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KAPITEL 2

Die Leute sagen: „Er ist verrückt.“

Oder:Er lebt in einer Fantasiewelt.

Oder auch:Wie kann er Dingen ohne Logik vertrauen?“

Aber der Krieger lauscht weiter dem Wind

und spricht mit den Sternen.

[Paulo Coelho - Handbuch des Kriegers des Lichts]

Das Haus war klein, mit Mauern aus Naturstein gebaut. Das Dach hatte ein beträchtliches Gefälle auf beiden Seiten des Hauses. Das war notwendig, um die Entlastung des Schnees während des Winters zu begünstigen und somit zu verhindern, dass sich schwere Eisplatten bildeten, die die Holzbalkenstruktur, die auch im Innern, in den Zimmern, sichtbar war, gefährden würden. Die Hausbesitzer und Schleusenwächter hießen Urs und Doris, ein sehr harmonisches Paar. Sie hatten das Haus in zwei Bereiche aufgeteilt, einen geräumigeren, für sie bestimmten, und den anderen, der an Touristen als Ferienwohnung vermietet wurde. In seiner Einfachheit gab es in dem Haus alles, was man braucht: ein Wohnzimmer mit Kochnische, eine wunderbar ausgestattete Küchenzeile mit dem notwendigen Geschirr, Töpfen und jeder Menge Besteck, ein bequemes Sofa, ein eigenes, sehr kleines Bad, aber mit einer geräumigen Dusche. Der Schlafbereich, der den oberen Teil der Struktur nutzte, befand sich auf dem Hängeboden. Zugang hierzu hatte man über eine stabile Innentreppe. Jedes nur erdenkliche Haushaltsgerät war vorhanden, ob nützlich oder nicht, sei dahingestellt. Es gab ein Radio, Satellitenfernsehen, sogar einen drahtlosen Internetanschluss. All dies schien fast fehl am Platz in einem, dem Anschein nach, so einfachen, ländlichen, natürlichen und minimalistischen Kontext. Ich kam nicht umhin, all diese Annehmlichkeiten zu schätzen, die inzwischen überwältigend Einzug in mein Stadtmensch-Leben gehalten hatten. Wie auch immer, ich versprach mir, ihre Anwendung auf ein Unverzichtbares zu beschränken. Wir waren auf der Suche nach absoluter Ruhe, nach Ablösung vom Überflüssigen, nach Eintauchen in die Natur. Ganz sicher war, dass wir unsere kostbare Zeit nicht verschwenden wollten, indem wir die Tätigkeiten eines chaotischen Alltags wiederholten. Auf der Außenseite war das Haus nicht von Blumen oder für gepflegte Gärten typischen Pflanzen umgeben. Im Gegenteil, zarte Farbflecken tönten es, ein Geschenk der Blumen und wilden Sträucher, der roten Mohnblumen und der anderen, intensiv orangefarbenen, eleganten Blüten, der weißen und lila Glockenblumen, die an den Mauern hochkletterten oder hier und da Polster auf dem Boden bildeten, so schön und dicht, dass man vorsichtig sein musste, sie nicht zu zertreten. Es gab Gräser und Sträucher, die ich sicherlich ausgerupft hätte, wenn sie im Garten meines Hauses in der Stadt gewachsen wären, entweder weil sie nicht dort hingepasst hätten oder, bei oberflächlicher Betrachtung, nicht schön genug gewesen wären. Diese einzigartig geformten Blüten ließen Maserungen und Farbschattierungen auf den weichen, sich samtig anfühlenden Blütenblättern erkennen. Und ihre Lebenskraft, die Art wie sie schwankten, sich auf ihren langen Stielen der Luft auslieferten, ließ sie wie von einem großen Lehrer ausgebildete Tänzer erscheinen. All dies faszinierte uns, schlug uns in den Bann einer Art Zauber oder Hypnose. Warum geschah das nur dort und in jenem Moment? Ich habe in meinem Leben viele blühende Glockenblumen und Mohnblumen gesehen. Warum habe ich nie bemerkt, wie schön, zart und elegant sie sind? Ich erkannte meine unermessliche Oberflächlichkeit und das machte mich ein wenig traurig. An einer Ecke des Hauses hingegen wuchs eine wunderschöne, tiefrote Rose, mit Blütenblättern, so weich wie der feinste Samt, der ein Duft entströmte, der einen gefangen nahm, die Sinne überwältigte. Wir hatten zwei Fahrräder, entscheidend für die Fortbewegung in der näheren Umgebung, wenn man nicht das Auto nehmen wollte.

