Читать книгу Ondine - Der Kuss der Meerjungfrau - Anaïs Goutier - Страница 4

Kapitel 1

Оглавление

chroffe Bergketten und liebliche Täler, besiedelt von mannigfaltigen Pflanzen in üppiger Pracht und von unzähligen exotischen Tieren in allen erdenklichen Farben, das war des Meerkönigs Reich. Wo das Wasser am klarsten und am reinsten, sein Blau am tiefsten und die Korallen am schönsten waren, da lag Ys, die prächtige Hauptstadt des ozeanischen Königreichs.

Auf einer Anhöhe über der Stadt thronte das glanzvolle Schloss mit seinen Mauern aus vulkanischem Tuffgestein, den perlmuttschimmernden Dächern und den buntgläsernen Fensterscheiben, wie sie nur das Meer und die Zeit zu schleifen vermochten.

Von hier aus regierte der mächtige Herrscher sein weites Land und lenkte die Geschicke des Staates am Meeresgrund. Hier lebte er mit seinen drei schönen Töchtern, von denen eine liebreizender war als die andere. Doch die bezauberndste der drei Prinzessinnen war fraglos die jüngste mit Namen Ondine. Sie hatte das zarteste Antlitz, die anmutigste Gestalt und die betörendste Stimme von allen. Ihr Gesang war von glockenklarer Reinheit und wurde im ganzen Reich gerühmt. Doch neideten die Schwestern ihr das nicht, denn Ondine hatte ein so liebenswertes Wesen und ein so glückstrahlendes Gemüt, dass niemand ihr missgünstig sein konnte. So waren die drei Schwestern mehr als nur Geschwister und teilten wie gute Freundinnen Freud und Leid, denn ihre geliebte Mutter starb früh in den unbarmherzigen Netzen eines Fischers.

So waren die Menschen in den Augen des Meervolks Barbaren und kannibalische Wüstlinge, plump und grausam von Natur aus, mit bestialischen Sitten und Gebräuchen. Sie machten Jagd auf Fische und die glücklosen Tiere ihrer Welt, um sie zu verspeisen, und sie bekriegten einander, bis rotes Wasser aus ihren Wunden rann.

Wie anders waren da die friedliebenden Bewohner des Meeres, die sich von den winzigen Organismen nährten, die die Wasserströmung mit sich führte.

Doch waren wirklich alle Menschen so? War nicht auch das wunderschöne Ölgemälde von Menschenhand geschaffen worden, das Ondine in ihrer Truhe verwahrte? Wie konnten sie so roh sein, wenn sie doch in der Lage waren, so schöne Dinge zu erschaffen? Wie einen kostbaren Schatz hütete Ondine das Bild in dem goldglänzenden Holzrahmen, das die Strömung einst in ihre Arme getrieben hatte. Das Rahmenholz war freilich längst verbogen, das Leinen unter der gesprungenen und stark veralgten Glasscheibe ganz wellig und die dargestellte Szene kaum noch auszumachen. Doch was man noch darauf zu erkennen vermochte, war das Schönste, das sie jemals gesehen hatte.

Das Gemälde zeigte ein Tanzvergnügen in einem prächtig erleuchteten Saal. Unzählige festlich herausgeputzte Tanzpaare wirbelten umher, in kostbare Kleider gewandet. Und in ihrer Mitte tanzte das schönste Paar von allen. Ein hochgewachsener Edelmann mit schwarzem Haar wiegte seine Liebste im Takt der Musik, die ein Tanzorchester dazu spielte. Alle wirkten fröhlich und ausgelassen auf diesem Bild, doch am glücklichsten schien das junge Paar zu sein, das einander so zärtlich in den Armen hielt.

Wie oft hatte Ondine sich an die Stelle der liebreizenden Tänzerin geträumt, die so leichtfüßig über das spiegelglatte Parkett zu schweben schien.

Füße und Beine, diese seltsamen Auswüchse, galten unter dem Meeresspiegel als der Inbegriff der menschlichen Plumpheit. Ihretwegen bewegten sich ihre Besitzer so ungelenk im Wasser, wenn sie des Schwimmens denn überhaupt mächtig waren. Meistens jedoch bedienten sie sich bedrohlicher Hilfsmittel wie Booten und Schiffen, um ihr tödliches Geschäft zu verrichten. Damit pflügten sie durch die See, brachten das Meer in Aufruhr und machten Jagd auf seine Bewohner.

