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KAPITEL 1

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Das Kapitel, in dem Ben wartet, wartet und wartet – und dann den Flugverkehr über Dortmund gefährdet

Ben sah auf die große Wanduhr, die sich auch wunderbar im Wartesaal eines Vorstadtbahnhofs gemacht hätte. 9:33 Uhr. Genau eine Minute später als das letzte Mal, als er nachgesehen hatte, und zwei Minuten später als das vorletzte. Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, dann lehnte er sich im Bürostuhl zurück, dessen in die Jahre gekommene Scharniere ein angestrengtes Seufzen von sich gaben.

»Der kommt wohl nicht mehr«, gestand er sich ein. Auch ein weiterer Blick zur Uhr, die nach wie vor auf 9:33 Uhr stand, vermochte an diesem Sachverhalt nichts zu ändern. Er stieß ein verärgertes Schnauben aus.

»Wie hieß der Kerl noch?« Er zog die Tastatur näher zu sich heran und öffnete die Google-Suchmaske auf dem Monitor. »Ivo …«, murmelte er und tippte mit seinem Zeigefinger die drei Buchstaben ein. »Ivo … nicht Einstein … äh … Sunstein. Ja, Sunstein war es, glaub ich.« Ben erwartete nicht, dass er mit seiner Recherche Erfolg haben würde, er hielt es mehr für einen Zeitvertreib. Sein Neun-Uhr-Termin hatte am Telefon mit aufgeregter Stimme davon gesprochen, dass er in einem Hotel in der Nähe von Bens Detektei wohne und, so wörtlich, »dringend mal rüberkommen« müsse. Es handle sich um etwas, »mit dem er nicht zur Polizei gehen« könne. Bei der Detektei handelte es sich in Wahrheit um Bens »Büro-Schrägstrich-Probenraum«, in dem er seine Shows einstudierte, Angebote schrieb und Telefonate führte. Etwas über ein Jahr war es her, dass Ben Pruss, seines Zeichens Zauberkünstler mit mäßigem Erfolg, den, wie die Presse ihn titulierte, Varieté-Killer festgesetzt hatte. Seitdem verdingte er sich nebenberuflich als Privatdetektiv, und damit war sein Büro/Probenraum eben zu einem (Detektiv-)Büro/Probenraum avanciert.

Ben hatte sich einen rollbaren Riesenstadtplan von Dortmund im Format 250 x 200 cm an die Seitenwand gehängt, den ihm sein Kumpel Dennis auf fragwürdigen Wegen aus dem Fundus ihrer alten Schule besorgt hatte. Er diente einzig dazu, die beiden Zauberplakate von Houdini und Dante zu verdecken – und im günstigsten Fall, um etwas Eindruck zu schinden. Zur Steigerung der Dramatik hatte er an einigen Stellen des Plans kleine rote Klebepfeile angebracht, die dem interessierten Betrachter suggerierten, dass dort ein bedeutungsvoller Ort in einem von Bens zahlreichen Fällen zu finden sei. Um die Idee der zahlreichen Fälle im Kopf seiner Besucher zu festigen, hatte er die Sammlung seiner Zauberzeitschriften in ein offenes Hängeordnersystem sortiert. Die Reiter der Ordner waren fantasievoll beschriftet, unter anderem mit Titeln wie Schulz gegen Schulz, Kapitalsache Reuter, Diebstahl KBV und natürlich Zack Varieté. Wenn Ben auch noch immer nicht viel von seinem neuen Job wusste, so hatte er doch schnell gemerkt, dass ein klein wenig Show auch hierbei Wunder wirkte.

Nachdem er den Nachnamen in das weiße Feld der Suchmaschine getippt hatte, drückte er die Entertaste. 235.000 Ergebnisse. Ben gab einen Grunzlaut von sich und ergänzte seine Suchanfrage um das Wort Dortmund. Siehe da, durch diesen Kunstgriff detektivischer Recherche (der Ben ein überlegenes Grinsen und ein gehauchtes »Yes, Baby!« entlockte) dezimierte sich das Suchergebnis auf schlappe 809. Er überflog die Treffer auf der ersten Seite. Ivo tauchte auf und auch Sunstein. Aber immer waren es Ivos mit anderen Nachnamen oder Sunsteins mit anderen Vornamen, die der knappe Textschnipsel unter dem blau gefärbten Webseitenlink anzeigte.

Ben klickte auf die 2 am Ende der Webseite, und weitere Suchergebnisse erschienen. Der oberste Eintrag erregte seine Aufmerksamkeit. AStA Copyshop Dortmund lautete dieser, und darunter stand in etwas kleinerer Schriftart Unsere Mitarbeiter: Horst Dellwig, Anke Pahl und Ivo Sunstein …. Ein weiterer Klick, und Ben gelangte auf die entsprechende Seite. Ihr Inhalt wartete nicht mit viel mehr Information auf als der Google-Schnipsel, enthielt aber zusätzlich die Adresse und Telefonnummer. Er griff zum Hörer seines ockerfarbenen Telefons, welches er ein paar Monate zuvor in einem Second-Hand-Laden gekauft hatte. Neben vielen geheimnisvollen Zusatzknöpfen besaß es ein kleines, graues Display. Ben hatte zwar keine Ahnung, wofür das ganze Zeug gut war (zumal weder das Display noch die Knöpfchen irgendeine Funktion zu haben schienen), doch er fand, dass es veritabel nach Chef aussah. Er tippte die Nummer ein, die auf dem Monitor angezeigt wurde.

»Ja?«, meldete sich eine gereizt klingende Männerstimme. Ben fand den Klang durchaus verständlich, zog man in Betracht, dass es sich bei dem jungen Mann höchstwahrscheinlich um einen Studenten handelte und der Tag noch recht jung (mittlerweile 9:36 Uhr) und ungemütlich kühl war.

»Hallo, Ben hier«, eröffnete er und gab sich Mühe, wie ein Studienkollege zu klingen. »Ich wollte Ivo sprechen.«

»Ist nich da. Hat eigentlich Dienst seit acht Uhr heute, aber der Arsch ist nich jekommen. Ick musste einspringen. Hab eben offen jemacht. Die ham mich hier aus dem Bett jeklingelt. Schlange vor de Tür bis zur Mensa. Elende Scheiße. Hab jar keine Zeit für so wat. Der Sack liecht mit Sicherheit wieder unter irgend nem Balkon.«

Ben hielt den Hörer beim Monolog des offenbar aus Berlin stammenden Herrn ein Stück weit vom Ohr entfernt. »Na jut. Äh, na gut«, antwortete er und sparte sich die Frage, warum Ivo Sunstein »unter irgendeinem Balkon« liegen sollte. Stattdessen fragte er: »Hast du vielleicht seine Telefonnummer?«

»Nee. Hab ick nich, deswejen ham ja alle bei mir anjerufen. Seine Adresse kannste von mir aus haben. Wohnt inner Bornstraße 92, det weeß ick. Direkt neben den Hannibal. Hau ihm eine rein von mir, wenn de ne siehst.«

Ben bedankte sich und legte auf. Das von den Dortmundern Hannibal genannte Hochhaus kannte er. In seiner unvergleichlichen terrassenförmigen Bauweise war es eine der berühmtesten Bausünden der frühen Siebziger.

Sobald die Zeitungen voll waren von der Story über den jungen Privatdetektiv Ben Pruss, der den Varieté-Killer zur Strecke gebracht hatte, trudelten fast täglich irgendwelche Anfragen bei ihm ein. Vorwiegend von gehörnten Ehefrauen und -männern oder betrogenen Firmenbossen, die sich sicher waren, dass sich ihr »kranker« Mitarbeiter in Wirklichkeit nebenbei den ein oder anderen Euro dazuverdiente, während in der Firma jede Woche ein neuer gelber Schein hereinflatterte. Ein weiterer positiver Nebeneffekt war, dass auch die Zauberei plötzlich wieder prächtig lief. Es schien als schick zu gelten, sich seinen sechzigsten Geburtstag von dem Mann bespaßen zu lassen, der drei Leute vor dem nahezu sicheren Tod gerettet und einen Mörder überführt und dingfest gemacht hatte. Doch wie es meistens im Leben ist, dauern die angenehmen Zeiten nicht ewig an. Nach knapp zwei Monaten ebbte das Interesse an Ben und seinem Dienstleistungsspektrum wieder ab.

Genau das war der Grund, warum er die Zeit und Muße hatte, an diesem Morgen vor Haus Nummer 92 in der Bornstraße aufzutauchen und der Frage nachzugehen, warum der Kerl, der um neun einen Termin mit ihm ausgemacht hatte, unverschämterweise nicht aufgetaucht war. Während Ben auf das verwitterte Tastenfeld mit den zehn Klingeln starrte und nach dem Namen Sunstein fahndete, stellte er sich die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit sei, dass dies gar nicht sein Ivo Sunstein war, sondern ein ganz anderer? Schließlich hatte seiner ja ein Hotel erwähnt.

»Trotzdem. Nicht sehr groß bei dem Namen«, murmelte er vor sich hin, als er das schwarze Schildchen mit den eingestanzten weißen Buchstaben I. Sunstein oben links im Tastenfeld ausmachte. »Na bravo, ganz oben.« Ben klingelte und wartete. Dann klingelte er erneut und wartete wieder. Niemand öffnete.

Er ging zurück auf den Bürgersteig und blickte an der verwitterten, grauen und in den ersten zwei Metern mit einem farbenfrohen All Cops Are Bastards verkündenden graffitbeschmierten Hauswand hinauf. Das Treppenhaus teilte das Haus in zwei Hälften mit jeweils fünf Wohnungen auf beiden Seiten. Ben nahm an, dass Ivo im Dachgeschoss links wohnte. Die Fenster auf der rechten Seite glänzten, als wären sie von Meister Propper persönlich gewienert worden, während die Fenster auf der linken Seite schon seit Langem keinen Putzlappen mehr zu Gesicht bekommen hatten. Gardinen waren ebenfalls Fehlanzeige – genau wie bei Ben zu Hause. Er rümpfte die Nase, immer noch den Blick nach oben gerichtet, und überlegte, was zu tun sei, als sich die Haustür knarzend und quälend langsam nach innen öffnete. Eine gepflegt wirkende, ältere Dame in weißer Bluse, altrosa Daunenweste und hautenger Jeans verließ das Haus und musterte Ben. Sie kam um einiges leichtfüßiger auf ihn zu, als er es nach der umständlichen Türöffnungszeremonie erwartet hatte.

»Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«

Ben erwiderte ihr verschmitztes Lächeln und antwortete: »Ich suche Herrn Sunstein. Wissen Sie zufällig, wo der ist?«

»Nein, tut mir leid. Ich teile mir nur eine Etage mit diesem Herrn, ansonsten pflegen wir keinen Kontakt.« Ihr Gesichtsausdruck war in dem Moment einen Hauch finsterer geworden. Die Art, wie sie »mit diesem Herrn« ausgesprochen hatte, fachte Bens Interesse weiter an. »Sie mögen ihn wohl nicht besonders?«

»Sind Sie ein Freund von ihm?«

»Ich kenne ihn gar nicht. Ich habe jetzt eigentlich einen beruflichen Termin mit ihm, deswegen wundere ich mich, dass er nicht zu Hause ist.«

Die ältere Dame verdrehte die Augen und zog ihre Stirn in Falten. Dann sagte sie mit einer Stimme, die deutlich pikiert klang: »Vielleicht sollten Sie es mal bei der Polizei versuchen? Dort hält er sich hin und wieder auf.«

Polizei? Das passte! Ivo Sunstein hatte ihm gegenüber angedeutet, dass er eine Geschichte zu erzählen habe, mit der er sich nicht an die Polizei wenden könne. Er lachte. »Oh. Auf welcher Seite der Gitterstäbe denn?«

Nun lachte auch die Frau und trat ein Stück näher an Ben heran. Mit konspirativer Stimme, obwohl sich weit und breit keine weitere Person in Hörweite befand, raunte sie: »Sowohl als auch. Sie müssen wissen, dass der Herr nicht ganz richtig im Kopf ist.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, drehte sie eine imaginäre Kurbel an ihrer rechten Schläfe. »Ständig ruft der die Polizei an und zeigt irgendwelche Frauen an. Wegen Falschparken oder wenn die den Hundedreck nicht vom Bürgersteig nehmen. Nur Frauen! Ich hab das genau gehört.« Sie zwinkerte Ben geheimnistuerisch zu. »Durch die Tür. Zwei Polizisten waren neulich da und haben ihm klipp und klar Bescheid gegeben, dass er das sein lassen soll, weil sie andere Dinge zu tun hätten, als ihm hinterherzurennen. Und er sollte sich von irgendeiner Frau fernhalten, der er nachgestiegen ist, wissen Sie? Nachgestiegen!« Sie schüttelte empört den Kopf.

»Nachgestiegen?«, wiederholte Ben.

»Ja! Gestalkt hat der die. So was gab’s früher gar nicht. Hab ich neulich noch bei Aktenzeichen XY gehört. Deswegen war der auch mal im Knast.«

»Da haben Sie ja so einiges mitbekommen«, antwortete Ben und gab sich Mühe, die Anerkennung, die er empfand, möglichst kraftvoll zum Ausdruck zu bringen.

»Ich finde immer, wenn es was Interessantes gibt, muss man die Ohren spitzen, oder?«

»So ist es«, erwiderte Ben und fragte: »Hat er Sie auch belästigt?«

»Mich? Nee. Ich bin ihm wohl zu alt. Oder zu hässlich … Zum Glück.« Wieder zwinkerte sie Ben zu.

»Kann gar nicht sein«, sagte Ben lächelnd. »Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal gesehen?«

»Jetzt klingen Sie selber wie einer von der Polizei. Warten Sie mal.« Sie überlegte einige Sekunden, bevor sie antwortete: »Das war am Montag. Montagnachmittag.« Und als könnte Ben nicht wissen, welcher Tag heute war, schob sie hinterher: »Vorgestern war das. Vorgestern Nachmittag.« Sie nickte und trat zwei Schritte zurück. »So, ich muss dann auch los, sonst verpass ich den Bus.«

Ben bedankte sich und lief zurück zu seinem in die Jahre gekommenen Ford Fiesta, den er nicht weit vom Hauseingang entfernt in einer Parklücke abgestellt hatte. Von hier aus war es möglich, den Eingangsbereich perfekt einzusehen. In den letzten Monaten hatte er einige Erfahrungen mit Observationen gemacht und festgestellt, dass er diese für einen Privatdetektiv absolut unerlässliche Arbeit gar nicht so übel fand. Langeweile war kein Problem für ihn. Sein Gehirn wechselte dabei nach einiger Zeit in eine Art meditativen Stand-by-Modus, in dem das Denken weitgehend abgeschaltet war und nur noch seine Sinne funktionierten. Ein Zustand vollster Aufmerksamkeit, den er als äußerst angenehm empfand. So angenehm, dass er beim letzten Mal fast vergessen hätte, die Verfolgung aufzunehmen, als sich seine Zielperson nach zwei Stunden endlich gezeigt hatte. Was schade gewesen wäre, denn der Kerl war mit seinem BMW direkt zu einem Hotel gejagt, hatte unter dem falschen Namen Heiko Eiermann eingecheckt und kurze Zeit später, in einen seidenen Bademantel gehüllt, zwei aufreizend gekleidete, junge Damen empfangen. Ein paar Schnappschüsse von der Begrüßungszeremonie an der Zimmertür reichten, um den Verdacht der Ehefrau zu erhärten und zwei Dortmunder Scheidungsanwälte glücklich zu machen.

Observationen waren eindeutig sein Ding. Und in dem Kurs, den er besuchte (acht Wochenenden an einer Akademie in Köln, siebenundzwanzig Lerneinheiten per E-Mail und zwei praktische sowie zwei theoretische Prüfungen zum zertifizierten Privatdetektiv) wurde das Thema ebenfalls behandelt. Ben war sich bewusst, dass eine Beschattung in diesem Fall eigentlich nicht angebracht war. Observationen wurden dann durchgeführt, wenn

a) gesichert war, dass die Zielperson sich im Haus befand und innerhalb einer überschaubaren Zeitspanne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Haus wieder verlassen würde, oder

b) gesichert war, dass die Zielperson das Haus innerhalb einer überschaubaren Zeitspanne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder betreten würde.

Was für ein Fall?, fragte er sich und gab sich gleich selbst die Antwort. Es gab überhaupt keinen Fall. Es gab allenfalls einen Termin, der nicht wahrgenommen wurde – und fertig. Er saß hier einzig und alleine deswegen rum, weil er sonst nichts zu tun hatte.

Das Wort Stalker kam ihm wieder in den Sinn, und es fiel ihm schwer, die Parallele zu seinem eigenen Verhalten zu verleugnen. Aber irgendetwas reizte ihn an dieser Sache. Sollte er sein Besteck rausholen und die Tür zu Sunsteins Wohnung knacken? Eher nicht. Doch dann kam ihm eine andere Idee. Er kramte in der Hosentasche nach seinem Huawei-Handy und forderte zweimal erfolglos: »Okay, Google, ruf Kai Siebert an!«, woraufhin er das Telefon auf althergebrachte Weise durch Wischen entsperrte und Kais Nummer per Hand aus den Kontakten raussuchte.


»Da siehst du doch nichts, wenn ich da ranfliege, Alter. Guck dir mal die dreckigen Fensterscheiben an. Lass uns lieber einsteigen wie beim Schottner damals.« Kai schaute Ben herausfordernd und mit einem maliziösen Funkeln in den Augen an. In seiner Hand hielt er einen DJI Inspire 2 Quadrocopter mit eingebauter X4S-Kamera, das Neueste vom Neuesten. Ben war die Idee gekommen, sie könnten mit der Drohne die Fenster abfliegen, um sich auf diese Weise ein Bild von den Innenräumen von Ivo Sunsteins Wohnung zu machen. Möglicherweise lag der Bewohner ja tot oder hilflos in einem der Räume. Nach dem, was Ben von diesem Typen gehört hatte, hielt er solch eine Variante für durchaus möglich. Er hatte Kai die Situation am Telefon geschildert, und der war kurzerhand – Gott segne die Freiberuflichkeit – angerückt. Nicht ohne Ben empört darauf hinzuweisen, dass es sich bei seinem Fluggerät nicht um eine herkömmliche Drohne handele, sondern um einen Highend-Quadcopter der – so wörtlich – Extraklasse. Ben quittierte diese klare Ansage mit einem wortreichen »Mmmh« und legte auf. Er hatte drauf gewettet, dass Kai sich gleich auf den Weg machen würde. Erstens wartete dieser ständig auf einen Grund, seinen Highend-Dingsda sinnvoll einsetzen zu können (das Dortmunder U und den Phönixsee hatte er tausendfach zu allen Tages-, Nacht- und Jahreszeiten auf Film sowie Foto gebannt). Und zweitens hatte er selten etwas so Dringendes zu erledigen, das nicht bequem noch ein paar Stunden, Tage oder Wochen verschoben werden konnte. Nur sporadisch arbeitete er als Programmierer an irgendwelchen Projekten und traf sich vor und nach der Arbeit am Laptop mit merkwürdigen Typen, die immer ein Handy am Ohr und eine dicke Geldbörse in der Arschtasche hatten und stets in bar bezahlten. Ein Umstand, der dafür sorgte, dass Kai ebenfalls immer über genug Barreserven verfügte und sich ab und zu solche Spielereien wie den Drohnentestsieger, pardon Quadcopter-Testsieger, leistete.

Kai hatte irgendwann im letzten Jahr bei Ben geklingelt und gefragt, ob er ein paar Tage bei ihm übernachten könne, nachdem er von seiner Freundin Steffi vor die Tür gesetzt worden war. Aus diesen paar Tagen war nun ein Fünkchen mehr als ein Jahr geworden, und Kai machte keine Anstalten, an dieser Situation etwas ändern zu wollen.

»Klar. Ich breche mit dir da ein, und dann landen wir wieder unter irgendeinem hundert Jahre zugestaubten Bett. Nee danke, einmal hat mir das gereicht«, antwortete Ben auf Kais Vorschlag, lieber gleich in die Wohnung einzusteigen.

»Auch wieder wahr. Hast du dich hier schon mal umgesehen? Lass mal hinters Haus gehen, da wird der gute Herr ja auch noch ein paar Fenster haben, und da fallen wir nicht gleich auf.«

Sie gingen die gepflasterte Einfahrt neben dem Haus entlang, der zum Garagenhof führte. Jeweils vier Garagen mit alten, zigfach überstrichenen, grauen Holztoren standen sich hier vis-à-vis gegenüber. »Entweder hat der kein Auto, oder er ist weggefahren«, sagte Ben, der auf eine offene Garage deutete, deren gemauerte und weiß gekalkte Innenwand die krakelige Beschriftung DG links trug.

»Sie verfügen über eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe, Ben Pruss«, feixte Kai in Bens Richtung.

Wenn das Haus schon von der Vorderseite kein Schmuckstück war, war es von der Rückseite ein Schandfleck. Der Putz war hier so dunkelgrau verfärbt, als hätte über Jahrzehnte ein Kohleofen seinen Ruß direkt auf die Hauswand gepustet. Da das Haus wahrscheinlich aus den Fünfzigerjahren stammte und in einer Hochburg des Kohlenpotts stand, war diese Erklärung durchaus plausibel. Neben dem Eingang zum Keller und den brav aufgereihten Mülltonnen gab es einen schmalen, mit Waschbetonplatten ausgelegten Patt, der in früheren Zeiten dazu gedient hatte, die Kohlen in der Schubkarre bis vor die Kellerfenster zu schieben. Daneben lag ein vermoostes Rasenstück mit Wäschespinne, auf die eine tüchtige Hausfrau sechs blütenweiße Laken zum Trocknen aufgehängt hatte.

»Lass da hinter die Laken stellen. Da sieht man uns nicht sofort.« Ben hatte sich an Kais Redeweise gewöhnt, der gerne Wörter wie uns, ich und wir in seinen Sätzen unter den Tisch fallen ließ, wenn sie für das grundlegende Verständnis nicht unabdingbar waren.

