Читать книгу Isabelle und die Bestie - Anaïs Goutier - Страница 4

Kapitel 1

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s war einmal ein tüchtiger Kaufmann, der es mit Besonnenheit und klugem Geschäftssinn zu beträchtlichem Wohlstand und zu hohem Ansehen gebracht hatte. Nachdem seine Frau früh gestorben war, lebte er allein mit seinen drei schönen Töchtern in einem herrschaftlichen Haus, das beinahe eines Fürsten würdig gewesen wäre. Die Fußböden waren aus feinstem Marmor, die Treppen aus Ebenholz und die hohen, mit Seide bespannten Wände mit kostbaren Gemälden in goldenen Rahmen geschmückt. Das Anwesen des Kaufmanns war wahrlich ein Schloss zu nennen und der Hausherr hielt gern Hof und war ein guter und großzügiger Gastgeber. So ging die feine Gesellschaft im Haus des Händlers ein und aus und ein jeder, ob Adliger, Würdenträger oder Künstler, zählte sich gern zu seinen Gästen. Die Gesellschaften und Empfänge, die der Kaufmann gab, galten weithin als die glanzvollsten ihrer Art und die Konversation, die man dort pflegte, als die geistreichste von allen.

Und da der Händler ein kluger Mann war, sparte er auch nicht an der Erziehung seiner Töchter. Von Hauslehrern ließ er sie in Sprachen, Wissenschaften und den schönen Künsten unterrichten und legte Wert auf ihren erstklassigen Umgang. Auf Bällen, bei Banketten und in der eigenen Theaterloge konnten die Kaufmannstöchter ihre derart kultivierten Talente erproben und waren gern gesehene Gäste in den Häusern der Schönen und Reichen. Die wohlerzogenen Mädchen galten als gute Partie und hatten unzählige Verehrer. Aber die schönste und klügste von ihnen war die jüngste mit Namen Isabelle. Sie war von so anmutiger Gestalt und hatte ein so liebenswürdiges Wesen, dass sie den Kosenamen Belle erhielt, in dem sich ihr Aussehen und ihre Wesensart gleichermaßen spiegelten.

Das machte die Schwestern natürlich eifersüchtig und da die Jüngste mit jedem Jahr noch schöner wurde und ihrem schmeichelnden Namen noch größere Ehre machte, wuchs auch die Missgunst der Schwestern von Jahr zu Jahr.

Während die beiden älteren Schwestern den Unterricht nur als notwendiges Übel betrachteten und sich weit lieber in Müßiggang und Zerstreuung ergingen, liebte Isabelle nichts mehr als ihre Bücher. Oft blieb sie am Abend daheim und saß Stunde um Stunde mit einem Buch in der Hand am Kamin oder auf dem Bänkchen in ihrem geliebten Rosengarten.

Wann immer sich ihre Schwestern der festlichen Toilette widmeten und prachtvolle Kleider nach der neuesten Mode anpassen ließen, um noch mehr Eindruck zu machen, wanderte sie in einem einfachen Kleid durch den Garten oder gab sich ihrer Lektüre hin, die sie in andere Welten entführte.

»Zuviel Lesen ist nicht gut für ein Mädchen. Ich habe gehört, es ließe die weiblichen Geschlechtsorgane verkümmern«, sagte die eine Schwester zu ihr.

Und die andere ergänzte: »Du wirst noch als alte Jungfer enden, wenn du immer nur in deine Bücher schaust und nie das Haus verlässt.«

Doch Isabelle ließ ihre Schwestern reden und lächelte darüber. Sie hatte mehr Verehrer, als ihr lieb war, auch ohne jedes Tanzvergnügen und jeden Theaterabend zu besuchen.

Die Eitelkeit, die Vergnügungssucht und die Hochnäsigkeit ihrer verwöhnten Schwestern lagen Isabelle fern, ebenso wie der Tratsch und das Werben der Freier. Den wählerischen Schwestern war kein Kandidat gut genug, denn es musste ein Königssohn oder wenigstens ein Graf sein, der einmal ihre Gunst erringen und ihre Hand erhalten würde. So lästerten und spotteten sie über jeden ihrer Verehrer, sobald er ihnen den Rücken gekehrt und das Haus verlassen hatte.

