Читать книгу Die Pastoralsymphonie - Андре Жид - Страница 5

Оглавление

10. Februar 189. . .

Der Schnee, der seit drei Tagen unaufhörlich herniederfällt, versperrt die Straßen. Ich konnte mich nicht nach R. . . begeben, wo ich seit fünfzehn Jahren zweimal monatlich den Gottesdienst abzuhalten pflege. Heute morgen waren nicht mehr als dreißig Gläubige in der Kapelle von La Brévine versammelt.

Ich will die Mußestunden, die mir diese klösterliche Abgeschlossenheit erzwungenermaßen verschafft, nutzbringend auf das Vergangene verwenden und erzählen, wie es dazu kam, daß ich mich Gertruds annahm.

Ich habe mir vorgenommen, hier alles niederzuschreiben, was die Bildung und das Wachstum jener frommen Seele angeht, die ich, so scheint mir, nur darum ihrer Nacht entrissen habe, daß sie Gott anbete und ihn liebe. Gesegnet sei der Herr um dieser Aufgabe willen, die er mir verliehen hat.

Vor zweieinhalb Jahren, als ich gerade aus La Chaux-de-Fonds wieder heraufstieg, holte mich in aller Eile ein unbekanntes kleines Mädchen ein, um mich sieben Kilometer weiter zu einer armen Alten zu führen, die im Sterben lag. Das Pferd war noch nicht ausgespannt; ich nahm das Kind zu mir auf den Wagen, nachdem ich mich mit einer Laterne versehen hatte, da ich vor Anbruch der Nacht nicht glaubte zurück sein zu können.

Ich vermeinte die ganze Umgegend der Gemeinde auf eine bewunderungswürdige Weise zu kennen; aber nachdem wir das Gehöft von La Saudraie überholt hatten, schlug das Kind einen Weg ein, wo ich mich bis dahin noch nie hingewagt hatte. Gleichwohl erkannte ich zwei Kilometer weiter zu unserer Linken einen kleinen, geheimnisvollen See wieder, zu dem ich als junger Mensch mitunter Schlittschuhlaufen gegangen war. Seit fünfzehn Jahren hatte ich ihn nicht wiedergesehen, denn keine Seelsorgerpflicht rief mich jemals dahin; ich hätte nicht mehr zu sagen vermocht, wo er gelegen war, und hatte so sehr aufgehört an ihn zu denken, daß ich, als ich ihn plötzlich im übergoldeten Zauber des Abends wiedererkannte, ihn vormals nur im Traume gesehen zu haben vermeinte.

Der Weg folgte einem Wasserlauf, der dem See entfloß, durchschnitt den äußersten Rand des Waldes und führte dann an einem Moor entlang. Ich war gewiß zum erstenmal in dieser Gegend.

Die Sonne versank, und wir gingen bereits eine geraume Weile in der Dämmerung, als meine junge Führerin mit dem Finger auf eine Hütte am Abhang des Hügels wies, die man für unbewohnt gehalten hätte, wäre ihr nicht eine dünne Rauchsäule entstiegen, die, erst bläulich in der Dämmerung, gelblichblond mit dem Gold des Himmels verschmolz. Ich band das Pferd an einen Apfelbaum, dann folgte ich dem Kind in die dunkle Stube, wo die Alte soeben verschieden war.

Ich war wie benommen von dem Ernst der Landschaft und dem feierlichen Schweigen der Stunde. Eine noch junge Frau lag vor dem Bett auf den Knien. Das Kind, das ich für die Enkelin der Verblichenen gehalten hatte, das aber nur ihre Magd gewesen war, zündete eine rauchige Kerze an und verharrte unbeweglich am Fußende des Bettes. Auf dem langen Weg hatte ich versucht, es in ein Gespräch zu ziehen, ohne ihm mehr als ein paar Silben entlocken zu können.