Im Schutze der sanft vor sich hinflatternden und aprilfrisch duftenden Laken setzte Kai die Drohne auf die Wiese und startete sie mit der Fernbedienung, die, durch einen um sein Genick geschlungenen Nylonriemen gehalten, vor seinem Bauch hing. Sanft und nahezu geräuschlos erhob sie sich gut einen Meter in die Luft. Auf dem hochauflösenden Monitor war das gestochen scharfe Bild ihrer Beine und ein Stück des Rasens zu erkennen. Kai drückte den Schalthebel nach vorne, und die Drohne schwebte Meter um Meter weiter in die Höhe. Nach wenigen Sekunden stabilisierte Kai sie auf Sunsteins Fensterniveau. Langsam ließ er sie in Richtung des ersten Fensters gleiten und kurz davor stoppen. Wie ein übergroßes Insekt hing das Gerät lautlos in der Luft. Über einen weiteren Schalthebel ließ sich die Kamera in jede beliebige Richtung schwenken sowie raus- und reinzoomen.

»360 Grad«, sagte Kai mit hörbarem Stolz in der Stimme, als er mit der Kamera eine Rundumsicht auf den Bildschirm zauberte.

»Schlafzimmer«, sagte Ben und meinte den Raum hinter der Glasscheibe, der soeben auf dem Monitor ins Blickfeld rückte.

»Bin ich froh, dass wir nicht bei dem unterm Bett liegen müssen«, murmelte Kai, der soeben auf einen geöffneten Pizzakarton mit einem vergammelten Stück Thunfischpizza gezoomt hatte. Drei zur Hälfte gerauchte Zigarettenkippen steckten darauf wie groteske Wunderkerzen auf einer absonderlichen Torte. »Mmmh. Lecker!«, meine Ben.

»Ja. Im Aschenbecher war eben kein Platz mehr.« Der quoll in der Tat von Zigarettenkippen über, genau wie die Schachtel, die daneben lag und in der die Zigaretten ursprünglich mal gesteckt hatten. »Sunny & Steyn raucht der. Passt ja! Ich wusste gar nicht, dass es die Marke noch gibt«, sagte Kai.

Sunsteins Bett sah aus, als wäre ihm erst gerade jemand entstiegen, der dort eine verdammt wilde Nacht verbracht hatte. Die Wände waren behangen mit Faltpostern aus diversen Männermagazinen neben drei Working Girls-Pin-up-Kalendern aus den Jahren 2011 bis 2013. Der größte Schatz im Raum war ein Großbildfernseher, der an der dem Bett gegenüberliegenden Seite an der Wand prangte und mit etlichen futuristisch anmutenden Lautsprechern verbunden war. Durch die Kamera wirkte es auf Ben, als wäre die Mattscheibe im Gegensatz zu allem, wirklich allem anderen im Raum, staubfrei und blitzblank. Der Typ setzte Prioritäten, ging es Ben durch den Kopf. Unter der Mörderglotze standen mehrere Gerätschaften, die wild untereinander und mit dem Fernseher verkabelt waren. Ein Gegenstand, der weitgehend vom Bett verdeckt war, erregte Kais Aufmerksamkeit, und er zoomte ihn ran. Beide erkannten gleichzeitig die breit ausgestreckten Beine einer gelblich blonden Gummipuppe, die ihren Mund zu einem immerwährenden, wollüstigen O verzogen hatte.

»Äääääh!«, machten beide gleichzeitig, als Kai die Kamera instinktiv wieder auf den Kalender lenkte, der mit einer jungen Blondine, die nichts weiter als einen gelben Helm, eine blaue Latzhose und High Heels trug, weitaus gefälliger auf die beiden wirkte.

»So hochauflösend müsste die Kamera gar nicht sein, wenn du mich fragst«, sagte Ben angeekelt. »Flieg mal ans nächste Fenster.«

Kai drückte den Hebel nach rechts, und einen Moment später rückte die Küche ins Bild, deren Anblick ebenfalls nicht die Lust weckte, sich spontan eine Schürze umzuwerfen und mit Gusto ein pikantes Szegediner Gulasch zu zaubern. Bergeweise schmutziges Geschirr, offene Ravioli-Dosen, eine vertrocknete Scheibe Mortadella, die man in ihrem Zustand wunderbar als Türkeil verwenden konnte, weitere drei, nein, vier, fünf Pizzakartons und ein Kühlschrank, der schon von außen so versifft aussah, dass Ben dankbar war, dass er dessen garantiert äußerst vitales Innenleben nicht sehen musste … Sechs Pizzakartons.

»Zum Glück ist das nächste Fenster Riffelglas. Sein Scheißhaus will ich mir, ehrlich gesagt, nicht ansehen«, sagte Kai.

»Dann lass uns auf die andere Seite gehen, vielleicht sehen wir im Wohnzimmer was Interessanteres.«

»Entspann dich«, sagte Kai und blickte hoch zur Drohne, die er soeben über das Dachniveau hatte steigen lassen. »Ich bin auch ein Ass im Blindflug.« Er senkte den Blick zurück auf den Monitor, und Ben sah, wie das Fluggerät hinter dem Dach in Richtung Straßenseite verschwand. »Mit der geilen Cam geht das wie geschmiert.«

Kaum ausgesprochen, kamen nach wenigen Sekunden, in denen nur vermooste Dachziegel zu bestaunen waren, die Fenster ins Bild. Dahinter ein Raum, der nach Vorstellung von Architekt und Vermieter wohl das Wohnzimmer sein sollte. Es gab hier sogar eine Couch und einen weiteren Großbildfernseher, doch der eigentliche Blickfang war die Wandseite gegenüber den Fenstern. Ben und Kai schauten ungläubig auf das Bild des Monitors. Die Wand war über und über mit Fotos beklebt. Großformatige, kleinformatige, einige gerahmt, der Großteil direkt auf die Wand geklebt.

Ben stieß ein tonloses Pfeifen aus. »Das müssen ja Hunderte sein.«

»Ziemlich genau dreihundert.«

»Wie kommst du denn da drauf?«

Kai schaute Ben mitfühlend an. »Zwanzig Stück in der Breite und fünfzehn in der Höhe. Macht dreihundert. Etwas weniger wegen den paar Gerahmten und den Großen. Ich kann zählen.« Er blickte wieder auf den Monitor. »Und rechnen.«

»Du guckst wie Bambi«, sagte Ben schnippisch und fuhr fort: »Wie es aussieht, hat unser Freund echte Probleme mit Frauen.«

»Zumindest mit einer Frau«, antwortete Kai, der näher an die Fotos heranzoomte. Jetzt wurde deutlich, dass es sich bei allen Motiven um ein und dieselbe Frau handelte. Eine junge Dame mit langen, platinblonden Haaren. Auf einigen Fotos trug sie sie offen, auf anderen zu einem Zopf oder zwei Zöpfen gebunden, manchmal locker, manchmal streng gescheitelt. Auf wieder anderen trug sie einen Dutt. Hin und wieder war sie in aufregender Abendkleidung zu sehen, dann in Schlabberlook. Auf einigen Bildern trug sie nur Unterwäsche oder nichts weiter als ein Badehandtuch um die Brust. Die meisten Motive wirkten, als wüsste die Frau nicht, dass sie fotografiert wurde. Ben und Kai sahen sich mit hochgezogenen Brauen an.

Dann meinte Kai: »Ich fotografiere den Kram mal ab. Vielleicht finden wir raus, wer das ist.«

Einige Minuten starrten sie beide nur auf den Monitor, während Kai die Drohne millimetergenau justierte und einzelne Abschnitte der Wand fotografierte. Dann hob er das Fluggerät wieder über Dachniveau und ließ es langsam zur rückwärtigen Hausseite und wieder in ihr Sichtfeld gleiten.

»So, runter das Teil und ab nach Hause.«

»Warte noch«, sagte Kai und lenkte die Drohne zurück an das Schlafzimmerfenster. »Ich will noch dieses Mädel in Latzhose fotografieren, die sieht echt Hammer aus!«

»Ach hör doch auf mit diesem Kinderkram! Lass uns abhauen. Sei froh, dass wir nicht gesehen worden sind.«

»Was machen Sie denn hier?«, gellte eine hohe Frauenstimme jenseits ihres Sichtfeldes hinter den Bettlaken. Kai zuckte vor Schreck zusammen und drückte instinktiv den Schalthebel nach vorne. Ben sah, wie die Drohne gegen die Fensterscheibe im fünften Stock prallte, einen Moment in der Luft taumelte, um dann, gemächlich, aber unweigerlich, seitlich abzusacken.

»NEIN«, schrie Kai, der panisch auf das Fluggerät stierte und hektisch mithilfe des Steuerknüppels versuchte, sein schwankendes Lieblingsspielzeug vor dem sicheren Tod zu retten. Als er erkannte, dass es sinnlos war, rannte er mit weit ausgestreckten Armen in Richtung Hauswand. Dabei riss er zwei Bettlaken mit sich und stieß beinahe noch die mit Lockenwicklern und Wäschekorb bewaffnete Frau um, die sich nur mit einem beherzten Sprung nach hinten in Sicherheit bringen konnte.

»Strömungsabriss. Scheiße!«, schrie Kai verzweifelt in den Himmel.

Ben war komplett erstarrt. Er sah das Fluggerät eine letzte waghalsige Rollenkehre vollführen, dann prallte es mit einem ungesunden Pong an die Regenrinne und stürzte ungebremst zu Boden. Direkt neben Kai, der ein weiteres »NEIN!« kreischte und nach wie vor die Arme gen Himmel reckte, als wollte er Gott nach einer dreimonatigen Dürre um ein Tröpfchen Regen anflehen. Ben spürte beim Aufprall einen Schmerz, als wäre die Drohne nicht auf die Waschbetonplatten, sondern ihm direkt auf den Kopf gefallen. Kai sank auf die Knie und stieß ein herzzerreißendes Heulen aus, bei dem er sich mit beiden Armen selbst umarmte. Dann drehten sie gleichzeitig ihre Köpfe in Richtung der Dame, die mit wenigen Worten, ausgesprochen im feinsten Dorstfelder Ruhrdeutsch, großes Leid über Bens Mitbewohner gebracht hatte.

Auch sie stand wie angewurzelt da und verzog das Gesicht in blankem Entsetzen. »Ach du Scheiße«, stieß sie atemlos aus und versuchte ein unschuldiges Grinsen.


»Mmmh. Dieser Typ kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Ben, als sie, zurück im Büro, die Bilder von Kais Drohne auf dem Monitor betrachteten. Die Kamera war beim Absturz genauso draufgegangen wie der Rest des Fluggeräts, doch zu Bens Erleichterung konnte die SD-Karte unversehrt geborgen werden. »Ich habe die Blackbox gefunden«, hatte Ben triumphierend ausgerufen, als er noch am Absturzort die Karte aus dem zerbrochenen Kameragehäuse entfernt hatte, und sich damit einen vernichtenden Blick von Kai eingehandelt. Dieser hatte in Windeseile die fünf Phasen der Trauer nach Kübler-Ross hinter sich gebracht:

1. Das Leugnen (noch bevor er die Absturzstelle erreicht hatte): »Das kann nicht sein, Alter! Das, das, das … Scheiße! Das kann nicht sein, Alter!

