Читать книгу Haus der Hüterin: Band 11 - Die Bedrohung - Andrea Habeney - Страница 8
ОглавлениеRylee stand am Fenster ihres Schlafzimmers und starrte ins Dunkel der Nacht. Irgendetwas war da draußen. Etwas Dunkles, Gefährliches. Momentan spürte sie keine akute Bedrohung, doch sie war sicher, dass das Wesen, das sie vor ein paar Tagen angegriffen hatte, nicht einfach so wieder verschwunden war.
Sie rieb sich die Arme. War es so kühl im Raum oder kam es ihr nur so vor? Erfolglos versuchte sie, ein Gähnen zu unterdrücken. Sie wünschte sich, endlich eine Nacht durchschlafen zu können, doch zu vieles ging ihr im Kopf herum.
Boh fehlte ihr. Seit sie vor einigen Tagen Amelie, die Wächterin, befreien konnten, hatte ihr Wächterkater Boh nachts nicht mehr in ihrem Zimmer geschlafen. Natürlich wusste sie, dass er sofort an ihrer Seite erscheinen würde, wenn sie ihn rief oder brauchte. Trotzdem fühlte sie sich einsam, noch einsamer als zuvor.
Dabei mangelte es ihr nicht an Gesellschaft. Ihre Haushälterin Maj war ihr mittlerweile eine gute Freundin, und der Geist Phillip gehörte zum festen Inventar des Hauses. Sie konnte den Lebenden Baum im Garten besuchen oder die Baumnymphe Nialee, die erst kürzlich in eine der Birken im Garten gezogen war.
Die Drachin Emmea und ihr zukünftiger Mann, der Squatch Squeech, wohnten bei Rylee, bis ihr Haus auf dem Nachbargrundstück fertig gestellt sein würde, und Rylees Freundin Emily, die gleichzeitig Emmeas Tante war, kam häufig zu Besuch.
Und der junge Hüter Percival wohnte ebenfalls hier, bis er entschieden hatte, wie seine Zukunft aussehen sollte.
Trotzdem war Rylee einsam. Sie vermisste Vlad, den uralten Vampir, der ihr nach ihrer ersten Liebesnacht erklärt hatte, am selben Tag eine andere heiraten zu wollen. Seitdem hatte sie sich geweigert, auch nur ein Wort mit ihm zu sprechen, so tief hatte dieser Verrat sie getroffen. Und trotzdem …
Außerdem vermisste sie ihre Eltern, die umgekommen waren, als sie ein kleines Kind war. Der Schmerz darüber, der latent immer in ihr war, war kurz nach der Rückkehr von ihrer Rettungsmission neu angefacht worden. Percival hatte behauptet, dass jemand ihre Eltern vor fünfzehn Jahren gesehen hatte auf einem Frachter, der Gefangene und Flüchtlinge zu einem Planeten am Ende der Galaxis transportierte. Schock und Hoffnung hatten sie fast überwältigt, doch bald hatte die Vernunft eingesetzt. Es konnte nicht sein. Warum hätten ihre Eltern ihr Haus Securus Refugium und ihre Tochter Rylee im Stich lassen und fliehen sollen? Zumal die Gesellschaft, die den neutralen Häusern vorstand, ihr versichert hatte, dass ihre Eltern tot seien. Warum hätten sie lügen sollen?
Sie verbat sich, Hoffnung in Percivals vagen Hinweis zu setzen. Es war unmöglich. Ihre Eltern waren tot und Punkt. Sie würde es nicht ertragen, zu hoffen und dann erneut enttäuscht zu werden. Am liebsten hätte sie sich eine Zeit lang von allem zurückgezogen und ihre Wunden geleckt. Doch es gab einfach zu viel zu tun. Sie musste sich allerdings immer wieder an ihre Verantwortung gegenüber Securus Refugium und den Gästen erinnern, um die Kraft zu finden, weiter zu machen.
Seufzend beobachtete sie, wie sich der Himmel im Osten langsam erhellte. Als es etwa halb sieben sein musste, straffte sie die Schultern und stellte sich dem Tag.
Nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, ging sie nach unten in die Küche. Sie tat so, als habe sie Phillip, dessen transparente Form sie gerade noch durch die Wand hatte verschwinden sehen, nicht bemerkt. Er wusste, dass sie es nicht mochte, wenn er nachts vor ihrer Tür wachte. Was sollte ihr im Haus schon geschehen?
