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Kapitel Drei

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Voller Vorfreude fuhr Pia in die Tierklinik, um Finley abzuholen. Er hatte sich zurück ins Leben gekämpft und befand sich auf dem Wege der Besserung. Der Rüde würde ihr mit Sicherheit über den Verlust von Afra hinweghelfen und den seelischen Schmerz lindern.

Die Nacht von Sonntag auf Montag hatte sie mehr schlecht als recht überstanden. Dieses Katzengekreische, dieses Jammern und Greinen hatte ihr den Schlaf geraubt und sie fast die ganze Nacht wachgehalten. Im Haus selbst blieb es Gott sei Dank still. Sie vermisste Felix so schrecklich … und Afra erst …

Die Woche würde wieder entsetzlich lang werden und schon jetzt zählte sie die Nächte. Diese Schritte und diese Träume, alles wirkte auf eine gewisse Weise bedrohlich. Aber es gab auch einen Lichtblick am Horizont.

Schon morgen würde ein Bauunternehmen mit dem Ausheben der neuen Kleinkläranlage hinter dem Stall beginnen. Die alte Sickergrube war total versackt und die Gemeinde hatte ihr dieses teure Übel auferlegt. Zuerst hatte sie über die Kosten gestöhnt, aber jetzt war sie froh darüber, dass sich die Arbeiter auf dem Grundstück tummelten.


Endlich hatte sie die Tierklinik erreicht. Sie musste sich noch einen Moment gedulden und wartete gespannt auf ihren neuen Mitbewohner. Die Gedanken an die hohe Tierarztrechnung schob sie beiseite und ließ nur die Vorfreude auf Finley zu.

Endlich wurde sie ins Sprechzimmer gebeten. Der Rüde stand schon auf dem Behandlungstisch und blickte ängstlich in die Runde. Sein Blick war jedoch klar und die ehemals eitrigen Augen verschwunden. Nur der grässliche Geruch haftete noch an ihm. Zuhause würde sie ihn sofort in die Wanne stecken, komme, was da wolle.

„So, unser kleiner Filou scheint über den Berg zu sein“, zeigte sich der Tierarzt optimistisch. „Wenn Sie möchten, dürfen Sie ihn mit nach Hause nehmen. Geben Sie ihm ein hochwertigeres Futter, damit kommt er schneller auf die Beine.“ Er verabschiedete sich mit einem Handschlag und eilte zu seinem nächsten Patienten.

Pia legte Finley Halsband und Leine an und hob ihn vom Tisch. „Na, magst du mitkommen?“ Verhalten wedelte der Collie mit seiner Rute und wusste nicht so recht, was sie von ihm erwartete. Behutsam bugsierte sie ihn in Richtung Auto. Diesmal nahm er in der Transportbox Platz und schnüffelte interessiert an den vorhandenen Gerüchen. Dann legte er sich hin, als wäre es nie anders gewesen.

Zügig manövrierte Pia den Wagen zurück zum Gehöft, denn Biene war allein zu Hause geblieben. Die Hündin hatte so ihre Probleme mit dem Alleinsein und saß meist völlig verzweifelt in einer Ecke, während sie hohe Klagelaute ausstieß. Die jahrelange Vernachlässigung hatte tiefe Narben auf ihrer Seele hinterlassen.

Es dämmerte bereits, als Pia den Hof erreichte. Kaum ausgestiegen, hörte sie Bienes Wimmern. Mit Finley im Schlepptau schloss sie die Haustür auf und wurde stürmisch begrüßt. Ohne zu Zögern widmete sich die Dackeldame dem Neuankömmling, umrundete ihn und beschnupperte sein Hinterteil. Der Rüde stand steifbeinig im Flur und wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte.

„Das wird schon“, ermunterte ihn Pia. „Die anderen haben es auch gelernt.“ An der Leine führte sie ihn durch alle wichtigen Räume und zeigte ihm seine Schlafstätte. Ohne viel Federlesen nahm er sofort Afras Körbchen in Beschlag und blickte Pia treuherzig an.