Die Jüngste dagegen dankte jedem Bewerber von Herzen und erklärte dann ebenso freundlich wie bestimmt, sie sei noch zu jung für die Ehe und wolle noch einige Zeit im Hause ihres Vaters bleiben.

So lebten der Kaufmann und seine Töchter ein sorgenfreies Leben, bis jäh das Unglück über sie hereinbrach. In einer stürmischen Unwetternacht geriet das herrschaftliche Haus in Brand und brannte bis auf die Grundfesten nieder. Die Gemälde, der kostbare Schmuck, das edle Porzellan und auch Isabelles geliebte Bibliothek fielen den Flammen zum Opfer und waren für immer verloren. Doch damit nicht genug, verlor der reiche Kaufmann bald darauf auch all seine Handelsschiffe. Eines erlitt Schiffsbruch, ein zweites wurde von Piraten gekapert und ein drittes brannte lichterloh. So verlor der Kaufmann binnen kürzester Zeit Haus und Hof und sein gesamtes Vermögen.

Das Einzige, das ihm blieb, war ein kleines Landgut in einer abgelegenen Gegend. Es war nicht viel mehr als ein Bauernhaus mit bescheidenen Ländereien und weit entfernt von der nächsten Stadt.

Besonders die beiden älteren Töchter waren bestürzt und schrecklich unglücklich, aus der Stadt fortgehen und ihr gewohntes Leben hinter sich lassen zu müssen. Nun waren sie bereit, Zugeständnisse bei der Wahl ihrer Ehemänner zu machen, und vielleicht doch einen wohlhabenden Kaufmann oder einen hohen Beamten in Betracht zu ziehen. Doch plötzlich waren all die heiratswilligen Herren verschwunden und sie spotteten über die hochnäsigen Kaufmannstöchter, wie sie zuvor ihre Verehrer verspottet hatten. Auch ihre Freundinnen aus reichem Haus und von adligem Geblüt wollten plötzlich nichts mehr von den verarmten Krämertöchtern wissen, wie man sie jetzt verächtlich nannte.

Nur mit der Jüngsten, Isabelle, hatten die Menschen Mitleid.

»Sie war immer so höflich und bescheiden und so gütig zu den armen Leuten«, sagte man über sie.

Und noch immer fanden sich wohlhabende und blaublütige Bewerber, die bereit waren, sie zu heiraten, obwohl sie nun bitterarm war und keine Mitgift von ihrem Vater erhalten würde.

Doch Isabelle lehnte alle Bewerber ab, um ihrem armen Vater beizustehen und ihm auf dem Land den Haushalt zu führen.

Von ihren zahlreichen Bediensteten war der Familie nur ein Knecht geblieben, der dem Vater half, die kärglichen Felder zu bestellen und es gab keine Mamsell und keine Mädchen mehr, die sich um die Küche, die Wäsche und den sonstigen Haushalt gekümmert hätten. Und da die älteren Kaufmannstöchter ihrem verlorenen Stadtleben mit all seinen Vergnügungen nachtrauerten und nie gelernt hatten, ihre zarten Hände zur Hausarbeit zu gebrauchen, war es allein die Jüngste, die sich von Früh bis Spät mit Kochen, Putzen und Waschen abmühte. Auch sie war die schwere Arbeit nicht gewohnt, aber sie war der Köchin, der Mamsell und den Mädchen daheim in der Stadt hin und wieder zur Hand gegangen und besaß daher einige Kenntnisse und keine zwei linken Hände wie ihre eitlen Schwestern. Die vertrieben sich die Zeit mit Wehklagen und damit, über Isabelle zu spotten, die sich nie über ihr Los und das verlorene Vermögen beklagte.

»Unsere liebe Schwester muss doch entweder vollkommen anspruchslos oder sehr einfältig sein, dass sie sich so klaglos in dieses erbärmliche Schicksal findet«, sagten die boshaften Schwestern. »Sie hat es nicht besser verdient, als die Magd zu spielen, wo sie die Aufgaben einer Magd doch so gut beherrscht.«

Natürlich war es auch Isabelle nicht einerlei, dass sie ihr Haus, ihr Vermögen und ihr Ansehen verloren hatten, doch was hätte es genützt, wie ihre Schwestern in einem fort darüber zu klagen? Sie wollte ihrem gramgebeugten Vater eine Hilfe sein und ihn nicht noch mit Gejammer belasten. Man musste versuchen, das Beste aus der elenden Lage zu machen. Und konnte nicht auch ein bescheidenes Leben ein glückliches Leben sein?