Ondine hielt ihren wertvollsten Besitz sogar vor ihren geliebten Schwestern geheim. Obwohl die Mädchen sonst alles miteinander teilten und keine Geheimnisse voreinander hatten, gehörte das Bild nur ihr allein. Ondine befürchtete, dass die Schwestern darüber lachen, ihre Späße über die ungelenken Figuren machen würden, doch noch mehr fürchtete sie, dass ihr Vater, der Meerkönig, es ihr wegnehmen und es zerstören würde, wenn er davon erführe. Denn keiner hasste die Menschen mehr als er, der seine geliebte Königin an die grausamen Räuber verloren hatte.

Sie war zu Meerschaum geworden im selben Augenblick, in dem der Fischer das Netz einholte. Das war das Schicksal eines jeden Meermenschen, dessen Fischschwanz das Meer verließ und sei es nur für eine Sekunde. Diese Warnung gab man schon den kleinsten Meermädchen und Meerjungen mit auf den Weg: Haltet euch fern von den Menschen, ihren Höllenmaschinen und den allzu seichten Gewässern.

Erst zu ihrem achtzehnten Geburtstag war es den jungen Meerleuten überhaupt erlaubt, an die Wasseroberfläche emporzusteigen und sich ein Bild von der Welt oberhalb des Meeresspiegels zu machen. Vielen von ihnen waren die Schauergeschichten und die grausamen Schicksale, die glücklose Meermenschen ereilten, wenn sie den Küsten oder den Netzen der Fischer zu nah kamen, Grund genug, niemals hinauf zu schwimmen. Sie vermissten nichts, denn nirgendwo waren das Leben süßer und die Landschaften lieblicher als in ihrer Heimat am Meeresgrund. Doch gab es auch die wissbegierigen Kinder des Meeres und sie wussten andere Geschichten zu erzählen; von der Sonne, die strahlend am Himmel stand, von fliegenden Fischen, die wundersame Lieder sangen, und von prächtigen Städten am fernen Horizont.

Begierig saugte Ondine die Erzählungen der Älteren auf, lauschte ihren aufregenden Berichten von glitzernden Sternen am Himmelszelt, von großen Schiffen und von Menschen, die lachend am Strand entlangliefen. Denn sie selbst musste noch ein ganzes Jahr warten, bis auch sie endlich alt genug sein würde, das Abenteuer zu wagen und einen Blick auf die wundersame Welt zu erhaschen, die oberhalb des Meeresspiegels lag. Die sonderbare Welt, in der Liebende einander so zärtlich im Arm hielten und wie schwerelos tanzend dahinschwebten zum Klang köstlicher Musik.

Allein ihre gütige Großmutter erahnte die heimlichen Sehnsüchte ihrer jüngsten Enkeltochter, die so still und andächtig zuhörte, wann immer ihre älteste Schwester von einem ihrer seltenen nächtlichen Ausflüge heimkehrte. Doch die Meeresprinzessinnen waren gut erzogen und das Schicksal ihrer unglückseligen Mutter stand ihnen mahnend vor Augen. So führten ihre Streifzüge die Älteste nie in die Nähe der Menschen und der Küste und die mittlere Tochter des Meerkönigs hatte sich noch kein einziges Mal nach ganz oben gewagt.

Mit Verständnis und Sorge betrachtete die gute Großmutter Ondines wissensdurstige Ungeduld, die ihr aus ihrer eigenen Jugend und von ihrer beklagenswerten Tochter auf schmerzliche Weise wohlbekannt war.

»Die Welt dort oben mag verführerisch sein mit ihrem strahlenden Taglicht und ihren mannigfaltigen Wohlgerüchen. Es ist wahr, dass die Fische dort fliegen und lustige Lieder singen und vermutlich ist es auch wahr, dass die Menschen nicht von Natur aus und grundlegend schlecht sind. Doch sie sind gänzlich anders als wir, auch wenn sie uns vom Kopf bis zur Hüfte gleichen und im Stande sind, gar schöne Dinge hervorzubringen. Aber lass dich nicht von ihrer Kunstfertigkeit täuschen, mein liebes Kind. Die Menschen sind grobe Gesellen und kannibalische Räuber ohne Sinn für die Schönheit unserer Welt.«

»Hast du sie gesehen, die Menschen? Bist du ihnen begegnet, Großmutter?«

Die Großmutter seufzte. »Als ich jung war, war ich von der gleichen Neugier beseelt wie du, mein liebes Kind. Von einem Felsen im Meer aus sah ich prachtvolle Schiffe vorbeiziehen mit kostbaren Gütern und zahlreichen Menschen darauf und ich wagte mich sogar in die Nähe der Stadt. Ich sah das weiße Schloss auf der Felsenklippe und spielende Kinder am Strand.«

»Das möchte ich auch sehen«, entgegnete die junge Meerprinzessin voller Sehnsucht.

