Читать книгу Ich bin kein Ausländer, ich heiße nur so - Amir Shaheen - Страница 8
Kölschsalam – Warme Worte zur Begrüßung
Оглавление„‘S ahl warm!“
Sagt die Frau auf dem Stuhl rechts neben mir, neigt sich dabei leicht mir zu und strahlt mich an. Kölscher Zungenschlag. Ich nicke.
„‘S ahl warm!“
Wiederholt sie und wartet offensichtlich auf eine Bestätigung meinerseits.
Die Fenster sind weit geöffnet, angenehm warme Luft flutet den Raum, in dem der Stuhlkreis sich langsam füllt. Der Frühling ist endlich gekommen, und wir erleben Ende März bereits einen richtigen Sommertag. Ohne jeden Zweifel wunderbares Wetter, der erste heiß zu nennende Tag des Jahres, da blüht man einfach auf.
„Ja“, sage ich, „ich find‘s auch toll, dass es endlich warm ist.“
„‘S ahl warm!!!“
Insistiert sie. Jetzt, wie mir scheint, geradezu fordernd. Denn sie blickt mich freudestrahlend und voller Erwartung an.
Ich stutze. Lasse mir das eben Vernommene noch einmal durch den Kopf gehen.
Mir dämmert, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit gar keinen Kommentar zur aktuellen Wetterlage abgegeben hat. Es ist überdies nicht zu überhören und auch nicht mehr zu übersehen, dass dies keine allgemeine unverbindliche Konversationsaufforderung an die versammelte Runde war, um etwa das als unangenehm empfundene Schweigen bis zum Beginn unserer Veranstaltung zu überbrücken, sondern dass einzig und allein ich höchstpersönlich der Adressat ihrer Äußerung bin. Und nicht etwa auch einer der übrigen Anwesenden in dem Seminarraum, in dem wir nun zum zweiten Mal zusammenkommen.
Wenn ich es recht bedenke, klang ihre Äußerung zuletzt auch gar nicht mehr so kölsch. Vermutlich hat sie das auch zuvor schon nicht, ich habe sie bloß automatisch so verstanden. Wobei die voreilig von mir für Kölsch gehaltenen Laute, hätten sie denn die von mir angenommene Aussage transportieren sollen, korrekterweise anders hätten ausgesprochen werden müssen, beispielsweise „wärm“ statt „warm“. Da bin ich sicher. Das weiß ich:
Wer lang schläf, dä schläf sich wärm, wer fröh opsteit, dä friss sich ärm.
Hm: Et es ahl wärm?
Nee, das war’s nicht.
Ihr erwartungsvoll auf mich gerichteter Blick bewirkt nun, dass mein Sprachanalysezentrum vom Hochdeutsch-Kölsch-Verständigungsmodus in den Migrationshintergrund-Obacht-Modus wechselt.
Und so transponiere ich jetzt die von mir fälschlicherweise als verkürzte kölsche Lautfolge „es ahl warm“ interpretierte Aussage ins Arabische und entschlüssele sie als:
„Salam!“
„Alarm!“, meldet daraufhin augenblicklich mein Hirn.
Fremdsprachliche Kontaktaufnahme durch freundschaftlich gesinnten Mitmenschen erkannt! Fehlidentifikation aufklären! Kosmopolitisch motivierte Verbrüderungsbestrebungen umgehend abwehren! Möglichst ohne Verletzungen. Das bedeutet, jetzt ist mal wieder eine Charmeoffensive vonnöten.
