Читать книгу Die Macht der Doshas - Amrei Laforet - Страница 5

Frühjahr

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Ich ging auf dem Bürgersteig. Hell und windig, dachte ich, so kann man das Wetter heute am besten beschreiben. Ich stand an der Haltestelle. Eine Gruppe Schüler neben mir. Der Bus war überpünktlich und blieb noch eine Weile stehen, nachdem alle eingestiegen sind. Ich sah Körper, die ansammeln und stabilisieren, Körper die umsetzen und verarbeiten, Körper die beweglich sind, mehr als andere und die bewegten. Ich selbst war durchlässig und ließ meine Wahrnehmung ziehen. Ich saß sehr gerade. Ich sah aus dem Fenster und ließ die Bilder ziehen, stieg aus dem Bus in das helle windige Wetter und ging auf den weißen weichen Sohlen meiner Turnschuhe vorbei an Bäckereien, wo sich Menschen schnell noch einen Kaffee oder ein Brötchen oder Croissant oder ein anderes Teil kauften. Meine Zähne waren glatt und weiß, meine Zunge ohne Belag. Ich hatte mir wie jeden Morgen in meiner Wohnung einen Getreidebrei mit Trockenfrüchten zubereitet, ihn langsam gegessen und anschließend einen Kaffee mit Gewürzen und Kokosmilch getrunken. Dann hatte ich das Glas Wasser getrunken und meine Zähne geputzt. Ich duschte immer abends, denn ich habe das Gefühl hatte, dass dann alles Schmutzige oder Schlechte von mir gewaschen wird. Nur wenn ich stark geschwitzt hatte in der Nacht, was selten vorkam, duschte ich zusätzlich morgens vor dem Frühstück. Und so war ich ganz leicht und hell und windig, als ich meine Räumlichkeiten betrat. Vorne füllte der Empfangstresen die vordere Hälfte des Raumes, dahinter standen die schönen hellgelben Stühle und eine Garderobe an der Wand. Eigentlich war dieses Empfangszimmer fast überflüssig, da ich ganz allein arbeitete und die Menschen nur nach Termin erschienen. Ich setzte mich hinter den Empfangstresen und schlug den Terminkalender auf der Seite auf, auf der der rote Faden lag. Jede Seite, jeder Tag begann um neun Uhr und endete um Siebzehn Uhr. Die Samstage und Sonntage sind unbeschrieben, weiß und leer, vielleicht wie ich... Neun Uhr. Phillip Küster. Ich zog die K- Schublade aus den Bodenschränken. Ich nahm die Akte Philip Küster und schlug sie auf. Der Bogen, den seine Mutter ausgefüllt hatte, gab mir Informationen über die Konstitution des Jungen, zum Essverhalten und zum allgemeinen Gesundheitszustand. Ich hatte Vermutungen. Die Tür ging auf und Mutter und Sohn betraten den Raum. Die Mutter war geschmackvoll gekleidet, hatte eine athletische Figur, hellblaue Augen, eine eher trockene Gesichtshaut und als sie mir die Hand gab, spürte ich den bestimmten, trockenen Druck sehr langer Finger. Ihre Fingernägel waren professionell gestylt. Der Junge war sehr dünn und blass. Nervös stellte er sich von einem Bein auf das andere, seine hellen Augen mustern mich neugierig. Hell und windig, denke ich und streckte ihm meine Hand entgegen. Schlaff lag die kleine Hand in meiner. Ich lächelte: „Hallo Philip, schön das Du da bist.“ Ich wies den Weg in das Behandlungszimmer. Dort gab es viele bequeme Sitzmöglichkeiten. Sonst nichts. Durch das große Fenster war der Raum sehr hell. Philip setzte sich gegenüber dem Fenster auf einen Stuhl und betrachtete den Ast der Ulme, die draußen vor dem Gebäude stand. Der Wind spielte mit dem dünnen Ast und die frischen grünen Blätter schienen in den Sonnenstrahlen zu glitzern. Philips Mutter hatte sich ebenfalls gesetzt und ich nahm gegenüber der beiden Platz. Ich sagte, dass ich Philips Hyperaktivität seiner Konstitution zuschreiben würde, die eine große Beweglichkeit aber auch Stressempfindlichkeit begünstigte. Ich sagte, dass man Ausgleich und Stabilität durch Entspannung schaffen könne. Dass kein Druck von außen notwendig sei, da Philip genug eigenen Antrieb habe. Ich empfahl, Industriezucker komplett zu streichen und durch Rohrohrzucker zu ersetzen. Ich empfahl Süßkartoffeln, Kürbis, Reis, Vollkornnudeln, gekochte Karotten als Bestandteile von Mahlzeiten und das Vermeiden von Softgetränken. Ich empfahl selbstgebackene Haferkekse als Süßigkeiten und fünf Mahlzeiten pro Tag mit ausreichend Vitaminen und Mineralstoffen. „Regelmäßig“, sagte ich, „regelmäßig essen und abends nicht zu viel oder zu spät. Nicht zu spät ins Bett, wäre meine Empfehlung“, sagte ich. Um abends zur Ruhe zu kommen, empfahl ich warme Sojamilch mit Muskat oder Zimt. Ich frage Philip, was er über die Schule denken würde. Er lächelte: „Manchmal ist es spannend und manchmal langweilig.“ Ich schaute die Mutter an und sie lächelt. „Ich darf mir nicht so viel Sorgen machen“, sagt sie.