„Na, hast du dir vorgenommen, dem Felix Konkurrenz zu machen? Seinen Blick hast du jedenfalls schon drauf.“ Zärtlich massierte sie ihm ein Ohr. „Aber jetzt wartet erst einmal eine Dusche auf dich, du kleiner Stinker.“

Vorsichtig hob sie ihn hoch und stellte ihn in die Wanne. Wie ein ausgefranster Wischmopp stand er da, zitterte und erduldete das warme Nass. Pia schäumte ihn ordentlich ein, bis die dreckige Brühe im Abfluss verschwand. Nachdem er sich geschüttelt und die Wassertropfen großzügig verteilt hatte, wickelte sie ihn in ein großes Badehandtuch und rubbelte ihn trocken. Den Fön wollte sie ihm ersparen.

Die Schere lag schon griffbereit und nun ging es ans Eingemachte. Großzügig schnitt sie Finley das verfilzte Fell vom Leib und der Rest wurde mit einer Bürste ausgekämmt. Nach dieser Prozedur flüchtete er mit eingekniffener Rute aus dem Bad zurück in Afras Körbchen. Pia verzog sich hingegen in die Küche und bereitete ihm eine Mahlzeit mit dem Aufbaufutter zu, welches ihr der Tierarzt mitgegeben hatte.

Anschließend hockte sie sich neben das Körbchen und fütterte ihn mit der Hand. Das förderte die Bindung und Biene konnte ihm nichts wegfressen. Zu Pias Freude verschlang der Rüde den gesamten Inhalt des Napfes. Es ging tatsächlich aufwärts mit ihm. So allein mit Biene war ihr doch ein wenig mulmig zumute und sie freute sich über Finleys Gesellschaft.

Um den Rüden nicht noch mehr zu verunsichern, ließ sie den Fernseher aus. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er je in einem Haus gelebt hatte. So wurde es ein eher langweiliger Abend auf der Couch und kurze Zeit später suchten die drei das Schlafzimmer auf.

Der Rüde fiepte noch ein paar Minuten leise vor sich hin, was ihm Pia bei all dem Stress der letzten Tage nicht verübeln konnte. Mit sanfter Stimme sprach sie auf ihn ein und er beruhigte sich schnell. Nach einer Weile herrschte eine friedliche Stille.


Ein anhaltendes Geräusch riss Pia aus dem Tiefschlaf und hastig knipste sie das Licht an. Diesmal stand die Dackeldame mit hoch erhobener Rute und aufgerichtetem Nackenfell laut knurrend vor der Tür. Obwohl Pia angestrengt lauschte, hörte sie keinen Mucks und lockte Biene wieder zurück aufs Bett. Nur sehr widerwillig gehorchte die Hündin.

Pia zog die Bettdecke wieder bis zur Nasenspitze und löschte das Licht. Warum hatte Biene sie ausgerechnet jetzt geweckt? Mit etwas Glück hätte sie die Nacht durchgeschlafen, ohne sich mit irgendwelchen Ängsten auseinandersetzen zu müssen. Aber sie konnte ihrer Dackeldame nicht wirklich böse sein.

Gähnend rollte sie sich unter der warmen Bettdecke wie ein Embryo zusammen und döste langsam wieder ein.

Mitten in die Stille hinein knarrte im oberen Flur eine Tür. Wie von der Tarantel gestochen fuhr Pia auf und ihr Herz hämmerte wild gegen die Rippen. Hatte sie sich eben verhört oder war dieser Laut echt gewesen? Biene hüpfte erneut vom Bett und bestätigte Pias Vermutung. Auch Finley hob neugierig seinen Kopf und beobachtete das fragwürdige Verhalten seiner neuen Familie.