Nach dem Austausch einiger Informationen, die Gegend und ihre Sehenswürdigkeiten betreffend, verabschiedeten sich Urs und Doris von uns und ließen uns auspacken, aber nicht ohne uns für den Nachmittag auf einen Willkommensaperitif einzuladen. Die Stille um uns herum war greifbar, eine direkt von den Ohren wahrgenommene, fast unangenehme Stille, die wir nicht gewohnt waren. Ich sah meine Frau an und bat sie zu lauschen. Man hörte das unvermeidliche Zwitschern der stets zahlreichen Vögel und ihrer verschiedenen Arten, das sanfte Rauschen des Wassers in der Schleuse hinter uns, die dazu diente, den Wasserpegel im Kanal unter Kontrolle zu halten, die Eigentümer des Schleusenhauses, die die Grüße der Passanten erwiderten, sowie auch das Rascheln der Blätter in den Bäumen, die die Luft bewegte.

Es gibt viele Schleusen am Kanal, eine für jede Wasserstandsdifferenz; in der Regel handelt es sich um ein paar Meter. Für jede Schleuse gibt es ein Haus, von einem Wächter bewohnt, der die Aufgabe hat, die Schleuse zu öffnen und zu schließen, jedes Mal, wenn ein Kahn vorbeifährt. Die Öffnungs-und-Schließvorgänge werden bis zum heutigen Tag noch von Hand und mit denselben Bewegungen ausgeführt, die die Zeiten bis heute überdauert haben. Eine Schleuse besteht aus einer wasserdichten Kammer, die lang aber sehr schmal im Vergleich zur Breite des Kanals ist. Sie tritt in Form einer Aushebung des Geländes in Erscheinung, die mit Steinblöcken, die die Erddämme verstärken sollen, gefestigt ist, weil sie andernfalls der Erosion durch das Wasser ausgesetzt wäre. Der Wasserstand im Innern der Kammer wird erhöht oder verringert, um den Kähnen die Einfahrt zu ermöglichen. Sie werden angehoben oder abgesenkt und so auf das gewünschte Niveau des Aufstiegs- oder Abstiegskanals gebracht. Die Passagiere auf den Kähnen schienen immer sehr interessiert und beobachteten genau den Hergang dieser Aktion, als ob sie sie persönlich auszuführen hätten. Trotz Versuchen der französischen Regierung, diese Systeme zu automatisieren, haben der Kanal und die Menschen, die für ihn arbeiten, sich immer erfolgreich dafür eingesetzt, dass diese Handfertigkeit, die die Touristen bis zum heutigen Tag sehr schätzen und bewundern, nicht untergeht.

