Marketenderin, mit der ich gekommen bin. Sie ist meine Quartierswirtin und ich bin ihr verpflichtet, da ich sie eingeladen habe!“

„Dann schauen Sie mal dorthin!“ sagte der Herr im Frack und deutete diskret mit den Augen nach rechts.

Da ging Frau Steffen am Arm eines bärtigen Ritters, und der Weg, den sie eingeschlagen hatten, führte ebenfalls zur Bar.

Birgit sah es, aber dennoch zögerte sie, mit ihm zu gehen.

„Nun müssen Sie Ihrem Vorsatz aber auch treu bleiben!“ sagte ihr Begleiter. „Jetzt sind Sie sogar verpflichtet, Ihrer Begleiterin in die Bar zu folgen. Also bitte!“

Mit betont chevaleresker Geste bot er ihr abermals den Arm. Da zierte sie sich nicht länger und folgte ihm.

In der Bar war Hochbetrieb. Auf den Hockern war kein Platz mehr frei. Aber in kleinen Nischen standen einzelne Tische, die zum Niedersitzen einluden. Dorthin führte er sie.

„Und was trinken Sie?“ fragte er höflich. Aber das war wohl nur der Form wegen, denn als sie ihre Antwort ein wenig hinauszögerte, fuhr er sogleich fort: „Selbstverständlich Sekt, denn Sie wollen doch sicher mit mir anstoßen.“

„Das weiß ich noch nicht!“ antwortete sie, denn sie wollte sich nicht völlig bevormunden lassen.

„Was wissen Sie noch nicht, kleines Fräulein?“ fragte er, als habe er nicht recht verstanden.

„Ob ich überhaupt mit Ihnen anstoße! Ich wüßte ja nicht einmal, worauf wir anstoßen sollten!“

„Nun, auf unsere Bekanntschaft! Ich denke schon, daß das ein triftiger Grund sein wird!“ Er hielt inne und schaute sie an, dann näherte er sich ihrem Ohr und flüsterte: „Wenigstens für mich!“

Wieder kam diese vermaledeite Verlegenheit über sie, Birgit fühlte, wie sie rot wurde. Auch er mußte das bemerkt haben, doch diskret schaute er zur Seite und winkte dem Kellner.

Wenige Augenblicke später standen die Gläser vor ihnen.

Er hob sein Glas und fragte:

„Wie heißen Sie eigentlich, schönes Fräulein?“

„Warum wollen Sie das wissen?“ fragte sie zurück.

„Weil ich uns beiden die Möglichkeit verschaffen will, so miteinander zu sprechen, wie es bei einem Maskenball üblich ist.“

„Und was ist hier üblich?“ fragte sie naiv, fuhr aber gleich darauf fort: „Sie müssen meine Unkenntnis verzeihen, es ist der erste Maskenball in meinem Leben, den ich mitmache!“

Voll ungläubigen Staunens sah er sie an. Dann meinte er sachlich: „Bei einem Maskenball ist es üblich, daß sich die Besucher bei ihren Vornamen nennen, ganz besonders aber diejenigen, die beschlossen haben, den Abend gemeinsam zu verbringen!“

„Ja, haben wir denn das beschlossen?“ fragte Birgit. „Ich erinnere mich nicht, dazu meine Zustimmung gegeben zu haben!“

„Nein? Und ich hatte schon geglaubt, das hätte keiner besonderen Frage mehr bedurft!“

„Dann haben Sie sich eben geirrt, mein Herr!“ sagte Birgit hoheitsvoll, lenkte aber sofort wieder ein und sagte: „Da wir nun doch schon einmal hier sitzen, wollen wir auch das Trinken nicht vergessen. Also auf unsere Bekanntschaft, von der Sie sich Wunderdinge versprechen!“

„Wunderdinge?“ fragte er gedehnt. „Nein, schönes Fräulein, Wunderdinge erwarte ich von unserer Bekanntschaft nicht, sondern ganz schlicht und einfach das Wunder!“

Er hob sein Glas und schaute ihr in die Augen. Und sie erwiderte seinen Blick, ohne die Augen niederzuschlagen. Wenige Sekunden lang war beiden feierlich zumute, und die lärmende Umwelt schien für sie versunken zu sein.