2. Der Zorn (auf Knien, die Drohne in seinen Armen; ein Rotor bewegt sich noch leicht, um dann für immer zu stoppen): »So ein verfickter Scheiß! Ich raste aus! Wegen deinem Scheiß, du Penner!«

3. Das Verhandeln (wieder aufgerichtet, ein leicht verrücktes Glimmen in den Augen, an Ben gewandt): »Bestimmt krieg ich die wieder hin. Was meinst du? Die krieg ich doch wieder hin, oder? Krieg ich die wieder hin?«

4. Die Depression (der komplette Rückweg in Bens Auto; Kai fühlt sich nach diesem traumatischen Ereignis nicht fahrtauglich): leises Wimmern. »Das geht doch nicht. Die war ganz neu. Was soll ich bloß machen? Ich halte das nicht mehr aus …«

Gerade war er glücklicherweise bei Phase fünf angekommen, der Akzeptanz. Es war zwar erst Mittag, trotzdem hatte er sich eine Flasche Bier aufgerissen – heute sei er ohnehin nicht mehr arbeitsfähig, hatte er Ben erklärt, als er vom Kühlschrank zurückkehrte – und wirkte wieder halbwegs entspannt. Ein Umstand, der neben dem Bier auch der Tatsache zuzuschreiben war, dass er gleichzeitig seiner zweiten Lieblingsbeschäftigung nachging – in einen Monitor glotzen.

Anders als zunächst angenommen waren hier und da auf den Fotos doch weitere Menschen zu erkennen. Auf einem dieser Bilder sah man besagte Dame auf einer Bühne stehen. Neben ihr eine etwas ältere Frau mit brünetten Haaren – der jungen durchaus ähnlich, wahrscheinlich handelte es sich um ihre Mutter. Daneben glotzten, brav aufgereiht und breit lächelnd, vier Männer in die Kamera. Einer von ihnen, ein gepflegter Herr mit grauer Föhnfrisur, bei der kein Haar aus der Reihe zu tanzen schien, in einem edlen Zweireiher, hielt etwas in der Hand, was einem Pokal oder einer Trophäe glich. Aufgrund seiner exponierten Stellung in der Mitte sollte offensichtlich er das zentrale Motiv sein. Die Augen von Ben und Kai fanden schnell die blonden Haare und den kurzen Rock auf der rechten Bildseite und scherten sich wenig um die Kerle.

»Süß, die Kleine«, sagte Kai, nahm einen Schluck aus seiner Flasche und quittierte das Ganze mit einem Rülpser, bevor er weitersprach: »Vielleicht sind das Schauspieler, und die haben irgendwo so einen Staubfänger abgeräumt?«

»Nee. Glaube ich nicht. Zoom mal auf das Teil.«

Kai klickte mit dem Mauszeiger und zog ein Rechteck über den entsprechenden Bildausschnitt. Danach poppte der Bereich in vergrößerter Darstellung auf. Leider unscharf und verpixelt. »Doch, das kenne ich.« Ben tippte unruhig mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Dann stand er auf und ging zu einem Stapel in der Zimmerecke, der aus losen Papieren, Hängeordnern und Magazinen bestand und so aussah, als würde er bereits bei näherer Betrachtung zusammenbrechen.

»Kein Wunder, dass dich keiner mehr als Detektiv will«, sagte Kai, der Ben dabei beobachtete, wie er behutsam in dem Stapel rumfischte. »Wolltest du zu einem Detektiv gehen, der die Fallakten so lagert?«

»Bis hierhin kommen die ja nicht mal. Und außerdem, sieh du zu, dass du dein eigenes Leben in den Griff kriegst, Siebert.« Ben war genervt, gab seinem Freund jedoch insgeheim recht. Er war sich sicher, dass sein Leben um einiges erfolgreicher verlaufen konnte, wenn er erst mal die Kleinigkeiten auf die Reihe bekäme. Altpapier rausbringen, die Hängeordner in den Schrank hängen, den Staubsaugerbeutel wechseln oder überhaupt mal staubsaugen. »Hier ist es!«, rief er und zog eine blau eingeschlagene, dünne Zeitschrift aus dem mittlerweile bedrohlich wankenden Stapel. Unternehmer vor Ort lautete der Titel, und darunter war ein großflächiges Foto zu sehen, auf dem eine strahlende junge Frau in der einen Hand einen Blumenstrauß und in der anderen genau dasselbe undefinierbare Ding hielt wie der Mann auf dem Foto. Unternehmerpreis 2015 stand in großen Lettern über dem Bild.

»2015? Alter, du musst echt mal ausmisten. Wenn das wenigstens ein Working-Girls-Kalender wäre … und dann war die Zeitung auch noch in der Mitte vom Stapel. Was liegt ganz unten? Deine alten Deutscharbeiten?«

Ben überhörte Kais Gezerre geflissentlich und tippte auf das Bild. »Hier siehst du? Das ist der Dortmunder Unternehmerpreis. Ich wette, die ganzen Preisträger stehen im Internet. Los, mach dich nützlich.« Er zeigte auf den Monitor.

Es dauerte keine halbe Minute, und Kai hatte in der Google-Bildersuche exakt dasselbe Foto aufgerufen. In einem grauen Feld neben dem Bild stand: Der Unternehmerpreis 2015 ging an Richard von Dauss.

»Klar! Richard von Dauss.« Ben schlug seinem Freund fester an die Schulter, als er es beabsichtigt hatte. »Das ist der Hüttenking.«

»Hüttenking?«, fragte Kai, der mit beleidigter Miene seine Schulter massierte.

»Ja. Du weißt auch gar nichts. Das ist der bekannteste Bauunternehmer von Dortmund. Der hat Anfang 2000 in Eving massenweise Sozialbauten hochgezogen. Er selber hat damit richtig Kohle gemacht. Die Wohnungen sind angeblich unter aller Sau. Wenn die in der Zeitung von dem schreiben, dann nennen sie ihn nur den Hüttenking.«

»Ja. Von dem hab ich schon mal gehört. Soll ein richtiger Sack sein. So’n knallharter Geschäftsmann, dem es nur um Profit geht.« Kai lachte kurz auf und sagte dann gespielt bewundernd: »Geiler Typ!«

»Dann könnte mit etwas Glück unsere Lady vielleicht seine Tochter sein«, meinte Ben.

»Und mit noch etwas mehr Glück ist die noch Single und auf der Suche nach einem gut aussehenden Programmierer.«

»Blöderweise gibt’s hier keinen«, feixte Ben.

Kai hatte bereits Richard von Dauss Dortmund Tochter in das Suchfeld eingegeben und einen Artikel geöffnet, in dem genau dasselbe Foto auftauchte. Diesmal mit der Zusatzinformation Links im Bild Richard von Dauss’ Tochter Isana und Ehefrau Elisa.

»Okay, dann brauchen wir bloß noch die Adresse von dieser Isana«, sagte Ben feierlich.

»Und dann? Willst du da hinfahren und die auch stalken, oder was?«

»Ich frag die nach diesem Ivo aus. Komm, such da jetzt. Ich brauche sowieso noch einen Fall für meine Hausarbeit, und da ist ein Stalker doch zehnmal besser als irgend so ein Fremdgeher.«

»Ist ja gut.« Kai tippte wieder. »Ich glaube nicht, dass wir da irgendwas außer der Firmenadresse finden werden.«

Fünf Minuten später hatte sich diese Befürchtung bewahrheitet. Kai griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Brülli? Bist du das, alter Hengst?« Kai zeigte Ben ein breites Grinsen und einen gehobenen Daumen. »Bist du auf Arbeit, Alter? Gut! Dann tipp doch mal Isana von Dauss ein, und sag mir, wo die wohnt.« Er blieb einige Sekunden still, dann sagte er: »Ja, ist mir klar. Und jetzt mach!« Er verschraubte die Augen in Richtung Ben, dann fuhr er fort: »Nichts? Und Richard von Dauss? … Ja, der Hüttenking.« Wieder folgten einige Sekunden Stille »Nee, die private … Warte, schreib ich auf.« Er notierte eine Adresse und eine Telefonnummer auf einem Post-it-Zettel. »Super, Brülli, danke! Hast einen gut bei mir. Lass mal wieder einen heben!« Dann legte er auf.

»Was war das denn, bitte schön?«, wollte Ben wissen.

»Das war Holger Brüllman, Brülli. Alter Kumpel von mir. Arbeitet bei Cater Carlo.«

»Kater Carlo?«

»Nicht Kater. Cater. Das ist doch dieser Cateringservice in Mitte. Klar, dass du den nicht kennst. Ist ja auch für gehobene Ansprüche.« Er gluckste fröhlich. »Beliefern auch die VIP-Lounge beim BVB und so. Ich dachte mir, der von Dauss hat da bestimmt schon mal was bestellt.«

»Clever«, musste Ben zugeben, doch Kai winkte mit einer lässigen Handbewegung ab, dann sagte er: »Wollen wir gleich los? Ich will diese Isana mal live sehen.«


Das Haus lag an einer wenig befahrenen Straßenecke in Gartenstadt. Ben kannte sich hier aus, denn sein Elternhaus lag nicht weit von hier entfernt in der Stangefolstraße. Als Kind hatte er sich in jeder dieser Straßen mindestens einmal blutige Knie geholt. Er konnte sich daran erinnern, dass zwei Häuser neben dem vom Hüttenking Ulli Wenderka gewohnt hatte. Ein Idiot, aber der Einzige mit einem Tangoball und einer Nintendo 64.

Offensichtlich war das Haus erst in den letzten Jahren saniert worden. Ben hatte es noch mit ockerfarbenen Klinkern und falschem Schieferdach in Erinnerung. Heute war es strahlend weiß verputzt und mit kleinen Fenstern versehen, die im Erdgeschoss allesamt vergittert waren. Das Obergeschoss steckte unter einer glänzend blau geziegelten Dachschräge, die unwillkürlich die Blicke auf sich zog. Ben lenkte seinen Ford Fiesta an den von der Straße aus zugänglichen Häuserseiten vorbei in die parallel verlaufende Nebenstraße und parkte dort am Straßenrand. Seine Karre passte neben den ganzen chromblitzenden Vehikeln genauso gut ins Bild wie Mary Roos als Vorgruppe von Justin Biber. Ben und Kai stiegen aus und gingen die Straße entlang. Ein kastenförmiges Mehrfamilienhaus verdeckte die Sicht auf die Rückseite des Hauses, in dem Richard von Dauss wohnte.

»Komm, wir gucken uns das Haus erst mal von hinten an«, schlug Ben vor, dem der Gedanke, an der Haustür der von Daussens zu klingeln, unbehaglich war.

Kai hatte nichts einzuwenden und folgte Ben den schmalen Pfad entlang, der hinter die Nobelmietskaserne führte. Eine breite, undurchsichtige Hecke trennte den adretten, kleinen Garten vom Dauss’schen Grundstück. Ben fuhr mit dem Kopf dicht vor der Hecke hin und her, um eine Lücke zu finden, durch die er einen Blick auf das Haus erhaschen konnte.

»Guck mal hier«, sagte Kai, der sich hinter einige wohlgeformte Zypressen gedrückt hatte, welche sich als kleines Grüppchen dem Ende der Hecke anschlossen. »Von hier aus kann man genau in den Garten gucken.«

Ben quetschte sich ebenfalls hinter die Zierpflanzen und sah, dass es nicht viel zu sehen gab. Zwei steril wirkende, blütenweiße Hauswände mit drei winzigen, vergitterten Fenstern, eine Verandatür und sechs Kellerfenster, welche mit weißen Schutzgittern versehen waren. Davor eine leere Rasenfläche, die komplett von einer gut drei Meter hohen und undurchdringlichen Hecke umrandet war. Nur an einer Stelle gab es eine mannshohe geschmiedete Eisentür, durch die man den Garten auch von der Straße aus betreten konnte.