„Biene“, flüsterte Pia beunruhigt, „komm zurück aufs Bett.“ Doch die Dackeldame dachte nicht daran und knurrte drohend. Verdammt, bei dem Lärm, den die Hündin verursachte, konnte sie nichts hören. Felix hatte wie versprochen treu und brav die Schlösser ausgewechselt und demzufolge war es unmöglich, dass hier ein Einbrecher sein Unwesen trieb.

Nach einigen Minuten hatte sich Biene wieder beruhigt und machte es sich am Fußende bequem. Nur ihre Ohren verharrten noch in der Lauschposition.

Pias Rücken schien mit dem Kissen zu verwachsen, so verängstigt presste sie sich an die Wand. Genau über dem Schlafzimmer vernahm sie jetzt scharrende Schritte und unterdrückte nur mit Mühe und Not einen Aufschrei. Das war zu viel für ihre Nerven. Warum hatte sie ihr Smartphone bloß auf dem Küchentisch liegen gelassen? Sie hätte Carina darum bitten können, sofort zu ihr zu kommen, um ihr beizustehen. Wozu waren schließlich beste Freundinnen da? Aber sie traute sich einfach nicht, das Bett zu verlassen.

Als das Licht der Nachttischlampe für einen kurzen Moment flackerte, war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei. Hemmungslos schluchzend zog sie sich die Decke über den Kopf. Nein, das hier war nicht mehr witzig. Sämtliche Horrorfilme standen Schlange hinter ihrer Stirn. Vom Poltergeist bis zum Exorzisten, sie schauten alle in ihrem Schlafzimmer vorbei.

Pia wünschte sich Afra zurück, wünschte sich Felix an ihre Seite und wünschte sich an einen anderen Ort. Heulend wie ein Schlosshund wartete sie darauf, dass die Geräusche über ihr verstummten. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Langsam rutschte sie wieder in die Waagerechte, wagte aber nicht, das Licht zu löschen. Noch immer hatte sie die Bettdecke über ihren Kopf gezogen und nur das Licht schimmerte hindurch.

Mit der Zeit beruhigte sich ihr Herzschlag. Biene schlief bereits tief und fest, und nur ihre Pfötchen zuckten. Auch Finleys Atemzüge klangen gleichmäßig. Mehrmals nickte Pia ein, um dann erschrocken hochzufahren.

Als am Morgen der Wecker klingelte, empfand sie es fast schon als Gnade, endlich aufstehen zu dürfen


Das Gassigehen mit Finley gestaltete sich komplizierter als erwartet. Während er gestern brav an der Leine gelaufen war, protestierte er heute gegen diesen Zwang. Pia hatte Angst, dass er aus dem Halsband schlüpfte und entwischte. Ehe es dazu kam, kehrte sie lieber um.

Nach dem Frühstück steckte sie Finley und Biene in die Transportbox und fuhr zur Arbeit. Verstimmt und unausgeschlafen tippte sie Rechnungen, schrieb Angebote und erledigte die restliche Korrespondenz. Glücklicherweise verhielt sich Finley im Büro angenehm ruhig. Er war noch viel zu schwach und blieb den ganzen Tag im Körbchen liegen. Biene tat es ihm gleich. Hundesenioren hatten durchaus ihre Vorteile. Sie forderten kaum noch Aktivitäten ein, schliefen viel und waren dankbar für jede Streicheleinheit.

Nach dem Feierabend schaute Pia noch im Tante-Emma-Laden vorbei, denn das Shampoo war ihr ausgegangen. Kaum stand sie im Gedränge an der Kasse, klingelte ihr Smartphone.

„Hi Carina, wie geht es dir? Gut? Das freut mich. Nein, bei mir läuft es nicht so rund. Die Geräusche im Haus machen mir ordentlich zu schaffen, besonders nachts. Das hört sich alles ziemlich gruselig an und ich fühle mich nicht wohl. Ja, einsam ist es da draußen. Aber das wird schon wieder. Wäre schön, wenn du mal wieder vorbeikommst. Freitag? Wirklich? Toll, ich freue mich!“

Gerade als Pia ihre Einkäufe im Kofferraum verstaute, trat eine ältere Dame an sie heran. „Darf ich Sie etwas fragen?“

„Nur zu, Sie dürfen“, erwiderte Pia höflich.

