Читать книгу Elijas Lied - Amanda Lasker-Berlin - Страница 7
ОглавлениеAcht
Die Sonne sticht in Noas Auge. Sie blinzelt. Bleibt eine kleine Weile blind. Noa lauscht dem Bach. Er schlängelt sich durch das Moor, teilt es in zwei Hälften. Zwischen Wasser und Noa wuchern halbhohe Gräser, sie wiegen sich minimal. Die umstehenden Bäume beschützen sie vor dem Wind. In den Kronen rascheln tiefgrüne Nadeln. An ihnen kommt die Sonne nur schwer vorbei. Mehrfach gebrochen, landen helle Strahlen auf dem sumpfigen Grund, zeichnen Muster auf die herausstehenden Wurzeln, flimmern über die Holzplanken, auf denen Noa hockt.
Endlich das Licht, denkt Noa. Nächte sind ihr zu dunkel.
Ein Sonnenstrahl bricht sich im Wasser, hüpft an ihrem Auge vorbei, landet auf ihrer Stirn. Sie mag es, Sonne auf der Haut zu spüren. Mehr noch, als die Haut eines anderen zu streicheln.
Fast ohne jede Welle zieht der Bach an ihr vorbei. Noa lehnt sich vor. Ihr Spiegelbild taucht im schnellen Wasserlauf auf. Verschwommen, unklar. Die Gesichtsform zitternd, die Augen milchige Flecken, die Nase wegen der schwachen Kontraste nicht auszumachen. Irgendwo die Ohren. Nur die roten Haare strahlen ihr deutlich entgegen. Die sind chemisch gefärbt. Noa schiebt sich ein Stück weiter vor. Schaut genauer hin. Das Spiegelgesicht wird größer. Noa dreht sich um. Vielleicht steht jemand hinter ihr, der so verschwommen aussieht. Vielleicht Elija oder Loth.
Jetzt blickt Noa konzentriert auf ihr Bild im Wasser. Die Iris setzt sich nicht vom Augapfelweiß ab, die Pupillen sind ein übersehbarer Fleck. Wimpern erkennt sie nicht.
Mit dem kleinen Finger streichelt sie ihr Auge. Kurze borstige Haare sprießen aus dem Lid. Die Haut ist dort warm. Noa wärmt sich die Finger auf, dann taucht sie sie in den Bach.
Das Wasser weiß noch nichts vom Sommer. Das Wasser denkt noch: Schneeschmelze.
In den Fingerkuppen ziehen sich die Gefäße zusammen, das Blut kehrt um. Fließt bis in die Handwurzel. Die Finger werden weiß.
Sanft führt Noa sie gegen die Strömung. Das Wasser schnellt durch den Spalt zwischen Daumen und Zeigefinger, lässt sich nicht stauen.
Noa schaut in den Himmel. Kleine Wolken, spitze Kronen und das Versprechen auf Hitze. Die Vögel singen nicht mehr. Dafür ist es zu spät am Tag.
Während Noa den Kopf in den Nacken legt, treibt der Bach das Wasser tiefer ins Moor.
Noa nimmt den Kopf aus den Wolken, schaut auf die fröstelnde Hand im Bach. An den Kuppen ist sie blau geworden. Schnell zieht Noa sie heraus, streift sie an der Hose ab. Dann steht sie auf. Ihr Spiegelbild versackt im Moor. Nur das Rot der Haare nicht. Das ist chemisch gefärbt.
Acht. Dreizehn
Loth kniet vor Elija. Das Licht blendet sie. Warum muss es am Morgen schon so hell sein? Vielleicht hätten sie früher aufstehen sollen. Loth konnte sowieso nicht schlafen. Loths Finger sind kalt. Elijas rechter Schnürsenkel hundertfach verknotet. Dass man so ein riesiges Knäuel aus nur zwei Schnüren zusammenwurschteln kann, wusste Loth vorher nicht.
Warum hast du das gemacht, murmelt sie.
Elija schluchzt leise. Ohne Tränen. Zum Richtigweinen ist sie noch zu müde. Vor neun steht sie normalerweise nicht auf. Loth und Noa haben sie gezwungen.
Ihr ist schummrig vor Augen. Der Tag beginnt zu plötzlich. Frühstück in der Herbergsküche. Zu starker Käse, zu rustikale Wurst. Zuckerreduzierte Marmelade. So was isst Elija nicht. Trockenes Brot macht ihr schlechte Laune. Kein Kakao, nur Kräutertee, und der schmeckt nach Krankenhaus.
Elija lehnt sich an der Bushaltestelle an. Bei der Fahrt ist ihr schlecht geworden. Sie hat sich nicht übergeben. Wenn sie keine Tüten dabei hat, übergibt sie sich nicht.
Ihr ist das nur einmal passiert. Vor Jahren. Elija sieht sich dastehen, im Bus. So wie jetzt kurz vor dem Moor. Die Hände an die Stange gepresst, die Lippen aufeinander. Flaches Atmen durch die Nase. Die Schule nicht mehr weit entfernt. Überall Winter und überall stinkende Anoraks in der föhnigen Heizungsluft. Und da passiert es einfach. Nach einer scharfen Kurve, wenige Minuten vor dem Kunstunterricht. Der gelbe Anorak wird braun und noch stinkender. Alle denken: Ah, diese behinderten Kinder kotzen überall hin. Wir kotzen ja nicht überall hin. Wir haben gute Gene und kotzen nur, wenn wir betrunken sind. Aber dann ist es dunkel und cool, und jetzt ist es hell und peinlich. Können behinderte Kinder überhaupt Tageszeiten auseinanderhalten?
An der nächsten Station steigt Elija aus, heult in ihr Handy, bis sie abgeholt wird.
Die feste Glasscheibe stärkt Elija den Rücken. Sie hört, wie Loth unter ihr flucht.
Der Knoten lässt sich nicht öffnen. Egal, wie fest Loth zieht, wie fein sie friemelt. Wie lange sie vor jedem Griff überlegt.
Das geht nicht, sagt Loth und schaut zu Elija auf. Dabei ziehen sich in ihre Stirn tiefe Falten. Loth sieht alt aus, wenn sie wütend ist, findet Elija. Und Loth ist fast immer wütend.
Versuch noch mal, bittet Elija.
Der Schuh sitzt nicht fest am Fuß. So wird sie Blasen bekommen. Die neuen Wanderschuhe sind kaum eine Woche alt. Vor der Reise hat Elija sie jeden Tag getragen. Auch in der Wohnung. Nur zum Tanzen und Schlafen hat sie sie ausgezogen. Trotzdem ist das Leder rau. Jetzt ist es zu spät. Jetzt geht die Wanderung los.
Elija beißt sich auf die Lippen, nimmt sich vor, nicht quengelig zu sein. Den ganzen Tag nicht.
Loth richtet sich auf. Sie überragt Elija um einiges. Elija mag nicht, dass sie immer nur Loths kleine Brüste sieht, wenn sie geradeaus blickt. Den Kopf in den Nacken legen, um Loths Gesicht zu sehen, will sie nicht. Und Loth hat keine Lust runterzuschauen.
Das ständige Runterschauen macht mich depressiv, denkt sie.
Elija guckt auf die Brüste und Loth auf die Scheibe der Bushaltestelle. Loth spiegelt sich. Ihre Haare sind noch feucht, wirken fettig, findet sie. Und das ist nicht gut. Auch nicht, wenn man ins Moor geht und den ganzen Tag nur Gräser und Sumpf zu sehen bekommt.
Was ist mit dem Schuh?
Was soll damit sein? Du hast diesen Knoten da reingemacht, und ich kriege ihn da nicht raus.
Bitte hilf.
Elija reißt die Augen weit auf. Bei Noa kommt sie damit immer durch. Aber Loth ignoriert Elijas Augen. Sie sind klein, werden von einer großen Lidfalte beschützt.
Loth sieht nur ihre Schultern, ihren Hals, ihr spitzes Kinn in der Scheibe.
Loth ist klapprig. Ihr Schlüsselbein steht hervor. Ihre Pulsader pocht blau in den Wald hinein. Unter ihren Wangenknochen fällt die Haut nach innen.
Früher hat Elija gedacht, Loths Wangenhaut würde vielleicht an den Zähnen festkleben. Jetzt weiß sie, dass Loth einfach nichts isst. Außer Bratwürste auf dem Weihnachtsmarkt. Und Käsehäppchen und Mettigel auf Partys.
Komm jetzt, wir gehen zu Noa. Die wartet schon.
Mein Schuh!
Da bist du selbst schuld dran. Komm jetzt. Vielleicht kriegt Noa das hin.
Loth dreht sich um. Blickt zu der Stelle, an der Noa vor wenigen Minuten auf den Moorwanderweg eingebogen ist. Ein Bogen aus Baumstämmen und ein Holzschild, das davor warnt, die Wege zu verlassen. Loth schaut hoch. Wenigstens sind einige Wolken am Himmel. Sie nimmt ihren Rucksack, setzt ihn auf. Von dem Gewicht biegen sich die Schultern nach vorn, schießt der Kopf in den Nacken. Loth läuft los. Unter dem Baumstammbogen zieht sie die Wanderkarte aus der Hosentasche, überprüft, ob sie sie so gefaltet hat, dass sie den ganzen Wegverlauf im Blick hat. Dann stellt sie sich auf die Planken. Sie lauscht. Wundert sich, dass sie Elija nicht heulen hört. Sie geht weiter, sieht Noa vor einem Bach hocken.
Elija setzt sich auf den Boden. So will sie nicht loswandern. Nicht mit Loth und nicht mit Noa. Kurz betrachtet sie den Schuh, guckt dann lieber schnell weg. Sie hat jetzt schon Durst, sie hat jetzt schon Hunger. Auf Kaiserschmarrn und Kirschsaft.
Vielleicht bleibe ich einfach hier, schreit sie in sich hinein, schlägt den Hinterkopf an die Scheibe. Ihr schwindelt es heftiger. Sie schlägt nochmals. Dann hört es auf, und sie sieht klar.