Maj werkelte wie immer bereits in der Küche. Als Tabatai brauchte sie wenig Schlaf und verfügte über immense Energie. Rylee sorgte sich oft, dass sie die ehemalige Sklavin zu viel arbeiten ließ, doch Maj weigerte sich beharrlich, Hilfe von ihr anzunehmen. Nur widerwillig erlaubte sie Rylee ab und zu einzelne Handreichungen. Immerhin.
Zu ihrer Überraschung saß die Wächterkatze Amelie auf einem der Küchenstühle und sah Maj zu. Es war richtig gewesen, die Wächterin aus dem Haus des superreichen Gargosian zu befreien. Doch er hatte sie nicht aus niederen Beweggründen eingesperrt, sondern um ihre Art zu erhalten. Sie hatte in seinen eigenen Räumen gelebt, und man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass beide eine tiefe Zuneigung verband. Obwohl Amelie frei sein wollte, vermissten sich die beiden, und Gargosian hatte sich schon mehrere Male nach ihr erkundigt.
„Guten Morgen Amelie“, sagte Rylee. „Wo ist denn Boh?“
Die Katzendame sah sie stumm aus unergründlichen grünen Augen an. Sie war zierlich und ihr weißes Fell war etwas länger als das des größeren und stämmigeren Katers. Sie schien sich in Securus Refugium wohlzufühlen, war aber allen außer Boh gegenüber zurückhaltend und kommunizierte auch nicht mental mit Rylee, wie Boh es tat.
Rylee war damit zufrieden. Amelie war ihr eigener Herr und konnte selbst entscheiden, wo und mit wem sie später leben wollte. Rylee würde ihr ein Zuhause geben, solange sie wollte. Und wenn sie für immer hierbleiben würde … umso besser.
Rylee zuckte mit den Achseln und setzte sich an den Küchentisch, wo ein großer Becher schwarzen Kaffees auf sie wartete. Sie gähnte und hielt sich verlegen die Hand vor den Mund.
„Hast du wieder nicht gut geschlafen?“, fragte Maj besorgt.
„Doch“, sagte Rylee schnell und erntete einen zweifelnden Blick.
„Was liegt heute an?“, fragte sie, um Maj abzulenken.
Maj zählte an den Fingern ab.
„Ein gewisser Richard kommt, um mit Zwergen zu handeln. Du wüsstest Bescheid. Ein gewisser Exo kommt, um Wein einzukaufen. Auch mit ihm hast du wohl eine Art Abmachung. Ansonsten ist es heute eher ruhig. Die Pflanzenforscher sind schon ganz früh abgereist. Ihr Raumschiff ging um fünf.“
„Die Pflanzenforscher“, sagte Rylee. „Die habe ich ganz vergessen. Ich hätte doch aufstehen können, um sie zu verabschieden. Wo ich doch sowieso …“ Sie verstummte.
Maj schüttelte den Kopf. „Das ist meine Arbeit. Ich brauche wenig Schlaf, wie du weißt. Und du solltest etwas gegen deine Schlaflosigkeit tun.“
Zu Rylees Glück kam Percival in die Küche. Er sah besser aus als noch vor ein paar Tagen. Seine Gesichtsfarbe war nicht mehr ganz so blass, und es schien fast, als hätte er an Gewicht zugelegt. Maj stopfte aber auch Unmengen an Essen in ihn hinein, dachte Rylee amüsiert. Und richtig. Während Percival alle inklusive Amelie höflich begrüßte, wandte sich Maj schon dem Herd zu und begann, Eier in eine Pfanne zu schlagen.
„Legen die Hühner gut?“, fragte Rylee neugierig.
Vor ein paar Tagen war Maj vom Einkaufen mit dem Material für einen Hühnerstall und drei lebenden Hühnern zurückgekommen. Als Antwort hielt die Tabatai stolz einen kleinen Korb mit Eiern hoch.
„So viele“, wunderte Rylee sich. „Ich dachte, Hühner legen jeden Tag nur ein Ei.“
„Es ist das Haus“, sagte Percival und ließ seine Augen über Wände und Decke schweifen. „Die magische Umgebung.“
Rylee sah ihn überrascht an. Sie vergaß oft, dass Percival ebenfalls ein Hüter war, der lange ein magisches Haus auf Aldibaran geleitet hatte. Die Gesellschaft hatte es ihm aus Habgier abgenommen und ihn auf den unwirtlichen und extrem lebensfeindlichen Planeten 3546 verbannt. Es war eine unglaubliche Leistung, dass er dort überlebt und aus den Überresten einer alten verfallenen Hütte ein neues Haus geschaffen hatte. Heaven hatte er es genannt. Zu allem Überfluss hatte er es noch bewerkstelligt, von dem Planeten zu entkommen, und sein Haus, dessen Essenz er in einem kleinen Stück Holz gespeichert hatte, mitzunehmen.