„Sind Sie die neue Besitzerin des Gehöftes?“ Ihre wachen Augen huschten über Pias Gestalt, während die vielen Falten von einem bewegten Leben erzählten.

„Ja, die bin ich.“

„Tut mir leid, dass ich Sie an der Kasse belauscht habe, aber kennen Sie denn gar nicht die Geschichte dieses Hofes?“

„Nein. Der Makler hat nichts erwähnt, was mich von einem Kauf abgehalten hätte.“

„Hat er nicht? Nun ja. Einen Mord soll es dort gegeben haben, munkelt man.“

„Sind Sie sich da ganz sicher?“ Pias ungläubiges Gesicht sprach Bände.

„Wissen Sie, junges Fräulein, damals hatte man anderes zu tun, als sich um diese drei Leichen zu kümmern. So kurz vor dem Kriegsende gab es schließlich genug andere Tote zu betrauern und die Besitzerin des Hofes soll ein kaltes Weib gewesen sein. Ohne viel Aufsehen zu erregen wurden die Leute zu Grabe getragen und mit keinem Wort mehr erwähnt.“

„Also gibt es keine Aufzeichnung darüber oder Ähnliches?“

„Nein, Papiere werden sie vergeblich suchen, es gab keinen Arzt mehr im Ort. Der war an der Front, genauso wie jeder andere brauchbare Mann. Wer hätte denn eine genaue Todesursache feststellen sollen? Vielleicht ist auch Selbstmord nicht auszuschließen? Viele treue Anhänger der damaligen Zeit haben den Freitod gewählt. Nicht nur Hitler hat seinem Leben auf diese Weise ein Ende bereitet.“

„Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll“, stammelte Pia verwirrt.

„Manchmal geben die Mauern ihre Vergangenheit preis. Passen Sie gut auf sich auf, so allein da draußen. Vielleicht sollten Sie den Hof besser verkaufen.“

„Aber ich bin doch gerade erst eingezogen!“

„Die Leute erzählen sich immer wieder, dass es dort draußen spukt. Sie wollen Lichter am Fenster gesehen oder Kinderweinen gehört haben. Nicht umsonst sind die Gebäude so verfallen. Keiner aus dem Dorf wollte dieses Grundstück kaufen.“

„Seltsam. Jedenfalls werde ich wachsam sein und aufpassen. Haben Sie vielen Dank!“

„Nichts zu danken, junges Fräulein, nichts zu danken.“

Die ältere Dame stützte sich auf ihren Stock und humpelte davon. Pia stand wie vom Donner gerührt neben ihrem Wagen. Waren es doch keine jammernden Katzen gewesen, sondern echtes Kinderweinen? Oh nein, wie ihr vor der kommenden Nacht graute. Hastig fischte sie ihr Smartphone aus der Hosentasche und tippte Carinas Nummer ein.

„Entschuldige Carina, ich bin es noch einmal. Du, ich brauche deine Hilfe und sag bitte nicht Nein. Würdest du deinen angekündigten Besuch auf den heutigen Tag vorverlegen? Wie, du hast schon etwas vor? Bitte Carina, lass mich nicht hängen, ich kann unmöglich noch eine weitere Nacht allein in diesem Haus verbringen. Also darf ich auf dich zählen? Danke, du bist ein Schatz!“

Erleichterung machte sich breit. Nicht auszudenken, wenn die Freundin abgesagt hätte. Nach diesem aufwühlenden Gespräch konnte sie unmöglich allein bleiben. Gut, das Elternhaus wäre noch eine Option gewesen. Aber welche Erklärung hätte sie ihrem Vater auftischen sollen? Er war sowieso gegen den Kauf des Gehöftes gewesen und würde darauf drängen, dass sie das Anwesen letztlich doch verkaufte.