Die Bäume verstellen den Horizont. Ob hinter dem Moor wirklich der Berg mit den toten Stämmen kommt?
Elija legt beide Hände um den Knoten. Ihre Finger sind grob. Sie ist nicht so geschickt. Alle sagen ihr immer, das sei nicht so schlimm. Denn Elija hat Kraft. Sie zerrt an dem Knoten. Die Schnürsenkel ziehen sich zusammen, spannen das Innenfutter um den Fuß. Elija macht einen weiteren Knoten. Ganz nah an der Zunge. Der Schuh sitzt fest. Sie steht auf. Zum Glück hat sie ohne Tränen geweint. Sonst müsste sie jetzt ihr Gesicht abwischen.
Acht. Zwanzig
Noa stellt sich hin. Loth schlurft auf sie zu. Dahinter hüpft Elija. Loth zieht beim Laufen eine Zigarette aus ihrer Hosentasche, riecht daran. Noa mag, wie Loths Gesicht entspannter wird, wenn sie sich Tabak vor die Nase hält. Sie sieht anders aus als auf den Fotos, die sie ins Netz stellt. Die Bilder, die mehreren tausend Menschen gefallen. Bilder, auf denen Loth adrett gekleidet ist, die Haare streng frisiert, die Haut glattgeschminkt. Mit angespanntem Körper und eingemeißeltem Lächeln dasitzt und gefällt. An der man nicht vorbeischauen kann. Das Gesicht ist so schön. Fast unwirklich. Wie eine Statue, die die Blicke auf der glatten Oberfläche fängt. Eine Statue, die sagt: Ich bin lebendig. Aber wenn man sie berührt, ist sie doch nur kalter Stein.
Dieses ruhige Gesicht hat Noa an Loth lange nicht mehr gesehen. Das letzte Mal vielleicht als Jugendliche.
Als sie an den späten Abenden durch den Stadtteil streifen. Ohne Elija, nur die beiden. Ohne sich erklären zu müssen und ohne auf den Weg zu achten. In der Heimatstadt können sie laufen und laufen und kommen immer wieder an derselben Stelle an. Sie bleiben nur stehen, um mit Steinchen die letzten intakten Laternen zu zerschießen. In vollkommener Dunkelheit schleichen sie weiter. Verlaufen ist unmöglich. Loth und Noa haben Katzenaugen. Sie kommen an verlassenen Häusern vorbei, in denen die modrigen Gardinen aussehen wie suizidale Gespenster. An der geschlossenen Bäckerei entlang, direkt in den dünnen Streifen Wald. Kahle Baumkronen, und weit darüber ausgefranste Sterne. Dann und wann zielt Loth mit Eicheln auf sie. Unter den jungen Neubaugebietsbäumchen holt sie die Zigarette aus der Tasche, hält sie vor Noas Gesicht und lässt sie von den Sternen segnen. Ihr Feuerzeug leuchtet auf, und Loth räuchert sich die schlechte Laune aus dem Körper. Reicht die Zigarette weiter an Noa, die einmal zögerlich zieht.
Jetzt schiebt Loth die Zigarette behutsam zurück in ihre Hosentasche. Sie raucht nicht im Wald. Nicht im Sommer.
Noa bemerkt, dass ihre Hose beim Hocken nass geworden ist. Die Knie sind kühl. Sie schaut noch einmal in den Bach. Dunkles Laub, wenige glattgewaschene Steine überspült von dem klaren Wasser.
Elija fällt ihr um den Hals.
Habe meinen Schuh repariert!, quietscht sie. Elijas Körper ist warm. Wärmer als jeder andere Körper, den Noa je gefühlt hat. Elija ist weich. An jeder Stelle, und egal, wo man sie berührt, spürt man ihren zittrigen Tonus. Elija hält nie still. Ihr Atmen sammelt sich in Noas Ohr. Das klingt wie Thermalbadrauschen.
Du hast deinen Schuh repariert?, wiederholt Noa überdeutlich.
Hast du es jetzt doch hinbekommen?, fragt Loth und schaut skeptisch auf den Schuh.
Guck, guck, macht Elija, streckt das Bein aus und hält den Schuh in die Höhe.
Was ist das denn für ein Knoten?, lacht Noa bewundernd.
Elija-Knoten! Elija klatscht begeistert in die Hände. Loth verdreht die Augen.
Sie schaut über das Moor. Morgennebelschwaden hängen darüber. Schlucken die Bäume im Hintergrund. Der Bach glänzt. Loth holt ihre Sonnenbrille aus dem Rucksack und setzt sie auf. Mit der Brille sieht sie aus wie ein Insekt. Deshalb hat sie sie ausgesucht. Große Facettenaugen, denen nichts entgeht. Augen, aus denen sie herausschauen, in die aber niemand hineinblicken kann.
Jetzt geht’s los!, jubelt Elija und springt hoch. Bei der Landung wackeln die Planken. Noa und Loth strecken die Arme aus, um in Balance zu bleiben.
Dann immer geradeaus. Was anderes bleibt uns auch nicht übrig, denkt Noa und schaut auf das Wegstück vor sich.
Acht. Sechsundzwanzig
Loth hält Abstand zu den Schwestern. Elija läuft voran. Sie ist immer die Langsamste. Kann mit ihren kurzen Beinen und dem schweren Körper nicht so schnell. Ihr Rucksack ist der kleinste. Noa hat Elijas Wasser mit in ihren genommen. Loth trägt die Brote.
Loth mag es nicht, langsam zu sein. Sie ist immer schnell. Nur wenn sie mit Elija zusammen ist, muss sie Rücksicht nehmen. Vom langsamen Gehen tun ihr schnell die Knie weh. Wach werden kann sie so auch nicht. Sie schaut auf die Gräser, die neben den Planken wachsen. Hellgrün. Eigentlich findet sie die Natur eh langweilig. Deswegen ist sie nach Halle gezogen. Von der patriotischen Hausgemeinschaft mit frischen Eiern und Ziegenmilch auf dem Land in die patriotische Hausgemeinschaft mit Barraum und regelmäßigem Kinoprogramm. In Halle gibt es kein Hellgrün. Zumindest nicht so viel wie auf dem platten Land. In Halle gibt es nicht nur einen Streifen Hellgrün auf dem Boden, einen Streifen Dunkelgrün in der Mitte und einen Streifen Grau am Himmel. Da gibt es mehr als den Nebel am Morgen und einen dicken Baum auf dem Feld. Mehr als die Umrisse einer Kohlekraftanlage am Horizont. Auf dem Land ist Loth jeden Morgen joggen gegangen. Einmal bis zum Rauschen der Autobahn und wieder zurück. In Halle kann sie das nicht mehr machen. Obwohl sie gerne würde. Aber in den Parks ist es zu gefährlich geworden, findet sie und wundert sich, wenn junge Frauen da alleine durchspazieren. Morgens, mittags und abends. Denen kann sie auch nicht helfen, denkt sie dann.
In Halle sitzt Loth jeden Morgen auf der tiefen Fensterbank. Der erste Kaffee dampft neben ihr. Die Mitbewohner sitzen beim Frühstück in der Küche, bei Haferschleim und Wachwerden. Loth braucht morgens Ruhe, inhaliert Sauerstoff. Ihr Fenster ist geöffnet. Würde sie jemand erschrecken, sie könnte hinausfallen. Auf die Straße knallen und verbluten, ohne es bewusst zu erleben. Durch das Fenster dringen die ersten Stadtgeräusche. Keuchende Autos, Busse, die schniefend die Luft aus den Reifen lassen. Absatzschuhe schlagen auf Kopfsteinpflaster. Hinter der Hochhackigen läuft eine Frau mit verfilzten Haaren. Sie sieht aus wie eine Ureinwohnerin, wie jemand, der sich nicht wäscht, wie Pack eben, findet Loth. Sie schnappt sich die Tasse und schaut lieber dort hinein. Im dunklen Kaffee spiegelt sich ihr Gesicht. Morgens ist sie hübsch.
Die Ureinwohnerin verschwindet in Richtung Universität. Loth überlegt, ob sie sie schon kennt. Von den Protesten vor der Hausgemeinschaft. Grölende Menschen, die Loth und die anderen als Faschisten, als Mörder und was nicht noch alles beschimpfen. Die Krach machen. Worauf die aus der Gemeinschaft noch mehr Krach machen. Die gelben Fahnen hissen, mit dem schwarzen Symbol, und Parolen rufen. Auf Latein. An solchen Tagen wirbelt Loth durchs ganze Haus, vlogt aus dem Gemeinschaftsraum heraus, postet wild in die Welt. Im Haus gibt es nur morgens Stille. Und dann, wenn die Linken zu beschäftigt sind, die Gemeinschaft zu stören.
Der Bus hält wenige Meter von der Haustür entfernt. An der Haltestelle haben sich schon Leute versammelt. Alte, die nichts mehr mitkriegen. Junge, die nichts mehr mitkriegen wollen, und Mittelalte, die hier nichts zu suchen haben.
Überall Studierende, aggressive Meinungsfaschisten, findet Loth. Alle gleichgeschaltet und verstrahlt. In lumpiger Kleidung oder in durchschnittlichen Jeans mit Rucksäcken und Beuteln streunen sie die Straße entlang, vergeuden ihren Tag in dunklen Hörsälen und jammern über zu viele Hausarbeiten. Loth will nicht mehr studieren. Schon seit Jahren nicht. Loth will sich die Fußnägel lackieren.