Vielleicht, wenn man es so sehen möchte, ist das der Tag gewesen, an dem alles anfing. Oder der Tag an dem alles aufhörte, je nachdem wie man es sehen möchte. Vielleicht war es aber auch der Tag, an dem ich darauf vertraute, dass alles, was passiert letztendlich einen Sinn ergibt.

Ich sah das Haus mit der Nummer 27. Ich stand direkt davor, vor der hellgelben Front mit den weißen Fensterrahmen, Doppelverglasung. Vom Bürgersteig konnte man direkt auf die erste Treppenstufe steigen. Eine massiv gemauerte Treppe, an deren oberen Ende sich eine quadratische Fläche aus altmodisch schwarzen-weißen und hellblauen Fließen anschloss. Vor der alten Holztür mit den eingelassenen Fenstern baumelte ein großer Kranz aus Moos. Der Wind spielte mit den verblichenen blauen und gelben Bändern, die als Verlängerung der Aufhängung an dem Kranz herab hingen. Der Wind variierte ihre Verteilung über die Haustür. Mir war kalt. Mein rosa Mantel und die helle Hose wärmten mich nicht genug. Schließlich war es bereits November. Aber ich liebte leichte und leicht wirkende Kleidung nun einmal. Ich wollte mich mit nichts schwerer machen und wollte durch nichts schwerer wirken. Ich hatte meine großen Augen, die trotz ihrer dunklen Farbe stechend wirkten. Das reichte vollkommen. Sie schauten auf die beiden Klingelknöpfe. In dem oberen war das Namensschild leer, was mich nicht verwunderte. Schließlich war die Wohnung als frisch renoviert angeboten worden. In dem Namensschild neben dem unteren Klingelknopf stand in krakeliger Schrift, vermutlich mit einem hellblauen Kugelschreiber geschrieben: M. Senfrott. Die Dame, mit der ich gesprochen hatte, lebte also auch allein. Ich drückte den Knopf und ein helles „Krrrrrrrrr“ bestätigte meine Ankunft. Ich hörte ein Poltern, ein kurzes Fluchen und dann das Öffnen einer Innentür. Ich sah den Schatten, der sich ruckartig nach rechts und dann nach links warf. Jetzt wurde die Haustür geöffnet und da stand Frau Senfrott schon vor mir: in der rechten Hand die Klinke, die linke Hand in die Hüfte gestützt. Das graue Haar war ordentlich zurückgekämmt, nur an einer Seite stach eine Strähne schmerzhaft auffällig nach vorn, nach oben, eben völlig zerzaust… Zwei wässrige blaue Augen hinter dicken Brillengläsern schauten mich prüfend an. „Malchin“, sagte ich und reichte ihr meine Hand, die kurz darauf von einer rauen Pranke umschlossen wurde. „So, sie wollen also meine Wohnung mieten“, stellte Frau Senfrott fest. Sie drehte sich um und humpelte mit den Worten :“Dann hole ich mal den Mietvertrag“ in ihre Wohnung zurück. Die Tür war auf geblieben und war es noch immer. Ein süßlicher Kohlgeruch drang an meine Nase. Ich tat einen Schritt in das Treppenhaus. Kohl und Kekse, dachte ich und alter Teppich mit Flecken. Sehr alter Teppich mit vielen Flecken. Ich war enttäuscht. Ich brauchte etwas cleanes, einen behaglichen reinen Rückzugsort. Ich warf einen Blick die Treppe hinauf. Sie schien frisch