Es dämmerte bereits, als sie in der Hofeinfahrt hielt. Der November war nicht gerade ihr Lieblingsmonat. Nässe, Kälte, Dunkelheit - wie geschaffen für einen Horrorfilm. Finley folgte ihr brav ins Haus und suchte die Wärme. Er war noch so entsetzlich mager und es würde einige Zeit brauchen, bis er sich eine gesunde Fettschicht angefressen hatte.

Sie verstaute gerade ihre Einkäufe, als sie ein Motorengeräusch hörte. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte ihre Vermutung, Carinas Wagen parkte bereits vor dem Eingang. Erleichtert riss sie die Haustür auf und umarmte die Freundin.

„Was bin ich froh, dass du da bist! Ich fühle mich ziemlich unwohl allein.“

„Pia, wir konnten alle nicht verstehen, warum du unbedingt auf den Hof ziehen wolltest. Gestehst du wenigstens jetzt deinen Fehler ein?“

„Nein. Später wohnt doch Felix bei mir und wir haben viele Tiere, dann gibt es keinen Grund mehr, um sich zu fürchten. Und in puncto Vorwürfen kannst du dich gerne hinten anstellen.“

„Das überhöre ich großzügig. Aber jetzt mal im Ernst, warum soll ich bei dir übernachten?“

„Also“, Pia holte tief Luft. „Immer wenn ich allein bin, höre ich seltsame Geräusche. Manchmal sind es schlurfende Schritte vor meiner Schlafzimmertür oder Kinderweinen außerhalb des Hauses. Immer öfter träume ich wirres Zeug, dass ich schwanger bin und mir jemand mein Kind aus dem Bauch reißen möchte. Wenn Felix neben mir schläft, ist alles in bester Ordnung. Keine Träume, keine Schritte, nichts. Vorhin im Laden hat mich eine alte Frau belauscht und mir brühwarm erzählt, dass hier ein Mord geschehen sein soll.“

„Tatsächlich? Und welche Aufgabe habe ich dabei?“

„Ich möchte einfach wissen, ob ich mir das Ganze nur einbilde. Und nach dem, was mir die ältere Dame erzählt hat, will ich die kommende Nacht auf keinen Fall allein verbringen.“

Carina rieb sich die Hände. „So etwas wollte ich schon immer einmal machen, in einem richtigen Spukhaus übernachten. Weißt du eigentlich, was die Briten für eine Übernachtung in so einem Haus kassieren? Der reinste Wucher.“

„Ein Hoch auf dein Gemüt, dann würde mir der ganze Spuk überhaupt nichts ausmachen. Letzte Nacht habe ich mir vor lauter Angst die Decke über den Kopf gezogen und wie ein Schlosshund geheult.“

„Kann es vielleicht sein, dass du so durcheinander bist, weil dir deine Afra fehlt?“

„Meinst du? Na, wir werden ja sehen, was heute Nacht passiert. Komm mit ins Wohnzimmer, dort können wir in Ruhe weiterreden.“ Pia zog ihre Freundin am Ärmel hinter sich her.

„Na Hallo, wer bist du denn? Dich kenne ich ja noch gar nicht.“ Carina hockte sich zu Finley und kraulte ihn hinter den Ohren. „Wo hast du den Süßen denn aufgegabelt?“

Pia hob beschwichtigend die Hände. „Ich bekenne mich schuldig, den Rüden aus einer Scheune gestohlen zu haben. Er war halb verhungert, da konnte ich ihn nicht zurücklassen.“

„Wirst du ihn behalten?“

„Ich denke schon. Er versteht sich mit Biene und fühlt sich hier ausgesprochen wohl.“

„Tja Finley, sieht so aus, als hättest du einen Sechser im Lotto gezogen. Bei Pia wirst du nämlich richtig verwöhnt.“

„Apropos verwöhnen, möchtest du eine Pizza zum Abendessen? Dann schiebe zwei davon in den Backofen.“

„Du weißt doch, ich esse alles, was auf den Tisch kommt.“

Carina lachte und kniff in ein kleines Speckröllchen an ihrer Hüfte. Seit dem Teenageralter kämpfte sie vergebens gegen ihr leichtes Übergewicht. Pia fand, dass Carina sehr viel Selbstvertrauen ausstrahlte und sich trotz ihrer Pfunde durchaus sehen lassen konnte.