Die Marketenderin auf dem Barhocker sah sich in diesem Augenblick um und blinzelte Birgit zu, als stünde sie mit ihr im geheimen Einverständnis. Irgendwie war dies Birgit unangenehm, es schien ihr fast wie eine Entweihung des Augenblicks, denn hätte ihr Begleiter den Blick ebenfalls bemerkt, hätte er daraus schließen können, sie beide gingen an diesem Abend auf Abenteuer aus.

Um dem Blickwechsel eine unverfängliche Note zu geben, hob Birgit ihr Glas und trank der Marketenderin zu. Als sie es leer auf den Tisch zurückstellte, rief ihr Mephisto abermals nach dem Kellner.

„Sie wollen mir also Ihren Namen nicht nennen?“ fragte er noch einmal. „Gut, ich respektiere Ihren Wunsch. Dann müssen wir eben einen Namen für Sie suchen!“

„Und welcher würde zu mir passen?“ fragte sie, auf den Scherz eingehend.

„Nun, ein königlicher müßte es zumindest schon sein, ein Name, der auch Ihrem Äußeren gerecht wird.“

„Ach, Sie meinen, ich wollte eine Königin darstellen?“

„Das dachte ich. Oder habe ich mich etwa geirrt?“

„Natürlich haben Sie sich geirrt!“ lachte Birgit amüsiert, und der Schalk gab ihr ein, ihn nun vollends zu verwirren. „Ich stelle nämlich eine Kurtisane dar, die größte, die es jemals gegeben hat!“

„Also eine königliche Kurtisane!“ ging er sofort auf den Scherz ein.

„Wie wäre es dann mit Katharina?“ fuhr sie fort. „Würde Ihnen der Name zusagen?“

„Zarin von Rußland, Herrscherin aller Reußen! Nicht schlecht“, sagte er und nickte beifällig, „jedenfalls war sie als Kurtisane ebenso groß wie als Kaiserin. Gut, ich nenne Sie Katharina!“

„Und wie geruhen der hohe Herr von mir angesprochen zu werden?“ fragte Birgit. „Hat Ihr Name auch eine Beziehung zu Ihrem Kostüm?“

„Ich hoffe es, Katharina!“ sagte er lachend.

„Beelzebub finde ich aber gar nicht schön als Rufnamen!“

„Vielleicht finden Sie eine liebenswürdige Umschreibung“, schlug er vor.

„Mephistopheles ist mir zu lang, da zerbricht man sich ja die Zunge! Und ein Faun sind Sie auch nicht, denn Ihren Pferdefuß habe ich noch nicht entdecken können.“

„Wir können es ja mit Mephisto versuchen, ich finde, die Abkürzung klingt doch ganz nett!“

„Na, meinetwegen!“ sagt sie gönnerhaft.

„Also trinken wir auf unsere neuen Namen!“ Er stand auf und hob sein Glas. Um ihm Bescheid zu tun, mußte auch sie sich erheben. Er schob seinen Arm unter den ihren und setzte das Glas an die Lippen. Birgit folgte seinem Beispiel. So tranken sie Brüderschaft.

„Und zur Besiegelung einen Kuß!“ forderte er und legte seinen Arm um ihre Schulter.

Ihr wurde heiß und kalt, aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Es war unmöglich, sich gegen die Bräuche eines Maskenfestes aufzulehnen, und gerade vor ihm wollte sie sich nicht lächerlich machen oder gar sich allzu kleinlich zeigen.

Langsam hob sie ihm ihr Gesicht entgegen und bot ihm die Lippen zum Kuß.

Er beugte sich darüber und berührte sie mit leichtem Druck.

Es war keine Forderung und kein Begehren in dieser Berührung, es war ein ganz korrekter Freundsdchaftskuß. Und dennoch war es Birgit, als öffne sich über ihr der Himmel und strahlte tausendfältigen Glanz und höchste Seligkeit auf sie hernieder.

Schamhaft senkte sie den Blick, als er sie freigab und sein Glas auf den Tisch zurückstellte.

„Und jetzt wollen wir tanzen, Mephisto!“ sagte sie, griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich.

„Aber mit Freuden, Katharina!“ antwortete er und drängte mit ihr durch das Gewoge.