gestrichen worden zu sein. An der Decke baumelte eine nackte Glühbirne. Daneben ein riesiges Spinnennetz. „So, nun kann es losgehen“, kündigte Frau Senfrott ihre Ankunft an. Eine große Frau, dachte ich. Sehr groß mit überdurchschnittlich breiten Hüften, schlanken aber angeschwollenen Gelenken. Eine unglückliche Kombination der beiden Konstitutionstypen Vata und Kapha und mit Sicherheit ein herzensguter Mensch. Ich blickte auf den Boden, schämte mich meiner analytischen Überlegungen und sah das Unfassbare: riesige weiße Turnschuhe. Fast hätte ich sie gefragt, was für eine Schuhgröße sie hat. „Da kommt noch eine Lampe dran“, sagte sie und zeigte mit den Papierbögen, die aus ihrer Hand ragten zur Decke. „Ja“, sagte ich. „Nun gehen Sie mal hoch“, gab sie zurück. Ich wollte nicht. Ich wollte etwas Unpersönliches, etwas Unverbindliches und meine Ruhe. Ich wollte nicht über Kohl und Kekse, riesige Turnschuhe und bunte Kittelkleider nachdenken, weil sie mich irritierten. Oh, ja: ein bunt geblümtes Kittelkleid trug sie auch. Es straffte sich extrem über Busen und Bauch und endete über ihren dünnen, herausstehenden, flüssig angeschwollenen Kniegelenken. Nein, dachte ich. Wenn kontakt, dann etwas, was mir Jugend gibt, was mich nachholen lässt, was mich cooler macht. Cool und clean und leicht waren meine Leitworte. Wie zwei Kamele trampelten wir nun hintereinander die Treppe hinauf. „Haben sie sich schon viele Wohnungen hier angesehen“, kam eine verstohlen wirkende Frage von hinten zu mir. Mein Gott, sie war genauso groß wie ich, dabei ging sie hinter mir die Treppe herauf. Ich hörte ihr Ächzen bei jedem Schritt. Ihre Hüfte. Das eine Bein war vermutlich ein paar Zentimeter kürzer, nichts Seltenes… Die Wohnungstür war hellgrau und als ich sie öffnete, war ich wirklich positiv überrascht: große Fenster, ein großer Balkon, der nach hinten zum Garten hinaus gelegen war… Klar war die Wohnung klein und daher war sie auch so günstig. Ich hatte finanziell nicht viel Spielraum... Ich überlegte, ob sie mich ärgern wollte, mit ihrer Frage, denn es gab hier so gut wie keine Mietangebote zurzeit. Aber ich war mir plötzlich ganz sicher, dass sie nur aus Unsicherheit etwas gesagt hatte. „Die Wohnung gefällt mir“, sagte ich. „Wie ist das mit der Dämmung… ich meine, ich bin sehr geräuschempfindlich…“ „Oh“, überrascht griff sie sich mit der linken Hand an ihr großes, dickes Ohrläppchen. Der rechte Arm hing regungslos zur Seite und die doppelte Ausführung des Mietvertrages fiel auf den frisch gestrichenen hellgrauen Holzboden. Ich bückte mich schnell und sammelte die Papiere ein. Als ich sie ihr geben wollte sagte sie: „Neinnein, schauen sie ruhig schon mal rein…“ Sie schien es ja eilig zu haben, die Wohnung zu vermieten, dachte ich. Aber dann erinnerte ich mich, wie ihr Gesicht aufgeleuchtet hatte, als ich meine Geräuschempfindlichkeit erwähnte. Sie war einfach froh, jemand „Anständiges“ gefunden zu haben, schlussfolgerte ich.