Die Freundin war klug, witzig, hilfsbereit und die freche Kurzhaarfrisur unterstrich ihre aufgeschlossene Persönlichkeit. Und was Männer anbetraf, so war sie etwas sprunghaft und probierte gern Neues aus. Carina als Rubensfrau stand ziemlich hoch im Kurs, trotz der Magermodels, die ständig die Medien überschwemmten. Nur ihren persönlichen Mr. Right, den hatte sie bis jetzt noch nicht gefunden.


Am späten Abend lagen die Freundinnen im Doppelbett und quatschten über Gott und die Welt.

„Danke, dass du vorbeigekommen bist, ich weiß das sehr zu schätzen.“

„Das will ich doch hoffen, schließlich habe ich auch noch ein Liebesleben.“

„So? Mit wem denn? Habe ich da etwas verpasst?“ Pia klang belustigt und Carina zog einen Flunsch.

„Es könnte doch sein, dass ich wieder in festen Händen bin.“

„Stimmt, das könnte durchaus sein.“ Pia lachte.

„Ja ja, mach dich ruhig über mein Liebesleben lustig.“

„Ach Carina, du erzählst mir immer brühwarm von jedem Kuss und plötzlich verschweigst du mir den Mann des Jahrhunderts?“

„Na und? Du hast leicht reden mit deinem Traumprinzen Felix. Schau ihn dir doch an, blond, blauäugig - natürlich im positiven Sinne - groß und ziemlich gut gebaut. Von seiner treuen Art ganz zu schweigen.“ Carina seufzte theatralisch. „Du bist wirklich zu beneiden, weißt du das? Ich darf immer nur das Pferd des Prinzen füttern oder Heu holen.“

„Jetzt aber mal halblang. Die Pferde, die du alle gefüttert hast, kann doch keiner mehr zählen.“

Carina stimmte in das Lachen mit ein. Wenig später siegte die Müdigkeit und Pia löschte das Licht.

„Wenn ich schon einmal ein Gespenst sehen will, taucht keines auf“, murmelte Carina im Halbschlaf.

„Ich hatte tatsächlich gehofft, dass wir etwas hören. Tut mir leid, dass du umsonst hierhergekommen bist.“

„Keine Sorge, es tat gut über alles zu reden. Mir geht es danach immer gleich viel besser.“

„Ja, ich fand den Abend auch sehr schön. Aber jetzt sollten wir schlafen, wir müssen morgen früh raus.“

„Ich suche mir einen Millionär, dann kann ich immer ausschlafen.“ Carina kicherte leise.

„Ehrlich, du bist nicht zu toppen.“


Pia erwachte kurz vor drei und knipste verschlafen das Licht an. Ein heiserer Schrei folgte, als sie die Freundin aufrecht sitzend im Bett vorfand.

„Himmel, hast du mich erschreckt! Seit wann sitzt du denn hier? Kannst du nicht schlafen?“

„Doch, ich könnte schlafen. Aber ich müsste dringend wohin und habe mich dummerweise nicht getraut, weil mir diese Mordgeschichte wieder eingefallen ist.“

„Aber gehört hast du nichts?“

„Nein, nicht dass ich wüsste …“

„Gut, dann brechen wir gemeinsam auf, ich muss nämlich auch.“

Kichernd wie alberne Teenager schlüpften sie zuerst in das Badezimmer und anschließend wieder zurück unter die warme Bettdecke.