Sie schaut auf ihre Füße, der dunkle Nagellack ist abgeblättert. Sie lehnt sich zur Kommode und zieht ihre Nagelutensilien heraus. Schwarzer Lack mit ein wenig Glitzer. Sie schüttelt ihn, er glänzt im Tageslicht. Sie kneift die Augen zusammen, schaut noch einmal raus. Jemand pfeift unter ihr ein Lied. Der Kamerad Ben geht zur Arbeit. Er dreht sich zum Haus, sieht sie auf der Fensterbank und winkt. Sie winkt zurück, öffnet das Fläschchen Nagellack und streicht mit dem getränkten Pinsel über den großen Zeh. Unter der frischen Farbe zeichnen sich die Farbreste ab. Loth stört das nicht, sie malt weiter, hält den fertigen Fuß aus dem Fenster. In der Sommerluft trocknet der Lack schnell. Sie trinkt den ersten Schluck Kaffee. Er ist lauwarm, im Mund fast kalt. Er schmeckt bitter. Macht noch nicht wach. Dafür bräuchte sie Wind um sich herum und aufgewärmte Muskeln. Sie bleibt sitzen, schaut auf das Kopfsteinpflaster unter ihr. Es sieht verdammt hart aus.
Loth holt Noa ein. Sie laufen hintereinander. Aus Versehen tritt Loth in Noas Ferse. Noa humpelt zwei Schritte lang, ignoriert es. Da tritt Loth noch mal zu. Noa tut so, als hätte sie es nicht bemerkt.
Kurz bleibt Loth stehen, damit Elija und Noa ein paar Meter Vorsprung bekommen. Sie schaut auf das sanfte Grün. In ihrer Erinnerung ist das Moor anders. Sumpfiger, dunkler. Nicht eine nette helle Wiese mit Wasserlöchern darin. Da ist mehr Einsinkgefahr und sind auch mehr Tiere und alles ist nicht so verlassen. Da ist es Herbst und regnerisch und Loth spürt was von der Natur. Nicht nur Sommerlüftchen und Gräser in der Hand.
Die Wanderung zum Berg im Moor zu beginnen war Loths Idee. Und die Schwestern hatten nichts dagegen. Noa zumindest nicht. Elija darf nicht mitbestimmen. Elija kann sich auch gar nicht an die erste Wanderung durch das Moor erinnern, glaubt Loth. Was weiß sie noch von Herbstferien, dem Geruch nach zu süßem Apfelkuchen, Spazieren zum Berg, Kassettenhören in der Ferienwohnung und den schnarchenden Eltern? Von dem zugezogenen Himmel, durch den nur manchmal stechendes Licht fällt, und den Gruselgeschichten, die Noa erzählt.
Lange her, denkt Loth, zupft den weißen Flaum von einem Wollgrashalm. Spürt es in der Hand. Es fühlt sich nicht so schmeichelnd auf der Haut an, wie sie gedacht hätte. Durch die Berührung zerfällt es in seine Einzelteile. Sie schließt die Hand fest, zerdrückt die Fasern, zermahlt sie. Dann lässt sie weißes Pulver auf das Hellgrün rieseln. Das Weiß geht im Grün unter. Loth ist unzufrieden.
Acht. Dreißig
Elija bleibt stehen. Sie hat es gesehen. Oder doch nicht? Sie späht in die Ferne. Da ist es. Da oben, links, an dem dicken Ast. Da sitzt es. Leise. Alle sollen leise sein. Noa bleibt stehen, Loth überholt die beiden. Beginnt zu pfeifen. Loth soll still sein. Das Pfeifen klingt nicht schön, nicht harmonisch, findet Elija. Loth pfeift abgehackt und mit wenig Gefühl.
Elija will das Fernglas aus dem Rucksack holen. Macht das zu viele Geräusche? Der Reißverschluss, das Wühlen. Dann würde es wegspringen, oder nicht? Es ist noch da. Es reckt den Kopf in die Höhe. Bewegt ihn zackig. Es kann sich nicht fließend bewegen. Elija findet das schön. Alle müssen ruhig sein, damit es da sitzen bleibt und seinen Köpfchentanz zu Ende bringt.
Elijas Atem ist laut. Rasselnd. Das hasst sie an sich. Sie kann sich nicht anpirschen, sie kann niemanden erschrecken, sie kann sich nicht verstecken. Immer dieser laute Atem, das Keuchen nach der geringsten Anstrengung. Elija findet ihren Mund zu klein. Da hat das Schweigen keinen Platz. Und die Worte kommen so schlecht an den Lippen vorbei, die wollen lieber in der Mundhöhle warten. Da ist es ganz warm.
Elija formt die Worte richtig, da ist sie sich sicher. Aber manchmal kommt ein Zahn dazwischen und schneidet sie auf oder verpasst dem Wort eine Wunde. Dann kann das Wort kaum einer verstehen. Jetzt hält Elija sich die Hand vor den Mund. Damit sie nicht aus Versehen dem Vögelchen etwas zuruft.
Auf dem Ast hüpft es ein Stück weiter. Sein weißer Bauch leuchtet zwischen den Nadeln hervor. Eine kleine rötliche Stelle unterhalb der Kehle. Die Flügel sind gräulich, etwas braun, der Schnabel still. Elija möchte, dass es ein Stückchen hüpft, dann kann sie es besser sehen. Ein bisschen mehr nach links. Sonst wird es im Schatten farblos. Elija braucht das Fernglas. Sie schaut zu Noa. Doch Noa hat die Augen geschlossen und lässt das Licht auf die Lider fallen. Noa interessiert sich nicht besonders für Vögel.
Da ist es. Oder ist es weggeflogen, als Elija nicht hingeschaut hat? Sie nimmt die Brille ab. Manchmal findet sie, dass sie dann besser sehen kann. Nicht schärfer natürlich. Sondern sehr verschwommen. Ihr fällt so das Wichtige besser auf. Es fällt ihr direkt ins Auge und ihr Gehirn stellt es dann scharf. Früher hat Elija manchmal mit Noa oder Loth darüber gesprochen. Aber die haben daraufhin nur die Augen weit aufgerissen, eine faltige Stirn gemacht und überdeutlich: Ja, wirklich. Das ist ja toll gesagt.
Elija will so was nicht mehr hören, deswegen erzählt sie das nicht mehr.
Das Vögelchen sitzt jetzt auf einem anderen Ast. Eine Etage höher. Elija wird aufgeregt. Vielleicht ist es ein Rotkehlchen.
Da ist es noch, oder nicht? Das Vögelchen. Ohne Brille schwimmt die Welt. Ohne Brille kann Elija sehen, wie die Erde sich dreht. Ohne Brille flimmert der Wald. Ohne Brille wird ihr schwindelig. Sie setzt sie wieder auf, schaut durch die Gläser. Das Vögelchen ist weg. Elija denkt an den weißen, flauschigen Bauch.
Noa stellt sich eng an Elija heran, öffnet den Reißverschluss des Rucksacks und kramt das Fernglas heraus. Sie hängt es um Elijas Hals.
Wenn es dir zu schwer wird, gibst du Bescheid, in Ordnung?, sagt sie. Elija nickt.
Acht. Einundvierzig
Obwohl sie noch nicht lange laufen, schnauft Elija laut, findet Noa. Sie überlegt, Elijas Rucksack zu nehmen und sich selbst aufzusetzen, doch dann würde Loth schimpfen oder die Augen verdrehen. Noa geht weiter.
Noa mag es, zu laufen, ohne den Hamburggeruch in der Nase zu haben.
Das salzige Wasser in der Luft. Den Gestank der Fischkadaver, an denen sie vorbeikommt. Auf dem Weg zur Arbeit. Oder wie soll sie die Kantine nennen, in der sie breiig gekochten Reis neben braungrüne Erbsen schaufelt und Guten Appetit sagt, wenn sie den Teller übergibt. Beim Laufen hört sie auf ihre Schritte. Für die Vormittagsarbeit zieht sie Absätze an, egal, ob das unpraktisch ist oder ob es die Füße müde macht. Sie mag es, morgens an den breiten Straßen entlangzulaufen, an den grauen Häusern vorbei bis zu dem Glaskasten mit Elbblick. Kein Wunder, dieser Elbblick. Das Haus ist so hoch. Man kann alles von dort sehen. Nicht nur die Elbe, sondern die ganze Stadt, glaubt Noa. Bisher war sie nie ganz oben. Noa ist hellwach auf dem Weg zur Arbeit. Es ist Sommer, da fällt das Aufstehen nicht schwer. Vor allem nicht, wenn sie Akims Sprachnachricht im Ohr hat. Seine heisere Stimme und seine Ähms. Mehr Ähms als Wörter, aber das ist schon okay für Noa. Was soll man auch sagen so früh am Morgen. Gerade wenn man, wie Akim, die halbe Nacht arbeitet oder feiert oder was auch immer macht. Noa hat nicht gefragt, keine Antwort aufgezeichnet. Im Kopf spielt sie die Nachricht immer wieder ab. Die Ähms und die Du-Noas und die Ich-habe-so-miserabel-Geschlafens. Wie er das sagt: Noa. So als wäre das ein starkes Wort, ein Wort aus Metall, an dem man sich die Zunge blutig schneidet. Eben nicht so ein Wort, das nur ein leichter Hauch ist, bei dem man sich nicht sicher ist, ob es nicht vielleicht nur ein Ausatmen war.
Akims Stimme kommt aus dem Bauch und hangelt sich dann seinen langen dünnen Hals hoch. Das macht auch seine Worte manchmal dünn, wenn sie herauskommen. Erschöpft. Nur wenn er seinen Namen ausspricht, wenn er: Hallo, hier ist Akim sagt, ist das wie ein Schlag auf den Bordstein.
Die breite Straße riecht nach Gummi. Abgefahrene Reifen. Eines Fahrrads oder eines Autos, sie weiß es nicht. Bilder eines verunglückten Radfahrers, Opfer eines illegalen Autorennens kommen in Noas Kopf. Sie sieht die Verletzten vor sich. Blut und zerborstene Knochen. Vielleicht ein gebrochenes Genick. Noa will schon hinrennen, Erste Hilfe leisten. Aber da liegt ja keiner. Da braucht ja niemand ihre Hilfe. Da ist nur der Gummigeruch.
Das Klackern ihrer Schuhe hallt von den Hauswänden wider. Am Straßenrand stehen Autos. Bei manchen ist die Fahrertür geöffnet, Handtaschen lungern auf den Beifahrersitzen herum. Die Besitzerin mit Schlüssel springt in den Wagen, startet erst den Motor und schließt dann die Tür. Der Tag ist heiß, obwohl es noch früh ist.