Sie sah auf die Zeile im Mietvertrag, in die ich mein Geburtsdatum geschrieben hatte und blickte mir dann für einen kurzen Moment tief in die Augen. Dann sah sie aus dem Fenster hinaus, so, als sehne sie sich in eine andere Welt hinein. „Ich hätte Sie für viel jünger geschätzt“, sagte sie matt. „Ich bin auch im Mai geboren worden. Nicht am 8. . Am 17. .Und neunzehn Jahre später als Sie.“ Ich versuchte, nicht allzu entsetzt auszusehen und konnte mich gerade noch zurückhalten, zu antworten, dass ich sie für viel älter gehalten hatte. „Tja…“, sagte sie und ich wartete darauf, dass sie etwas sagte, aber sie schüttelte nur mit dem Kopf und schluckte. Ich ging einen Schritt auf sie zu und berührte kurz ihren Ellenbogen, was sie zum Zusammenzucken veranlasste. „Die Wohnung“, sagte ich, „ist sehr schön.“ Sie nickte. „Tja, bei mir unten sieht es etwas chaotischer aus“, murmelte sie. „Was machen Sie eigentlich beruflich?“, setzte sie dann unerwartet hinzu. „Oh“, sagte ich, „ich habe eine Praxis im Ort.“ Sie nickte und schluckte erneut. Dann streifte sie mich mit ihren wässrigen großen blauen Augen hinter den Brillengläsern und schaute wieder zum Fenster hinaus. „Nicht schlecht“, sagte sie.

Am folgenden Wochenende zog ich ein. Ich hatte nur eine Reisetasche dabei. Die Matratze und die Bettwäsche, die ich bestellt hatte, waren in der Woche angekommen und meine Vermieterin hatte sie netterweise entgegengenommen. Ich genoss den ersten Abend in meiner Wohnung, zog die Matratze auf die Terrasse und öffnete die Flasche Wein, die ich mitgebracht hatte. Der Garten war eine große Wiese mit drei Obstbäumen. Der Garten rechts war sehr gepflegt, besaß ein Gartenhäuschen, ein Gewächshäuschen, einen Teich und Beete mit Blumen und etwas Gemüse und Kräutern, die von einer niedrigen Buchsbaumhecke eingefasst waren. Der Garten links war eine ordentlich gemähte Wiese mit einer großen Terrasse und ein paar alten Bäumen. Vielleicht war es ja genau das richtige für mich. Hier oben auf dem großen Balkon war ich ja ungestört. Da hörte ich Stimmen aus dem Garten rechts. „Die könnte ruhig mal Brennnesseln mähen, kann ja irgendeinem Schüler Geld fürs Rasenmähen geben, wenn sie es nicht hinkriegt. Weißt Du, wie sie neulich wieder am Zaun stand und zur Kuhwiese rüber glotzte? Ich krieg echt zu viel mir ihr.“ „Aber Schatz. Sie hat uns doch nichts getan. Hör auf so schlecht über sie zu reden. Die Kinder kriegen es doch auch mit.“ Und ich, dachte ich. Und Frau Senfrott, der ich das Du angeboten hatte. Also Maricella. Was war daran clean und was war daran cool? Ich seufzte und sagte mir, dass die Praxis gut laufen muss und dass alles andere egal ist. Ich ging zurück in die Wohnung, zerrte die Matratze hinter mir her und schloss die Glastür. Ich dachte daran, dass die gemeine Nachbarin irgendwann Kehlkopfkrebs bekommen würde, weil sich all der Hass irgendwo lokalisieren würde. Vielleicht auch Brustkrebs, was häufig vorkam, wenn eine Frau Vorbehalte gegenüber einer anderen Frau hatte. Ich schüttelte mich, hüpfte, bewegte Arme und Beine und den Kopf und hatte das Gefühl, dass ich jetzt wieder etwas befreiter von all dem unnützen Groll wäre. Ich riss alle Fenster auf, um gründlich durchzulüften. Irgendwo wird wohl mein Unbehagen hingeflogen sein; hoffentlich konnte man dort damit umgehen. Als ich mich zum Schlafen nackt auf die Matratze legte, hörte ich ein leises Wimmern oder Weinen aus der unteren Wohnung. Ich seufzte. Es würde dauern, bis ich einschlafen konnte, dachte ich. Das war mein erster Gedanke. Aber zeigt sich darin nicht die Abschottung, die abgestumpfte Wahrnehmung der Dinge, die außerhalb unseres eigenen, abgegrenzten