Die Frau kennt meinen Namen. Sie kann ihn offensichtlich geografisch-kulturell verorten und hat daraus meine vermeintliche Herkunft abgeleitet. Jetzt will sie mir, bildlich gesprochen, die Hand reichen. Das ist gut gemeint, wirklich. Und überaus einladend. So wie sie ihre Geste und auch sich selbst versteht, sollte und will ich sie natürlich auf keinen Fall vor den Kopf stoßen. Etwa, indem ich sage: „Tut mir leid, ich verstehe Sie nicht. Bitte sprechen Sie Deutsch!“
Als eloquenter Sprachhandwerker bin ich zwar nicht gerade auf den Mund gefallen, ich sehe mich aber außerstande, mit polyglotten Menschen wie meinem Gegenüber in eine Konversation einzutreten in der Sprache, die sie für meine Muttersprache halten.
Und das ist auch der Grund, warum ich meist etwas länger brauche, bis ich endlich schalte. Ich fühle mich von arabischen oder pseudoarabischen Grußformeln aus deutschem Munde gar nicht angesprochen. Von Persisch oder Türkisch, auch das kommt vor, ganz zu schweigen. Ich beziehe dergleichen überhaupt nicht auf mich. Wieso sollte ich? Ich bin hier nicht im Urlaub. Ich lebe hier!
Wieso mich also deutsche Menschen, die mich zuvor bereits in akzentfreiem Deutsch haben reden hören, in einer anderen als eben dieser Sprache ansprechen oder gar eine Unterhaltung in einer fremden Sprache mit mir beginnen wollen, ist für mich immer noch ungewohnt. Und immer wieder mal auch etwas befremdlich.
Meinen Namen sieht man mir nicht an.
Schon lange nicht mehr. Früher war das anders. Da hatte ich volles dunkles Haar. Damals wäre es zumindest noch nachvollziehbar gewesen, mich in einer orientalischen Sprache anzusprechen. Aber damals hat das kein Mensch auch nur probiert. Und so blieb es rund vier Jahrzehnte lang. Aber neuerdings…
Zweifellos war auch die Kenntnis orientalischer Sprachen in meiner Heimatstadt einfach nicht verbreitet. Andererseits bestand dort, jedenfalls früher, auch nicht der geringste Zweifel an meiner Identität.
Und einzig basierend auf der Annahme, dass ich für jeden sofort ersichtlich nun wirklich nicht typisch arabisch oder sonstwie fremdländisch aussehe und, sobald ich auch nur „Guten Tag“ sage, als Muttersprachler erkannt werden müsste, bildete ich mir lange Zeit ein, ich ginge überall automatisch als Deutscher durch.
Und aus diesem Grund blende ich meine Abstammung komplett aus.
Wobei dieses Ausblenden keinesfalls ein bewusster, aktiver Vorgang ist: Ich tue das nicht mit Vorsatz und Absicht – ich denke einfach überhaupt nicht drüber nach. Ich vergesse es schlichtweg. So wie vermutlich jeder andere Mensch sich auch nicht ständig der Herkunft seiner Eltern vergewissert. Es sei denn natürlich, er wird permanent damit konfrontiert, ja geradezu darauf gestoßen.
Für mich begann das, und das zunächst auch eher verhalten, erst in dem Augenblick, als ich meine kleinstädtische Heimat verließ. Wo immer ich mich vorstellte oder fremden Menschen vorgestellt wurde und meinen Namen nannte – und zwar, ich betone das noch einmal: in fehlerfreiem, akzentfreiem, dialektfreiem, also einwandfreiem, wenn nicht gar allerbestem Hochdeutsch – oder Formulare ausfüllen musste, entspann sich immer wieder aufs Neue ein Dialog, den ich im Laufe der Zeit, und zunehmend häufiger insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten, immer amüsierter und zugegebenermaßen mit allergrößtem Vergnügen auch selbst gerne provozierte:
„Wie heißen Sie?“
„Amir Shaheen.“
„Wo kommen Sie her?“
„Aus Altena.“
„Ich meine: Aus welchem Land?“
„Aus dem Sauerland.“
Selbstverständlich beantworte ich sämtliche Fragen zu meiner Biografie immer wahrheitsgemäß. Natürlich weiß ich, was der Fragende eigentlich wissen will. Natürlich ist es völlig logisch und verständlich und auch absolut berechtigt, sich beim Hören meines Namens nach dessen Ursprung zu erkundigen. Völlig legitim und weit entfernt von übertriebener Neugier.