„Hast du eigentlich schon Pläne für die Zukunft?“, fragte sie aus diesem Gedanken heraus und setzte schnell hinzu: „Bitte versteh die Frage nicht falsch. Du kannst so lange hierbleiben, wie du möchtest.“
Der Blick, den er ihr zuwandte, war sorgenvoll. „So gern ich hier bin, ich muss eine neue Heimat für Heaven und mich finden. Es wird sterben, wenn es nicht bald einen Platz bekommt, wo es dauerhaft leben kann.“ Er sah ihren erschrockenen Blick. „Es erfordert viel Magie, die Essenz eines Hauses auf diese Art zu speichern und zu transportieren, und so gebunden kann die Essenz nur eine gewisse Zeit überleben.“
Besorgt fragte sie. „Kann man denn ein Haus an jeder beliebigen Stelle errichten?“
„Von der Magie her schon“, antwortete er. „Aber man muss natürlich lokale Gesetze und die Gesetze der Gesellschaft“, bei diesem Wort verzog er das Gesicht, „beachten. Sie passen zum Beispiel auf, dass die Häuser sich nicht gegenseitig Konkurrenz machen. Normalerweise vergeben sie Plätze. Aber du weißt ja, wie mein Verhältnis zu ihnen ist.“
Das wusste Rylee, und ihr eigenes Verhältnis zu der Leitung auf Aldibaran war nicht viel besser, seit Antrax ihr aus politischen Gründen die Hilfe bei der Befreiung von Amelie verweigert hatte. Er hatte ihr sogar gedroht, im Falle, dass sie nicht kooperieren würde. Obwohl sie auf Drohungen äußerst allergisch reagierte, stand es für sie außer Frage, Percival zu helfen, und sollte der Weg nur über die Gesellschaft gehen, dann musste sie die Kröte schlucken. Sie hatte auch schon eine Idee, wie sie es anstellen würde.
Doch zuerst musste sie sich vergewissern, dass ihre Informationen noch aktuell waren. Sie entschuldigte sich und ging ins Wohnzimmer, um ungestört zu telefonieren.
Gregor, der Hüter des Hauses Bayern meldete sich beim zweiten Klingeln. „Rylee“, sagte er atemlos. „Wie geht´s dir?“
„Gut“, antwortete sie und fragte. „Und dir? Was machen deine Umzugspläne?“
Er stöhnte. „Wir räumen seit Tagen das Haus aus, damit ich es mitnehmen kann. Die Essenz lässt sich leichter speichern, wenn es leer ist. Die Gesellschaft unterstützt mich zum Glück. Alleine hätte ich nicht genug magische Kraft.“
„Das ist … nett von denen.“
„Ach was!“, sagte Gregor. „Niemand will ein neutrales Haus auf einem Planeten errichten, wo kaum Menschen leben. Sie freuen sich, dass sie endlich einen Dummen gefunden haben und helfen mir, bevor ich es mir anders überlegen kann.“
Rylee lachte leise. „Ich hoffe, du tust das Richtige.“ Dann legte sie ihm ihre Idee dar, Percival zu helfen.
Der nächste, mit dem sie sprechen wollte, war der neue Abgesandte der Gesellschaft für die Erde, Amadeus Borwinkel. Sie musste zunächst mit seiner Sekretärin vorliebnehmen, wurde nach einigem Hin und Her jedoch mit ihm verbunden. Auch ihm erklärte sie, dass sie vorhatte, Percival zu helfen, und stieß damit auf bedingte Zustimmung. „Meinen Segen haben Sie“, erklärte er. „Aber ich weiß, dass die Zentrale andere Pläne hat.“
„Lassen Sie das meine Sorge sein“, erklärte sie fest. Anders als beim letzten Gespräch mit dem Leiter der Gesellschaft, wusste sie jetzt nicht nur mehr, sondern hatte auch einen einflussreichen Verbündeten.
Noch bevor sie zum Telefon gegriffen und Gregor und Borwinkel angerufen hatte, hatte sie nämlich Gargosian eine Mail geschrieben. Sie wusste, dass er der Gesellschaft mehr als kritisch gegenüber stand und ihr den Rücken stärken würde.