Wohnfeldes stattfinden? Das alles ist genauso wirklich wie ich in meiner Wohnung. Und doch bin ich nur hier, hier in diesen vier Wänden und unter mir ist ein Mensch sehr verzweifelt. Sollte ich nachfragen, ob es ihr gut geht? Dieser Frau, die ich schon von Anfang an etwas seltsam fand. Ich setzte Teewasser auf und nahm zwei Teebeutel des Gewürztees aus der Pappverpackung. Auf dem einen Teefähnchen stand „Im Vergeben zeigt sich Größe“, auf dem anderen „Gehe nur Wege mit Herz“. Während ich auf den heißen Tee in der Tasse pustete, wurde das Wimmern leiser und schließlich war es ganz still. Und dann, ich weiß nicht warum -ich konnte es auf nichts beziehen, an nichts festmachen- hatte ich plötzlich das Gefühl, dass es doch richtig war, dass ich hier eingezogen war. Das es genauso sein sollte, dass dies mein Wohnort war. Genau hier sollte ich sein. Jeden Tag zu meiner Arbeit gehen, jeden Tag hierher zurückkommen.




Sie dachte an die Jahre, in denen sie noch mehr gekämpft hatte. In denen sie hart gewesen war gegen sich und vielleicht auch gegen andere… Die Jahre, in denen sie noch das Gefühl gehabt hatte, Teil dieser Gesellschaft zu sein, ein Teil des Uhrwerkes, dass frische Brötchen, neue Gebäude, frisch gestrichene Fassaden, bepflanzte Gräber, Menschen auf den Straßen, Tageszeitungen und all die anderen Dinge, die die modernen Gesellschaften auf der Erde ausmachen. Sie hatte serviert und geputzt. Das war alles gewesen. Den Rest der Zeit hatte sie für den Weg zur Arbeit oder nachhause benötigt und um sich auszuruhen und etwas zu essen und zu trinken. Sie war weniger leistungsfähig als die meisten Menschen; sie hatte sich nie vorstellen können, wie man so viel Energie aufbringen konnte und abends oder am Wochenende nach dem duschen wieder nach Draußen zu gehen… unter Menschen…reden, tanzen… Maricella würde all denen, all diesen glücklichen, starken Menschen gern etwas sagen. Sie würde sie fragen, ob sie sich vorstellen können, wie das ist, morgens einen Liter Kaffee zu trinken, damit das Herz schnell genug schlägt für die Arbeiten, die sie verrichten musste. Und wie es sich anfühlt, wenn das Herz schneller schlägt, als die Gedanken. Wenn man alles wahrnimmt, alles mitbekommt, aber einen Tag braucht, um es zu verarbeiten. Und zwei Tage um darauf reagieren zu können, vielleicht sogar angemessen. Wie es ist, wenn man nur ein normales Leben wollte und man in so vielen verwirrenden Erinnerungen schwimmt, immer kämpfen muss um nicht darin unterzugehen. Wenn du einigermaßen würdevoll aussehen möchtest, nicht so heruntergekommen, während Du bemerkst, dass andere Wert darauf legen eine besondere Handtasche zu besitzen. Sie möchte schreien, aber stattdessen laufen nur ein paar Tränen ihre Wangen hinunter. Weißt Du, wie das ist, wenn Deine Seele ein Abenteurer ist und Dein Verstand in Tabletten liegt. Sie wischt die Tränen ab und geht in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen und einen Schokoriegel zu holen. Sie hat noch die schnellen Bewegungen, die sie an ihrem Arbeitsplatz machen musste, um Kaffee für Kunden aufzubrühen. Lächerlich, denkt sie, dass man die Angestellten dort „Barista“ nannte, wo sie nur ständig irgendwelche Knöpfe drücken oder Hebel ziehen mussten…Mit der Tasse Kaffee und dem Schokoriegel sitzt sie an der offenen Terrassentür und wird etwas ruhiger. Einfach nur die Natur anschauen, denkt sie und lächelt. Irgendjemand muss ihr das irgendwann beigebracht haben, wie man sich beruhigt. Oh, irgendwo ist immer etwas Ruhe, an der man sich beruhigen kann…Wie schön, wenn es morgens und abends nun länger hell blieb… Überall zeigte sich die Erleichterung darüber, nun