War die harte Arbeit des Tages getan, spielte sie Klavier oder las zum wiederholten Mal eines der wenigen Bücher, die sie vor den Flammen hatte retten können. Dann vergaß sie alles um sich herum und war mit der Welt versöhnt.

Auch sie träumte gewiss von einem besseren Leben für sich und ihre Familie. Die alten Knochen ihres Vaters, der sein Vermögen am Schreibtisch und auf Reisen gemacht hatte, waren nicht geschaffen für die harte Feldarbeit und es tat ihr leid, ihre eitlen Schwestern in abgetragenen Kleidern zu sehen, denen man ansah, dass sie schon mehrfach gestopft und geflickt worden waren.

Der Kaufmann war seiner jüngsten Tochter dankbar für ihre Unterstützung und ihr selbstloses Handeln. Er wusste genau, dass es allein ihr zu verdanken war, dass am Abend, wenn er mit dem Knecht hungrig und frierend vom Feld heimkam, ein wärmendes Feuer im Kamin brannte und eine wohlschmeckende Mahlzeit bereitstand. Ihm entging nicht, dass seine älteren Töchter kaum einen Finger rührten und weder willens noch fähig waren, Isabelle zur Hand zu gehen. Doch ganz gleich, wie oft er sie ermahnte, blieben sie dabei, nicht für derart profane Tätigkeiten geschaffen zu sein und wenn sie sich doch einmal dazu herabließen, eine kleine Arbeit zu übernehmen, so verursachten sie einen Schaden, den zu beheben die doppelte Zeit beanspruchte.

Dabei blieb seine liebe Belle immer gefasst und obwohl sie so hart zu arbeiten hatte, schien das Landleben sie nur noch schöner und liebreizender zu machen. Wenn eine seiner Töchter ein besseres Leben verdient hatte, dann seine kluge und bescheidene Belle.

Und dann eines Tages erhielt der Kaufmann Nachricht, dass eines seiner Handelsschiffe, das nach einem furchtbaren Sturm als vermisst gegolten hatte und von dem man annahm, dass es gesunken war, nach langer Irrfahrt glücklich in seinem Heimathafen angekommen sei.

Würde sich die Nachricht als wahr herausstellen und die kostbare Ladung des Schiffes unversehrt sein, so war er wieder ein vermögender Mann und in der Lage sein Geschäft auf diesem Grundstock neu aufzubauen.

Ehe der Kaufmann am nächsten Tag eilig und wohlgemut abreisen konnte, um sich vor Ort selbst von der Richtigkeit der Meldung zu überzeugen und alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, sah er sich von seinen Töchtern umringt, die die Aussicht entzückte, nun hoffentlich bald ihr gewohntes Leben in der Stadt wieder aufnehmen zu können.

»Wir brauchen Kleider, Düfte und Schmuck nach der neuesten Mode, um nicht wie Bettler heimzukehren«, sagten sie zu ihrem Vater. »Wenn du in die Stadt fährst, musst du uns all das mitbringen. Je prächtiger und exotischer desto besser, denn so wird man glauben, wir seien nur auf Reisen gewesen und uns um unser aufregendes Leben beneiden.«

Der Vater seufzte und nickte ergeben unter dem Ansturm der immer neuen Wünsche seiner älteren Töchter.

»Und du, Belle?«, fragte er schließlich mit Schweißperlen auf der Stirn, denn seine Jüngste hatte bislang nur still dabeigestanden. »Hast du denn keinen Wunsch, mein liebes Kind?«

»Mein größter Wunsch ist, dass die Nachricht wahr ist und du glücklich und gesund und als reicher Mann von deiner Reise heimkehren wirst«, sagte Isabelle und ihre Schwestern verdrehten verächtlich die Augen.

»Ja, das wünsche ich mir auch«, sagte der Kaufmann und griff ihre Hand, um sie zärtlich zu drücken. »Trotzdem möchte ich auch dir eine Freude machen und dir etwas Schönes aus der Stadt mitbringen, denn du hast mehr erduldet und geleistet als deine Schwestern zusammen.«

Die Schwestern verzogen ihre Gesichter zu hässlichen, missgünstigen Grimassen und Isabelle wollte sie nicht noch mehr gegen sich aufbringen, indem sie sich allzu genügsam und bescheiden zeigte.