Urs und Doris riefen uns für den Aperitif und luden uns ein, uns zu ihnen an den Tisch mit Blick auf die Schleuse zu setzen. Von dort aus hatte man eine großartige Aussicht. Man konnte den Blick frei über den Kanal schweifen lassen, der mit seinen lebendigen Farben betrunken machte; von den Lichtreflexen mit Details der Bäume, die sich malerisch auf der Wasseroberfläche widerspiegelten, bis hin zu den Blumen und Sträuchern, die zahlreich an den Ufern wuchsen. Kleine Entenfamilien schwammen in der Reihe und bewegten sich im Zickzack auf der freien Wasseroberfläche. Es war nicht ungewöhnlich, diese kleinen Familien zu den Kanalufern schwimmen zu sehen, wenn die Kähne durchfuhren, und dann abzuwarten, bis sie vorbei gefahren waren, um sich dann wieder hinter ihnen aufzureihen und ihren Weg fortzusetzen. Der Bauch des Kanals beherbergt viele große Fische, die wegen des trüben, militärgrünen Wassers schwierig von außen zu sehen sind. Der Kanal ist eine unverzichtbare Attraktion für Anglergruppen, die sich regelmäßig auf den Pfaden entlang des Ufers aufstellen. Manche sind erfahren und gut ausgerüstet, andere einfache Anfänger, nur mit Angel und kleinem Fischernetz. Aber alle haben das gemeinsame Ziel, einen großen Fisch nach Hause mitzubringen und ihn genüsslich zum Abendessen, allein oder zusammen mit der Familie zu verspeisen, begleitet von einer deftigen französischen Soße, einem guten Wein und einer Baguette. Man sah in der Tat viele, in Reihen aufgestellt wie Soldaten, einige konzentrierter, andere entspannter, fast schläfrig. Sie parkten ihre Autos nicht weit entfernt von ihren Angelplätzen, ließen jedoch die Wagenfenster ausnahmslos offen. Gegenüber der Schleuse markierten einige kleine Hügel eine, aufgrund ihrer bescheidenen Höhe, nicht unüberwindbare Grenze. In der ganzen Gegend um uns herum gab es keine Häuser oder Gebäude irgendwelcher Art, Form oder anderer Nutzungsbestimmung. Ein paar Schritte weit vom Ufer des Kanals entfernt, auf der uns gegenüberliegenden Seite, erfüllte ein wilder Sturzbach die Luft mit dem Getöse seines rauschenden Wassers, das seinen Lauf stellenweise etwas änderte, wegen der großen Felsblöcke, die hier und da im Flussbett lagen. Die Blätter, die sich von den Zweigen der am Rand stehenden Bäume loslösten, schaukelten ein bisschen durch die Luft, fielen ins Wasser und wurden dann von der Strömung fortgerissen. Die Steine, mit eleganten, behenden und kreisenden Bewegungen umspült, lagen überrascht da, still und unfähig die Talfahrt der Blätter aufzuhalten oder auch nur zu verlangsamen. Welch ein Tanz!

Es war früher Nachmittag, die Sonne stand hoch am Himmel und erwärmte die Luft, aber man spürte die Hitze nicht. Die Luftfeuchtigkeit war gering, trotz der Nähe zu dem Wasserlauf. Urs zeigte sein übliches, nettes Lächeln. Er forderte uns auf, es uns bequem zu machen und entschuldigte sich, dass er uns ein paar Minuten allein lassen musste, um den Aperitif zuzubereiten. Aus dem Innern des Hauses, durch das kleine, halb offene Fenster, kam das dumpfe Geräusch des Messers, mit dem Doris beim Schneiden von Käsewürfeln und in Gewürzöl getauchtem, geröstetem Brot, herumhantierte. Das Messer schien auf eine Arbeitsplatte aus Naturstein zu stoßen, und zwar in derartig regelmäßigen Abständen, dass man denken konnte, sie würden durch eine Maschine erzeugt und nicht durch einen menschlichen Arm. Meine Frau und ich sahen uns an und schwiegen. Wir fühlten uns ungeheuer schläfrig und entspannt. Nur zwei Stunden Aufenthalt an diesem Ort und wir hatten bereits die Verbindung zur Realität des Stadtlebens verloren, das uns kaum noch anzugehören schien.

„Aber gibt es denn all das tatsächlich? Oder träume ich vielleicht?“, rief Sonia leise aus, möglicherweise, um nicht von den Besitzern gehört zu werden, die unsere Worte sowieso nicht verstanden hätten.

„Es ist eine unglaubliche Wirklichkeit und ich hatte gedacht, es gäbe sie nicht mehr. Jetzt aber entfaltet sie sich hier vor unseren Augen, mit all seinen Einzelheiten. Dem ist nichts hinzuzufügen! Genießen wir es doch, mein Schatz. Alles und nur für uns!“ antwortete ich und hielt ihre Hände fest umspannt.