Die Kniende erhob sich. Es war keine Verwandte, wie ich zuerst angenommen hatte, sondern einfach eine Frau aus der Nachbarschaft, von der Magd herbeigeholt, als diese die Kräfte ihrer Herrin versiegen sah, und die sich erboten hatte, bei dem Leichnam Wache zu halten. Sie sagte mir, die Alte sei schmerzlos verschieden. Wir kamen überein, was zur Vorbereitung der Beerdigung und der Trauerzeremonie zu geschehen habe. Wie so oft schon in dieser abgeschiedenen Gegend, blieb alles meiner eigenen Entscheidung überlassen. Ich muß gestehen, daß es mich einigermaßen beunruhigte, das Haus, so ärmlich es auch aussah, der alleinigen Aufsicht dieser Nachbarin und der Magd, einem Kinde noch, überantworten zu müssen. Doch es war ganz unwahrscheinlich, daß in einem Winkel dieser elenden Behausung irgendein Schatz verborgen läge . . . Und was konnte ich auch tun? Ich erkundigte mich indessen, ob die Alte nicht einen Erben hinterlasse.

Da nahm die Nachbarfrau die Kerze, leuchtete damit in eine Ecke des Herdes, und ich vermochte ein zweifelhaftes Wesen zu erkennen, hingekauert in der Feuerstelle, wo es zu schlafen schien. Eine dichte Haarmasse verbarg fast vollständig sein Gesicht.

„Dieses blinde Mädchen: eine Nichte nach den Worten der Magd; daraus besteht scheinbar die ganze Familie. Man muß sie ins Waisenhaus bringen; sonst wüßte ich nicht, was aus ihr werden soll.“

Es tat mir weh zu hören, wie ihr Geschick so ganz in ihrer Gegenwart entschieden wurde, und ich fürchtete, daß diese brutalen Worte sie schmerzlich berühren könnten.

„Wecken Sie sie nicht auf“, sagte ich leise, um die Nachbarin zu veranlassen, wenigstens ihre Stimme zu dämpfen.

„Oh, ich glaube nicht, daß sie schläft; aber sie ist idiotisch; sie spricht nicht und versteht nichts von dem, was man sagt. Seit heute früh, daß ich hier bin, hat sie sich kaum geregt. Zuerst hielt ich sie für taub; die Magd bestreitet das und behauptet, daß die Alte, die selber taub war, niemals das Wort an sie gerichtet habe, so wenig wie an jemand anders; seit langem habe sie den Mund nur zum Essen und Trinken geöffnet.“

„Wie alt ist sie denn?“

„So um die fünfzehn, nehme ich an; im übrigen weiß ich davon wenig mehr als Sie . . .“

Es kam mir nicht sofort in den Sinn, mich selber dieser armen Verlassenen anzunehmen; aber nachdem ich gebetet hatte, oder vielmehr während des Gebetes, das ich, zwischen den am Kopfende des Bettes knienden Frauen selber hingekniet, zum Himmel emporschickte, wollte es mir auf einmal scheinen, daß Gott mir eine Art hoher Pflicht auf den Weg sandte, der ich nicht ohne einige Feigheit entraten könne. Als ich mich wieder aufrichtete, war mein Entschluß gefaßt, das Kind noch am selben Abend mitzunehmen, obgleich ich noch keineswegs im klaren darüber war, was ich wohl in der Folge mit ihm täte, noch wessen Händen ich es anvertraute. Ich blieb noch eine kurze Weile und betrachtete das entschlafene Antlitz der Alten, deren gefalteter, eingesunkener Mund zusammengeschnürt schien wie die Börse eines Geizigen, die kein Teilchen ihres Inhalts entschlüpfen läßt. Dann wandte ich mich der Blinden zu und unterrichtete die Nachbarin von meinem Entschluß.

„Es ist schon besser, sie ist morgen nicht mehr hier, wenn man den Leichnam holen kommt“, sagte sie. Und das war alles.

Vieles ginge leichter vonstatten, ohne die chimärischen Einwände, in denen sich die Menschen bisweilen erfinderisch gefallen. Wie oft werden wir nicht von Kind auf daran gehindert, dies oder jenes zu tun, was wir gerne täten, nur weil wir immer wieder um uns sagen hören: er bringt es ja doch nicht fertig . . .

Die Blinde ließ sich wegführen wie eine willenlose Masse. Ihre Gesichtszüge waren regelmäßig, beinahe schön, doch vollkommen ausdrucksleer. Ich hatte eine Decke von dem Strohsack genommen, auf dem sie in einem Winkel unter der Treppe, die im Innern zum Boden hinaufführte, für gewöhnlich ruhen mochte.