Sie verzichtete diesmal darauf, ihr Hüterinnenornat anzulegen, um Antrax nicht mehr Bedeutung zuzumessen, als ihm ihrer Meinung nach zukam. Stattdessen benutzte sie das Portal zum Hauptbüro der Gesellschaft in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen. Sie erntete einen irritierten Blick der Empfangsdame, der jedoch sofort in ein professionelles Lächeln überging. „Hüterin Montgelas, haben Sie einen Termin mit Leiter Antrax?“
„Nein“, antwortete Rylee knapp.
„Dann weiß ich nicht … Leiter Antrax ist immer sehr beschäftigt.“ Das professionelle Lächeln war etwas verblasst.
„Ich bin sicher, er wird mich sehen wollen“, sagte Rylee selbstsicher. „Und zwar umgehend. Ich bin nämlich auch sehr beschäftigt.“
Die Empfangsdame öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn dann wieder und zögerte. Endlich nicke sie und wies zu einer Sitzgruppe.
„Bitte nehmt dort Platz. Ich werde sehen, was ich tun kann.“
„Ich bleibe stehen“, sagte Rylee. „Ich bin sicher, es dauert nicht lange.“
Wortlos verschwand die Frau durch eine unscheinbare Tür und erschien kaum eine Minute später wieder. „Leiter Antrax hat jetzt Zeit für Sie.“
Rylee nickte hoheitsvoll und folgte ihr durch die Tür in ein kleines, nüchtern eingerichtetes Büro, das in direktem Gegensatz zu dem üppig ausgestatteten Raum stand, in dem er sie noch vor wenigen Tagen empfangen hatte.
Sein Lächeln war ebenso breit wie bei ihrem letzten Besuch, erschien ihr heute jedoch gezwungen.
„Miss Montgelas, was für eine Überraschung“, sagte er und bot ihr einen Platz auf einem einfachen Stuhl an. Sie überlegte kurz, ob sie auf der Anrede Hüterin bestehen sollte, verzichtete jedoch darauf.
„Leiter Antrax“, begann sie höflich. „Ich habe ein Anliegen, das keinen Aufschub duldet.“
„Ich habe Ihnen schon gesagt, dass wir uns nicht an der Rettungsmission …“
„Die Rettungsmission wurde erfolgreich durchgeführt“, fiel sie ihm ins Wort. „Die Hüterin ist befreit und in Sicherheit.“
„Oh“, stieß er hervor. „Das ist ja …, also, was soll ich sagen? Das ist fantastisch! Wie habt Ihr es bewerkstelligt?“
„Ich hatte Unterstützung.“ Ihr Ton machte deutlich, dass sie nicht vorhatte, mehr darüber zu sagen.
„Gut, gut. Und die Wächterin?“
„Wird bei mir leben, solange sie es wünscht. Aber deshalb komme ich nicht.“
Antrax beugte sich vor. „Was verschafft mir dann die Ehre?“
„Die Gesellschaft hat vor etwa fünfzehn Jahren zwei Hütern ihr Haus auf Aldibaran weggenommen und sie in die Verbannung geschickt.“ Rylee sah, dass Antrax etwas sagen wollte, und hob die Hand. „Ich weiß sehr wohl, dass Ihr damals nicht beteiligt wart, aber das ist jetzt auch einerlei. Einer der Hüter hatte sich tatsächlich etwas zuschulden kommen lassen. Er ist jetzt tot, aber sein Bruder lebt und konnte sich aus der völlig zu Unrecht erfolgten Verbannung befreien. Er hat ein neues Haus geschaffen und trägt seine Essenz mit sich.“
„Wo ist er?“, wollte Antrax wissen.