An der Ecke ist die kleine Billigbäckerei. Vor dem Eingang steht eine Möwe und macht Terz, weil sie nichts abbekommt. Ihren gelben Schnabel reckt sie in die Höhe, ihren Körper plustert sie auf, lärmt in das Geschäft. Noa will nicht an der Möwe vorbeigehen, schaut in die Bäckerei. Aus dem Kaffeeautomaten tropft hellbraune Brühe in Pappbecher, in der Selbstbedienungsauslage schwitzt das belegte Brot Remoulade aus. Noa hat Hunger. Die Möwe bemerkt sie, läuft auf sie zu, mit Geschrei und ausgestreckten Flügeln. Noa rudert zurück, stolpert rückwärts, findet mit ihren Absätzen keinen Halt. Ihre Knie knicken ein, der Oberkörper fällt nach vorn, erschreckt die Möwe. Sie fliegt weg, und Noa liegt auf dem Bürgersteig. Ein alter Mann schaut sie verwundert an, als sie sich aufrappelt. In ihrem Knöchel zieht es. Beim Gehen merkt sie, dass sie humpelt. Sie läuft an der Bäckerei vorbei. Heute kein Brötchen mit Ei und Remoulade und keinen Milchkaffee dazu. Alle haben ihren Sturz gesehen, alle beobachtet, wie die Möwe sie fast angefallen hätte, denkt Noa und verflucht ihre Schuhe.
Im Glashaus zieht sie die Arbeitsschuhe an. Turnschuhe, dazu eine weiße Hose und ein Kittelchen, eine Haube, unter der die roten Haare versteckt werden müssen. Lange desinfiziert sie die Hände. Sorgfältig schmiert sie jeden Finger ein, lässt keine Hautstelle aus.
Die anderen stehen schon an den Töpfen. Überwachen, wie das Tiefkühlessen auftaut. Wie aus Blöcken Suppe wird und aus Klumpen Kartoffelbrei.
Sie nickt zur Begrüßung. Hier spricht man nicht. Außer wenn das Gehalt nicht überwiesen wurde oder ein neuer Mitarbeiter eingearbeitet werden muss. Noa liest die Namen von den Schildern auf der Brust ab, wenn sie eine Frage hat. Meistens gibt es keine Fragen. Was man wissen muss, steht auf der Tageskarte. Der, der als Erstes da ist, nimmt sich die beste Aufgabe. Deshalb schafft Noa es oft, sich den Salat zu sichern. Wenn sie bei Akim übernachtet hat, bleiben nur noch die Fische übrig.
Um das Fleisch kümmert sich immer die alte Frau. Von Antidepressiva ist sie aufgequollen. Ihre Wangen hängen herunter, ihre Augen liegen unter Fleischlappen. Noa fragt sich manchmal, ob sie überhaupt etwas sehen kann. Der Alten passiert es öfter, dass sie vor Tischkanten läuft, sie weigert sich, die Teller zu befüllen. Lieber schlägt sie mit dem Holzhämmerchen auf aufgetaute Schnitzel.
An der Spülmaschine arbeitet das junge Mädchen, das jeden Freitag um dreizehn Uhr in Ohnmacht fällt. Es darf dann früher gehen. Nicht nach Hause. Es betont jedes Mal, dass es kein Zuhause sei, in dem es da wohne, sondern eine Übergangslösung. Eine Art Kaserne. Noa fragt nicht weiter. Das Mädchen ist bleich. Das Mädchen hat keinen Schulabschluss, glaubt Noa. Zumindest kann es nicht sonderlich gut schreiben, und das Zählen gelingt nur selten. Am Spargel steht der Alte. Der, der am liebsten in den Töpfen rührt und Angst bekommt, wenn etwas am Topfboden anbrennt. Weil er so alt ist, rührt er mit einer Hand und stützt sich mit der anderen auf der Arbeitsfläche ab, bis er sich das Blut abklemmt. Dann schüttelt er so lange, bis wieder Blut reinfließt.
Wenn Noa an ihm vorbeischlurft, hört sie ihn murmeln. Vom Weltuntergang, von der Übernahme anderer Kräfte, vom neuen Zeitalter, das ihn nicht mehr brauche und die anderen schon gar nicht. Ein Zeitalter, in dem es keinen Spargel und keine Töpfe mehr gebe. Der Alte hat Angst, in der Kantine zu sterben, mit dem Kopf in das brodelnde Wasser zu fallen. Tot zu sein, noch bevor sein Gehirn verkocht ist. Der dampfende Gedanke ist das, worauf ich in meinem Leben noch warte, murmelt er Noa zu. Sie steht hinter ihm, schaut in den Spargeltopf. Wie weiße Fingerchen schwimmen die Stangen herum. Noa schnappt sich eine Zange. Dann geht sie zum Salat.
Acht. Vierundvierzig
Noa dreht sich um und läuft ein Stück rückwärts. Dabei muss sie darauf achten, nicht gegen Elija zu stoßen. Noa spürt Loth in ihrem Rücken.
Kannst du nicht normal laufen?, fragt Loth wenig interessiert und pflückt noch ein wenig Gras. Noa antwortet nicht, betrachtet wieder den Himmel. Die Fichtenspitzen stechen in das helle Blau. Ein Vogel kreist weit über dem Moor. Geschmeidig schraubt er sich höher und höher, wird ein immer kleinerer Punkt zwischen den mickrigen Wolken.
Du stößt gleich gegen Elija, pass mal auf, murrt Loth.
Noa läuft weiter rückwärts.
Kannst du das nicht, Loth?
Kann ich, aber ich will nicht. Ist doch bescheuert. Wenn man ordentlich laufen kann, muss man ja nicht behindert laufen.
Ich würde vielleicht mal überlegen, welche Wörter ich benutze, sagt Noa zu Loth.
Ich weiß, dass ich behindert bin, sagt Elija. Sie bleibt stehen. Noa stolpert in sie hinein. Elija fängt sie ab.
Und ich würde das nächste Mal schauen, wo ich hinlaufe, damit ich meine Schwester nicht verletze, sagt Loth spitz.
Loth hakt sich bei Elija unter und führt sie schneller durch das Moor.
Da sieht man es wieder, beginnt sie. Die Noa läuft dich einfach so über den Haufen.
Nicht mit Absicht, versucht Elija zu sagen. Aber das Wort Absicht konnte sie noch nie richtig aussprechen.
Jetzt haben wir uns, Elija, schwafelt Loth theatral und so laut, dass Noa es mehr als gut verstehen kann. Da brauchen wir deine rücksichtslose Schwester nicht. Wir zwei Invalidinnen, wir halten zusammen.
Als Noa das Wort Invalidinnen hört, wird sie wütend, holt auf, um nah hinter den beiden zu laufen. Sie weiß, wie Loth beim Sprechen riecht. Penibel sauber gehaltener Atem. Zahnpasta mit Minzgeschmack und Mundwasser. Nichts, was nach Loth riecht. Nichts, das mehr ist als steril.
Das Laufen ist für Elija anstrengend. Sie hat nicht so viel Ausdauer, und eigentlich wissen Loth und Noa das. Manchmal ist ihnen das aber egal. Und das weiß Elija auch. Sie stützt sich bei Loth ab.
Auf den sperrigen Knochen liegt ihr Arm unangenehm auf. Ob man blaue Flecken bekommt, wenn man Loth zu lange berührt?
Elija mag nicht, dass Loth nach gar nichts riecht. Nicht nach Schweiß, nicht nach Parfüm. Einfach nur nach T-Shirt-Stoff und Wasser. Vielleicht benutzt sie nur Oma-Seife und anonymes Waschmittel.
Elijas Durst wird stärker.
Morgens wacht sie jedes Mal auf, weil sie trinken muss. Neben ihrem Bett steht eine kleine Flasche. Sie ist halb gefüllt. Unten ruht das Wasser, und darüber fängt Elija die ersten Sonnenstrahlen. Sie glitzern in den Raum. Zum Schlafen dunkelt Elija das Zimmer nie ab. Sie mag, wenn sich der Tag Schritt für Schritt ausbreiten kann.
Wenn sie unter der Dusche steht und das Wasser auf ihren Kopf prasselt, streckt sie die Zunge raus und fängt ein paar Tropfen. Die schlingt sie gierig hinunter. Vom ersten Geschmack am Morgen hängt ab, ob es ein harter oder ein weicher Tag wird. Von der Größe der Tropfen, ob er schnell wird oder langsam. Elija liebt schnelle Tage, und deshalb hat sie die Brause so eingestellt, dass nur feine Tropfen hinauspurzeln.
Müde hängen die Brüste auf den großen Bauch. Sie mag es, sich von oben anzuschauen und die Fußspitzen hervorblitzen zu sehen. Zum Wachwerden trampelt sie in die kleine Pfütze in der Duschtasse. Das Wasser springt einmal nach oben, bevor es in die Kanalisation jagt. Elija lacht spitz.
Was ist?, fragt Mio.
Elija hört ihn nicht. Das Wasser ist zu laut. Es scheppert an ihren Ohren vorbei, schlägt auf die Schultern, poltert die Körperkurven hinunter. Vor den Augen macht es alles verschwommen. Elija kneift die Augen zu.
Ist alles gut? Mio schiebt den Vorhang zur Seite. Das Wasser spritzt in sein Gesicht.
Elija erschrickt, zuckt zusammen, lacht dann laut auf. Mios Gesicht ist voller Rasierschaum, nicht nur an den Wangen und am Kinn, sondern auch an der Stirn. Sie klatscht in die Hände, springt kurz hoch und rutscht beim Landen fast aus.
Pass auf, sagt Mio und hält sie fest.
Nichts passiert. Komm.
Ich bin schon angezogen.
Mio hat sein Gemütlichkeitsoberteil an und seine Jeans.