Die Nachbarin hatte sich gefällig gezeigt und mir geholfen, die Kleine sorgfältig einzupacken, denn die Nacht war hell und frisch; nachdem ich die Laterne des Wägelchens angezündet hatte, war ich davongefahren, dieses seelenlose Fleischbündel mitführend, das sich an mich schmiegte und dessen dumpfe Wärme allein mich fühlen ließ, daß Leben in ihm war. Den ganzen Weg entlang dachte ich: schläft sie? und welch dunklen Schlaf . . . und inwiefern ist wohl ihr Wachsein vom Schlafe unterschieden? Im undurchsichtigen Wohnsitz dieses Körpers, gleichsam eingemauert, wartet ohne Zweifel eine Seele, daß ein Strahl deiner Gnade, o Herr, sie endlich berühre. Wirst Du mir verstatten, diese schreckliche Nacht kraft meiner Liebe vielleicht von ihr zu nehmen?

Ich bin zu sehr um die Wahrheit besorgt, als daß ich den verdrießlichen Empfang, den ich bei meiner Rückkehr zu Hause über mich ergehen lassen mußte, verschweigen möchte. Meine Frau ist ein Tugendgarten; selbst in den schwierigen Augenblicken, die wir bisweilen durchzumachen hatten, lag nie der geringste Anlaß vor, die Beschaffenheit ihres Herzens anzuzweifeln; aber ihre natürliche Barmherzigkeit läßt sich ungern überrumpeln. Sie hält auf Ordnung und neigt genau so wenig dazu, über ihre Pflichten hinauszugehen, als sich einer Unterlassung schuldig zu machen. Ja, ihre Barmherzigkeit selber ist sorgsam geregelt, als wäre die Liebe ein erschöpflicher Schatz. Hierin besteht unsere einzige Meinungsverschiedenheit . . .

Ihr erster Gedanke, als sie mich an jenem Abend mit der Kleinen heimkehren sah, entfuhr ihr in dem Schrei:

„Womit hast du dich nun wieder belastet?“

Wie jedesmal, wenn eine Auseinandersetzung zwischen uns bevorsteht, führte sie zuerst die Kinder hinaus, die offenen Mundes, in fragender Überraschung, herumstanden. Ah, wie weit war dieser Empfang von dem entfernt, den ich mir wohl gewünscht hätte! Nur meine liebe kleine Charlotte fing mit den Händen an zu klatschen und zu tanzen, als sie begriff, daß etwas Neues, etwas Lebendiges dem Wagen entsteigen würde. Die anderen aber, von der Mutter bereits abgerichtet, dämpften Charlottens Freude und brachten es rasch so weit, daß sie ihnen nachfolgte.

Es herrschte ein Augenblick höchster Verlegenheit. Und da weder meine Frau noch die Kinder wußten, daß sie es mit einer Blinden zu tun hatten, vermochten sie sich nicht die unendliche Sorgfalt zu erklären, mit der ich ihre Schritte lenkte. Ich wurde selber durch die seltsamen Klagetöne ganz aus der Fassung gebracht, die das gebrechliche Geschöpf hervorstieß, sobald ich seine Hand losließ, die ich während der ganzen Fahrt in der meinen gehalten hatte. Seine Schreie hatten nichts Menschliches; es war wie das wimmernde Kläffen eines kleinen Hundes. Zum erstenmal dem engen Kreis der gewohnten Sinneseindrücke entrissen, die ihre ganze Welt ausmachten, schleppte sich die Blinde mit schlotternden Knien; doch als ich ihr einen Stuhl hinrückte, ließ sie sich zur Erde gleiten, wie jemand, der sich nicht zu setzen verstünde. Da nahm ich sie bei der Hand, und sie beruhigte sich ein wenig, als sie sich in derselben Stellung niederkauern konnte, in der ich sie zuerst an der Feuerstelle der entschlafenen Alten angetroffen hatte – angelehnt an das Kamingesims. Schon im Wagen hatte sie sich vom Sitz herabgleiten lassen und war die ganze Wegstrecke über so verblieben, zu meinen Füßen zusammengekauert. Meine Frau, bei der die natürliche Regung immer die bessere ist, half mir inzwischen; ihr Verstand aber kämpft ohne Unterlaß und triumphiert nicht selten über ihr Gefühl.

„Was beabsichtigst du mit . . . dem da zu tun?“ fuhr sie fort, nachdem die Kleine untergebracht war.

