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IV. Rechte, Freiheiten und sozialer Einfluss

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Warum sind Menschenrechte wichtig? Da Menschenrechtserklärungen die moralische Notwendigkeit bekräftigen, dass die Bedeutsamkeit der in der Formulierung der Menschenrechte enthaltenen Freiheiten angemessen beachtet werden muss (wie dies im vorangegangenen Abschnitt erörtert wurde), sollte ein angemessener Ausgangspunkt darin bestehen, dass die Bedeutung der Freiheiten der Menschen entsprechend anerkannt wird. Zu beachten gilt dabei, dass, während Rechte Ansprüche nach sich ziehen (insbesondere Ansprüche gegen andere, die in der Lage sind, etwas zu verändern), Freiheiten im Gegensatz dazu in erster Linie beschreibende Merkmale der Lebensumstände von Personen sind.32

Indem wir von der Bedeutung der Freiheiten als der angemessenen conditio humana ausgehen, auf die es sich zu konzentrieren gilt, anstatt auf Nutzen (wie Bentham es tat), erhalten wir nicht nur einen Beweggrund dafür, unsere eigenen Rechte und Freiheiten zu preisen, sondern auch dafür, uns für die wichtigen Freiheiten anderer zu interessieren, und nicht nur für ihre Freuden und Wunscherfüllungen (wie im Utilitarismus). Benthams Beharren darauf, den Nutzen zur Grundlage der moralischen Bewertung zu machen, steht im Gegensatz zu den Gründen dafür, sich stattdessen auf Freiheiten zu konzentrieren. Ich habe andernorts erörtert, warum diese Gründe gewichtig sind und wie die Konzentration auf Freiheiten einige der wichtigsten Fallstricke vermeiden kann, die sich durch eine ausschließliche Konzentration auf Nutzen in Form von Freude oder Wunscherfüllung ergeben. So kann zum Beispiel das utilitaristische Kalkül an Bewertungsverzerrungen kranken, die sich aus der Vernachlässigung der gravierenden Not jener ergeben, die chronisch benachteiligt sind, doch die auf Grund der Umstände lernen, sich schon an kleinsten Dingen zu erfreuen und sich damit abzufinden, ihre Wünsche auf ein »realistisches Maß« herunterzuschrauben (wodurch sie nach dem besonderen Maßstab von Freuden oder Wunscherfüllungen nicht besonders benachteiligt erscheinen).33

Bevor ich auf die schwierige Frage der mit Rechten verbundenen Pflichten eingehe, die ich in Abschnitt VI untersuchen werde, ist es erforderlich, den Zusammenhang zwischen Rechten und Freiheiten etwas näher zu erörtern. Dem werde ich den Rest dieses Abschnittes ebenso wie Abschnitt V widmen. Freiheiten können sich hinsichtlich ihrer Bedeutung und auch hinsichtlich der Frage, inwieweit sie sich mit gesellschaftlicher Unterstützung beeinflussen lassen, voneinander unterscheiden. Um Teil des Bewertungssystems der Menschenrechte zu werden, muss eine Freiheit eindeutig wichtig genug sein, um zu rechtfertigen, dass man von anderen die Bereitschaft verlangt, sorgfältig zu entscheiden, was sie vernünftigerweise tun können, um sie zu fördern. Die fragliche Freiheit muss außerdem eine Plausibilitätsbedingung dahingehend erfüllen, dass andere durch eine solche Interessenahme etwas Wesentliches verändern könnten.

Um in das interpersonale und interaktive Spektrum der Menschenrechte zu fallen, muss eine Freiheit einige »Schwellenbedingungen« der (i) Bedeutung und (ii) der sozialen Beeinflussbarkeit erfüllen. Insofern als die Idee der Menschenrechte eine öffentliche Diskussion und öffentliches Engagement erfordert, wie ich weiter oben bereits angemerkt habe und in Abschnitt IX weiter erörtern werde, geht es in der anzustrebenden Übereinkunft nicht nur darum, ob eine bestimmte Freiheit einer bestimmten Person irgendeine moralische Bedeutung hat (diese Bedingung kann leicht erfüllbar sein), sondern es geht auch darum, ob ihre Bedeutsamkeit und ihre Beeinflussbarkeit die Schwellenbedingungen erfüllen, um in den Kreis der Menschenrechte, auf die sich die Gesellschaft konzentrieren sollte, aufgenommen zu werden.

Die Schwellenbedingungen können aus verschiedenen Gründen verhindern, dass bestimmte Freiheiten zu einem angemessenen Gegenstand der Menschenrechte werden. Zur Veranschaulichung: Es ist nicht schwierig zu behaupten, dass man allen vier folgenden Freiheiten eine gewisse Bedeutung beimessen sollte:

 (1) die Freiheit einer Person, keinen Übergriffen ausgesetzt zu sein;

 (2) ihre Freiheit, bei einem ernsthaften Gesundheitsproblem ärztliche Versorgung zu erhalten;

 (3) ihre Freiheit, nicht regelmäßig von ihren verhassten Nachbarn angerufen zu werden;

 (4) ihre Freiheit, zur Ruhe zu kommen.

Obwohl jedoch alle vier Freiheiten auf die eine oder andere Art wichtig sein mögen, ist es nicht ganz unplausibel zu behaupten, dass die erste (die Freiheit, keinen Übergriffen ausgesetzt zu sein) ebenso wie die zweite (die Freiheit, ärztliche Versorgung zu erhalten) einen guten Gegenstand für ein Menschenrecht darstellt,34 doch dass die dritte (die Freiheit, nicht von verhassten Nachbarn angerufen zu werden) im Allgemeinen nicht wichtig genug ist, um die Schwelle sozialer Bedeutung zu überschreiten und sich als ein Menschenrecht zu qualifizieren. Auch die vierte Freiheit ist, obwohl sie möglicherweise extrem wichtig für die jeweilige Person ist, zu selbstbezogen – und zu schwer durch andere zu beeinflussen –, um einen geeigneten Gegenstand für Menschenrechte darzustellen. Der Ausschluss eines »Rechts auf Ruhe« hängt nicht mit einer etwaigen Skepsis gegenüber der möglichen Bedeutung von Ruhe und der Bedeutsamkeit zusammen, dass eine Person die Freiheit hat, sie zu erreichen, sondern mit der Schwierigkeit, sie durch gesellschaftliche Unterstützung zu gewährleisten.

Es lassen sich fruchtbare Debatten über die Schwellen und ihre Anwendung sowie insbesondere darüber führen, ob ein bestimmter Fall von Freiheit die Schwellenbedingungen erfüllt oder nicht. Wie kurz in den Abschnitten II und III erörtert wurde (und weiter in Abschnitt IX untersucht wird), gehören solche Diskussionen zur Disziplin der Menschenrechte. Die Analysen von Schwellen, die sich sowohl auf die Ernsthaftigkeit als auch auf die soziale Beeinflussbarkeit bestimmter Freiheiten beziehen, müssen unweigerlich einen wichtigen Platz in der Disziplin der Menschenrechte einnehmen.

Elemente einer Theorie der Menschenrechte

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