Urs tauchte wieder auf, mit zwei Flaschen in der Hand, eine mit Weißwein und die andere, bereits geöffnete, mit einem eher dickflüssigen, tiefroten Wein. Er erklärte uns, dass es sich um einen Brombeerlikör handelte, der auf seinem Grund und Boden hergestellt wird, einen sehr hohen Alkoholgehalt hat und dass er gewöhnlich benutzt wurde, um andere Weine zu verschneiden, oder für Cocktails, Aperitifs oder Desserts. Auch dass er selten so getrunken wurde, wie er war, wegen seines leicht säuerlichen Geschmacks. Er goss circa einen Zentimeter dieses Likörs in die Gläser, füllte dann mit Weißwein auf, was ein Gemisch von einer ganz ähnlichen Farbe wie Roséwein ergab. Der beißende, aber sehr angenehme Geschmack bewahrte den Alkoholgehalt des Likörs fast unverändert, nur etwas abgemildert durch den merklich ausgewogeneren Geschmack des Weißweins. Doris kam aus dem Haus und trug triumphierend eine Platte mit Käsesnacks auf Brot, die sie vor ein paar Minuten zubereitet hatte. Nach den üblichen guten Wünschen begannen wir von allem zu kosten und ließen uns dabei von den Geschmäcken, den Düften, dem zarten und unaufdringlichen Gesang der Vögel, dem Rauschen der sich aneinander reibenden Blätter der Bäume, dem Hauch eines Lüftchens, das man langsam zu schätzen begann und der Luft etwas Biss verlieh, vollkommen mitreißen. Ein kleines, weißes Wölkchen hier und da trübte den Himmel, der bis zu diesem Moment blau gewesen war, und entkräftete so die grenzenlose Monochromie. Wir sprachen über viele Dinge, unser Leben in der Stadt, unsere Arbeit. Urs und Doris erzählten aus ihrer Vergangenheit und veranschaulichten die Wege und Entscheidungen, die sie in dieses Paradies geführt hatten. Ihre Gemütszustände gelangten direkt in unsere Herzen, von ihren Worten ans Ziel begleitet. Sie liebten diesen Ort, fühlten sich Teil davon. Und das Licht, das in ihren Augen glänzte, ihr Lächeln und die Fröhlichkeit, die sie in jeder Situation zeigten, bestätigten uns das jeden Augenblick, auch in den folgenden Tagen. Sie lebten ein echtes Leben, eines in seiner Einfachheit erfülltes Leben. Ein Bild werde ich nie vergessen können, das sich wie mit Feuer in meinen Kopf eingebrannt hatte, während ich Urs beobachtete. Mit den Händen umspannte er sein halb volles Stielglas, das auf dem Tisch stand. Sein Blick, verloren auf den Horizont gerichtet, ließ ein leises Lächeln entstehen, das von den Gedanken herkam, die ihm in dem Augenblick durch den Kopf gingen. Sicherlich Gedanken erlesener Wichtigkeit und frei von Problemen jeglicher Art. Im Glas malte die Sonne Flecke aus Licht und Schatten, belebt durch das Schwappen des Weines, das die Bewegungen der Hand verursachten. Urs führte das Glas zum Mund, ohne es auch nur anzusehen; er war geradezu in seine Pläne versunken, beinahe geistesabwesend. Im Gegensatz dazu sprach Doris unaufhörlich und ihr Redeschwall wurde nur minimal durch eine Zigarette unterbrochen, die sie automatisch inhalierte.

Schließlich verabschiedeten wir uns, dankten ihnen und zogen uns zurück ins Haus, um ein wenig auszuruhen, in Erwartung der abendlichen Kühle. Nach nur einem Tag hatten wir schon so viele Eindrücke gesammelt, dass wir sie sogar nachts, in unseren Träumen wieder erleben konnten.

Das Haus An Der Schleuse

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