Mich fröstelte im Herzen, als ich sie solcherart sprechen hörte, und es fiel mir schwer, eine Regung der Empörung zu unterdrücken. Doch noch ganz durchdrungen von meiner langen, friedvollen Betrachtung, hielt ich an mich und, zu ihnen allen, die von neuem im Kreise herumstanden, hingewandt, legte ich meine Hand auf die Stirn der Blinden und sagte mit so viel Feierlichkeit, als mir zu Gebote stand:

„Ich führe das verlorene Schaf heim.“

Amalie aber will nicht gelten lassen, daß irgend etwas Unvernünftiges oder Übervernünftiges in der Lehre des Evangeliums enthalten sei. Und wie ich sah, daß sie sich zum Widerspruch anschickte, gab ich Jakob und Sarah, denen unsere kleinen Ehezwistigkeiten nichts Neues waren und die überdies von Natur aus nicht gerade neugierig veranlagt waren (meiner Meinung nach sogar vielfach zuwenig), einen Wink, damit sie sich mit den beiden Kleinen entfernten. Dann fügte ich, da meine Frau immer noch betreten und durch die Anwesenheit des Eindringlings, wie mir schien, etwas aufgebracht war, hinzu:

„Du kannst ruhig vor ihr sprechen, das arme Kind versteht kein Wort.“

Da begann Amalie zu beteuern, daß sie mir gewiß nichts zu sagen habe – für gewöhnlich das Vorspiel zu den langwierigsten Auseinandersetzungen –, und daß sie sich wie immer dem zu fügen habe, was ich an unpraktischen, dem gesunden Menschenverstand und dem allgemeinen Brauch zuwiderlaufenden Neuerungen wohl erfinden mochte. Ich habe bereits dargelegt, daß noch keineswegs in mir feststand, was ich mit dem Kinde beginnen wollte. Ich hatte noch gar nicht oder doch nur ganz unbestimmt die Möglichkeit in Erwägung gezogen, sie in unser Haus zu nehmen, und Amalie war es, die mir zuerst diesen Gedanken eingab, indem sie mich fragte, ob ich denn nicht der Meinung sei, daß „schon genug Münder im Hause wären“. Darauf erklärte sie, daß ich immer vorwärts schritte, unbekümmert um den Widerstand derer, die da folgen müßten; daß sie für ihr Teil der Meinung sei, fünf Kinder genügten vollauf; daß seit Klaus’ Geburt (der gerade in diesem Augenblick, als hörte er seinen Namen nennen, in seiner Wiege zu heulen begann) das Maß voll sei, und daß sie sich am Ende ihrer Kräfte fühle.

Bei den ersten Sätzen ihres Ausfalls lagen mir einige Worte Christi auf der Zunge, die ich aber nicht aussprechen mochte, da es mir nicht angängig scheint, meine Handlungen mit der Autorität der Heiligen Schrift zu decken. Sobald sie aber ihr Überangestrengtsein ins Gefecht führte, bemächtigte sich meiner eine gewisse Verlegenheit, denn ich muß wohl gestehen, daß ich mehr als einmal die unbedachten Folgen meines Eifers nachträglich auf den Schultern meiner Frau ruhen ließ. Diese Vorhaltungen hatten mich jedoch auf meine Pflicht hingewiesen; ich flehte also Amalie mit aller Zartheit an, doch überlegen, zu wollen, ob sie an meiner Stelle nicht ebenso gehandelt und ob sie es wohl über sich gebracht hätte, ein Wesen, augenscheinlich jeder Stütze bar, in seinem Elend zu belassen. Ich fügte hinzu, daß ich mich über den neuerlichen Zuwachs an häuslicher Bürde, den die Sorge um diesen gebrechlichen Gast notwendig mit sich brachte, keiner Täuschung hingäbe, und ich verlieh meinem Bedauern Ausdruck, ihr darin nicht öfter helfend zur Seite stehen zu können. Schließlich redete ich, so gut es ging, beschwichtigend auf sie ein, indem ich sie bat, ihren Groll doch nicht an einer Unschuldigen auszulassen, die ihn durch nichts verdient habe. Dann bedeutete ich ihr, daß Sarah künftig alt genug wäre, ihr in höherem Maße an die Hand zu gehen, und Jakob desgleichen, ihrer Pflege entraten zu können. Kurz, Gott legte mir die nötigen Worte in den Mund, um ihr die Hinnahme dessen zu erleichtern, was sie sicherlich nicht ungern auf sich genommen hätte, wenn das Ereignis ihr nur Zeit zum Nachdenken gelassen hätte und ich nicht dergestalt auf dem Überraschungswege über ihren Willen verfügt hätte.