Kannst du wieder ausziehen. Elija grinst frech. Das hilft immer. Schnell dreht sie das Wasser aus. Mio schlüpft aus der Kleidung, steigt zu Elija in die Dusche. Sie macht das Wasser wieder an. Warm läuft es an ihren Beinen entlang. Sie sehen sich nicht an, sie wissen so gut, wie sie aussehen, dass sie das nicht mehr brauchen. Unsicher schmiegt Elija sich an. Sie will nicht ausrutschen, und sie will nicht, dass Mio hinfällt. Er ist einen Kopf größer als sie, und seine Augen stehen noch enger beieinander. Fast, als hätte er nur ein großes Auge, denkt Elija manchmal. Elija glaubt sowieso, dass jeder Mensch ein Auge hat, mit dem er alles sehen kann, und dass die Augen sich trennen, je trauriger man wird. Die Augen von Loth und Noa liegen um einiges weiter auseinander als Elijas.
Mio wickelt seine Arme um sie. Sie sind kalt, wärmen sich jedoch schnell an ihrem Körper auf. Er ist müde. Mio wacht immer etwas später auf als sie und geht abends auch immer später ins Bett. Nach der Vorstellung ist er nicht so aufgedreht wie Elija, tanzt nicht über die ganze Hinterbühne und gibt nicht jedem einen Kuss. Er setzt sich zum Abschminken auf einen Stuhl und beobachtet Elija. Das reicht ihm.
Wenn sie einschlafen, mag er es, Elijas ruhigen Atem zu hören. Dann kann auch er einschlafen. Elija muss die Nacht für ihn freikämpfen.
Der Rasierschaum löst sich im Wasser auf. Die seifigen Reste treiben an ihm herunter. Sein Bauch und Elijas Bauch stoßen aneinander, wenn sie sich eng umarmen. Sie kichern. Dabei zittert Elijas Körper immer etwas mehr als seiner.
Bist du noch sauer?, fragt Mio.
Nein.
Ich habe das falsch gemacht. Gestern.
Nicht schlimm. Kann jedem passieren.
Elija mag, wie sich seine Haut anfühlt. Sie ist schuppig, immer trocken, und wenn er sich nicht eincremt, bröckelt sie ab. Mio ist ein Fisch. Nur im Wasser oder mit einer dicken Fettschicht auf der Haut wird er glatt. Wenn er vergessen hat, sich einen Schal umzubinden und durch den Winter stapft, ist sein Hals rau, wie ein alter, tief verwurzelter Baum. Und sein Ausatmen klingt wie das Zwitschern von uralten Vögeln.
Mit den Händen tastet Elija Mios Körper ab. Er ist genau wie sie rund an jeder Stelle. Er hat nichts, an dem sie sich stoßen könnte. Sein Körper ist so elastisch, dass er sich ganz um sie wickeln kann. Dann bekommt Elija zwar keine Luft, aber wenn sie ihm einmal auf die Schulter tippt, lässt er sie los.
Elijas Hand landet auf seinem Hinterkopf. Der ist ein bisschen spitz. Sie legt beide Hände darauf, vielleicht kann sie so hören, wie seine Gedanken hin- und herflitzen.
Mio denkt immer noch an die Vorstellung, weiß Elija. An die eine Szene, die er wieder verdorben hat. Heute Nachmittag bei der Nachbesprechung wird es Ärger geben. Keinen bösen Ärger mit Schimpfen, sondern dieses behutsame Einbläuen. So als wüsste Mio nicht, was er falsch gemacht hat. Das nervt Elija am meisten. Sie versteht nicht, warum alle immer so tun, als wären sie nicht wütend. Nach einer Kritik muss sowieso jeder weinen. Und wütendes Weinen macht den Körper frischer als kleines Schluchzen in der Ecke.
Auch Elija denkt an den Abend. An ihre Szene, in der nur sie auf der Bühne ist und alle Aufmerksamkeit sich auf ihr versammelt. In der sie tanzt. Ganz wild mit den Hüften und ganz zart mit den Armen und ihr Kopf sich schneller bewegt als ihre Gedanken. Sie spürt, wie alle sie anschauen und dass das ganze Publikum denkt: Das hätte ich der Elija gar nicht zugetraut.
Elija mag die verblüfften Blicke, die lassen ihre Augen funkeln. Elija wirbelt über die ganze Bühne, kommt in der Mitte zum Stehen, lässt sich auf den Boden fallen und kriecht nach vorne an die Rampe. Da kommt der Monolog. Ihr Monolog, den sie selbst entwickelt hat mit Kassandra, der Regisseurin. In ihren Worten und in ihrem Tempo und mit einem ganz besonderen Rhythmus. Hagar. Eine, die verstoßen wurde. Eine, die nicht mehr dazugehören soll, die in die Wüste geschickt wird. Allein, und im Bauch das Kind. Ismael. Auf der Bühne kann Elija eine Mutter sein. In echt kann sie das nicht.
Vorne, an der Rampe, schaut Elija dem Publikum direkt in die Augen, pickt sich einen nach dem anderen heraus und erzählt ihnen von dem Sand. Davon, dass da nur noch sie ist und der Sand und die Sonne. Und genau da, als alle Blicke konzentriert an ihr hängen, poltert Mio auf die Bühne. Viel zu früh und so, dass es alle durcheinanderbringt.
Das Publikum schaut auf Mio, wie er dasteht, ganz perplex, und nicht weiß, was er machen soll. Wie er einfach zu Elija stiert, die versucht, die Zuschauer wieder an sich zu binden. Aber keiner hört ihr zu. Alle sind bei Mio. Der stolpert einmal über den Bühnenraum und geht auf der anderen Seite wieder ab.
Lachen. Lautes Lachen, und niemand, der mehr zu Elija blickt. Sie rappelt sich auf, stellt sich aufrecht hin und brüllt ihren Text. So laut, dass niemand ihn überhören kann.
Ich habe den Moment kaputt gemacht, stottert Mio. Er hält Elija fest, als hätte er Angst, sie würde ihn wegstoßen.
Hast du. Aber nicht so schlimm.
Das sagt Elija immer. Egal, was Mio tut. Es war nicht so schlimm. Denn Mio kann gar nichts Böses machen, und wenn er was Böses macht, sicher nicht mit Absicht.
Nach der Vorstellung nimmt die Regisseurin Mio zur Seite, redet leise mit ihm. Und er nickt die ganze Zeit. Elija weiß nicht, was sie besprochen haben. Sie weiß nur, dass es nicht das erste Mal war, dass Mio ihren Auftritt unterbrochen hat.
Die Dusche und das gesamte Bad sind rosa gefliest. Ein Überbleibsel aus den siebziger Jahren. Elija und Mio haben mit den anderen aus der WG flache Gummiquallen und Fische an die Fliesen geklebt. Sie duschen in einem rosa Aquarium. Elija mag es, die Quallen nach dem Duschen auszudrücken. Das restliche Wasser fließt kläglich die Fliesen entlang, schafft es meistens nicht bis in den Abfluss. Es verdunstet.
Mio dreht das Wasser aus.
Bist du sauber?, fragt er.
Elija nickt. Er steigt vor ihr aus der Dusche und reicht ihr ein Handtuch. Elija packt sich gut ein, öffnet das Fenster und hält den Kopf hinaus. Im Sommer lässt sie ihre Haare am liebsten an der Luft trocknen.
Neun. Zehn
Es ist warm, jetzt schon. Und Loth bekommt Angst vor einem zu heißen Tag. Vor schrumpelnder Haut in der Sonne. Vor roten Flecken im Gesicht. Sie steht am Rand der Planken, tritt mit einem Fuß in den Schlamm. Auf das Wollgras, das macht Geräusche. Mit den Geräuschen spielt Loth eine Melodie. Ob die anderen sie erkennen können?
Noa lehnt sich auf der Bank zurück, legt den Kopf in den Nacken. Neben ihr sitzt Elija. Die schnauft, die hält eine Flasche Wasser in der Hand. Ist ein bisschen unzufrieden. Noa hat Wasser mit Kohlensäure gekauft. Davon muss sie niesen. Elija will warten, bis die Bläschen aus der Flasche gekrochen sind. Schaut konzentriert auf die Wasseroberfläche. Als ihr das zu lange dauert, nimmt sie einen skeptischen Schluck.
Noa beobachtet Loth. Wie sie auf den sumpfigen Boden stampft. Wie sie grinsend nach oben schaut, sich auf die Sumpftöne konzentriert. Noa hofft, dass Loth nicht noch anfängt zu singen.
Erkennt ihr die Melodie?, ruft Loth zur Bank.
Elija überlegt. Das Patschen erinnert sie an ein Lied. An eines von früher, als sie klein waren. Das klang aber anders, viel zarter. Loth versteht nicht, dass man Musik gefühlvoll machen muss, denkt Elija. Dass Melodien nur lebendig sind, wenn jeder Ton Raum hat, sich zu entfalten. Bei Loth klingt alles so leblos.
Noa hört nicht hin. Wahrscheinlich wieder so ein verbotenes Lied, das Loth gleich singen wird. Darauf hat sie keine Lust, nicht so früh am Morgen.
Um die Melodie zu treffen, muss Loth es wieder und wieder probieren. Zertrampelt dafür Halm um Halm und patscht mit ihren Füßen in vorher unberührtem Schlamm. Das schreckt Insekten auf.
Kennt ihr das wirklich nicht?, fragt Loth erneut.
Elija hört genau hin. Sie wird sich immer sicherer, welches Lied das sein könnte. Doch so schroff klingt es nicht. Würde Elija das spielen, könnte Noa es sofort erraten. Dann würde Noa das schön finden. Sie steht auf, geht zu Loth.
Lass es, Elija, setz dich lieber wieder hin, denkt Noa nur. Sie schraubt die Flasche zu und verstaut sie sorgfältig im Rucksack. Dabei lässt sie sich Zeit, prüft, ob der Deckel gut verschlossen ist, ob sich Krümel auf dem Taschenboden gesammelt haben, die Seiten des Reiseführers verknickt sind.