»Die stehen wohl nicht so auf natürliches Licht in den Räumen«, sagte Ben.

»Und nicht auf wilde Gartenpartys, wie es aussieht.«

»Guck dir mal das eine Kellerfenster da an. Ist das Pappe, die davorhängt?«

»Sieht so aus. Vielleicht ist das kaputt oder es wurde eingebrochen.«

»Wäre eine Möglichkeit. Und guck mal hier.« Ben deutete auf den Boden unmittelbar vor ihren Füßen. »Diese Aussicht hier fand schon mal jemand interessant.« Auf dem Boden lagen einige Zigarettenstummel, alle nur bis zur Hälfte geraucht. Kai bückte sich und hob mit spitzen Fingern eine der Kippen auf. »Sunny & Stein«, sagte er bedeutungsschwer. Dann: »Okay, es muss mehr als einen Typen geben, der diese Dinger quarzt. Aber wenn du mich fragst, ist das hier einer der Wohlfühlplätze von diesem Sunstein. Man weiß nur nicht, wie lange die hier schon liegen.«

»Doch«, antwortete Ben und fühlte sich für den Moment wie Hercule Poirot und Adrian Monk in einer Person. »Am Sonntagabend hat es den ganzen Tag wie aus Kübeln geregnet. Diese Kippen können also bestenfalls seit Montag hier liegen.«

»Sind Sie von der Polizei?«, ertönte eine knarzende Frauenstimme hinter ihnen.

Kai zuckte vor Schreck zusammen, doch zum Glück lenkte er diesmal keinen fliegenden Fotoapparat. »Ja, natürlich«, stieß er mit einem gereizten Tonfall in Richtung der grauhaarigen Alten aus, die soeben in ihr Sichtfeld trat. Sie trug einen in die Jahre gekommenen, grauen Mohairmantel, unter dessen unterem Rand gut fünf Zentimeter einer geblümten Kittelschürze sichtbar wurden. Das Fleisch ihrer zart-lila schimmernden Beine wurde von fleischfarbenen Nylonstrümpfen abgequetscht, die sich in schmutzig-weißen Gesundheitslatschen verloren. Sie paffte an einer Zigarette und hielt einen aufgewühlten Rehpinscher, der Ben und Kai angriffslustig anstarrte, an der kurzen Leine.

Ruhrpottoma, dachte Ben, und Kai sagte mit dem Duktus eines coolen TV-Bullen: »Haben Sie etwas beobachtet?«

»Hab ich euch doch schon alles erzählt, hömma«, spie die Alte aus, bevor sie einen rasselnden Hustenanfall bekam, der erst enden wollte, als sie sich dreimal laut hörbar mit der Faust auf die Brust geprügelt hatte. Der Rehpinscher bellte dazu und sprang an seiner kurzen Leine wild im Kreis umher.

»Ich würde Sie bitten, alles noch einmal zu wiederholen. Sehen Sie«, er wies mit ausgestreckter Hand in Richtung Ben. »Hauptkommissar Pruss ist extra aus Wiesbaden angereist, um sich persönlich ein Bild zu machen. Also?«

Ben hätte beim Wort »Hauptkommissar« am liebsten auch einen Kröchelanfall bekommen.

»Wenn Se meinen. Gibt Schlimmeres.« Sie sah sie mit einem gequälten Gesichtsausdruck an, der »Schlimmeres« eindeutig auszuschließen schien. »Ich muss ja abends immer raus, hier mit meinem kleinen Fleischwolf.« Sie lachte krächzend und riss demonstrativ an der Leine, was Fleischwolf zwang, einen Satz nach links zu machen. »Früher brauchte ich um acht das letzte Mal, aber der ist ja schon vierzehn, der Alte, ne? Bin ma gespannt, wer von uns beiden et länger macht.« Sie machte eine Pause, und Ben glaubte schon, sie wolle hier und jetzt warten, wer von beiden es wohl länger machen würde, als sie doch wieder das Wort ergriff: »Ich war jedenfalls abends draußen für Pipi. War gar nich ma so spät. Kurz nach elf.«

»Gestern Abend?«, fragte Ben.

»Wat? Gez wolln Se mich wohl auf’n Arm nehm. Gestern war ich natürlich auch um kurz nach elf draußen wegen Pipi, aber dat wolln Se ja nich von mir wissen, oder?« Sie sah Ben an, als wäre er komplett dem Wahnsinn verfallen. »Sie sind doch hier wegen dem Einbruch am Montag, oder?«

»Klar«, Ben hüstelte verlegen. »Hab ich gestern gesagt? Ich meine natürlich vorgestern. Bitte fahren Sie fort.«

Die Alte nickte und zog ihren Kläffer noch näher an sich heran. Offenbar wollte sie ihn in Sicherheit bringen, für den Fall, dass Ben tatsächlich dem Wahnsinn verfallen war. Dann redete sie nur noch in Kais Richtung, den sie ab diesem Moment wohl für den Vertrauenswürdigeren hielt. »Da hab ich se gesehen. Zumindest einen von denen. Vor de Hecke aufe anderen Seite. Stand da neben so ’nem großen Bulli. Schwarz angezogen, mit Kapuze über de Rübe. Da hab ich den Fleischwolf erstma auf’n Arm. Zum Glück isser ’n lieber, der nich bellt, sonst würd ich wohl heute nich hier stehen.« Sie bückte sich ächzend und nahm ihren Fleischwolf auf den Arm. Dann streichelte sie ihm so heftig den Nacken, dass Ben es wunderte, dass dem Hund an dieser Stelle überhaupt noch Fell wuchs. Er schluckte den Kommentar zum Bellverhalten des Hundes, welches er anders wahrgenommen hatte, vorerst runter.

»Und seine Kollegen ham wohl auf der Seite vom Dauss gestanden. Da is ’ne schmale Lücke zwischen der Hecke und der Wand. Gucken Se mal.« Sie machte eine Geste in Richtung Kai, als wollte sie ihn verscheuchen. Er blickte durch die Zypressen und erkannte die Lücke zwischen Hauswand und Hecke. Zu schmal allerdings, um größere Gegenstände auf die andere Seite zu schieben. Kai nickte die Alte wohlwollend an, und sie redete weiter: »Da hab ich gesehen, dass se so’n großen Schinken durch den Spalt geschoben haben.«

»Einen Schinken?«, sagte Ben verwundert, der das Bild einer gut abgehangenen Schweinekeule mit nach hinten herausstehendem Schenkelknochen vor dem geistigen Auge hatte.

Die Alte sah ihn wieder an, als hätte er eine ansteckende Krankheit. »Ja, so ein riesiges Bild eben. Was weiß ich denn? Rembrandt oder Picasso wahrscheinlich. Der Hüttenking hat doch genug Kohle. Dat ham se dem durche Lücke geschoben, und dann hat der das in Bulli und is wech. Die anderen werden wohl durche Tür, oder was?« Sie zog ratlos die Achseln hoch. »Ich hab schon gesacht, was macht er sich auch so ’ne Hecke hier hin, wo keiner rübergucken kann? Das läd se ja ein, diese Kerle, wenn se machen könn, wat se woll’n.«

»Ja, äh.« Kai schlug sich auf die andere Seite der Zypressenbarriere, und Ben tat es ihm gleich. »Vielen Dank, Frau …«

»Metzger«, sagte die Alte.

»Metzger«, wiederholte Kai und sah mit großen Augen zwischen ihr und Fleischwolf, der angriffslustig hinter Frau Metzgers fleischigen Oberarmen hervorlugte, hin und her. »Wir müssen dann gehen. Bitte halten Sie sich doch in den nächsten Tagen zu unserer Verfügung.«

»Ich erzähl den ganzen Scheiß aber nich noch wieder!«, krächzte sie, ließ den Hund aus einem guten halben Meter zu Boden plumpsen und stampfte die Einfahrt entlang zurück ins Wohnhaus. Ben und Kai hatten sie in wenigen Schritten überholt und liefen zielstrebig die Straße entlang zum Haus der Familie von Dauss.

»Mann! Fleischwolf und Metzger, ich werd nicht mehr«, sagte Ben, und dann schütteten sich beide aus vor Lachen.

Auf dem Klingelschild war kein Name eingetragen. Ben überlegte, welche Worte er wählen sollte, wenn die Tür geöffnet wurde. Irgendwie klang in seinem Kopf alles nach Unfug. Und wahrscheinlich war um diese Zeit ohnehin niemand da. Sicher nur die Putzfrau. Am peinlichsten war ihm der Gedanke, sich als Privatdetektiv vorzustellen. Auch ein Jahr nach seiner beruflichen Neuorientierung hörte sich diese Berufsbezeichnung immer noch wahnwitzig in seinen Ohren an. Er hatte schon genug Probleme damit, sich als Zauberer zu outen. Ich bin Zauberer. Ein Satz, der ihm stets Magenschmerzen verursachte, kurz bevor er ihn aussprach. Was für eine absurde Wortkombination, die in den Hörern die abwegigsten Assoziationen nach weißen Kaninchen, Zylinderhüten, Zauberstäben und Siegfried und Roy hervorrief. Eine Sternstunde der Peinlichkeit. Doch der Satz Ich bin Privatdetektiv stellte sich noch als eine beachtliche Steigerung des Irrwitzes heraus.

Er schluckte das trockene Gefühl in seiner Kehle runter, atmete tief ein und drückte den kupfernen Klingelknopf. Ein durchdringendes Ding Dong war im Innern zu hören, und kurze Zeit später waren Schritte im Flur zu vernehmen. Es war Isana, die öffnete, und mit einem Mal war die Schwierigkeit, sich als Detektiv zu outen, um den Faktor hundert gestiegen. Die junge Frau in der Tür, die Ben und Kai freundlich und gleichzeitig fragend anblickte, sah in natura noch umwerfender aus, als es Ivos Bildersammlung bereits versprochen hatte. Ihr platinblondes Haar war hinter dem Kopf zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Eine breite Strähne hing ihr lässig über der Stirn. Ihre Augen waren unaufdringlich geschminkt. Sie trug einen grauen Pullover und enge Bluejeans. Ihre Füße steckten in bequemen, rosafarbenen Plüschhausschuhen mit aufgenähten Herzchen.

»Isana von Dauss?«, fragte Ben zaghaft.

»Ja?«, antwortete sie ebenfalls zaghaft und schob die Tür ein Stück weiter zu. »Kommen Sie von der Polizei?«

»Nein, nein«, sagte Ben schnell, bevor Kai womöglich noch einmal die Story mit dem Hauptkommissar aus Wiesbaden ausgraben konnte. »Ich bin Ben Pruss. Das ist mein Kollege Kai Siebert.« Er deutete ausladend auf Kai, um den nächsten Satz möglichst lange hinauszuzögern. »Ich bin …« Er räusperte sich, um dann möglichst leise und undeutlich hinzuzufügen: »Privatdetektiv.«

»Ah, okay! Kommen Sie rein«, sagte sie, ohne auch nur den geringsten Anschein zu erwecken, Ben für bekloppt zu halten. Sie öffnete die Tür weiter und ging den beiden Männern voraus in den Flur.