»Wenn du mir eine Freude machen willst, dann bringe mir eine Rose mit, denn unseren Rosengarten vermisse ich hier auf dem Land am meisten. So sehr ich mich auch bemühe, wollen sie auf dem Boden hier nicht gedeihen.«

Isabelle hielt es für einen klugen und bescheidenen Wunsch. Sie liebte die Rosen und ihren köstlichen Duft wirklich sehr und zugleich würde es ihren Vater weder zu viel Mühe noch zu viel Geld kosten, ihr eine Rose zu kaufen. Würde er nämlich die Wünsche ihrer Schwestern allesamt erfüllen wollen, so bliebe von dem wiedererlangten Vermögen wohl kaum etwas übrig.

Die drei Schwestern winkten zum Abschied, als der Kaufmann in seinen guten alten Reisemantel gehüllt auf dem einzigen Pferd, das ihm geblieben war, von dannen ritt.

***

Tatsächlich war sein Schiff glücklich heimgekehrt, doch nur mit einem kleinen Teil seiner Waren. Die exotischen Lebensmittel waren auf der langen Reise verdorben und mit einem anderen Teil der Ladung hatte die Besatzung selbst Handel treiben müssen, um sich ihr Leben und die abenteuerliche Heimreise zu erkaufen. Was übrig geblieben war, genügte kaum, um die ausstehenden Schulden bei seinen Handelspartnern und Geldgebern zu begleichen und so musste der Kaufmann nach harten und zähen Verhandlungen ebenso mittellos heimkehren, wie er sich auf die Reise gemacht hatte.

Statt in ordentlichen Gasthöfen mit hübschen Gästezimmern abzusteigen, verbrachte er die Nächte erneut in schäbigen Spelunken auf schlichten Heubetten und aß am Abend eine karge Brotsuppe anstelle eines schönen Bratens. Obwohl er die Enttäuschung seiner Töchter fürchtete und sich der schlechten Nachrichten beinahe schämte, die er ihnen überbringen musste, freute er sich auf die Heimkehr, auf das einfache, aber gute Essen, das ihm Isabelle zubereiten würde und darauf, endlich wieder in seinem eigenen Bett zu schlafen.

Es war eine beschwerliche Reise, denn das Wetter wurde von Tag zu Tag ungemütlicher und in die kalten Herbststürme mischte sich immer häufiger eisige, schneidende Schneeluft. Der Winter war früh gekommen in diesem Jahr und der Kaufmann besaß keinen Pelzmantel mehr, der ihn hätte wärmen können.

Glücklicherweise war er nur noch einen halben Tagesritt von dem bescheidenen Landgut entfernt, das jetzt sein Heim war, und er würde noch an diesem Abend seine beinahe abgestorbenen Hände und Füße am behaglichen Kaminfeuer in der kleinen Stube wärmen können, während Isabelle Klavier dazu spielte. Doch zuvor musste er noch den düsteren Wald durchqueren und das unbarmherzige Schneegestöber ließ ihn kaum die Hand vor Augen sehen. Die eisige Luft schnitt in sein Gesicht und ließ seine Augen tränen. So irrte er auf seinem erschöpften Pferd durch den finsteren Wald und als die Dämmerung hereinbrach, wurde ihm bewusst, dass er sich hoffnungslos verirrt hatte. Sein Magen knurrte vor Hunger und in der Ferne heulten die Wölfe, die wohl ebenso hungrig waren wie er. Wenn er jetzt rastete, würde er die Nacht kaum überleben. Er würde erfrieren oder den ausgehungerten Bestien zum Opfer fallen.

Doch dann erblickte der Kaufmann in der Ferne ein heimelig flackerndes Licht, das so warm und einladend schien, dass er sein Pferd zur Eile trieb. Ob es die Kate eines Einsiedlers, die Hütte von Waldarbeitern oder gar das Häuschen einer Hexe war, er würde anklopfen und den Besitzer höflich um Obdach für diese stürmische Winternacht bitten.