Als sie wieder aus dem Rucksack auftaucht, steht Elija nicht am Rand der Planken, sondern mitten im Moor. Mitten auf der Wiese, zwischen den Halmen, die vom Wind gebogen werden.
Loth unterbricht das Trampeln, schlendert zur Bank und setzt sich entspannt. Beobachtet Elija halb interessiert.
Im Moor, zwischen all den hellen, schmalen Stängeln, sieht Elijas Körper massiv aus. Ihre kurzen Beine, ihr gedrungener Oberkörper. Der Kopf fast ohne Hals. Das stumpfe Haar wird vom Wind angehoben, nach wenigen Sekunden wieder fallen gelassen. Ganz woanders, als es losgeflogen ist. Das Licht betont Elijas Umrisse, gibt ihr einen Schein.
Noa springt auf.
Ist sie da wirklich reingelaufen?, fragt sie Loth schrill.
Loth zuckt kühl die Achseln.
Noa ruft Elija zu: Komm sofort zurück!
Noa geht nah an den Rand der Planken. Elijas Fußspuren liegen noch tief im Schlamm. Noa versucht zu erkennen, ob das Moor Elijas Sohlen schon gepackt hat. Aber das Gras ist zu hoch.
Elija, ruft Noa. Sind deine Schuhe schon eingesunken?
Nur ein bisschen.
Dann komm jetzt wieder zurück, in Ordnung?
Nein, antwortet Elija fest. Ich will meinen Text üben.
Elija zieht sich hoch, steht aufrecht, drückt den Oberkörper zum Himmel. Das Moor hält ihre Füße. Elija streckt ihre Arme aus, schreit in die Wolken: Ich bin Hagar. Und ich stehe in der Wüste. Ich bin eine Sklavin. Das heißt, ich bin anders. Und ich habe einen Sohn. Ismael. Und das heißt: Gott hört.
Die Worte verlieren sich zwischen den Gräsern, zwischen den Stämmen. Kommen nicht bis in den Himmel, glaubt Elija. Schaut konzentriert hoch. Vielleicht sieht sie die Worte ja doch irgendwo im Morgenblau.
Elija sackt tiefer in das Moor. Ob die Knöchel schon voller Schlamm sind?
Noa macht den ersten Schritt auf die Wiese. Unter ihren Füßen fühlt sich das Gras fest an, legt sich zwischen Sohle und Moor. Sie weiß, dass das nicht lange halten wird.
Elija, ruft sie. Komm wieder her.
Aber Elija wirbelt ihre Arme durch die Luft. So wie sie es im Theater zum Aufwärmen macht. Sie kreist die Schultern, damit sie Flügel werden, sie beugt die Knie, knickt den Rumpf. Auf einer Bühne muss man kein Mensch sein. Da kann man das sein, was die Natur aus einem gemacht hat, findet sie. Elija lehnt ihren Rücken nach hinten. Ihre Haarspitzen berühren erst das Wollgras, dann den Schlamm. Noa wusste nicht, dass Elija so beweglich ist. Und Noa weiß nicht, wie sie Elija wieder auf die Planken bekommen soll.
Die Haarspitzen saugen sich voll. Aus dem schütteren Braun wird tiefes Schwarz.
Loth schließt die Augen, rollt sich auf der Bank ein, vielleicht wäre es Zeit, noch ein bisschen zu schlafen.
Wie zu Hause, wenn sie sich aus dem Zimmer schleicht. Die Kameraden alle bei der Arbeit. Oder in den Büros im Obergeschoss. Sie hat sich das Good-Night-Left-Side-Shirt hochgeknotet. Ihre Hüftknochen sind zu sehen, der Bauchnabel, der sich nach außen stülpt. In ihm hängt ein Piercing. Ein Halbmond, in dem in Messer steckt. Manchmal malt Loth mit roter Farbe Blutstropfen daneben. Leise schleicht sie in die Küche, nimmt sich noch einen Kaffee. Das Erdgeschoss ist verlassen, dunkel. Die Fensterläden von außen geschlossen, nur wenig Licht kämpft sich herein. In der Küche ist keine Spur von dem Frühstück zu sehen, das die Kameraden hatten. Nur neben dem Mülleimer wenige Krümel Brot. Loth holt den Handfeger und scharrt sie auf. Die Spülmaschine brummt, kratzt die Teereste aus den Tassen, die Butterränder von den Tellern. Loth lehnt sich dagegen. Sie mag, wie die Maschine vibriert. Der Raum ist groß, aber die Wände stehen viel zu nah aneinander. Loth hält sich nie lange in der Küche auf, auch nicht im Gemeinschaftszimmer. Die werden immer enger, je länger sie dort steht. Schwache Beleuchtung, und trotzdem wirft alles einen Schatten. Vielleicht von den Kerzen, den letzten echten Glühbirnen. Die Möbel sind spitzkantig, ständig stößt Loth sich. Manchmal taumelt sie mehr durch das Haus, als dass sie läuft. Sie weiß nicht, warum das so ist. Vielleicht, weil die Stadt, in der das Haus steht, so schief ist. Weil da etwas geebnet werden muss. Wenn Loth im Keller steht, hört sie, wie die Mäuse unter dem Zement wühlen. Gänge graben, damit das Haus zusammenstürzt. Loth sieht sich mit einem Sauregurkenglas in der Hand im Keller stehen, darunter eine wühlende Maus, und dann das Haus zusammenfallen. All die Etagen, das Erdgeschoss, die Büroräume, das schwere Dach stürzen auf sie, und sie kann sich keinen Zentimeter bewegen. Nicht mal so viel, dass sie sich den Tod greifen könnte. Sie sieht sich daliegen, Knochentrümmer, neben kaputten Möbeln und zersplitterten Steinen. Ihr Piercing löst sich aus dem Nabel und rutscht in die Erde. Es ist begraben. Sie nicht.
Loth wird schwindelig, sie streckt die Arme nach hinten, stützt sich auf der Spülmaschine ab. Die ruckelt, gibt keinen Halt.
Einsam?, Hanno lehnt im Türrahmen, schaut zu Loth. Sie zuckt zusammen.
Nein, sagt sie matt.
Ich bin aber einsam. Hanno kommt auf sie zu, lehnt sich an den Küchentisch.
Hast du nichts zu tun?, fragt Loth.
Hannos helle Augen mustern sie. Im hartgeschnittenen Gesicht leuchten sie hervor. An den Wangen wächst ihm ein kontrollierter Bart. Die Haare sind gescheitelt, gegelt. Werden sich den ganzen Tag kein bisschen bewegen. Erst wenn er unter der Dusche steht, können sie sich befreien, ausatmen und locker herunterhängen.
Doch, schon, sagt er kess. Der Aktionismus steht an erster Stelle, nicht wahr?
Loth sieht sich im Raum um, sucht etwas, womit sie ihn ablenken kann. Aber seine Augen bleiben starr auf ihrem Körper. Die angedeuteten Brüste, der flache Bauch, die Knochen, die an fast jeder Stelle hervorstehen. Das Piercing. Hanno will es in den Mund nehmen, erkennt Loth an seinen Augen. Sie stellt sich vor, wie er vor ihr niederkniet, ihre Oberschenkel berührt, den Nabel küsst und mit der Zunge über den Bauch fährt. Sie stellt sich vor, wie er sie anbetet und seine Augen sie bitten, ihn auszuhalten.
Hanno bleibt stehen.
Und wie sieht es mit deinem Aktionismus heute aus?, fragt sie.
Ach, ich habe gerade ganz private Ziele. Er beugt sich zu ihr vor.
Loth lehnt sich zurück. Drückt sich gegen die Spülmaschine.
Hanno hebt seine Hand und streicht eine ihrer Haarsträhnen zurück.
Loth, murmelt er verträumt. Schön, dass du eingezogen bist.
Sie lächelt, ihr Körper entspannt sich nicht. Sie mustert ihn. Der hellblaue Hemdkragen, der unter dem Pullover hervorlugt, die braune Stoffhose. Daran findet sie keine Information über ihn. Auch nicht in seinem Gesicht, nicht in der Art, wie er sie berührt.
Eine Weile hält Hanno inne. Seine Hand an ihrem Gesicht. Ihre kalten Wangenknochen und seine fleischigen Finger.
Dann weicht er zurück.
Der Aktionismus, du verstehst, sagt er flapsig, dreht sich weg, nimmt eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Er geht.
Und Loth atmet aus. Die Küche ist enger geworden, der Atem hat gerade noch genug Platz, um aus der Lunge zu kommen. Es wird heiß, schnell schnappt Loth nach der letzten Luft. Aber es ist nur verbrauchter Atem. Sie legt die Hand auf ihren Hals. Das hat sie gelernt, schon vor Jahren, und das soll sie beruhigen. Funktioniert nicht. Räume werden nicht davon größer, dass Hände auf Körperstellen liegen. Das ist doch klar. Loth macht die Augen zu. Die Spülmaschine fiept. Der Raum dreht sich. Loth hört, wie das saubere Geschirr nach ihr schreit, schrill und scheppernd. Das zieht durch den ganzen Kopf. Erschüttert das Gehirn.
Loth reißt die Augen wieder auf. Wütend öffnet sie die Maschine. Das Geschirr dampft noch. Ignorierend, dass es heiß ist, reißt sie Teller für Teller heraus, stellt sie in die Schränke. Als die Spülmaschine leer ist, flieht sie aus dem Zimmer. Sie braucht Luft.