»Aber du weißt, was deiner lieben Mutter widerfahren ist, mein liebes Kind. Die Welt dort oben mag verlockend sein, aber sie ist voller Gefahren für die Bewohner des Ozeans und am gefährlichsten sind die Menschen.«

So brachte Ondine noch ein weiteres Jahr in begieriger Erwartung zu und sah jeden Tag sehnsuchtsvoll zur Sonne empor, deren gleißende Strahlen immer nur gedämpft und gebrochen in die Tiefe des Ozeans vordrangen.

Und dann endlich war ihr großer Tag gekommen.

***

Der achtzehnte Geburtstag war ein ganz besonderer und höchst denkwürdiger Tag im mitunter Jahrhunderte währenden Leben eines jeden Meermenschen, denn er markierte den Eintritt in das Erwachsenenalter mit all seinen Rechten und Pflichten. Für eine Meerprinzessin bedeutete das, mit einem rauschenden Fest in die Gesellschaft eingeführt zu werden.

»Du wirst allen anwesenden Herren den Kopf verdrehen«, mutmaßte ihre älteste Schwester und flocht einen weiteren Strang schimmernder Perlen in Ondines goldenes Lockenhaar. Glänzender Perlenschmuck zierte auch den schlanken Hals, die zarten Arme und den herrlich türkisblauen Fischschwanz der jungen Meerprinzessin, deren strahlende Augen vom gleichen exotischen Farbton waren wie ihre wohlgeformte Flosse.

»Von heute an wirst du dich vor heiratswilligen Verehrern nicht mehr retten können, Schwesterchen.«

Die Schwester ahnte nicht, dass Ondines Ungeduld nicht von dem festlichen Bankett herrührte, das ihr zu Ehren veranstaltet wurde, sondern von der Aussicht, im Anschluss daran zum ersten Mal emporzusteigen und das zu atmen, was Luft hieß und das im Haar zu spüren, was man Wind nannte.

Wie von der Schwester prophezeit, war die jüngste Meerprinzessin an diesem Tag das schönste Wesen im Königreich und ein Raunen ging durch die Menge, als sie an der Hand ihres stolzen Vaters in den Ballsaal schwamm. Wie auf Ondines Gemälde war auch der Tanzsaal des Meerkönigs festlich geschmückt und erstrahlte in all seiner glanzvollen Pracht. Auch die geladenen Gäste hatten sich dem Anlass entsprechend herausgeputzt und trugen ihr kostbarstes Geschmeide und herrliche Blumengebinde im Haar. Doch gab es keine Kerzen, die die goldschimmernden Wände hätten erleuchten und die edlen Juwelen hätten zum Strahlen bringen können, wie sie es verdienten. Nur der fahle Abglanz des Sonnenlichts weit über dem Meer erhellte den Saal.

Der erste Tanz gehörte dem Meerkönig und seiner Jüngsten und erneut war die Menge wie verzaubert von Ondines Liebreiz und ihrer unvergleichlichen Anmut. Keine Meerjungfrau war von zarterer Gestalt und von betörenderer Schönheit als die kleine Prinzessin mit dem goldenen Lockenhaar und der amazonitfarbenen Flosse. Sie tanzte die alten Tänze mit einer so natürlichen Grazie und sang die uralten Lieder mit einer so glockenklaren Stimme, wie man es nicht mehr erlebt hatte, seit die beklagenswerte Meerkönigin ihr viel zu junges Leben ausgehaucht hatte.

Doch noch bevor das prachtvolle Fest seinen Höhepunkt fand und noch ehe die Sonne im Meer versank, stahl sich das Geburtstagskind heimlich davon.

Gewichtslos und geschmeidig wie eine Luftblase stieg sie im Wasser empor, der glitzernden Spiegelfläche und der strahlenden Sonne entgegen.

***

Oh, welch ein köstliches Gefühl war es, als sie die Wasseroberfläche durchbrach! Das gleißende Abendlicht blendete beinahe ihre empfindsamen Augen, doch die Luft war ganz mild und die ruhige See spiegelglatt. Eine sanfte Brise wehte um ihre Nase, die zum ersten Mal atmete, wie es die Menschen taten, und führte köstliche Düfte mit sich, die vom Land herüber wehten. Wie eine Süchtige inhalierte Ondine die fremden Gerüche und die salzige Luft. Nie war sie aufmerksamer und nie waren ihre Sinne wacher gewesen, als in diesem Augenblick. Es war, als sehe, rieche, schmecke, höre sie zum allerersten Mal; so, als wäre ihre Wahrnehmung von einer dämpfenden Dunstglocke befreit.

