Читать книгу Schlaflos - Anders Bortne - Страница 10
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ОглавлениеAm nächsten Morgen setze ich mich im Bett auf. Ich fühle mich schwer und benommen. Habe ich tief genug geschlafen? Lange genug? Habe ich überhaupt geschlafen? Mit den Jahren bin ich zu einem Experten geworden und kann mein Schlafverhalten beobachten und Diagnosen stellen. Und wie auch bei allen anderen Fachidioten: Je tiefer man gräbt, desto ausschweifender und unverständlicher werden die Antworten. Es ist schon lange her, dass ich auf die Frage Hast du gut geschlafen? ehrlich geantwortet habe. Ich habe mir angewöhnt, einfach nur zu nicken und Ganz okay! zu antworten. Die Frage ist eine Höflichkeitsphrase, niemand möchte eine ausführliche Antwort hören.
Was das Tagesgeschäft betrifft, weiß ich so ungefähr, was auf mich zukommt, aber über die Nächte habe ich keine Kontrolle. Ich weiß nie, was da auf mich zukommt, und in der Regel weiß ich auch hinterher nicht, wie es war. Der Schlaf kommt oder er kommt auch nicht. Ich kann eine ganze Nacht durchschlafen oder auch eine ganze Nacht lang nur wach liegen und die Decke anstarren. Ich kann die halbe Nacht wach liegen und die zweite Hälfte in Tiefschlaf fallen. Ich kann mich um drei Uhr nachts hinlegen und um halb fünf meinen Tag beginnen. Ich kann acht Stunden in einer Art bewusstlosen Dämmerzustandes zubringen, ohne in den Tiefschlaf zu kommen. Ich kann mich vom Bett aufs erste Sofa, von dort aufs zweite Sofa und dann auf den Fußboden vor den Fernseher und wieder zurück ins Bett bewegt haben. Ich kann mir drei Filme hintereinander angeschaut haben. In einigen Nächten finde ich Schlaf, in anderen nicht. Wo auch immer sich der Schlaf hinbewegt, ich versuche, ihm auf den Fersen zu bleiben.
Nachts kann alles Mögliche passieren, und das Einzige, was ich machen kann, ist, in mich hineinzuhorchen und Worte zu finden.
Aber jetzt bin ich unsicher.
Ich höre Line und die Kinder im Obergeschoss miteinander reden. Als Letzter aufzuwachen ist ungewohnt. Ich dusche und ziehe mich an, und wie ich so aus der Nacht auftauche und über die Schwelle in den Tag trete, merke ich, dass mit mir etwas nicht stimmt. Sind das die Nachwirkungen der Tablette? Ich muss irgendwie weggetreten gewesen sein, aber es fühlt sich nicht an, als ob ich geschlafen hätte. Ich bin nicht müde, aber ich habe auch nicht das Gefühl, erholt zu sein, wie sonst nach einer guten Nacht. Als ich ins Obergeschoss gehe, rufen die Kinder fröhlich nach mir, aber Lächeln geht nicht.
»Morgen!«, sagt Line.
»Morgen!«, erwidere ich.
Das erste Wort des Tages, der erste Austausch mit einem anderen Menschen – manchmal ist das, wie eine vollgekramte Rumpelkammer zu öffnen. An manchen Tagen bleibt das Gerümpel da, wo es ist, an anderen fällt dir alles entgegen. An jenem Morgen verstehe ich, dass ich mich zurückhalten muss; ich habe nichts Gutes beizutragen. Einfach nur durchhalten, sage ich mir. In einer Dreiviertelstunde sind die Kinder im Kindergarten und ich bin auf Arbeit. Meine Arbeit gibt mir den Abstand, den ich brauche: Abstand zu anderen Leuten, aber auch zu mir selbst. Hier zu Hause, mit unseren zwei kleinen Kindern, starrt mir das Leben mitten ins Gesicht; es gibt keinen Abstand, ich kann mich nirgendwo verstecken.
Wir machen uns fertig. Jacken und Schuhe müssen zusammengesucht werden, Trinkflaschen und Regensachen dürfen wir nicht vergessen, wir müssen uns anziehen. Das ist eine Situation, in der ich oft schnell ungeduldig werde, aber an diesem Morgen ist es noch schlimmer als sonst: Ich beginne zu schwitzen, dann beginnt es zu jucken. Mein Brustkorb wird eng, ich bekomme keine Luft. Der Flur mit all den Leuten und Klamotten und Schuhen wird für mich zu einem Käfig. Ich muss einfach raus hier.
»Aber ich will keine Jeans anziehen«, jammert unsere Fünfjährige, als ich ihr die Hose überziehen will. Ich merke, wie es in mir brodelt.
»Keine Widerrede!«
»Ich will aber nicht!«
Ich halte sie fest. »Das ist mir egal!«
»Anders!«, warnt mich Line.
Als wir nach draußen und auf die Treppe treten, packe ich unseren Zweijährigen, der nicht über die Türschwelle will.
»Komm schon!«
Er schüttelt den Kopf.
»Verdammt noch mal!«, knurre ich ihn an und zerre ihn ins Tageslicht. »Komm schon!«
Er schaut mich erstaunt an und sagt einfach nur: »Papa!«
»Jetzt reiß dich einfach mal zusammen!« Line schaut mich streng an und hält meinem Blick stand.