Neun. Vierundzwanzig
Noa steht neben Elija. Mitten im Moor. Die Füße tief im Schlamm. Bis unter ihnen fester Grund kommt, sind es viele Meter. Eine Torfschicht über der anderen, und nichts, was Halt verspricht. Noa stellt sich vor, wie sie übereinanderliegen, die Brauntöne. Wie sie fest schlummern, durch nichts gestört werden. Außer durch sickerndes Wasser, bei der Schneeschmelze. Der Wind wischt leicht an Noa und Elija vorbei. Sie haben ihre Hände ineinandergelegt. Elija kichert. Sie schaut zum Berg. Er hebt sich über das Moor, ist aus tiefstem Grün. Tannenwald. Ab einer bestimmten Stelle die abgestorbenen Bäume. Grau stechen sie hervor. Als Kind weinte Elija, als sie das erste Mal so viele Tote sah. Die Mutter tröstete sie und sagte: Die wachsen wieder neu. Und Elija glaubte das. Bis sie das erste Mal auf einem Friedhof steht, da sagt die Mutter nicht: Die wachsen wieder neu. Sondern: Die haben Platz für uns auf der Erde gemacht. Da weint Elija nicht, nimmt nur die Hand der Mutter. So wie sie jetzt die von Noa nimmt.
Noa spürt Elijas Finger. Die schmiegen sich so schön in ihre.
Das erinnert Noa daran, wie sie mit Elija im Schwimmbad steht. Alle denken: Da ist Noa mit ihrer kleinen Schwester. Obwohl Elija die Ältere ist. In der kleinen Stadt kennen alle die Familie vom Waldrand. Die Familie mit dem behinderten Kind. Die Familie, die einmal im Monat in den Kindergottesdienst geht und mit dem vollgepackten Auto zum Zelten nach Italien fährt.
Elija finden alle süß. Wenn sie mit dem Fahrrad hinfällt, heben die Erwachsenen sie hoch. Wenn Noa fällt, rappelt sie sich selbst auf. Noa kommt alleine zurecht. Außer wenn sie mit Elija ins Schwimmbad geht und Elija zum Schwimmflügelanziehen überreden muss. Wenn Elija einfach so ins Schwimmerbecken springt. Und Noa hinterhermuss, um sie über Wasser zu halten.
Das Rauschen in der Schwimmbadhalle, der Chlorgeruch, der enge Anzug um den Körper. Noa steht alleine da mit Elija. Im Nichtschwimmerbecken. Muss alleine mit Elija üben. Aber die lernt es ja doch nicht, denkt Noa und zeigt ihr wieder und wieder, wie sie die Arme halten soll. Wie der Beinschlag geht. Wie sie sich aufs Wasser legen kann, ohne unterzugehen.
Elija guckt skeptisch. Versucht es, geht fast unter, strampelt wie ein Hund. Noa legt ihre Hand unter Elijas Bauch. Elija hält den Kopf über Wasser. Macht den Beinschlag falsch und die Arme irgendwie.
Nein, Elija, sagt Noa und versucht, geduldig zu klingen. Betet wie ein Mantra: anziehen, breit und strecken, herunter.
Das wirkt nicht. Elija strampelt weiter. Spritzt Noa dabei Wasser ins Gesicht und zieht die Aufmerksamkeit des ganzen Schwimmbads auf sich. Noa dreht den Kopf zur Seite. Das Chlor soll nicht in ihre Augen kommen.
Elija kann nicht mehr. Noa hilft ihr, sich auf den Boden zu stellen.
Ich mach nicht weiter!, ruft Elija. Schlägt mit der Hand aufs Wasser, schaut böse auf die blauen Fliesen.
Noa ist nicht überrascht. Verspricht Elija ein Eis, wenn sie jetzt gut mitmacht, schärft ihr ein, wie wichtig schwimmen ist. Lobt sie, obwohl es nichts zu loben gibt. Elija verschränkt die Arme. Schaut patzig. Lässt sich nicht umstimmen.
Ich bleibe hier stehen, für immer, verkündet Elija.
Na gut, sagt Noa wütend. Dann geh ich kurz ins Schwimmerbecken, und wenn ich wieder da bin, üben wir weiter.
Noa flutscht ins Schwimmerbecken, krault dort gehetzt eine Bahn und schaut am Rand zum Nichtschwimmerbecken. Elija ist nicht da. Noas Blick durchforstet das Stadtbad. Keine Elija. Nicht bei den Schwimmnudeln, nicht am Einmeterbrett, nicht an der Fußpilzdusche. Sie reflektiert sich in keiner der großen Scheiben. Noa schwimmt zur Leiter, klettert heraus. Die nasse Haut friert in der Luft. Sie rennt tapsig durch das Bad, fragt jeden: Haben Sie meine Schwester gesehen? Aber alle zucken die Schulter, bemühen sich weiter um ihre Rentnerkondition. Der Bademeister weiß nichts, die Schwimmlehrerin nicht, die Omas, die nur Wasser treten, auch nicht. In der Umkleide ist sie nicht. Unter den Föhnen nicht. Elija ist weg. Vielleicht ein kleiner Fisch geworden und in die Reinigungsanlage geschwemmt. Noa heult nicht. Noa rennt nur weiter und ruft und mischt alle auf, die dann auch mitsuchen, und als keiner mehr weiterweiß, werden die Eltern angerufen.
Noas Badeanzug klebt, sie zittert, sie weint dann irgendwann doch. Damit sie nicht so viel Ärger bekommt. Damit alle sehen können, dass es ihr leidtut, dass sie weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat.
In der Halle ist es laut. Es rauscht: Elija. Elija.
Dann, einfach so, torkelt Elija aus der Herrenumkleide. Sie kichert. Sagt: Habe mich versteckt.
Elija legt ihre Hand in Noas.
Nackte Männer sehen lustig aus, flüstert Elija in Noas Ohr.
Loth döst auf der Bank. Noa schaut nicht zu ihr, schaut nur auf Elijas Kopf. Dann streicht sie darüber.
Wieder zurückgehen?, fragt Elija.
Ja, sagt Noa. Sie dreht sich um, zieht den Fuß aus dem Schlamm. Das kostet Kraft. Der Schlamm suppt. Die Hose wird dreckig. Elija kichert, patscht hinter Noa her. Beide schnaufen nach wenigen Schritten. Noa spürt ihren Schweiß. Er perlt auf ihrer Stirn, verdunstet schnell. Noa ist dankbar, reißt die Beine Schritt für Schritt vor. Die Planken scheinen Meter entfernt. Um besser vorwärtszukommen, zertrampeln sie das frische Gras. Ein Käfer rettet sich auf Noas Bein. Sie schüttelt ihn nicht ab. Noa erreicht als Erste das Holz, gibt Elija die Hand. Elija stützt sich mit ihrem ganzen Gewicht auf Noas Arm. Dann kommen sie an. Sie klammert sich an Noas Hals. Küsst ihre Wange, reibt die Nase an Noas Hals. Noa lächelt erschöpft, lässt sich auf die Bank fallen.
Wollen wir dann endlich weiter?, fragt Loth.
Neun. Achtundvierzig
Beim Laufen zerpflückt Noa die Halme so, wie sie es bei der Arbeit mit dem Salat macht. Sie legt ihn in die Porzellanschälchen, gießt weißes Dressing darüber. Bis der Salat schwimmt. Bis sie sich vorstellen kann, dass der Salat eine Insel ist, in einem Joghurt-Kräuter-See.
Wenn sie fertig ist, dichtet sie den See mit Frischhaltefolie ab. Dann stellt sie ihn in die Auslage. Mit einer Stunde Arbeit verdient sie so viel, wie ein Gericht mit Nachtisch in der Glasturmkantine kostet. Deswegen hat sie die Stunden erhöht und hilft zweimal in der Woche noch beim Abwasch.
In der Kantine riecht es nach gekochtem Spargel. Die Luft voller Dämpfe. Noa kann die anderen kaum sehen, hört nur das Rühren in den Töpfen und das Schlurfen von Gummisohlen. Früher haben sie ab und zu Radio in der Kantine gehört. Das ist verboten worden. Weil sie sich mit Musik nicht richtig anstrengen, hat die Firma gesagt.
Noa hat das Akim erzählt. Er hat gelacht und gesagt: Als ob das eine Arbeit wäre, bei der man sich konzentrieren müsste. Noa hat auch gelacht. Aber ein bisschen bitterer als er. Akim arbeitet fünf Etagen über ihr im Glasturm.
Noa überlegt, wann er heute in die Kantine kommt. Meistens isst er schon um halb zwölf. Damit die beiden sich noch kurz sehen, bevor Noa frei hat. Akim stellt sich dann in die Schlange, umklammert sein Tablett. Noa setzt ein Schälchen mit Salat und ein Hauptgericht darauf. Sie ist jedes Mal überrascht, wie gut diese Mahlzeiten aussehen, wenn sie serviert werden. Wie frisch. Vielleicht wegen der Farbstoffe.
Wann sehen wir uns?, raunt er jedes Mal. Das findet er romantischer, als ihr eine Nachricht zu schreiben.
Noa lächelt nur, sagt nichts, legt ihm in Servietten gerolltes Besteck hin. Lässt ihre Augen kurz aufleuchten. Dann ist sie wieder unauffällig.
Der Salat ist heute besonders hartnäckig, lässt sich nicht zerpflücken, sondern muss geschnitten werden. Mit dem Messer rollt sie über die Blätter, es knackt, und der Sud sammelt sich auf der Schneide.
Sie mag das grüne Blut, sie mag, wie die Blätter austrocknen, dunkler werden und dann nur noch hübsch sind, wenn sie Dressing drübergießt.
Sie wartet auf Akim.
Schon oft hat sie überlegt, die Stelle in der Kantine aufzugeben. Zeitungen auszuliefern oder mit einem Paketauto umherzufahren. Sie hat es nie gemacht. Vielleicht wegen Akim. Vielleicht wegen des Salats.
In der Küche wird der Nebel dichter. Die alte Frau hat angefangen, die Schnitzel in die Pfannen zu werfen. Sie tauen auf und braten gleichzeitig. Das riecht wie auf einem Schlachthof, denkt Noa. Aus den Pfannen steigen dampfende Geister auf.
Vom Salatschneiden wird sie träge. Kurz überlegt sie, ob Akim eine Nachricht geschrieben hat. So was wie: Ich komme heute nicht runter zum Essen. Muss mit einem Kunden ins Restaurant. Sehen wir uns heute Abend?