Ich hielt die Partie fast für gewonnen, und schon näherte sich meine liebe Amalie Gertrud mit Wohlwollen; doch plötzlich kam ihre Gereiztheit noch stärker zum Ausbruch, als sie mit der Lampe zu näherer Betrachtung hingeleuchtet hatte und die unsagbar schmutzige Verfassung des Kindes gewahr wurde.

„Aber das ist ja eine wahre Pest!“ rief sie. „Bürste dich aus, rasch, bürste dich aus. Nein, nicht hier. Schüttle dich draußen. O mein Gott, die Kinder werden voll davon sein. Ich fürchte nichts mehr auf der Welt als Ungeziefer.“

Unbestreitbar war die arme Kleine über und über damit behaftet, und ich konnte mich einer Regung des Ekels nicht erwehren, als ich daran dachte, daß ich sie im Wagen so lange Zeit in den Armen gehalten hatte.

Als ich zwei Minuten später, nachdem ich mich nach Kräften gesäubert hatte, wieder die Stube betrat, fand ich meine Frau in einem Sessel zusammengesunken, den Kopf in die Hände gestützt, einem tiefen Weinkrampf ausgeliefert.

„Es war nicht meine Absicht, deine Standhaftigkeit auf eine so harte Probe zu stellen“, sagte ich zärtlich. „Wie dem auch sei, es ist spät am Abend und nicht mehr hell genug. Ich werde wachen und das Feuer hüten, an dem die Kleine schlafen soll. Morgen werden wir ihr das Haar schneiden und sie gehörig waschen. Du sollst dich erst dann um sie kümmern, wenn du sie ohne Abscheu betrachten kannst.“ Und ich bat sie, darüber nicht mit den Kindern zu sprechen.

Es war Zeit zum Abendessen. Mein Schützling, dem unsere alte Rosalie beim Aufwarten reichlich feindliche Blicke zuwarf, verschlang gierig den Teller Suppe, den ich ihm hinstellte. Die Mahlzeit verlief schweigend. Ich hätte wohl mein Abenteuer erzählen, mit den Kindern sprechen und sie rühren mögen, indem ich ihren Sinn öffnete für das Ungewöhnliche einer so vollkommenen Entblößung, ihr Mitleid und ihr Mitgefühl für jene erweckte, die Gott unserer Aufnahme empfohlen hatte; aber ich fürchtete, Amaliens Gereiztheit von neuem zu entfachen. Es war, als sei die Parole ausgegeben, das Ereignis zu vergessen und sich darüber hinwegzusetzen, so gewiß es auch war, daß keiner von uns an etwas anderes zu denken vermochte.

Ich war aufs äußerste gerührt, als ich, eine Stunde nachdem alle zu Bett gegangen waren und Amalie mich allein in der Stube zurückgelassen hatte, meine kleine Charlotte die Tür halb öffnen und barfüßig im Hemdchen hereinschleichen sah; als sie sich mir dann an den Hals warf und mich wild küßte, flüsternd:

„Ich hatte dir nicht richtig Gutnacht gesagt.“

Dann, mit leiser Stimme, indem sie mit der Spitze ihres Zeigefingerchens auf die unschuldig schlafende Blinde wies, die sie, bevor sie sich dem Schlafe überließ, aus Neugier noch einmal hatte sehen wollen:

„Warum habe ich ihr denn keinen Kuß gegeben?“

„Du wirst es morgen tun. Lassen wir sie jetzt, sie schläft“, sagte ich, indem ich sie zur Tür geleitete.

Dann kehrte ich zurück, setzte mich wieder hin und arbeitete bis zum Morgen, halb lesend, halb meine nächste Predigt vorbereitend.

Gewiß bezeigte sich Charlotte, dachte ich (ich entsinne mich dessen noch), heute viel liebreicher als ihre anderen Geschwister; aber hat mich nicht jedes in diesem Alter zuerst in die Irre geführt, sogar mein großer Jakob, heute so distanziert, so verhalten..? Man glaubt sie zärtlich – sie sind nur schmeichlerisch und kosend.

Die Pastoralsymphonie

Подняться наверх