Ben sah Kai verwundert an, der nur mit den Schultern zuckte, dann folgten sie ihr. Isana führte sie in das Wohnzimmer. Ein hoher Raum, der bis unter die Dachschräge reichte und die obere Etage mittels einer Galerie aus weiß lackierten, derben Dachbalken verband. Ein zarter Hauch von Zitrone lag in der Luft, und aus einem unsichtbaren Lautsprecher dudelte Cheap Thrills von Sia. Isana deutete lächelnd auf eine weiße Ledercouch, die vor einer Wand stand, welche bis zur Galerie hinauf mit zahllosen Bildern in schwarzen Rahmen behängt war. Alle Fotos waren in Schwarz-Weiß entwickelt worden, und soweit es Ben beurteilen konnte, schienen es ausschließlich Privataufnahmen zu sein. Isana und ihr Vater tauchten auf vielen Motiven zusammen mit anderen Personen auf, die Ben nicht kannte. Er fühlte sich an die Fotowand in Ivo Sunsteins Wohnung erinnert. Dieses war sozusagen die Luxus-Variante mit einer etwas gesünder wirkenden Auswahl an unterschiedlichen Menschen und Motiven.

Sie setzten sich, und Isana sagte: »Ich hole eben meinen Vater. Der ist oben im Arbeitszimmer.« Dann blieb ihr Blick auf Kai hängen. Eine Sekunde zu lang, entschied Ben.

»Ähm, einen Moment noch«, sagte Ben, und die Frau blieb am Treppenabsatz stehen und drehte sich um. »Wir wollen wahrscheinlich gar nicht zu Ihrem Vater.«

Isana blickte ihn verwundert an. »Sie wollen wahrscheinlich nicht zu meinem Vater? Sind Sie nicht wegen dem Einbruch hier?«

»Nein, äh, na ja, vielleicht. Es ist kompliziert.« Ben kam sich reichlich dämlich vor, und ein Blick zu Kai, der dümmlich lächelnd neben ihm saß, zeigte, dass es bei ihm nicht anders war. »Kennen Sie einen Ivo Sunstein?«

Isana ließ wie auf Kommando die Schultern hängen und setzte einen entnervten Gesichtsausdruck auf. Dann griff sie in ihre hintere Hosentasche, holte ihr Handy hervor und tippte darauf herum. Sia hörte auf zu singen, und Isana ließ sich auf einem Sessel nieder, der der Couch gegenüberstand. Sie stellte ihre Beine auf die Sitzfläche und umschlang sie mit den Armen. »Den kenne ich. Leider. Was hat er wieder angestellt?«

»Nun«, Ben rückte auf der Couch ein Stück weit nach vorne. »Herr Sunstein hatte für heute Morgen einen Termin mit mir ausgemacht. Er ist aber nicht erschienen, und wir können ihn nirgends auftreiben.« Während er es aussprach, fand Ben die Argumentationskette eindeutig zu dünn, um zu rechtfertigen, dass diese ihn auf die Wohnzimmercouch eines der reichsten Geschäftsmänner von NRW gebracht hatte.

»Ja, der Typ ist immer da, wo er nicht sein sollte. Ist so seine Art. Was habe ich damit zu tun?«

»Vielleicht nichts. Herr Sunstein hat am Telefon gesagt, dass er dringend mit mir sprechen muss. Wegen einer Angelegenheit, mit der er nicht zur Polizei gehen könne. Es würde um Leben und Tod gehen.«

»Die Frage bleibt: Was habe ich damit zu tun?« Sie sagte diesen Satz mit einem neutralen Gesichtsausdruck in Richtung Ben, dann blickte sie demonstrativ zu Kai und lächelte diesen zuckersüß an. Der erwiderte das Lächeln knapp und glotzte dann bedeppert auf den Couchtisch.

»Wir haben herausgefunden, dass Herr Sunstein Ihnen offensichtlich nachgestellt hat. Ihrer Reaktion nach zu urteilen, ist Ihnen das wohl bekannt. Wir wissen, dass Herr Sunstein gestern oder vorgestern hier am Haus war und es beobachtet hat.«

»Was? Echt? Der Spinner. Der hat ein Kontaktverbot. Der darf nicht näher als zweihundert Meter an mich ran.« Sie schnaubte wütend. »Und der war wieder hier am Haus, sagen Sie?«

»Mit ziemlicher Sicherheit, ja.« Ben berichtete ihr von den gut erhaltenen Zigarettenkippen hinter der Hecke.

»Sunny & Steyn?«, fragte sie, an Kai gerichtet.

»Ja, ja genau. Sunny & Steyn. Raucht kaum noch jemand. Wusste gar nicht, dass es die noch gibt«, beeilte er sich zu antworten und lächelte dabei linkisch. Isana lächelte ebenfalls, und Kai wich ihrem Blick erneut schnell aus. Ben wunderte sich, dass sein Kumpel sich so schüchtern zeigte, doch Isana schien genau das zu gefallen.

Ben hüstelte leicht, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, und fing erneut an zu reden: »Frau von Dauss …«

»Nennen Sie mich ruhig Isana«, sagte Isana, und dann, mit einem Blick zu Kai: »Oder Isi.«

Ben verdrehte innerlich die Augen und fuhr fort: »Gut … Isana …«

Sie unterbrach ihn. »Wie habt ihr denn herausgefunden, dass Ivo Sunny & Steyn raucht, wenn ihr ihn noch nie gesehen habt?«

»Also wir …«, begann Kai, doch Ben schnitt ihm das Wort ab. »Lange Geschichte. Wir haben auch herausgefunden, dass hier im Haus eingebrochen wurde. Können Sie sich vorstellen, dass Ivos Anruf bei mir und der Einbruch zusammenhängen?«

Sie antwortete schnell. »Ivo hat hier garantiert nicht eingebrochen, so was kriegt der nicht auf die Reihe.«

Ben räusperte sich und setzte erneut an: »Nein, nein. Aber es könnte doch sein, dass er etwas beobachtet hat. Vielleicht hat er den Einbruch ja gesehen.«

»Wer hat den Einbruch gesehen?«, schallte es mit durchdringender Stimme von der Galerie herunter. Ein Mann in blauem Kapuzenpulli und Jeans stand am Geländer und blickte zu ihnen herab. Graues Haar, Fönfrisur, markante Gesichtszüge – Ben erkannte, dass sie es mit Richard von Dauss zu tun hatten. Auf den Bildern, die er von ihm gesehen hatte, war er immer nur in besten Anzügen und Krawatte zu sehen gewesen. Der legere Aufzug, in dem er jetzt vor ihnen stand, passte nicht recht in das Bild »knallharter Geschäftsmann«, das Ben sich von ihm angelegt hatte. Mit etwas Fantasie aber durchaus in das Bild »knallharter Geschäftsmann, der einen auf locker macht«.

Isana bog ihren Kopf weit nach hinten, um ihren Vater sehen zu können, der hinter ihr die Treppe herunterkam. Kai hieb ihm unauffällig den Ellenbogen in die Seite. Als er seinen Blick endlich auf ihn senkte – er wusste vorher, worum es ging –, zeigte Kai einen Daumen hoch, grinste lüstern und deutete mit den Augen in Richtung Isana. Ben zog die Stirn in Falten und wandte entnervt den Blick ab.

»Hi«, sagte Isana, als hätte sie ihren Vater an diesem Tag noch nicht zu Gesicht bekommen. »Wir reden von Ivo. Der war wieder hier.«

»Wer ist ›Wir‹?«, fragte Richard von Dauss im Gehen und bedachte Kai und Ben dabei keines Blickes. Ben fand, seine Sprachmelodie klang etwas affektiert.

»Das sind Kai und Ben. Privatdetektive. Ich dachte erst, du hättest die engagiert wegen dem Einbruch. Aber eigentlich sind sie hier wegen Ivo.«

»Aha.« Richard von Dauss begrüßte Ben und Kai mit einem Handschlag, der Ben fast die Finger brach, dann setzte er sich in den zweiten Sessel. Isana erklärte ihrem Vater, was sie bisher besprochen hatten, dann sagte er geschäftsmäßig und in kraftvollem Ton: »Ja, so wird es wohl gewesen sein. Klar kann er nicht zur Polizei rennen, denn dann finden die raus, dass er seine Auflagen nicht erfüllt, der Depp.« Er schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. »Ich dachte, mit dem Gerichtsurteil wäre die Sache endlich mal abgehakt, aber der Kerl kapiert es einfach nicht. Woher wusste der überhaupt schon wieder, dass du hier bist.«

»Wohnen Sie denn nicht hier?«, fragte Ben.

»Nee.« Sie kicherte. »Ich wohne nicht mehr bei Papa. Ich wohne im Kreuzviertel. Ich bin nur gerade hier, weil ich zuhause einen Wasserschaden hab und die Handwerker im Haus sind. Ich bin heute erst gekommen, das wusste der Idiot wohl nicht.«

»Woher wusste Ivo überhaupt, dass Sie vorhatten hierherzukommen?«, fragte Kai, der offensichtlich entschieden hatte, endlich aktiv am Gespräch teilzunehmen.

Isana nahm das wohlwollend zur Kenntnis, indem sie ihm ein so überschwängliches Lächeln schenkte, dass Ben am liebsten einen Hustenanfall bekommen hätte. »Gute Frage«, sagte sie geheimnisvoll. »Er fährt jeden Tag tausend Mal mit seinem Auto durch meine Straße. Wahrscheinlich ist er mir hinterhergefahren, als ich am Sonntag ein paar Sachen im Lieferwagen hierhergebracht hab. Oder er hat selbst dafür gesorgt, dass das Rohr in meinem Badezimmer platzt. Das traue ich ihm durchaus zu.« Sie nickte bei ihren Worten und schmollte zuckersüß in Kais Richtung.

»Und dann hat er wohl angenommen, Isi würde auch am Montag schon hier sein«, sagte ihr Vater.

»Und stattdessen hat er den Einbruch beobachtet«, schloss Ben. Er hatte gerade festgestellt, dass er eher mit der Frage beschäftigt war, was Isana an Kai fand, als seine Aufmerksamkeit dem Gespräch zu widmen.

»Was ist denn eigentlich geklaut worden?«, wollte Kai wissen, dem es sichtlich schwerfiel, die Augen von Isana abzuwenden und Richard von Dauss anzusehen.

Dieser presste die Lippen aufeinander und atmete bedeutungsschwer durch die Nase aus, bevor er antwortete: »Ein Gemälde von Joan Mitchell. Großformat. Zwei zwanzig mal eins vierzig.« Kai pfiff durch die Zähne. Von Dauss erhob sich und ging zu einer weißen Kommode, der er ein großformatiges Buch mit glänzendem Einband entnahm. Joan Mitchell lautete der Titel. Ben hatte noch nie von dieser Frau gehört, Kai offensichtlich schon. Vielleicht tat er auch nur so, weil er vor Isana den großen Macker markieren wollte. Von Dauss schlug das Buch an einer Stelle auf, die mit einem Post-it markiert war, und drehte es in Kais und Bens Richtung.