Noa guckt in die Schwaden. Fragt sich, warum alles so weiß ist und warum das Salatblut die einzig richtige Farbe hier ist. Und warum gut verdienende Menschen so ein Zeug essen. Zeitdruck muss das einzige Argument dafür sein, denkt sie. Atmet die Dämpfe ein. Davon wird sie satt, und ihr wird etwas übel. Noa schnibbelt weiter. Schaut nicht hoch, bis ihr das Messer aus der Hand rutscht, runterfällt, sie hebt es auf, blickt umher. Am Kaffeeautomaten steht Akim, er achtet nicht darauf, wie das Instantpulver mit Wasser in die Tasse läuft. Er sucht den Dunst nach Noa ab.
Sie lächelt, weiß aber nicht, ob er es sieht. Sie will nicht, dass er sie fragt: Was machst du heute Abend? Diese Diskussion soll nicht losgehen.
Akim tritt näher an die Scheibe, hinter denen die Muffins liegen. Er sucht sich einen aus, wartet, bedient zu werden. Eigentlich ist das heute nicht Noas Aufgabe. Sie geht trotzdem zu ihm. Er grinst.
Ich muss mit einem Kunden zu Mittag essen, haucht er. Aber abends habe ich Zeit.
Noa nimmt den Muffin vorsichtig aus der Auslage.
Ich muss arbeiten.
Sie setzt den Muffin auf einen Teller, legt eine gemusterte Serviette dazu und trägt ihn zur Kasse.
Ach, so nennst du das, murrt er, hält seine Karte an das Lesegerät. Es piept, bucht den Betrag ab.
Ja, so nenne ich das, sagt Noa schroff.
Und wen machst du glücklich?
Noa sieht, wie Akim seine Schultern anspannt, wie sein Gesicht hart wird. Wie jedes Mal, wenn sie über Noas richtigen Beruf reden.
Du hättest es am liebsten, wenn ich hier den ganzen Tag Muffins verkaufen würde, faucht sie leise. Sie will nicht, dass die anderen etwas mitbekommen. Sie will sich vorstellen, dass die anderen nicht wissen, was da zwischen ihr und Akim ist. Dass sie nicht denken: Von der Kantine in die Chefetage. Aber das denken sie eh schon.
Nein, lügt Akim. Ich will nur …
Ich will jetzt nicht darüber reden, Akim.
Und ich würde dich gerne heute Abend sehen.
Ich kann zu dir kommen, nachdem ich fertig bin, schlägt Noa vor.
Akim muss nichts sagen, nicht den Kopf schütteln. Er streckt die Hand nach ihr aus. Sie weicht zurück.
Mach’s gut, zischt er, und sie nickt.
Zehn. Sechsundzwanzig
Das Moor erstreckt sich weiter, als die Schwestern gedacht hätten. Loth fährt mit dem Finger den Weg ab, den sie gelaufen sind. Merkt, dass sie einen Umweg gemacht haben, dass es eine Abkürzung gegeben hätte. Die haben sie übersehen. Und jetzt geht es nur noch die Holzplanken entlang. Immer die Holzplanken entlang, mal etwas gerader direkt am kleinen Bach, dann gewundener. Loth geht schneller. Sie will dieses Moor nicht mehr sehen.
Sie trauert dem Moor von früher hinterher. Dem aus der Kindheit. Das war doch ein anderes, oder nicht? Loth hätte gedacht, dass wenigstens die Natur bleibt, wie sie ist. Oder sich nur langsam verändert. Dass mal ein Baum stirbt und ein neuer wächst. Aber nicht, dass sich die Farben so austauschen und die Größenverhältnisse.
In ihrem alten Kinderzimmer hängt ein Bild vom Toten Meer. Zeigt die Schwestern als Kinder, wie sie auf der Wasseroberfläche treiben, mit Zeitungen. Loth weiß, dass das Meer geschrumpft ist und das Moor sich hier ausgebreitet hat. Dass irgendwelche Forscher da wieder einen Zusammenhang sehen. Diese Forscher, die behaupten, dass alles irgendwie aufeinander wirkt. Aber Loth kann das nicht glauben. Dieses Moor steht doch nur für sich allein. Hat nichts mit dem Moor drei Berge weiter zu tun und auch nichts mit dem Toten Meer. Und auch nicht mit dem Moor, in dem Loth eigentlich sein möchte.
Vielleicht ist es auch gar nicht das Moor, durch das sie früher gelaufen sind. Vielleicht haben die Eltern sie angelogen. Dieses Moor hier mit einem anderen verwechselt, den Namen im Fotoalbum verkehrt zugeordnet.
In diesem Moor ist sie zum ersten Mal. So muss es sein. Sie und die Schwestern gehen gar nicht die alte Route, die alte Wanderung, die sie mit den Eltern gemacht haben. Das hier ist ein ganz neuer Pfad. Nur dass Elija und Noa es nicht merken. Elija und Noa denken, sie kommen zurück. Aber das stimmt nicht, denkt Loth und ist sich sicher.
Die Eltern lügen oft, oder nicht? Warum sollten sie dann bei einem Moor ehrlich sein!
Die Eltern, die sich mit Loth auf das Sofa setzen und sich ihren Plan anhören. Den Plan von der Wanderung zu dritt. Den Plan, noch einmal Schwestern zu sein. Den Plan, zu dritt auf den Berg zu steigen. Und die Eltern lächeln und freuen sich, und der Vater tätschelt Loths Hand, durchsucht danach alle Fotoalben nach Hinweisen und den Keller nach den alten Reiseführen. Und die Mutter schaut Loth lange an und sagt dann: Ich finde es gut, dass du das mit Noa und Elija machen möchtest. Ihr seid Geschwister.
Und Loth isst Kuchen und trinkt Kaffee mit Milch und wartet, bis der Vater ihr die Reiseführer in die Hand drückt. Sie blättert sie durch. Die Routen sind mit Klebezetteln markiert. Die Mutter schreibt ihr die Telefonnummern von Elija und von Noa auf und warnt sie vor. Sei nicht enttäuscht, wenn die beiden vielleicht nicht mitkommen möchten.
Die werden schon wollen, sagt Loth und weiß, dass sie überzeugend sein kann.
Jetzt stapft sie durch das Moor. Wütend und jeden Schritt hassend. Der Vater hat sie belogen, glaubt sie. Der hat ihr irgendwelche anderen Karten gegeben. Der hat sie angelogen, der will nicht, dass die drei noch einmal zusammen sind, wie sie das als Kinder waren. Der will, dass es Loth schlecht geht. Loth ist sich sicher, und Loth hasst den grellen Tag, und Loth schreit in sich hinein: Was wollen wir in diesem Moor?
Zehn. Achtunddreißig
Elija findet die Umgebung trüb. Obwohl so schönes Wetter ist, ist es ihr im Moor zu eintönig. Sie sieht Loths Umrisse einige Meter vor ihr. Elija schnauft, versucht, schneller zu sein. In ihren Seiten sticht es. Sie atmet unregelmäßig.
In der Theatergruppe ist sie die mit der meisten Ausdauer.
Elija steht im Probenraum. Dunkler Tanzboden und eine hohe Decke, keine Fenster in den Wänden. Nur die Scheinwerfer beleuchten die Gruppe. In einem Kreis liegen sie auf dem Boden. Elija mag es, den festen Untergrund zu spüren, all ihre Kraft hineinzudrücken. Der Boden gibt einfach nicht nach. Er hält sie.
Elija spiegelt Mio, Mio spiegelt Lena, und Lena spiegelt Nino. Komplett synchron bewegt sich der Kreis über den Boden. Konzentrierte Bewegungen, die Augen weit aufgerissen, keine Regung wird verpasst. Elija schaut nicht auf Mios Körper, nur in seine Augen. Darin kann sie sehen, welchen Körperteil er als nächsten verändern wird. Sein Bein streckt sich, wird höher als sein Kopf, Elija ist gelenkiger, könnte das Bein weiter anheben. Aber sie lässt es. Darum geht es jetzt nicht. Vom Scheinwerferlicht fühlt Elija sich beschützt. Es legt sich um sie und die Gruppe. Als Kreis rollen sie sich zur Seite. Verlieren dabei kurz die Form, kommen wieder zusammen. Mio beginnt mit dem Aufstehen. Erst die Knie durchstrecken, den Oberkörper aufrichten. Dann stehen sie alle, Mio lässt den Kopf hängen, beendet so den Kontakt.
Die Gruppe atmet aus, sie lösen sich voneinander.
Elija schaut zu Kassandra, der Regisseurin. Sie lächelt, kommt zu ihnen in den Kreis. Eine kurze Trinkpause. Dann geht es weiter.
Zehn. Sechsundvierzig
Ein hohes Tor aus Holz. Dahinter beginnt ein Weg. Der Bach biegt ab, schlängelt sich weiter durch das Moor.
Die Schwestern treten von den Planken auf betonierten Boden. Ein leerer Parkplatz. An vielen Stellen ist der Beton aufgeplatzt. Die ersten Birken zwängen sich aus den Spalten. Am Rand des Parkplatzes stehen hohe Bäume. Noa hebt die Arme, streckt sie aus. Versucht, bis an die Wipfel zu kommen, lacht, als sie es nicht schafft.
In ihr ist es ganz ruhig. Sie versucht, sich an die Zeit vor dem Moor zu erinnern. Der Morgen, das Aufwachen. Alles scheint so lange her zu sein. Genau wie Loths Anruf vor einem halben Jahr. Die Frage, ob sie Lust hat auf eine Wanderung, und Noa murmelt: Das muss ich mir erst überlegen. Und nimmt sich zwei Monate Zeit zum Grübeln, bis sie Ja sagt, obwohl sie eigentlich Nein denkt. In Noa ist es still. Ihr Herz pocht gleichmäßig. Sie sieht sich um. Ist plötzlich froh, dass Elija da ist. Und auch Loth. Gerne würde sie sie umarmen. Aber das würde Loth zu sehr durcheinanderbringen. Noa lässt es.