Diesmal schienen ihre Rollen vertauscht zu sein. Während er wiederholt den Versuch machte, ein Gespräch anzuknüpfen, versank sie in abgrundtiefe Schweigsamkeit. Es war schon viel, wenn er hin und wieder ein Kopfnicken als Antwort erhielt.

„Böse, Katharina?“ fragte er, und ehrliche Besorgnis klang aus seiner Stimme.

Wild schüttelte sie den Kopf.

„Habe ich dich denn irgendwie gekränkt?“

Wieder ein Kopfschütteln.

Dann schwieg auch er. Und zum zweiten Mal versuchte er, sie ein wenig fester an sich zu ziehen. Sie gab dem Druck nach und schmiegte sich in seinen Arm.

Und Birgit fühlte, wie sie den Boden unter den Füßen zu verlieren begann.

Wohin war ihre stolze Sicherheit? Wohin ihre Selbstbehauptung? Es war ihr plötzlich vollkommen gleichgültig, was mit ihr geschah. Wenn er sie jetzt auf seine starken Arme genommen und davongetragen hätte, sie würde ihm nicht gewehrt haben.

Ob das die Liebe war?

Aber sie kannte diesen Mann doch gar nicht! Hatte ihn nie gesehen! Sie wußte nicht, woher er kam und welche Stellung er im Leben einnahm. Er konnte ein Hochstapler sein oder ein richtiger Verbrecher, und es war auch möglich, daß er verheiratet war und daß Frau und Kinder daheim auf ihn warteten.

Doch seltsam, das kümmerte sie in diesem Augenblick nicht. Wenn er nur da war! Sie hatte die völlige Gewißheit, daß keine von allen Befürchtungen, die sie mit seiner Person verknüpfen könnte, zutreffen würde. Und sie stellte fest, daß sie diesem Mann verfallen war. Mit Haut und Haaren, mit ihrem jungfräulichen Herzen und mit ihrer ganzen Seele.

Obwohl die Erkenntnis wie eine Lawine über sie hereinbrach, hatte der Gedanke für sie nichts Erschreckendes an sich. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfuhr sie, wie herrlich und berauschend das Glück sein konnte.

Als der letzte Takt des Tanzes verklungen war, folgte sie ihm in die Bar. Wieder an ihren Tisch zurückzukehren, kam ihr überhaupt nicht in den Sinn. Und wieder tranken sie Sekt.

Eine Weile saßen sie sich stumm gegenüber. Dann sagte er:

„Weißt du, was ich mir jetzt wünsche, Katharina?“

„Nein, das weiß ich nicht!“

Sie dachte sich zwar allerlei, aber das mochte sie nicht aussprechen, aus Angst, sie könne nicht das Richtige getroffen haben.

„Dann muß ich es dir wohl sagen, nicht wahr? Also ich wünsche mir, daß es recht bald Mitternacht ist!“

„Wegen der Geisterstunde?“ fragte sie harmlos.

„Nein, aber dann ist Demaskierung, dann werde ich zum ersten Mal dein Gesicht sehen!“

„Wenn das nur keine Enttäuschung wird!“ sagte sie voller Skepsis. „Du machst dir sicher eine übertriebene Vorstellung von meiner Schönheit!“

„Wenn alles so schön ist wie deine Augen, Katharina, dann wäre ich glücklicher, als wenn ich das große Los gezogen hätte!“

„Und wenn es nun nicht der Fall ist?“ fragte sie schelmisch, aber dennoch stand die nackte Angst hinter ihren Worten. Wußte sie denn, was er zu sehen erwartete? Sicher hatte er einen recht verwöhnten Geschmack, und wenn er nun sah, wie sie wirklich aussah, würde er vielleicht enttäuscht sein.

Da griff er nach ihrer Hand und preßte sie so fest, daß seine Knöchel weiß wurden.

„Au, du tust mir ja weh!“ schrie sie leise auf.

„Entschuldige, Katharina, aber das ist bei uns in der Hölle nun mal so Brauch.“

„Auf solche Sitten und Gebräuche verzichte ich aber gern“, sagte sie halb im Scherz, halb im Ernst.

„Ich wil mich ja auch bessern, Katharina“, versprach er sofort. „Und außerdem, morgen ist das alles ganz anders!“

„Wie ist es dann?“ wollte sie wissen.