Ben war sich nicht sicher, welche Reaktion angebracht war. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er am liebsten laut losgelacht und von Dauss gefragt, ob er ihn verarschen wolle. Zum Glück sorgte Kai für eine schicklichere Reaktion, und Ben brauchte lediglich in seiner kataleptischen Starre zu verharren und zart debil lächelnd auf das Gekrakel vor seinen Augen zu glotzen. Knallbunte Farben, wild auf die Leinwand gespritzt – bei allem Wohlwollen war es Ben nicht möglich, so etwas wie ein Motiv zu erkennen, geschweige denn »Talent«. Aber was wusste er schon davon? Er erinnerte sich, dass er einmal im Internet eine Seite mit Gorillakunst gesehen hatte. Dort waren ähnliche Bilder ausgestellt gewesen. Kai stieß ein scheinbar ernst gemeintes »Wow« aus und beugte sich auf der Couch näher an das Buch heran. »Das ist aus den 80ern, oder?«

»1982«, antwortete von Dauss, der dem begeisterten Kai das Buch in die Hand drückte und sich wieder in den Sessel sinken ließ. »Die Einbrecher müssen gewusst haben, dass es hier hängt.«

Ben räusperte sich erneut. Er hatte das Gefühl, einen ganzen Froschteich im Hals zu haben. »Wie viel ist das … das Gemälde denn wert?« Drei Euro fuffzig vielleicht?, hätte er am liebsten hinzugefügt, hielt aber die Klappe.

»So knapp 500.000.«

Am liebsten hätte Ben wieder ein lautes Lachen ausgestoßen. In seinem Kopf hörte er es sogar: schrill und ein bisschen verrückt. Und gesagt hätte er gerne: Wissen Sie, was ich verstanden habe? … 500.000! Stattdessen ließ er wieder Kai den Vortritt, der offenkundig wusste, mit dieser auf die Spitze getriebenen, grotesk-farbenfreudigen Abstraktheit umzugehen.

Der nickte wissend einige Male, klappte das Buch zu und legte es mit einem vielsagenden Blick auf den Couchtisch. Dann sagte er: »Das ist der Wahnsinn, ich liebe dieses Bild. Waren Sie schon im Ludwig Museum in Köln? Da gibt es gerade eine Ausstellung.«

Von Dauss nickte: »Ist mir bekannt. Und ich ärgere mich, dass ich mein Bild nicht auch als Leihgabe dorthin gegeben habe.«

Und Isana fuhr fort: »Die hatten bei Daddy angefragt, und ich hab gesagt, er soll es machen.« Sie warf ihm einen scheinbar bösen Blick zu. »Aber er hatte ja Angst, dass was drankommt an seine geliebte Mitchell.«

Offensichtlich hatten alle hier den Verstand verloren, entschied Ben. Er musste das Gespräch wieder auf ein halbwegs intelligentes Niveau bringen, bevor sich die drei noch tiefer in den Irrsinn quatschten. »Haben Sie keine Alarmanlage?«

»Natürlich«, entgegnete von Dauss. »Eine ziemlich teure sogar. Aber diese Typen machen das hauptberuflich. Für die ist das kein Hindernis. Und ich weiß auch, was die wollen.« Er machte eine Pause. »Die haben sich eben bei mir gemeldet.«

»Erpressung«, stieß Kai aus und nickte wissend.

»Exakt«, antwortete von Dauss und nickte ebenfalls. »30.000 Euro, dann bekomme ich das Baby zurück.«

»Stolzer Preis«, sagte Ben, der Sorge hatte, dass ihm die Konversation wegen einer Leinwand voll Kindergartengekrakel zu sehr entgleiten könnte. »Wollen Sie zahlen?«

»Auf jeden Fall! Ich musste der Polizei zwar versprechen, dass ich denen Bescheid geben würde, wenn die Täter sich bei mir melden, aber das mache ich nicht. Ich will mein Bild zurück.«

»Woher wussten die Einbrecher eigentlich, dass Sie so ein wertvolles Bild besitzen?«

Von Dauss atmete schwer aus, bevor er antwortete: »Dass ich Kunstsammler bin, ist kein Geheimnis. Das kann jeder in Erfahrung bringen, der es in Erfahrung bringen will. Dass das Bild in meinem Arbeitszimmer hing, können auch Tausende von Menschen wissen. Meine Schuld.« Er stöhnte gedehnt, bevor er weiterredete: »Über mich war Anfang des Jahres ein Artikel im Managermagazin. Da wurden unter anderem auch Fotos von meinem Arbeitszimmer hier veröffentlicht.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Treppe zum Obergeschoss. »Auf denen ist das Bild zu sehen. Aus dem dummen Artikel ging sogar hervor, dass das ein Original ist. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Pure Eitelkeit. Dafür hab ich jetzt die Quittung bekommen.« Dann stand er auf, sagte: »Ich hole uns mal was zu trinken«, und ging aus dem Raum.

Isana sprang auf und rief: »Warte, ich helfe dir!« Dann lief sie ihrem Vater nach und schloss die Tür hinter sich.

Ben schaute Kai an und deutete auf das Buch. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass du diesen Scheiß gut findest.«

»Alter, dass du keine Ahnung von so was hast, ist mir klar. Joan Mitchell ist die Königin des abstrakten Expressionismus. Du musst das mal auf dich wirken lassen!«

»Wenn ich das auf mich wirken lasse, bekomme ich einen epileptischen Anfall. Und was soll dieses Rumgetue mit Isana? Das ist ja peinlich!«

»Ey, was stimmt nicht mit dir, Kollege? Kann ich doch nichts dafür, wenn die mich scharf findet. Du bist ja nur neidisch!«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Isana und Richard von Dauss kamen zurück ins Wohnzimmer. Ben hatte erwartet, dieser reiche Bauheini käme mit einer Pulle hundertfünfzig Jahre altem Brandy zurück, stattdessen hielt er zwei Flaschen Wasser und je ein Tetrapack Apfel- und O-Saft von Aldi im Arm. Isana jonglierte vier Gläser in den Händen und stellte sie auf dem flachen Couchtisch ab, dann schenkte sie jedem etwas von den Getränken ein.

»Ich kenne Sie«, sagte Richard von Dauss an Ben gewandt, als er einen Schluck getrunken hatte. »Sie sind der Privatdetektiv, der den Varieté-Killer entlarvt hat.«

Ben spürte, wie wallende Hitze in sein Gesicht stieg. Einerseits fühlte er sich geschmeichelt, wenn ihn jemand darauf ansprach, andererseits war es ihm mehr als unangenehm. »Ja, also, das waren wir beide.« Er deutete von sich auf Kai und dann wieder auf sich.

»Gut«, fuhr von Dauss fort. »Offensichtlich verstehen Sie Ihr Handwerk. Ich möchte Ihnen einen Job anbieten.« Er machte eine dramatische Pause, indem er erneut einen Schluck Wasser trank und danach das Glas in seiner Hand schwenkte, als handelte es sich tatsächlich um hundertfünfzig Jahre alten Brandy. »Eigentlich sind es zwei Jobs. Ich möchte, dass Sie Ivo Sunstein finden.«

»Hä?«, sagte Isana. »Sei doch froh, dass der Kerl weg ist.«

Von Dauss wandte sich an seine Tochter, lächelte gutmütig, ohne seine Augen mit ins Lächeln einzubeziehen, und sagte dann: »Ich will schon wissen, was der Kerl zu erzählen hat, Isi. Könnte ein wichtiger Zeuge sein.«

»Aber Sie wollen doch auf die Forderungen der Erpresser eingehen«, warf Ben ein.

»Richtig. Allerdings nur, weil ich meine Mitchell unversehrt wiederhaben will. Das heißt nicht, dass ich nicht will, dass die Kerle im Nachhinein den Arsch aufgerissen kriegen.«

»Klar«, sagte Ben, der sich bestens vorstellen konnte, dass Richard von Dauss eine Koryphäe im Ärsche-Aufreißen war. »Das war Job Nummer eins. Job Nummer zwei soll dann wohl sein, die Erpresser zu finden. Was das angeht, Herr von Dauss, muss ich Ihnen …«

»Darum geht es nicht.« Von Dauss schüttelte den Kopf. »Ich brauche jemanden, der das Geld abliefert und das Bild von den Erpressern holt. Dafür hätte ich mir ohnehin einen Privatdetektiv engagiert.«

»Deshalb habe ich euch ja gleich reingelassen. Weil ich dachte, Daddy hätte schon jemanden angerufen.«

Ben spürte, wie sein Puls an die Decke ging. Er sollte sich mit Schwerkriminellen an einem höchstwahrscheinlich ziemlich abgelegenen Ort treffen und regen Handel mit denen betreiben? Ihm war klar, dass Privatdetektive häufig für solche Jobs engagiert wurden – seinen Eingeweiden war jedoch alles andere als wohl dabei. Von Dauss schien sein Zögern zu bemerken und sagte: »Ich zahle Ihnen 5000 sofort und 5000, sobald das Bild wieder in meinem Arbeitszimmer hängt. Die Suche nach Sunstein rechnen Sie bitte nach Ihrem Tagessatz ab.«

»Machen wir!«, gellte es von Bens rechter Seite. Kai hatte offensichtlich eine Entscheidung getroffen. Feierlich streckte er Richard von Dauss quer über den Couchtisch die Hand entgegen, der sie mit einem skeptischen Blick in Richtung Ben einschlug. »Prächtig«, sagte er etwas zaghaft.

»Ja … prächtig!«, sagte auch Ben und gab sich Mühe zu lächeln. Dann bot er ebenfalls seine Hand zum Handschlag an. Darüber reden wir noch, Kollege, dachte er, und malte sich gleichzeitig aus, was er mit dem Geld anstellen würde – hauptsächlich offene Rechnungen bezahlen und damit das Sorgengefühl in seiner Magengegend für ein paar Wochen lang verkaufen. Dann sagte er: »Wir sollten einmal einen Rundgang machen, damit wir uns ein besseres Bild von dem Einbruch machen können.«

»Sehr gut«, sagte von Dauss. »So mag ich das! Nicht auf dem Arsch sitzen bleiben, bis die Anzahlung im Portemonnaie ist, sondern loslegen. Kommen Sie, wir starten im Keller.«

»Macht ihr mal alleine«, sagte Isana, und ihr Vater nickte.

»Och, kommen Sie doch mit«, schlug Kai mit einer Miene vor, die vor bitterer Enttäuschung zu zerfließen drohte, doch sie schüttelte nur lächelnd den Kopf. Ben spürte eine gehässige Schadenfreude in sich aufkeimen. Wenn die so scharf auf dich wäre, Siebert, dann wäre sie mitgekommen, dachte er und kam sich ein wenig schäbig dabei vor.

»Sie geht nie in den Keller. Hat sich auch früher schon immer geweigert«, sagte Richard von Dauss zu Ben und Kai, als sie die Kellertreppe hinabstiegen. Er sprach in jenem leisen Flüsterton, der Eltern zu eigen ist, die intime Geheimnisse ihrer Kinder ausplaudern.

»Aha«, sagte Ben und dachte, dass ihr womöglich seine Rescuetropfen helfen könnten, die er gegen sein krankhaftes Lampenfieber schluckte.

»So ein Glück«, meinte Kai mit einem Kichern. »Dann musste sie bestimmt als Kind nie Bier aus dem Keller holen.«

»Sie leidet darunter«, gab von Dauss knapp zur Antwort, ohne Kai dabei anzusehen.

Für den strafenden Blick sorgte Ben.

Richard von Dauss drückte einen Schalter am Fuß der Treppe, und ein seidig gelbes Licht erhellte ein schlauchartiges Gewölbe, von dem rechts und links einige sehr massiv wirkende Türen abzweigten. Die Kellerwände waren geziegelt, und Ben kam sich vor wie in der Kulisse einer kitschigen Mittelalterschmonzette. Bens Gehirn erwartete den Geruch von Erde und Feuchtigkeit, doch das Raumklima fühlte sich hier genauso angenehm an wie eine Etage höher. In der Wand eingelassene Leuchten sorgten für eine sanfte, indirekte Beleuchtung, die den Eindruck vermittelte, das Licht käme direkt aus der Wand.