Die Sonne glühte wie ein rotgoldener Ball und tauchte den Himmel und den Ozean in sattes Orange. Nie hatte Ondine eine herrlichere Farbe gesehen und ein ergreifenderes Schauspiel als diesen Sonnenuntergang über dem Meer.

Doch sie wollte noch mehr sehen, noch mehr erleben an ihrem ersten Abend in der oberen Welt und so machte sie sich auf in die Richtung, von der es in den Erzählungen der Älteren hieß, dass dort die Küste mit dem weißen Schloss läge.

Schon von Ferne waren die wie in Gold getauchten Umrisse der felsigen Küste und die prächtigen Lichter der Stadt auszumachen, die sich weit am Küstenrand entlang erstreckte. Alles war ganz so, wie man es ihr erzählt hatte, nur noch viel schöner und eindrucksvoller. Keine Worte vermochten zu beschreiben, welches Glück es für die kleine Meerjungfrau bedeutete, den Gesang der fliegenden Fische, das Rauschen der Brandung und das Säuseln des Windes mit eigenen Ohren zu hören.

Und dort drüben war auch das weiße Schloss mit dem hohen Turm und den schönen Zinnen, von dem so viele Geschichten handelten und von dem auch ihre geliebte Großmutter ihr erzählt hatte.

Es war noch prachtvoller, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Auf einem Felsvorsprung thronte es und überragte das Meer trutzig und von erhabener Pracht. Der weiße Kalkstein strahlte im warmen Abendlicht, als wäre er in pures Gold getaucht.

Ondine fand einen Felsen unweit des Piers, auf dessen Spitze eine steinerne Sphinx über das kleine Hafenbecken wachte. Und dann erblickte sie ihn.

Im ersten Augenblick hielt sie ihn für einen der ihren, so flink und gewandt bewegte er sich im Wasser. Doch dann erreichte er die Steintreppe, die zum Pier hinaufführte, und Ondine hielt den Atem an, als er leichtfüßig die Stufen erklomm. Er war zweifellos ein Mensch und obgleich er der erste seiner Art war, den die kleine Meerjungfrau in ihrem Leben erblickte, wusste sie doch, dass er der schönste und makelloseste Mann war, dessen sie je ansichtig werden würde.

Bis aufs Haar glich er dem schönen Edelmann auf ihrem Gemälde. Sein feucht glänzendes Haar war von tiefstem Schwarz, seine Haut von einer feinen Bronzebräune und seine Statur von so herausragender Harmonie, wie ein Bildhauer sie nicht trefflicher hätte modellieren können. Er war hochgewachsen und von schlanker Gestalt und bei jedem seiner Schritte spielten die eleganten, langestreckten Muskeln eines Athleten unter seiner festen, schimmernden Haut.

Wie gebannt beobachtete Ondine, wie er die Treppe hinaufstieg und mit nackten Füßen auf dem Pier entlang ging. Nein, da war nichts Plumpes an der Art, wie er sich bewegte, und seine athletischen Beine waren alles andere als hässlich. Seine Schritte waren federnd und von gemessener Kraft.

Jetzt hüllte er sich in ein weißes Tuch und warf einen sehnsüchtigen Blick aufs Meer hinaus.

Zum ersten Mal zeigte er der kleinen Meerjungfrau sein Gesicht und es war noch herrlicher, als sie es sich ausgemalt hatte. Seine kristallklaren Augen waren von tiefstem Blau, wie es das Wasser in ihrer Heimat war, und seine Züge von unbeschreiblicher Symmetrie. Hohe Wangenknochen und eine ebensolche Stirn, eine hübsche Nase und sinnliche Lippen zierten das makellose Antlitz des jungen Mannes.

Und dann musste Ondine rasch untertauchen, denn er wandte den rastlosen Blick in die Richtung, in der sie sich hinter ihrem Felsen versteckt hielt. Als sie wieder auftauchte, hatte er sich abgewandt und wanderte zum Schloss hinauf.

***

»Und was hast du gesehen?«, wollten die neugierigen Schwestern später von der kleinen Meerjungfrau wissen.

Also berichtete Ondine ihnen von dem goldglühenden Sonnenball und vom lieblichen Gesang der fliegenden Fische. Doch das schönste Erlebnis verschwieg sie aus Furcht vor der Rüge des Meerkönigs. Sie wusste, wie leichtsinnig und gefährlich es gewesen war, so nah ans Ufer heranzuschwimmen und noch dazu in die Nähe der großen Stadt. Niemals hätte sie dem schönen Mann so nah kommen dürfen, dass er sie beinahe hätte erblicken können.