„Er ist in meinem Haus und steht unter meinem Schutz. Aber die Essenz wird sterben, wenn er nicht bald einen neuen Platz bekommt, um sich anzusiedeln.“
„Ich sehe, worauf das hinausläuft“, sagte Antrax säuerlich. „Ich würde sicher einen Platz finden, sofern es zutrifft, dass der Hüter würdig ist, aber ich befürchte, Ihr habt etwas anderes im Sinn, eine schnellere Lösung.“
Rylee nickte. „Ihr begreift rasch, Leiter Antrax. Ich möchte, dass er sein Haus an der Stelle des Hauses Bayern errichten darf, das mein guter Freund Gregor mit sich nehmen wird.“
Antrax lehnte sich zurück und sah sie abschätzend an. „Nur damit ich es richtig verstehe“, sagte er. „Warum sollte ich das tun? Die Stelle ist dem Sohn eines unserer verdientesten Hüter versprochen worden.“
„Weil die Gesellschaft Percival großes Unrecht zugefügt hat, und ich es jedem aber auch jedem erzählen werde, wenn sie nicht versucht, es auf diese Weise wieder gut zu machen. Und wie wichtig Euch Euer Ruf ist, habt Ihr mir ja beim letzten Mal gezeigt.“
„Aber Miss Montgelas …“, begann er. „Sie werden mir doch nicht nachtragen, dass ich abgelehnt habe, einen der reichsten Männer der Galaxis zu verärgern, nur aufgrund eines Hirngespinstes.“
„Wir beide wissen doch inzwischen, dass es kein Hirngespinst war“, sagte Rylee freundlich. „Und was den reichen Mann betrifft: Es liegt auch ihm sehr am Herzen, dass die Angelegenheit auf diese Weise bereinigt wird.“
Antrax´ Blick flackerte. „Was für ein Interesse sollte Gargosian an diesem Hüter haben?“
Rylee zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche. „Wir können ihn fragen.“ Bevor der verblüffte Antrax reagieren konnte, hatte sie die Nummer des Millionärs gewählt und hielt Antrax das Telefon hin.
Mit versteinertem Gesicht hörte er zu, was Gargosian ihm sagte.
„In Ordnung“, sagte Antrax schließlich und gab Rylee das Telefon zurück.
„Sie sind weit gekommen“, sagte er mit tonloser Stimme. „Ich werde sofort eine Übertragungsurkunde aufsetzen lassen. Ihr Freund kann sein Haus pflanzen, sobald Haus Bayern umgesiedelt worden ist.“
Rylee bedankte sich höflich und ging, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Sie nickte der Empfangsdame zu und schritt in das Portal.
Percival starrte sie schweigend an, als Rylee ihm den Vorschlag unterbreitete. Sie hatte ihn im Garten gefunden, wo er die letzten Handgriffe am neu errichteten Hühnerstall ausführte.
Sie wartete einen Moment und wiederholte, als er nichts sagte: „Du kannst dein Haus in Bayern errichten. Oder möchtest du nicht auf der Erde leben?“
Wieder kam keine Antwort. Rylee trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. „Percival? Ich kann Antrax auch fragen, ob es eine andere Möglichkeit gibt.“
Percival starrte sie an und schluckte. Dann fragte er langsam. „Ist das wahr? Meinst du es wirklich ernst?“
Bevor sie nicken konnte, riss er sie in die Arme. Seine nächsten Worte wurden von Schluchzern unterbrochen. „Ich hatte solche Angst, dass ich keinen Platz finde und Heaven sterben würde.“
Rylee tätschelte ihm den Rücken. „Das hätten wir nicht zugelassen“, versicherte sie. „Ich hoffe, dass ihr euch in Bayern wohlfühlen werdet, Heaven und du. Es kann sich nur noch um wenige Tage handeln, bis Gregor alles fertig hat.“
Percival löste sich von ihr und blickte verlegen zu Boden. „Ein paar Tage hält Heaven noch durch“, sagte er leise. „Ich bin dir so dankbar.“
„Davon will ich nichts hören“, erklärte Rylee und machte eine abwehrende Handbewegung. „Haus Bayern ist das mir am nächsten liegende Haus. Nicht auszudenken, wenn die Gesellschaft da irgendeinen grässlichen Hüter hingesetzt hätte, der mich als Konkurrenz empfindet, nur weil ich ein Portal habe.“ Sie sah den jungen Hüter besorgt an. „Ich hoffe, du hast kein Problem damit. Natürlich reisen jetzt viele über Securus Refugium ein, weil die Reise mit dem Portal so viel einfacher ist. Außerdem liegen wir neben dem einzigen Raumhafen der westlichen Hemisphäre. Aber Haus Bayern hatte trotzdem Gäste, und vielleicht könnten wir irgendwie zusammen arbeiten.“
Er atmete tief ein. „Solange ich einen sicheren Platz für Heaven habe, bin ich zufrieden. Und ich würde nichts lieber, als mit dir zusammen zu arbeiten. Ich hoffe nur, dass ich auch etwas in diese Zusammenarbeit einbringen kann.“
„Das wirst du sicher“, sagte Rylee abgelenkt, weil sie jemanden am Gartentor fühlte. Die Signatur war ihr unbekannt und hatte etwas Merkwürdiges. Sie überließ Percival seinem Hühnerstall und eilte in den Vorgarten. Vor dem Tor stand ein etwa dreißigjähriger Mann, der auf den ersten Blick menschlich aussah und etwas verloren wirkte.