»Geil, oder?«, fragte von Dauss und griente Ben und Kai an.

»Ich habe mir damals einen Weinkeller hinten links in dieser Art mauern lassen.« Er deutete mit dem Finger auf die letzte Tür im Gang. »Von einer meiner Baustellen hatten wir noch Ziegel übrig, da hab ich die Jungs hier gleich weitermachen lassen.« Er ließ ein satt krächzendes Lachen hören.

Ben und Kai zogen pflichtschuldig die Mundwinkel nach unten und die Augenbrauen nach oben und nickten anerkennend. Von Dauss drehte sich um und öffnete die erste Tür auf der linken Seite.

»Weinkeller?«, flüsterte Kai Ben zu. »Garantiert hat der eine SM-Höhle da hinten!«

Ben nickte konspirativ.

»Die Polizei meint, dass das eindeutig Profis waren«, sagte von Dauss, als sie den kleinen Keller betreten hatten. Das Licht war hier, im Gegensatz zum Gewölbekeller, so grell, dass Ben einen Moment die Augen zusammenkneifen musste, als von Dauss den Lichtschalter betätigte und eine wuchtige Hängeleuchte mit vier nackten Neonröhren den Raum förmlich erstrahlen ließ. Hier befanden sich zweckmäßige Metallregale, prall gefüllt mit Konserven, Waschmitteln und Getränken, mit denen man einige Wochen wohlgenährt – und mit sauberen Unterhosen – überleben konnte.

»Die haben mir erklärt, dass solche Funkalarmanlagen, wie ich eine hab, relativ leicht auszuhebeln sind.« Er zuckte mit den Achseln. »So’n Scheiß weiß man doch nicht. Hab dem Typen, der mir die angedreht hat, ordentlich den Marsch geblasen.« Er krächzte wieder, und Ben dachte, von Dauss hätte lieber mal seinen Kumpel Uwe fragen sollen. Bei dem hätte er Qualitätsware bekommen.

»Die Einbrecher haben wohl mit so einem Funkstörsender das Teil außer Kraft gesetzt. Dann haben sie das Tor zum Garten geknackt, und als Nächstes das Gitter vor dem Kellerfenster hier verbogen.« Er deutete auf das einzige Fenster im Raum. Das Gitter war an einer Ecke weit nach außen gebogen. »Ganz auf haben sie es nicht bekommen. Trotzdem hat es gereicht, dass sie ein Loch in die Fensterscheibe schneiden und durchgreifen konnten. Säcke!«

»Aber der Fensteröffner hat doch auch ein Schloss«, sagte Ben und deutete darauf.

»Richtig«, entgegnete von Dauss. »Der war auch abgeschlossen.« Er zog verdrossen die Schultern nach oben. »Wenn man unbedingt reinwill, ist der kein Hindernis.«

Ben nickte, und von Dauss berichtete weiter: »Einer der Ganoven ist dann in den Keller geklettert und nach oben gelaufen. In mein Arbeitszimmer.« Er presste die Lippen aufeinander und blies die Backen auf. »Bis nach oben hin war keine Tür mehr abgeschlossen. Wäre ja noch schöner, wenn ich in meiner eigenen Bude alle Türen abschließen muss, oder?« Er wartete die Antwort nicht ab und sagte: »Der hat das Bild einfach von der Wand genommen, ist seelenruhig durch die Verandatür in den Garten marschiert und hat seinem Komplizen das Bild durch so einen kleinen Schlitz zwischen Hecke und Mauer durchgeschoben. Passte gerade da durch, zeige ich euch gleich.«

»Nicht nötig«, sagte Kai feierlich. »Das haben wir schon gesehen.«

»Tja, Jungs. Wie es aussieht, seid ihr dann erst mal im Bilde.« Er machte eine Geste, die eher wie ein Scheuchen als ein Fingerzeig in Richtung Treppe wirkte. »Passt mir gut. Hab gleich den nächsten Termin.«

Zurück im Wohnzimmer, tauschten Ben und von Dauss Visitenkarten und Kai und Isana, die nach wie vor auf dem Sessel saß und ihr Glas in beiden Händen hielt, zuckersüße Blicke. Von Dauss versprach, dass er sich melden würde, sobald sich die Entführer näher zur Übergabe geäußert hätten, zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar zu sein. Er hoffte dabei inständig, dass es eine Tages- und keine Nachtzeit sein würde. Danach verabschiedete sich von Dauss mit Ich-quetsch-dir-die-Hand-zu-Mus-Teil-2 und verschwand mit federnden Schritten über die Treppe ins Obergeschoss.

Keine Minute später stand er wieder oben am Geländer der Galerie. In der Hand ein Bündel Geld. »Mann, Jungs! Fast hätte ich die Anzahlung vergessen. Hier, wie versprochen, 5000. Aber dafür erwarte ich, dass ihr euch auch mächtig ins Zeug legt.« Er warf es lässig in Bens Richtung, der eher eine Abwehrreaktion vollführte als eine mannhafte Fangbewegung. Eher zufällig fing er das mit einem Gummiring umwickelte Päckchen trotzdem.

Kai drohten beim Anblick des Geldes die Augen aus dem Kopf zu quellen, und auch Ben war sprachlos. Wer mal einfach so 5000 Euro übers Geländer warf, hatte garantiert noch ein paar Mäuse mehr im Safe. Ben bedankte sich höflich mehrere Male und steckte das Geld in seine Innentasche. Als er hörte, wie Richard von Dauss das zweite Mal die Tür seines Arbeitszimmers hinter sich schloss, sagte Ben: »Tschuldigung, Isana, wenn ich neugierig erscheine … darf ich fragen, was mit deiner Mutter ist?«

»Gestorben«, entgegnete Isana ohne Umschweife. »Vor drei Jahren.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte Ben, und Kai nickte betreten.

»Ist sie irgendwo auf den Fotos?«, fragte Ben, dem aufgefallen war, dass eigentlich keine Person, die als Mutter oder Ehefrau durchgehen würde, auf den Motiven zu erkennen war.

»Nee. Dad sagt, dass er das nicht aushalten würde, ihr Bild hier immer zu sehen.«

»Ah, das verstehe ich«, antwortete Ben. »Ich denke, wir gehen. Oder Kai?« Er sah seinen Freund auffordernd an.

»Eins noch«, sagte dieser mit wichtiger Miene. »Hab ich gerade erst dran gedacht. Nur falls aus irgendeinem Grund Ben nicht rangehen kann …« Ben verschraubte die Augen, weil er ahnte, was kommen würde. »Ich schreib dir … also euch … lieber auch mal meine Handynummer auf.« Er tastete von außen seine Jacke ab, als suchte er einen Stift und einen Zettel.

»Tolle Idee«, entgegnete Isana, die aufsprang, zu einer Schublade rannte und mit den nötigen Schreibutensilien zurückkam.


»Meine Güte! Was ist das denn für ein Umgang mit meinen Klienten?«, brach es aus Ben heraus, als sie wieder draußen waren und in Richtung Auto gingen.

»Unseren Klienten«, antwortete Kai. »Ich bekomme schließlich genauso wie du 5000 Schleifen für den Job. Reich mal bitte die zwei-fünf schon mal rüber, bevor da was drankommt.« Er hielt Ben demonstrativ die geöffnete Handfläche entgegen.

»Warte ab, Kollege. Doch nicht mitten auf der Straße. Außerdem bin ich der ausgebildete Privatdetektiv. Und du bist nur der Assistent.«

»Das hättest du wohl gerne, Alter. Kannst du ganz schnell mal vergessen! Ausgebildeter Detektiv!« Er stieß einen schrillen, kurzen Lacher aus. »Dein Kurs geht ja gerade erst drei Monate. Außerdem bist du ja nur eifersüchtig, dass sie nichts von dir wollte.«

»Klar, von dir wollte sie natürlich was …« Ben machte eine wegwerfende Handbewegung. »Blödsinn.«

»Alter, gönn mir das ruhig. Die einzige Frau, die in letzter Zeit mit mir geredet hat, ist die Stimme aus meinem Navi.«

Sie hatten das Auto erreicht, und Ben schloss die Tür seines Fords auf, setzte sich in aller Ruhe hinein und zog gemächlich den Verriegelungspinn der Beifahrertür hoch. Für eine Zentralverriegelung war seine Möhre um Jahre zu alt. »Jaja, mach du man«, sagte er und ließ den Motor an. »Lass uns lieber über diesen Ivo reden. Kommt es dir logisch vor, dass der am Montag den Einbruch gesehen hat? Schließlich hat der erst heute Morgen bei mir angerufen.«

»Kann doch sein. Vielleicht hat der gestern den ganzen Tag überlegt, was er machen soll. Zur Polizei konnte er ja schlecht gehen mit seinem Abstandsdingsda.«

»Kontaktverbot«, sagte Ben wichtigtuerisch und fühlte sich, juristische Fragen betreffend, seinem Freund weit überlegen. Dann fuhr er fort: »Ansonsten klingt’s logisch. Und ins Hotel ist er vielleicht gegangen, weil er wusste oder zumindest geahnt hat, dass die Einbrecher ihn gesehen haben.«

»Ja, und? Die kennen ihn doch nicht. Wenn die ihn nur gesehen haben, wissen die doch nicht, wer das war.«

»Also, dass Isana von Dauss einen Stalker hat, werden schon einige Leute wissen. Eventuell auch die Diebe, wenn die vorher ihre Hausaufgaben gemacht haben. Herauszufinden, wie der Stalker dann heißt, ist nicht so kompliziert.« Ben stieg heftig auf die Bremse, weil das unvermeidliche B 1-Stauende schneller auf ihn zugerast kam als erwartet. Wieder einmal hatte er beim Nachdenken und Reden seine Fahrweise auf Autopilot gestellt.

»Mann, diese Isana ist ganz schön scharf, oder? Verdammte Hacke!«, meinte Kai.

»Bleib doch bitte einmal bei der Sache!«

»Gut«, sagte er beschwichtigend. »Ich fasse mal zusammen. Ivo schlägt sich bei von Daussens in die Büsche und beobachtet den Einbruch. Die Diebe sehen ihn und wollen ihm ans Leder. Er schafft es, sich zu verdrücken. Mist, denkt er, jeder, der ein bisschen Grips hat, findet meinen Namen raus. Also traut er sich nicht nach Hause, sondern marschiert ins Hotel. Dort glotzt er den ganzen Dienstag die Pornosender rauf und runter und überlegt, was er machen soll. Blöde Situation. Und kommt dann auf die Idee, Superhirn Ben Pruss anzurufen, der die Kohlen für ihn aus dem Feuer holen soll.«

»So wird es wohl gewesen sein. Auch wenn ich eher annehme, dass er seine portable Isana-Galerie im Handy rauf und runter geglotzt hat und nicht die Pornosender.«

»Garantiert! Und da er nicht bei dir erschienen ist, kann das vielleicht bedeuten …« Der Verkehr setzte sich langsam in Bewegung, doch Bens Autopilot stand nach wie vor auf der Bremse. Er blickte Kai vielsagend an: »Dass die ihn erwischt haben.«

Licht aus!

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