„Dann werde ich dir in aller Form einen offiziellen Besuch machen und mich für das entschuldigen, was ich heute, um meinen Ruf als Mephisto zu wahren, alles tun mußte.“

„Und dann?“ forschte sie weiter.

„Weißt du das wirklich nicht, Katharina?“ fragte er eindringlich und legte abermals seine Hand auf ihre Rechte.

„Nein, was soll ich denn wissen?“ fragte sie und zitterte vor Aufregung.

„Hast du denn noch nicht bemerkt, daß wir beide füreinander bestimmt sind?“

Sie sah auf, seine Stimme war ungewöhnlich ernst, und sein Blick ruhte forschend auf ihrem Gesicht. Das war kein Spaß mehr und kein Wortgeplänkel, das war Ernst!

Mit einem Male wurde ihr klar, in welcher Situation sie sich befand. Morgen? Hatte er nicht davon gesprochen, was morgen sein würde? Aber um Gottes willen, wohin verstieg sie sich! Morgen war ihr Urlaub beendet, morgen begann der Alltag und forderte sein Recht, morgen würde sie wieder die Krankenschwester Birgit Lindberg sein und nicht mehr die große Kurtisane Katharina.

Und im selben Augenblick wurde ihr klar, daß sie nicht verantworten konnte, was sie hier unternahm. Der Mann hatte sich ja in sie verliebt! Der war ja imstande und verlangte von ihr, daß sie am nächsten Tage fortsetzte, was sie heute aus einer Laune heraus begonnen.

Jawohl, aus einer Laune heraus!

Denn das konnte doch keine Liebe sein. Sie kannte ihn ja nicht einmal, wußte weiter nichts von ihm, als daß er ihre Sympathie im Fluge erobert hatte und daß ihm ihr Herz zuflog. Ja, so war es. Aber das durfte nicht sein! Immer war sie darauf bedacht gewesen, ihr Herz fest in der Hand zu behalten. Und das mußte auch so bleiben, wenn sie nicht im Leben und in ihrem Beruf Schiffbruch erleiden wollte!

Morgen! Dies eine kleine Wörtchen hatte es fertiggebracht, daß sie aus ihrem holdesten Traum herausgerissen und in die Wirklichkeit zurückgeschleudert wurde. Ihr Verstand, der sonst so zuverlässige, hatte sie im Stich gelassen, aber jetzt meldete er sich wieder, und sie mußte ihm Gehör schenken.

Mein Gott, dachte sie, wie komme ich da nur wieder heraus!

Plötzlich hörte sie wieder seine Stimme.

„Du hast mir noch keine Antwort gegeben, Katharina!“

Verstört sah sie ihn an. Ach ja, er wollte eine Antwort. Was hatte er denn nur gefragt? Ob sie nicht bemerkt habe, daß ...

„Auch Mephisto kann irren“, sagte sie mit rauher Stimme, denn das Herz drohte ihr bei diesen Worten zu zerbrechen. „Kein Mensch kann nach so kurzer Zeit eine Frage beantworten, die sein Schicksal bedeutet! Wir wissen doch nichts voneinander, gar nichts!“

„O nein, Katharina“, widersprach er heftig, „wir wissen alles! Du denkst genau so wie ich, willst es nur nicht zugeben!“

„Und wer sagt dir, daß ich so denke?“

„Mein Gefühl!“

„Gefühl!“ sagte sie und mühte sich um einen verächtlichen Ton. „Das Gefühl kann irren, der Verstand aber nicht! Und mein Verstand sagt mir, daß es ausgeschlossen ist, vollkommen ausgeschlossen ...“

„Bitte, Katharina, sprich nicht weiter!“ unterbrach er sie brüsk. „Du glaubst ja selbst nicht, was du jetzt sagen willst!“

Einen Augenblick lang war sie starr vor soviel Hartnäckigkeit. Er hatte sich also wirklich in diese Idee hineingesteigert. Sie hatten beide vollkommen vergessen, wo sie sich befanden. Aber einer von ihnen mußte doch den Kopf oben behalten! Wohin sollte es denn führen, wenn sie beide ihrem Gefühl freien Spielraum gaben? Das konnte doch nur in einer Katastrophe enden! Nein, das durfte nicht sein! Das konnte sie ihm und sich selbst nicht antun!