mehr von den Tagen zu haben. Die Vögel überschlugen sich in ihren Lobesliedern und die Hummeln begannen um die frischen grünen Blätter zu den ersten Blütenstäuben zu fliegen. Maricella dachte, dass sie schlecht behandelt worden war, in ihrer Kindheit und nachdem diese Personen aus ihrem Leben verschwunden waren, hatte jeder, der nun an ihren Platz trat, die gleiche Rolle gespielt. Das sind die Energien, dachte Maricella, die vielleicht nur durch ein Übermaß an unzweckmäßiger freundlicher Hinwendung umgewandelt werden konnten. Und sie wusste, dass es Menschen gab, die diese Kraft aufbringen konnten, aber sich war sich nicht sicher, ob sie jemals so jemandem begegnen würde. Und ehe sie etwas dagegen tun konnte, saß sie wieder da, die Augen so starr nach vorne gerichtet, dass alles davor zu einem wässerigen olivgrün mit ein paar helleren und dunkleren Stellen verschwamm. Auch ihr Körper war ganz starr geworden und obwohl die Art wie sie da in dem Plastikstuhl saß, sehr unbequem wurde, bewegte sie sich nicht. Manchmal verfiel sie in eine solche Starre, irgendwie war es auszuhalten. Es war auf jeden Fall besser als die Alpträume. Es konnte Sekunden dauern, ehe sie sich wieder bewegte, oder Minuten. Manchmal auch länger. Danach war es, als wäre sie aus einem Nichts wiedergekehrt, einem Nichts, das alles wusste, all den Schmerz und die Demütigungen. Ein Nichts, das das Meer der Verzweiflung kannte und das eine Art Gewissen hatte, so wie es allwissend war. Was sie einfror, ahnte Maricella. Zwar konnte sie sich nicht immer an alles erinnern, aber die Bilder und Momente wurden nun nicht mehr von ihrer Mutter zensiert. Sie hatte jetzt etwas mehr Würde: sie konnte sich ihre Wahrnehmung zugestehen und musste sich nicht mehr dafür schämen dass sie diese Bilder und Momente in sich trug. Sie waren da, mal deutlicher und mal undeutlicher und das machte keinen Unterschied mehr. Es war so langer her, durch die Jahrzehnte hatte sie sich an ihre Innenwelt gewöhnt, die ihr ein Rätsel bleiben musste, ob sie wollte oder nicht. Es gab keine Zeugen. Sie war allein gewesen, so lange sie denken konnte. Aber sie war milder geworden. Sie hatte sich daran gewöhnt, die Stimmung und Geistesverfassung anzunehmen, die der Tag ihr bot. Sie saß oft stundenlang da, ein Buch in der Hand, ein paar Sätze lesend und wieder pausierend, den Kopf zurückgelegt, die Augen halb geschlossen. Auch dann war sie in diesem Nichts. Und es mag ein kostbares, wundervolles Nichts sein, wenn man schon alles Schlechte vergessen kann, wenn es ausgeglichen wurde durch gutes und sich auflösen konnte. Wenn man jedes der schlechten Gefühle so stark gespürt hat, nur das Gefühl ganz klar und stark spürt.. ohne alles was an Geschichten und Vorkommnissen daran hängt, nur das Gefühl für sich ganz klar, ganz stark spürt… bis es irgendwann etwas weniger wird, etwas leichter, bis es dann ganz durch einen hindurch gezogen ist…

Maricella nimmt ihre altmodische Handtasche mit der Geldbörse und einer dünnen Stofftasche darin und verlässt ihre Wohnung um einkaufen zu gehen. Es ist immer dasselbe: vier Päckchen Schokoladenkekse, eine Dose Cappuccino, ein paar Bananen, eine Tüte Äpfel, drei Tüten Chips und zwei Flaschen Fanta und die beiden Pakete Zigaretten. Seit kurzem kaufte sie keine Schokoladenkekse mehr, sondern drei Tüten Popcorn. Das hatte sich einfach so ergeben. Der Wocheneinkauf. Sie steigt in ihren alten hellblauen Mercedes mit der Roten Tür auf der Fahrerseite und den rostigen Kotflügeln. Die Handtasche legt sie nicht ab, der Anschnallgurt quetscht sie an ihre Hüfte und die Geldbörse schaut jetzt oben aus der Tasche heraus. Der Wagen startet und