Doch die Quelle des flackernden Kerzenlichts war viel weiter entfernt, als der arme Kaufmann für möglich gehalten hatte und beinahe glaubte er, einem Irrlicht oder einem Trugbild hinterherzujagen, als das Licht auch noch nach einem langen Ritt ebenso weit entfernt zu sein schien wie zuvor.

Seine Glieder waren steifgefroren und sein abgezehrtes Pferd würde bald unter ihm zusammenbrechen, als er endlich an ein großes schmiedeeisernes Tor gelangte. Dahinter führte eine schnurgerade Allee hoher alter Bäume zu einem riesigen Schloss. Der imposante Bau mit seinen Türmchen und Zinnen wäre eines Königs würdig gewesen, hätte er nicht so dunkel und bedrohlich gewirkt. Die Fratzen der Wasserspeier beäugten den Kaufmann mit Spott und Hohn und die prächtig verzierten Bogenfenster blickten wie dunkle, leere Augenhöhlen auf ihn herab. Nur an einem einzigen Fenster stand die fröhlich flackernde Kerze, die ihm den Weg hierher gewiesen hatte. Also war das so verlassen wirkende Anwesen bewohnt.

Der Kaufmann fasste sich ein Herz und stieg von seinem Pferd, um mit einer vor Kälte und Furcht zitternden Hand gegen das ebenso herrschaftliche wie bedrohliche Tor zu drücken. Entgegen seiner Erwartung gab es wie von selbst nach und schwang geräuschlos auf.

Mit bangen Schritten führte der Kaufmann sein Pferd die Allee entlang, bis er auf halbem Weg zwischen Tor und Schloss im Dunkel der Nacht die prächtigen Stallungen liegen sah. Wie von selbst schlug sein Pferd den Weg zu den Ställen ein, deren Tor weit offenstand. Kein einziges Tier war in den großzügigen Verschlägen zu sehen, aber es gab genug frischen Hafer und duftendes Heu, um die Pferde eines ganzen Regiments damit zu versorgen.

Also band der Kaufmann sein geschwächtes Tier an und rieb sein nasskaltes Fell trocken. Er erwog, die Nacht neben seinem Pferd im Heu zu verbringen, doch es erschien ihm unrecht, wie ein Landstreicher Quartier zu beziehen, ohne um Erlaubnis zu bitten. Also zog er seinen Reisemantel enger um sich und stapfte durch den Schnee, der inzwischen schon einen Spann hoch auf dem Weg liegenblieb, zum Schloss hinüber.

Ehrfürchtig blickte er zu dem herrschaftlichen Portal und der imposanten Tür empor, ehe er die verschneite Freitreppe erklomm. Mit steifgefrorenen Fingern betätigte er den großen vergoldeten Türklopfer, der als das Haupt eines brüllenden Löwen gestaltet war. Doch kaum hatte er den schweren Ring im Maul der Raubkatze berührt, schwang die Tür wie von selbst auf.

Verwundert spähte der Kaufmann in eine große dunkle Halle mit marmornen Säulen und einem ebensolchen Fußboden, doch nirgendwo war ein Mensch zu sehen, der ihm die Tür geöffnet haben könnte. Er räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen, doch das Haus blieb still und sein Räuspern hallte in dem leeren Saal wider wie ein verzerrtes Echo.

Doch durch den Türspalt gegenüber des Eingangs drang warmes Licht und er vermutete, dort auf die Herrschaft oder doch wenigstens auf einen Dienstboten zu treffen.

Die Schritte des Kaufmanns lärmten auf dem marmornen Boden und kaum hatte er die Hälfte der Halle durchschritten, fiel die große Tür plötzlich geräuschvoll dröhnend hinter ihm ins Schloss.

Der arme Mann erschrak furchtbar, doch auch der Lärm rief keinen Hausdiener auf den Plan. Also legte er die Hand an die Klinke der nächsten Tür und auch diese sprang wie von Geisterhand auf, ohne dass er etwas hätte tun müssen.

Dahinter befand sich ein herrlicher, von zahlreichen Kerzen erleuchteter Saal mit einem Kamin, in dem ein wärmendes Feuer loderte. Eine festlich, jedoch bloß für eine einzige Person gedeckte und mit unzähligen köstlichen Speisen bestückte Tafel ließ dem hungrigen Kaufmann das Wasser im Munde zusammenlaufen, doch natürlich wagte er nicht, etwas von den Köstlichkeiten anzurühren.