„Pia, ich würde hier allein wahnsinnig werden. Wie oft habe ich dich um die Ruhe und die Abgeschiedenheit beneidet. Besonders wenn ich in meiner Mietwohnung saß und der schwerhörige Opa von nebenan die Volksmusik wieder auf volle Lautstärke gedreht hat. Aber das ist jetzt meine erste Nacht bei dir und ohne dich würde ich stiften gehen. Alle Zimmer in der oberen Etage sind unbewohnt und gleich gegenüber vom Wohnhaus befinden sich die finsteren Ställe, in denen nicht einmal das Licht funktioniert. Das ist ein schauriges Gefühl.“

Carina schüttelte sich. „Sieh dir meine Arme an, Gänsehaut pur. Leerstehende Gebäude besitzen meist eine unheimliche Aura und dieser Umstand hat sicher nichts mit Geistern zu tun. Außerdem ist die Urangst vor der Dunkelheit tief in unseren Genen verankert.“

„Du hast ja recht, der Hof ist einfach zu groß für mich allein“, gab Pia kleinmütig zu. Plötzlich wurde sie hellhörig. „Pst! Ich glaube, es geht wieder los.“

Carina nickte. „Ja, ich kann die Schritte deutlich hören.“

Was die Freundin für ein spannendes Abenteuer hielt, brachte Pia fast um den Verstand. Carina war ein Vernunftmensch, und mit Sicherheit war das auch gut so. Sie konnte Pia am ehesten wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen.

Die schlurfenden Schritte entfernten sich von der Schlafzimmertür und kurz darauf knarrten die Treppenstufen. Pia saß mit einem gequälten Gesichtsausdruck im Bett und zitterte.

„Worauf wartest du? Lass uns sofort nachsehen, wer auf dem Flur sein Unwesen treibt!“

„Du willst jetzt da raus?“

„Natürlich. Schließlich müssen wir den Eindringling in seine Schranken verweisen.“

Carina zerrte Pia aus dem Bett und öffnete vorsichtig die Tür. Die oberen Stufen knarrten erneut und Carina drückte auf den Lichtschalter. Die Halogenleuchte flammte auf und gab den Blick auf die Treppe frei. Nichts.

„Das kann nicht sein? Eben war noch jemand auf der Treppe, ich bin doch nicht verrückt?“

„Was bin ich froh, dass du es auch gehört hast.“ Pia blies geräuschvoll die Luft aus ihren Lungen. „Und ich habe mich schon für einen notorischen Angsthasen gehalten, der Dinge sieht, die gar nicht vorhanden sind.“

„Keine Ahnung, was hier vor sich geht.“ Carina schob Pia zurück ins Schlafzimmer und verschloss die Tür. „Vielleicht solltest du einen Architekten beauftragen oder wer immer dafür zuständig ist. Wahrscheinlich sackt das alte Gemäuer ab und verursacht deshalb diese merkwürdigen Geräusche. Könnte doch sein?“

„Stimmt. An diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht. Trotzdem klang es irgendwie gruselig.“

„Wo du recht hast, hast du recht. Aber jetzt sollten wir endlich schlafen.“


Pias Schlafmangel machte sich besonders während der Arbeitszeit bemerkbar und sie trank einen starken Kaffee nach dem anderen. Früher hatte ihr die Arbeit immer Spaß gemacht, doch in letzter Zeit sehnte sie den Feierabend regelrecht herbei.

War der Kauf des Hofes vielleicht doch ein großer Fehler gewesen? Sollte sie besser klein beigeben und ihn wieder verkaufen? Wenn sie jetzt schon auf dem Zahnfleisch kroch, wie sollte sie dann die zwei Jahre durchhalten, bis Felix sein Studium beendet hatte?

Immerhin fing die Baufirma heut mit dem Aushub der Kläranlage an. Der Lärm und die fremden Leute sollten die Geister wohl vertreiben.

Vermächtnis der Schuld

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