Aber zu folgern, der Träger eines ausländischen, eines arabischen Namens müsse zwangsläufig auch ein entsprechender Muttersprachler, in meinem Falle also Araber, oder aber wenigstens zweisprachig sein, ist doch arg kurz gesprungen. Das hat mich schon im ausgehenden 20. Jahrhundert immer mal wieder mächtig in Staunen versetzt; heute, mittlerweile bereits kurz vor Beginn der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts, ärgert es nachgerade.
Das ist dumm von mir, ich weiß. Ich neige wohl dazu, meine Mitmenschen hierzulande grundsätzlich für aufgeklärter und differenzierter zu halten. Dies allerdings, die Empirie hat mich längst widerlegt, offenbar gänzlich unbegründet. Kaum einer wählt die Formulierung: Woher stammt Ihr Name?
Diejenigen, die sich auf diese Weise bei mir erkundigen, haben in der Regel selbst einen Migrationshintergrund. Wie etwa die sympathische Mitarbeiterin in einem Reisezentrum der Bahn, deren Neugier geweckt wurde, als sie meinen Namen auf der Bahncard las. Ich erklärte es ihr und erzählte ihr dann, dass ich auf die Frage nach meinem vermeintlichen Heimatland mit Sauerland zu antworten pflege. Sie lachte und meinte, sie sage mitunter, sie stamme aus dem Rheinland. Sie war übrigens kurdischer Abstammung. Meine arabischen Wurzeln sehe man mir aber gar nicht an, meinte sie.
Dieser Umstand verleitete offenbar auch einen indisch-pakistanisch aussehenden Mitarbeiter eines Restaurants in Hamburg, offensichtlich keine übliche Service-Kraft, zu einer bedenkenswerten Frage. In dem großen Lokal waren zwar etliche Tische frei, aber alle waren als „Reserviert“ gekennzeichnet. Die noch zur Verfügung stehenden Plätze sagten uns nicht zu und wir waren schon im Begriff zu gehen, als er uns zu einem der reservierten Tische führte und uns bat, dort Platz zu nehmen. Als ich ihm später beim Zahlen meine Kreditkarte reichte, las er meinen Namen. Er überlegte einen Moment, gab mir seine Visitenkarte und fragte in perfektem Deutsch:
„Sind Sie komplett deutsch?“
„Na, vermutlich genauso wie Sie“, meinte ich.
Die Karte wies ihn als Geschäftsführer aus. Sein Vorname war Gurinder, und der Nachname passte exakt zu seinem Äußeren. Aber nicht eine Sekunde wäre ich auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, aus welchem Land er kommt.
Dass meine spitzfindigen Antworten auf diese Frage keinerlei Erkenntnis, sondern, ganz im Gegenteil, meist die Wiederholung der Frage, im schlimmsten Falle sogar ein ärgerliches Insistieren zur Folge haben, ist bemerkenswert.
Es ist aber auch wirklich unfassbar! Man weiß ja gar nicht mehr, wo man dran ist, mit all diesen Leuten! Man sollte doch bitteschön erwarten können, dass die Menschen so aussehen und so sprechen wie sie heißen! Oder etwa nicht? Das bringt doch alles durcheinander!
Tja, die Welt ist gründlich aus den Fugen!
Ein Schwarzer war Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, und das sogar acht Jahre lang. Und hierzulande wimmelt es in den Medien, vor allem in Rundfunk und Fernsehen, mittlerweile geradezu von Menschen meines Schlages: hier geborenen Mitbürgern, deren Muttersprache eben nicht die Sprache ist, aus der ihr Name stammt. Frappierenderweise übrigens, wie mir scheint, insbesondere in den Formaten Comedy und Nachrichten – aber das muss wohl an meiner selektiven Wahrnehmung liegen.