Stattdessen trat er an den Kamin und wärmte seine klammen Hände, in der sicheren Erwartung, dass jeden Moment jemand eintreten und ihn zur Rede stellen würde. Doch als das nicht geschah und die Mattigkeit ihn beinahe übermannte, gestattete er sich, einen Moment in dem gemütlichen Samtsessel am Kamin auszuruhen und seine durchnässten Stiefel ans Feuer zu stellen. Eine Stunde oder mehr saß er da, nickte sogar einmal ein und es war eine wahre Wohltat für seine müden Glieder.

Als sich noch immer niemand blicken ließ, kam er zu dem Schluss, dass die Herrschaft das für sie bereitete Nachtmahl verschmäht haben musste und er konnte nicht länger an sich halten, seinen furchtbaren Hunger zu stillen. Im Wissen, etwas Unrechtes zu tun, setzte er sich an die Tafel und nahm etwas Brot und Pastete. Er wollte wirklich nur ein paar Bissen tun, um seinen schmerzhaft knurrenden Magen zu besänftigen, doch die Speisen waren so schmackhaft, dass er nicht aufhören konnte. Bald hatte er vom Braten bis zu den Früchten von allem probiert und auch ein Glas schweren roten Wein dazu getrunken. Noch nie hatte der Kaufmann so köstlich gespeist und schon lange war er nicht mehr derart satt gewesen. Nun war er so müde und erschöpft, dass er kaum mehr die Augen offen halten konnte. In einem Anflug von Leichtsinn und Kühnheit, die wohl dem Wein und seiner Müdigkeit in gleichen Teilen zuzuschreiben waren, öffnete er die nächste Tür und fand dahinter ein prachtvolles Schlafgemach. Ohne noch einen klaren Gedanken zu fassen, legte er sich in das große weiche Bett und fiel im gleichen Moment in tiefen, erholsamen Schlaf.

***

Der Kaufmann erwachte erst am anderen Morgen und im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er war. Die Erlebnisse des Abends waren ihm wie ein seltsamer, aber schöner Traum erschienen, doch er befand sich noch immer in dem Schloss, das im Morgengrauen weit weniger finster wirkte, als in der Nacht. Goldene Stuckaturen zierten die mit Seide bespannten Wände und das Bett, in dem er geschlafen hatte, war so prunkvoll wie das eines Königs.

Auf dem Waschtisch fand er eine Porzellanschüssel mit heißem Wasser darin und daneben ein frisches, sorgsam gefaltetes Hemd. Man hatte den ungebetenen Gast also durchaus bemerkt.

Doch statt ihn hinauszuwerfen, hatte man Mitleid mit ihm gehabt, und der Kaufmann war gerührt von so viel Milde und Güte. Er hoffte, sich nun am Morgen bei seinen Wohltätern bedanken zu können, doch auch jetzt ließ sich niemand blicken. Stattdessen fand er in dem Saal, durch den er am Abend gekommen war, die Tafel zu einem stärkenden Frühstück gedeckt und diesmal ging er davon aus, dass das köstliche Mahl allein für ihn bestimmt war. Vergnügt ließ er sich die süßen und herzhaften Leckereien schmecken und schlürfte eine Tasse vortreffliche Schokolade dazu.

»Ich danke Euch herzlich für Eure Gastfreundschaft!«, rief er, als er in die große Eingangshalle trat, doch auch diesmal hallte seine Stimme einsam durch den großen Saal.

Draußen lag noch immer Schnee, doch an diesem frühen Morgen glitzerte er herrlich in den ersten Strahlen der Wintersonne. Der Kaufmann entschied, noch einmal um das Schloss herumzugehen, um vielleicht doch noch den Verwalter oder einen Gärtner anzutreffen, ehe er sein Pferd holen und nach Hause reiten würde.

Das Schloss war von einem prächtigen Park umgeben, der wie von Zucker bestäubt unter einer feinen Schneedecke lag. Und dann erblickte der Kaufmann den winterlichen Rosengarten. Es musste eine unvorstellbare Pracht sein, wenn all diese herrlichen Rosen in voller Blüte standen. Doch jetzt war Winter und auch auf den zarten Blättern der Rosen lag Schnee. Der Kaufmann erinnerte sich an den Wunsch seiner jüngsten Tochter und sein Herz wurde schwer beim Gedanken daran, dass er alle drei Töchter enttäuschen würde.