Es kostete sie übermenschliche Anstrengung, aber sie rang sich zu dem Entschluß durch, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Und wie konnte sie das? Sie mußte ihm ein Bild von sich selbst geben, das er abscheulich finden würde, damit er sich von ihr abkehrte.

„Ich glaube, Mephisto, mit deiner Klugheit ist es nicht weit her. Man hat sie bisher ohne Recht gerühmt und mehr in dich hineingeheimnist, als in Wirklichkeit darin steckt!“

„Wie meinst du das, Katharina?“ fragte er verblüfft, denn er konnte sich keinen Vers darauf machen, was sie wohl hatte sagen wollen.

„Du bist doch heute abend zu einem Maskenfest gegangen, nicht wahr?“

„Ja, natürlich doch!“

„Und du hast erwartet, hier Menschen anzutreffen, die eine Maske tragen?“

„Das ist ja auf einem Maskenfest so üblich!“

„Gut, also die Menschen, die du hier triffst, sind nicht das, was sie zu sein vorgeben. Du selbst bist als Mephisto gegangen, und ich bin davon überzeugt, daß nichts Teuflisches in dir steckt.“

„Und was willst du mir damit sagen?“

„Auch ich bin nicht das, was du in mir vermutest, ich habe nicht nur mein Gesicht, sondern auch meinen Charakter maskiert. Anders hätte mein Kostüm einer Königin ja nicht echt gewirkt!“

„Und wie bist du in Wirklichkeit, Katharina?“

„So, wie du mich nun absolut nicht sehen willst! Aber ich muß dir endlich die Augen öffnen, und sei es auch nur aus Dank für den Sekt, zu dem du mich eingeladen hast!“

„Katharina!“

„Still, ich muß jetzt sprechen! Ich bin nicht das kleine, unschuldige Hascherl, das du in mir sehen möchtest!“

„Katharina, du spinnst!“ sagte er, immer noch nicht von ihren Worten überzeugt.

„So, ich spinne? Dann will ich dir den Beweis liefern, du Höllensohn! Komm, laß uns tanzen!“

Die Musik spielte gerade einen wilden Foxtrott. Sie griff seine Hand und riß ihn förmlich mit sich. Und dann tanzten sie. Er kannte sie nicht wieder, so wild und ausgelassen wirbelte sie mit ihm über das Parkett. Und allen Männern, die sich nach ihr umschauten, machte sie schöne Augen.

Man wurde aufmerksam auf sie, klatschte Beifall, und alsbald traten die Paare zurück und gaben den Raum frei für ihren wilden Tanz. Der Mephisto im Frack hatte Mühe, diesen Temperamentsausbruch zu zügeln und mit seiner Partnerin Schritt zu halten.

Als sie in die Bar zurückkehrten, gab ihnen der Narrenschwarm das Ehrengeleit.

„Nun will ich trinken!“ forderte Birgit. „Sekt her! Es lebe die Liebe!“

„Es lebe die Liebe!“ tat ihr Mephisto Bescheid. Er hatte sich schnell gefaßt und versuchte, sich der veränderten Situation anzupassen.

Sie trank ihr Glas in einem Zuge leer. Schon war es wieder gefüllt, und wieder trank sie gierig wie eine Verdurstende.

Er ließ sie gewähren. Vielleicht machte es ihr Freude, einmal so richtig ausgelassen zu sein. Er war großmütig genug, ihr das zu gönnen und machte gute Miene zu diesem Spiel des Übermuts und der frohen Laune. Zu diesem Spiel, das nichts anderes war als ein ungeheurer Frevel am Heiligsten, das es auf dieser Erde gab, Frevel an dem reinen Gefühl zweier Herzen, die sich in Liebe verzehrten.

Und wieder wollte sie tanzen, sie konnte einfach nicht genug bekommen, warf mit Luftschlangen und schnappte im Vorbeitanzen nach den Kappen und Masken der um sie herumquirlenden Narren. Mit Pritschen wehrte man ihrem Tun, versuchte, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und bald war sie der Mittelpunkt einer wüsten Horde.

Sehr schnell aber verschaffte sich der Mephisto Respekt, und mit einigen energischen Bewegungen brachte er seine Tänzerin in Sicherheit. In der Bar aber verlangte sie abermals zu trinken.