Mir ist heiß, der Schweiß läuft mir den Rücken runter und meine Kopfhaut juckt. Wenn ich jetzt wütend werde, ist alles aus, das weiß ich. Aber ich will mich nicht zusammenreißen, ich will mich nicht beherrschen. Wenn die Kinder denn den ganzen Weg über bocken wollen und Line streiten muss – bitte schön! Ich bin bereit.
Jetzt hält Line inne und es sieht aus, als habe sie plötzlich jemand Fremden vor sich.
»Was ist denn los mit dir?«, fragt sie. »Hast du irgendwelche Dr.-Evil-Pillen genommen, oder was?«
Ich schaue in die Gesichter unserer Kinder: Die Fünfjährige schaut mich an, als ob ich nicht ganz dicht sei. Das Gesicht des Zweijährigen ist rot und verweint. Ich nehme ihn auf den Arm und versuche zu trösten, aber er streckt die Arme nach seiner Mutter aus und entgleitet mir.
Zwanzig Minuten später, nachdem ich die anderen abgesetzt habe, sitze ich im Auto und heule. Mein Gesicht fühlt sich an wie eine Maske; die Tränen, die darüberrollen, spüre ich nicht. Ich fühle mich kraftlos, schwer und unter Medikamenteneinfluss. Mein Mund ist trocken, auf der Zunge spüre ich einen anhaltenden metallischen Geschmack.
Es spielt keine Rolle, ob diese Tabletten Schlaflosigkeit oder Trostlosigkeit kurieren sollen, sie wirken jedenfalls nicht.
Eine Woche später stehe ich wieder vor dem Spiegel in der Patiententoilette meines Arztes. Ich beuge mich über das Waschbecken und näher an den Spiegel. Meine Augen glänzen, als ob ich unter Drogen wäre oder Fieber hätte. Ich friere und schwitze abwechselnd, meine Muskeln und Gelenke tun mir weh. Jedes Mal, wenn das Kind im Wartezimmer seinen Spielzeug-Lkw gegen den Kindertisch knallt, zucke ich zusammen. Nicht das Schlafmittel verursacht solche Symptome, es ist vielmehr die natürliche Reaktion meines Körpers auf den Schlafentzug. Am Abend zuvor war ich früh eingeschlafen, doch um 1 Uhr nachts schon wieder aufgewacht und konnte dann nicht mehr einschlafen. Erst als es dämmerte, bin ich auf dem Sofa eingeschlummert. In der Nacht davor war es genauso schlimm.
Ob es an der einen Nacht mit dem Schlafmittel lag, die diese neue schlimme Phase eingeleitet hat, weiß ich nicht. Das spielt auch keine Rolle. Das geht jetzt schon seit sechzehn Jahren so. Sechzehn Jahre machen 5.840 Nächte. Wenn man von täglichen sieben Stunden Schlaf ausgeht, wären das 40.880 Stunden, die ich eigentlich schlafend verbracht haben sollte.
So viele Stunden, in denen ich wach gelegen habe. So viele verlorene Stunden!
Ich gehe wieder ins Wartezimmer, setze mich, nehme ein nicht mehr aktuelles Frauenmagazin in die Hand und sehe, wie meine Hände, die die glänzenden Seiten halten, zittern. Ein fast unmerkliches Zittern. Das habe ich bisher noch nie bemerkt. Hat der Verfall schon eingesetzt? Liegt das am Alter oder an all dem Schlafmangel der letzten Jahre? Stand da in dem Artikel nicht etwas über eine 40 % höhere Wahrscheinlichkeit, Krebs zu bekommen? Oder über 40 %? An einigen Abenden schien mir, als hätte ich Herzrasen. Was war das? Mein Gott, wie konnte ich das nur all die Jahre hinnehmen, ohne etwas zu unternehmen? Ich muss eine Lösung finden. Es geht ja nicht nur um meine eigene Gesundheit oder mein Leben; ich habe eine Familie, die mich braucht, für die ich noch viele Jahre gesund, stark und ausgeruht sein will. Ist es die Angst oder die Hoffnung, die mich hergetrieben haben? Gibt es das eine nie ohne das andere?
Ich werde aufgerufen und schlurfe ins Sprechzimmer.
»Wie lief’s?«, fragt der Arzt.
»Für mich keine Tabletten mehr«, sage ich. »Was kann ich noch machen, um schlafen zu können?«
1 Walker, Matthew. Hvorfor vi sover. Übs. John Grande. Oslo: Forlaget Press 2017, S. 323. Alle Zitate im vorliegenden Buch beziehen sich auf die norwegische Ausgabe. Auf Deutsch ist es unter dem Titel Das große Buch vom Schlaf 2018 bei Goldmann erschienen.
2 Walker, S. 328.
3 Pallesen, Ståle [u. a.]. A 10-year trend of insomnia prevalence in the adult Norwegian population. In: Sleep Medicine. Rochester: 2014, S. 173–179.
4 Bjorvatn, Bjørn. Bedre søvn. 2. Aufl. Oslo: Fagbokforlaget 2015, S. 31.
5 Walker, S. 72.
6 Fougea, Frédéric und Guiot, Jérôme. Premier Homme. Französischer Dokumentarfilm. Paris: 2017.
7 Skard Heier, Mona und Wolland, Anne M. Søvn og søvnforstyrrelser. Oslo: Cappelen Akademisk Forlag 2005, S. 34.
8 In der römischen Mythologie heißt der Gott des Schlafes Somnus.