Da sah er, dass an einem einzigen Rosenstrauch noch eine letzte Blüte blühte. Es war die vollkommenste Rose, die er jemals erblickt hatte, und sie verströmte einen einzigartig betörenden Duft. Der Kaufmann war wie verzaubert von ihrer Pracht und brach den Zweig ab, um ihn seiner lieben Belle zum Geschenk zu machen.

Ein entsetzliches Knurren ließ den alten Mann im gleichen Augenblick zusammenzucken und die Rose zu Boden fallen.

Vor ihm stand wie aus dem Nichts eine furchteinflößende Kreatur. Auf dem stattlichen Körper eines Edelmannes saß das Haupt eines wilden Tieres. Halb Löwe, halb Wolf, fletschte das Untier seine bedrohlichen Zähne.

»Ist das der Dank für meine Gastfreundschaft?«, polterte die Bestie mit tiefer, grollender Stimme. »Du hast Zuflucht in meinem Haus gefunden und bist fürstlich bewirtet worden. Und zum Dank stiehlst du meine einzige Rose? Dafür wirst du büßen und mit deinem Leben bezahlen!«

»Bitte«, stotterte der Kaufmann und sank auf die Knie. »Ich bin Euch dankbar für alles. Ich wollte Euch nicht erzürnen, als ich diese Rose für meine Tochter abbrach.«

»Für deine Tochter?«, knurrte das Tier.

Der Kaufmann nickte. »Für die jüngste meiner drei Töchter. Sie wünschte sich nichts, als eine einzige Rose.« Und dann erzählte er dem Biest von seiner unglücklichen Reise und von den unerfüllbaren Wünschen seiner älteren Töchter. »Aber meine liebe, bescheidene Belle wünschte sich nur eine Rose.«

»Nun, dann soll sie die Rose meinetwegen haben«, brummte die Bestie. »Aber dein Leben gehört nun mir. Ich gestatte dir, nach Hause zu reisen, um deiner Tochter die Rose zu bringen und Abschied von deiner Familie zu nehmen. In einem Monat aber musst du zurückkehren, um durch meine Hand zu sterben. Oder eine deiner Töchter muss dich aus freien Stücken begleiten, um dein Leben auszulösen. Sie muss sich ganz meinem Willen unterwerfen, mir in allen Belangen zu Diensten sein und ihr Leben an meiner Seite in diesem Schloss im Wald fristen.«

Der Kaufmann dachte nicht im Traum daran, eine seiner Töchter für sein eigenes Leben zu opfern, aber die vier Wochen Galgenfrist wollte er gern darein verwenden, Abschied zu nehmen und seinen bescheidenen Nachlass zu regeln.

Also schwor er, nach Ablauf des Monats zum Schloss der Bestie zurückzukehren.

»Brichst du dein Wort, so werde ich dich finden und du wirst zusammen mit allen, die du liebst, einen schrecklichen Tod sterben«, knurrte das Biest.

»Ich werde wiederkommen«, versprach der Kaufmann mit zitternder Stimme.

»Gut, dann soll es so sein. Aber du sollst nicht mit leeren Händen heimkehren. In den Satteltaschen deines Pferdes wirst du Dinge finden, die einige Sorgen von deinen Schultern nehmen, die Not deiner Familie lindern und dir den Abschied erleichtern werden.«

Mit diesen Worten zog sich die Kreatur so schnell und lautlos zurück, wie sie gekommen war, und der Kaufmann war wieder allein.

Mit butterweichen Knien ging er in den Stall und fand sein abgezehrtes Pferd so frisch und gut genährt, wie seit Jahren nicht mehr. Sein Fell glänzte und es trug einen prunkvollen Sattel und goldenes Zaumzeug wie das Ross eines Königs. Die reichverzierten Satteltaschen waren bis zum Rand mit goldenen Münzen und kostbarem Schmuck gefüllt.

Noch nie hatte der Kaufmann eine vergleichbare Pracht gesehen und er wusste, dass seine Töchter mit dem Inhalt der Taschen für alle Zeit ein sorgenfreies Leben in Wohlstand würden führen können.

Dieser Gedanke beruhigte sein Herz und doch ritt er voller Trauer und Angst von dannen.

Isabelle und die Bestie

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