„Entschuldigen Sie bitte vielmals, Sie haben Salam gesagt“, sage ich nun zu der Frau auf dem Stuhl neben mir. „Wissen Sie, was ich die ganze Zeit verstanden habe? Es ist warm!“
„Ist das nicht herrlich, wenn man möglichst viele fremde Menschen in ihrer eigenen Sprache zumindest begrüßen kann?“, meint sie. „Ich finde das schön!“
„Großartig! Finde ich auch. Mit mir können Sie Deutsch reden!“
„Ich weiß ja. Aber ich dachte…“
„Wissen Sie, ich bin ehrlich gesagt ein bisschen faul. Ich habe so gut wie keine Fremdsprachen gelernt.“
„Keine Fremdsprachen…?“
„Englisch beherrsche ich ganz gut, aber mit Französisch habe ich schon arge Probleme.“
„Ach – ja? Aber Ihr Deutsch… ist doch… perfekt?!“
„Schukran“, sage ich. „Schönen Dank auch, das will ich doch hoffen. Ist schließlich meine Muttersprache.“
„Und Arabisch…?“
„Verstehe und spreche ich vermutlich nicht mal ansatzweise so gut wie Sie! Ehrlich gesagt: überhaupt nicht.“
„Gar nicht? Kein Wort? Oh… das ist… das ist aber schade. Sehr schade. Dann sind Sie gar kein…, dann sind Sie… Also, dann haben Sie bloß einen Migrationshintergrund!?“
„Ja“, bestätige ich. „Genau wie Sie!“
„Ich? Wie meinen Sie…?“
„Wir haben doch alle einen Migrationshintergrund.“
„Also, ich jetzt aber nicht.“
„Doch, Sie auch. Glauben Sie mir, ich weiß es! Ich kenne exakt zwei Menschen, die hatten keinen.“
„Zwei?“
„Genau: Adam und Eva! Und die mussten das Paradies verlassen. So ging’s los, das war der Beginn aller Migration.“
„Ach, wie, also, das ist aber jetzt weit her-…“
„Lesen Sie’s nach! Gott hat den Migrationshintergrund erschaffen, für alle Menschen.“
„Gott hat WAS?!“
„Erstes Buch Mose, Kapitel drei, Vers 23-24:
‚Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.‘ Kain und Abel hatten also bereits einen Migrationshintergrund. Und alle ihre Nachkommen. Wie Sie und ich. Der Mensch ist ein Migrant. Schon immer gewesen.“
Dann beginnt unser Seminar.
Ich bin allerdings nicht so ganz bei der Sache. Gedanklich stecke ich noch im Migrationshintergrund fest. Früher war auch mir nicht bewusst, dass ich überhaupt einen habe. Und das ging nicht nur mir so. Als das Wort immer stärker die Runde machte, wurde auch meine Mutter davon geradezu überrumpelt.
Auf dem Höhepunkt der hitzigen Diskussion über die wirren Ansichten und teils unsäglichen Thesen von Thilo Sarrazin besuchte ich meine Eltern. Nach dem Essen, beim arabischen Kaffee, kamen wir zwangsläufig auf das Thema zu sprechen. Ich bemerkte, dass auch ich persönlich mich von dieser Hetze unangenehm angesprochen fühle. Denn ich hätte das Gefühl, der Mann ziele zwar primär auf andere, träfe aber in seiner blindwütigen Verirrung letztlich auch Menschen wie mich.
Verständnislos sah mich meine Mutter an:
„Wo bitte hast du denn einen Migrationshintergrund?“
„Na da, da sitzt er! Direkt neben dir! Es ist dein Ehemann!“
„Ma’a salaama“, sage ich zu meiner Sitznachbarin am Ende des Kurses. „Tschö!“ Und überlege, ob ich nicht vielleicht noch ein paar weitere arabische Grußformeln und Floskeln einüben sollte…