Und doch wagte sie den riskanten Ausflug von nun an jeden Abend, ehe die Sonne im Meer versank. Jeden Abend nahm sie ihren Platz hinter dem Felsen ein und jeden Abend war er dort und zog im goldglänzenden Wasser seine Bahnen entlang des kleinen Hafenbeckens am Fuße des weißen Schlosses.

Die kleine Meerjungfrau konnte sich einfach nicht sattsehen an dem schönen Menschenmann, der so anders war, als man ihr die seinen beschrieben hatte. Er schien das Wasser zu lieben und bewegte sich so geschickt darin, als wäre er selbst ein Bewohner des Ozeans. Doch ebenso anmutig bewegte er sich auch an Land und mit jedem Tag wuchs Ondines Sehnsucht, es ihm gleichzutun und ihm in seine Welt zu folgen.

Sie wollte ihm nahe sein, wollte erfahren, wohin er ging, seinen Namen kennen und den Klang seiner Stimme hören.

Doch war es den Meermenschen bei Strafe untersagt, mit den Menschen Kontakt aufzunehmen, und so blieb Ondine nichts weiter, als sehnsüchtig von ihrem Felsen zum Schloss hinüberzublicken und hinabzutauchen, wann immer er den Blick in ihre Richtung wandte.

Unterdessen wurde die kleine Meerjungfrau, deren ausgeglichenes Wesen und deren sonniges Gemüt alle um sie herum immer heiter zu stimmen vermocht hatten, von Tag zu Tag stiller und nachdenklicher. Nichts hatte mehr Platz in ihren Gedanken und in ihrem Herzen, als der Wunsch, ihn endlich kennenzulernen und bei ihm sein zu dürfen. Und ihr Herz wurde schwer, wann immer ihr die Unerfüllbarkeit dieses Wunsches bewusst wurde.

Wieder war es die gütige Großmutter, die die Seelenqual ihrer jüngsten Enkeltochter erriet.

Ihr allein gestand Ondine ihren leichtfertigen Wagemut und sie erzählte ihr von dem schönen Schwimmer am Pier.

»Das muss der Prinz Léandre sein. Man sagt, er zieht jeden Abend seine Bahnen im Meer am Fuße des weißen Schlosses. Aber auch wenn er das Wasser nicht scheut, würde er dich fürchten, mein liebes Kind. Die Menschen fürchten, was sie nicht kennen und was sie fürchten, das jagen sie und merzen es aus. Eine Frau mit dem Schwanz eines Fisches gehört für sie in das Reich der Phantasie und begegnen sie doch einer von uns, so betrachten sie sie als gefährliches Untier oder als exotische Trophäe, die es zu erringen gilt.«

»Und wenn er anders ist? Ich sah seine Augen, Großmutter. Sie sind gütig und wissbegierig und vom gleichen tiefen Blau wie das klare Wasser hier unten am Meeresgrund.«

Wieder lagen zu gleichen Teilen Verständnis und Sorge im Blick der Großmutter. »Ich wünschte, es gäbe Menschen, wie du ihn beschreibst. Gütig und wissbegierig. Doch letztlich sind sie alle gleich. Auch dein schöner Prinz könnte nie ein Mädchen mit einem Fischschwanz lieben, auch wenn es die schönste Flosse ist, die eine Meerjungfrau haben kann, und er könnte nie eine Braut nehmen, die zu Meerschaum vergeht, sobald sie den Ozean verlässt.«

»Und wenn ich würde wie er?«, fragte die kleine Meerjungfrau und ihre Stimme war nicht mehr als ein Wispern.

»Du könntest niemals so werden wie er, mein liebes Kind. Selbst mit Hilfe von Zauberei könntest du allenfalls die Gestalt eines Menschen erringen, aber du bliebest doch für alle Zeit eine Tochter des Meeres. Wir sind nicht für das Leben an Land gemacht und nicht für das Leben unter den Menschen. Noch immer würde durch deine Adern anstelle von Blut salziges Meerwasser fließen und noch immer wäre dein Körper um ein Vielfaches zarter und empfindlicher als der der holdesten Menschenfrau. Jede Berührung würde dir Schmerzen bereiten und die Menschen sind nicht nur grob im Kampf, sondern auch in der Liebe.«

Das alles will ich nur zu gern erdulden, dachte Ondine bei sich, wenn ich ihm nur nah sein und seine Liebe erringen könnte.


Ondine - Der Kuss der Meerjungfrau

Подняться наверх