Mit blutendem Herzen und lachendem Mund spielte sie die Rolle, die sie sich zugedacht, und sie spielte sie gut, so gut, daß sein Herz irre ward.

Die Kapelle im Saal hatte eine Pause eingelegt, in der Bar aber spielte ein Geiger seine betörenden Weisen.

„Komm, Höllensohn, nimm mich in deine Arme!“ forderte sie ihren Mephisto auf. Er umfing die schon leise schwankende Gestalt und tanzte mit ihr einen Tango.

„Bist du nun zufrieden, Katharina?“ fragte er leise an ihrem Ohr.

„Zufrieden?“ fragte sie und warf den Kopf in den Nacken. „Zufrieden bin ich nie!“

Er sah auf sie herab, auf die geschwungenen Lippen, die weichen Wangen und das zärtliche Kinn. Und er sah auch ihre nackten Schultern, die hell und strahlend aus dem Brokat ihres Kleides hervorleuchteten. Und da entdeckte er plötzlich unterhalb der linken Schulter, dort, wo sich ihre mädchenhafte Brust mit einer zarten Wölbung andeutete, ein paar Narben auf der Haut.

„Was hast du denn dort, Katharina?“ fragte er und deutete mit dem Blick auf die Stelle.

„Nichts für dich, Mephisto!“ sagte sie mit girrendem Lachen.

„Ich will es aber wissen!“ beharrte er hartnäckig.

„Das müßtest du doch raten können“, erwiderte sie. „Denk doch daran, wer ich in Wirklichkeit bin!“

„Und trotzdem kann ich es nicht raten!“

„Das ist ein Andenken an einen besonders stürmischen Liebhaber!“

Er schrak zusammen, als habe er eine kalte Dusche bekommen. Soviel Frivolität hatte er nicht erwartet. Sie aber sah lachend zu ihm auf und weidete sich an seinem Entsetzen.

Sie hätte aufschreien mögen vor Schmerz und Qual, denn was sie hier tat, das ging schier über ihre Kraft. Und doch mußte sie ihre Rolle weiter spielen, damit er seine Illusion vergaß, diese Illusion von Glück und Seligkeit.

Und noch einmal nahm sie alle Kraft zusammen, um in ihm auch den letzten Zweifel darüber zu zerstreuen, daß sie ein Liebchen für jedermann war. Schwer hängte sie sich in seinen Arm und sagte mit lockender Stimme:

„Küß mich, Mephisto! Küß mich noch einmal auf den Mund!“

Da preßte er sie an sich, wühlte seine Linke in ihre Locken und bog ihren Kopf zurück. Und mit heißen, fordernden Lippen beugte er sich über ihren Mund.

In diesem Augenblick zerbrach etwas in ihr, mit ihrer Kraft war es zu Ende. Sie hatte nicht mehr die Fähigkeit, ihn zu belügen und ihm ein frevelhaftes Spiel vorzugaukeln.

Und sie küßte ihn mit keuscher Innigkeit und verhaltener Leidenschaft. Und die Welt um sie her versank.

Dieser Kuß war ein Geständnis, mehr noch, er war die Offenbarung ihres Herzens.

Als er sie endlich freigab und in jubelndem Glück auf sie niederschaute, kam sie zur Besinnung. Und dieses Erwachen war furchtbar. Sie erkannte plötzlich, was sie angerichtet hatte. Ihr ganzes Spiel war umsonst gewesen.

„Katharina! Kleine Katharina!“ flüsterte er heiß an ihrem Ohr.

Da riß sie sich aus seinen Armen los.

„Nein! Nein, das darf nicht sein!“ schrie sie gellend auf, und ihr Gesicht verzerrte sich in namenloser Qual.

Die Leute, die sie umstanden, fuhren herum und starrten erschreckt auf die seltsame Szene. Mephisto war wie vor den Kopf geschlagen und hatte Mühe, die Situation zu erfassen.

Doch ehe er recht zur Besinnung kam, hatte sie die Bar schon verlassen. Als er ihr nachlief, war es schon zu spät. Sie war verschwunden, als habe sie der Erdboden verschluckt.

Sein Märchen hatte ein schreckliches Ende gefunden.

Nie werde ich den Tag vergessen

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