mit ihm die CD mit allen Songs von Bob Dylan. Manchmal traurig, manchmal sarkastisch, manchmal etwas beschwingter. Aber nie schnulzig oder unangreifbar glatt oder gefällig. Maricella will sich eine Zigarette anzünden und wühlt mit der rechten Hand in ihrer Handtasche, bis sie das Päckchen zu fassen bekommt und herausziehen kann. Sie nimmt sich eine Zigarette heraus und lässt es auf den Nebensitz fallen. Das Feuerzeug liegt vor ihr auf der Ablage unter dem Frontfenster der röhrenden alten Karre. Sie dreht die Musik lauter, während sie genüsslich raucht. Ihre traurigen Augen wirken hinter den Brillengläser immer sehr groß, stellt sie zu wer-weiß-wievielten Mal beim Blick in den Spiegel fest. Bob Dylan lässt mich nicht allein, denkt sie und es ist fast so, als würde er durch seine Songs ihre Würde erhalten, vielleicht ihr nur das Gefühl geben eine Berechtigung zu haben auf dieser Welt zu leben, nur damit es auch so Jemanden wie sie gibt. Ihre Augen werden wieder etwas feuchter, aber die spröde, absolut ernst gemeinte Stimme von Bob Dylan lässt sie daran glauben, dass es möglich ist ein Teil von der Welt zu bleiben, ohne ihr zuzustimmen. Sie parkt den Wagen, steigt aus und knallt die rote Fahrertür hinter sich zu. An der Kasse muss sie feststellen, dass ihre Geldbörse fehlt. Sie lässt die Einkäufe zurück und beginnt, den Boden des Wagens abzusuchen. Ihre sehnigen Arme fuchteln wie wild herum, während sie ihren dicken Hintern in die Luft streckt. Sie denkt, dass es gut ist, dass sie heute eine kurze Hose über die durchsichtige fleischfarbene Strumpfhose angezogen hat. Ihr Kleid ist nicht sehr lang, was vielleicht damit zu tun hat, dass sie wieder zugenommen hat. Am Bauch und an den Oberschenkeln. Die Geldbörse ist nicht zu finden. Aber die Finger ihrer rechten Hand stoßen gegen etwas Metallisches. Sie erschrickt und weicht kurz zurück. Dann duckt sie sich tiefer, noch tiefer. Unter dem Beifahrersitz liegt eine Metalldose, eine alte Keksdose. Maricella schluckt. Die Dose kommt ihr bekannt vor. Sie lehnt sich zurück, setzt sich auf den Boden, den Rücken gegen die Innenseite der offenen Autotür gelehnt. Ihr Herz schlägt schneller, immer schneller. Eine Frau mit einem vollen Einkaufswagen bleibt neben ihr stehen und fragt sie, ob alles in Ordnung sei. Maricella nickt und steht langsam auf. Dann steigt sie in den Wagen und fährt nach Hause. Bob Dylan singt „Like a rolling stone“ und so fühlt sie sich auch. Sie parkt den Wagen vor dem Haus. Sara Malchin kommt gerade an, wie jeden Spätnachmittag. Ihre Art zu gehen hat immer etwas Reines, Frisches. Genau wie die helle Kleidung, die sie trägt. Auf ihr kurzes Winken folgt ein knappes Nicken von Maricella. Und schon ist Sara Malchin im Hauseingang verschwunden. Maricella nickt noch einmal, als ob sie etwas verstanden hat. Und das hat sie. Die alte Keksdose unter dem Beifahrersitz ist innen drin dunkler als alles andere. Ein Loch, das alles verschlingt, dass den Rest von ihr, Maricella verschlingen könnte und wie soll Bob Dylan etwas dazu sagen mit einem Song? Gibt es überhaupt einen Song für die alte Keksdose unter dem Beifahrersitz? Maricella zittert. Sie hat das Lenkrad umklammert, als gelte es den parkenden Wagen durch ein Meer aus meterhohen Wellen zu lenken. Dann, ganz plötzlich, schlägt sie mit ihrer rechten Hand auf ihren linken Unterarm. Jetzt bin ich wach, denkt sie, beugt sich hinunter und schnappt sich die alte Keksdose. Sie schaut sie an, als wäre sie ein frisch gefangener Fisch, den sie jetzt erschlagen muss. Und dann wird ihr klar, dass es nur Musik gibt für Reaktionen auf die alte Keksdose. Die Keksdose an sich ist still und stumm.

Drei Tage stand die Keksdose jetzt oben auf dem Bücherschrank. Ich habe gehofft, ich vergesse sie, denkt Maricella. Aber wenn mir das jemals ganz gelungen wäre, dann wäre mein Leben wohl anders verlaufen. Sie zittert. Ich habe keine Wahl, denkt sie. Ich muss das Ding öffnen. Aber was, wenn sie leer ist? Was, wenn der Inhalt fehlt? Wäre das nicht ein Segen? Vielleicht war der Inhalt zu dem richtigen Menschen geflattert und hatte etwas bewirkt in dieser gottverdammten Zeit, in dieser Zeit der Schleimscheißer und Unter- den- Teppich- Kehrer. Sie schüttelt den Kopf. Als sie die Dose getragen hatte, war kein Geräusch zu hören, dass auf einen Inhalt hätte hinweisen können. Um sich abzulenken, setzt Maricella sich an ihren alten Computer und geht in das Internet. Sie lächelt. Ihr Profil macht den Eindruck, sie sei jung. Vielleicht Mitte zwanzig. Sie hat es mit ihrem vollen Namen versehen, Maricella Semsrott. Trotzdem ist es ein jüngerer Mensch, der sich virtuell in Diskussionen über die Rechte von Kindern und härtere Strafen für Tierquäler einmischt. Sie lächelt. Oh, eine neue Freundschaftsanfrage… Sie steht auf und setzt Wasser zum Kochen auf. Ein Tee.. eine Tasse Tee … energisch zieht sie den Teebeutel aus dem Papier und wirft ihn in die Tasse. Sie greift zur Zuckerdose. Fünf Mal taucht sie den Teelöffel in das leicht glitzernde Weiß und leert ihn in der Tasse. Der Teebeutel liegt nun begraben unter einer weißen körnigen Schicht. Maricella atmet tief durch. Das Herz schlägt viel zu schnell. Das Wasser kocht. Sie schüttet es in die Tasse, bis die bis zum Rand voll ist… grünlich mit einem Faden, an dem ein Papierfähnchen hängt.. und an der anderen Seite schwimmt ein nasser Teebeutel. Maricella denkt an einen Fötus. Tränen steigen in ihre Augen. Sie schluckt und wischt sich mit der Handfläche über die Augen. Entschlossen blick sie aus dem Fenster, entschlossen zu nichts. Draußen beginnt es zu Grünen. Ein Schwellen und Platzen, ein Knospen und Wachsen… Sie zieht etwas Flüssiges in ihrer Nase hoch, schluckt, wischt sich einen Tropfen an ihrer Nasenspitze mit der Hand weg… Mit der Tasse in der Hand kehrt sie zu ihrem Schreibtisch zurück, auf dem der Computer steht. Sie setzt die Tasse neben der Tastatur ab und ihr dicker Hintern plumpst in den Stuhl. Freundschaftsanfrage… Timothy M. Graue Haare, sehr gepflegt. Ein Kind neben ihm. Zierlich, vielleicht zehn Jahre alt. Ein Mädchen mit Zahnspange, lächelnd, lange wellige, kastanienbraune Haare. Unfallchirurg. Aus Illinois, Usa. Wohnhaft in Kiel, Deutschland. Ein Blumenstrauß aus rosa Rosen als Profilbild. Sie wird eine Nacht darüber schlafen. Am nächsten Morgen bestätigt sie die Freundschaftsanfrage.






Die Macht der Doshas

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