Irgendetwas irritierte sie jedoch, und schnell fielen ihr einige Dinge auf:
Er musterte sie aus Augen, die aussahen wie flüssiges Gold. Überhaupt schien seine Haut einen goldenen Schimmer zu haben, und auch seine Haare glänzten, als wären sie gesponnene Goldfäden. Sein Blick wirkte verwirrt und zuckte immer wieder kurz nach links oder rechts.
Rylee trat ans Tor und lächelte. „Willkommen in Securus Refugium“, sagte sie freundlich. „Ihr möchtet ein Zimmer?“
Unsicher sah er am Haus empor. „Ich … glaube. Das hier ist eine Art … Herberge? Die Menschen dort drüben auf dem Feld haben mich hierher geschickt.“
Rylee reckte den Hals und folgte seinem Blick. Eine der Gestalten, die vor einem Bauwagen standen, winkte ihr. Stephan. Sie winkte zurück und wandte sich wieder ihrem Gast zu. „Ja, wir sind ein Gasthaus. Seid Ihr zu Fuß gekommen? Nach der Wiese kommt doch nur noch Wald.“
Er nickte. „Ich kam aus dem Wald. Und …“ Er schluckte. „Ich habe keine Ahnung, wo ich vorher war. Oder wer ich eigentlich bin. Nur meinen Namen weiß ich noch.“
Rylee wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. „Sicher werdet Ihr Euch wieder erinnern. Kommt erst einmal herein. Ihr müsst einen Eid leisten, weder dem Haus noch mir noch anderen Gästen zu schaden, dann könnt Ihr gerne ein Zimmer bekommen.“ Sie sagte ihm die Formel vor, und er sprach sie gehorsam nach.
Mit einer einladenden Handbewegung öffnete sie das Tor weit. „Hattet Ihr vielleicht einen Unfall? Habt Ihr einen Schlag auf den Kopf bekommen?“
Er griff sich an sein goldenes Haar. „Es scheint mir nicht so. Ich habe keine Schmerzen. Wie lange kann ich hierbleiben?“
„Solange Ihr möchtet“, antwortete Rylee. „Oder ist es eine Frage des Geldes?“ Seine Kleidung war zwar merkwürdig geschnitten, schien aber aus einem teuren Stoff, und die Ränder waren mit Goldfäden verziert.
„Geld?“ Er sah sie verwirrt an. Dann erhellte sich sein Blick. „Moment.“ Er kramte in den Taschen seines Mantels und zog eine Handvoll Goldmünzen heraus. „Das ist Geld, oder? Wie lange kann ich dafür bleiben?“
„Ist das echtes Gold?“, fragte Rylee erstaunt. „Ich habe keine Ahnung, was es wert ist, aber dafür könnt Ihr sicher sehr lange bleiben. Aber kommt doch erst einmal herein.“
Er folgte ihr zum Haus und sah sich immer wieder nach allen Seiten um.
„Darf ich Euren Namen wissen?“, fragte Rylee, als sie in die Halle traten. „Ist nur eine Formalität, ich muss ihn ins Gästebuch eintragen.“
Er neigte hoheitsvoll den Kopf. „Ich bin Kairos.“ Er sah sie erwartungsvoll an, als müsste sie den Namen kennen.
Rylee durchforstete ihr Gedächtnis, war sich jedoch sicher, den Namen noch nie gehört zu haben.
„Kommt“, bat sie, statt darauf einzugehen. „Ich zeige Euch Euer Zimmer. Um ein Uhr gibt es Mittagessen. Habt Ihr besondere Wünsche?“
Er murmelte etwas, das sich wie Brosa anhörte und schüttelte den Kopf.
„Wie bitte?“, hakte sie nach.
„Ich esse normales menschliches Essen“, erklärte er steif.
Sie ging voran bis in den ersten Stock und öffnete eine Tür zur Rechten. Auf ihre einladende Handbewegung trat er ein und sah sich mit kritischem Blick um. „Es ist sehr … einfach“, bemerkte er und sah sie an. „Wohnt man hier so?“
„Nun ja“, antwortete sie verlegen. „Ich leite das Haus noch nicht so lange. Es entwickelt sich noch und das ist mein bestes Zimmer.“ Sie machte sich im Geist eine Notiz, zumindest in einigen Zimmern für mehr Luxus zu sorgen.
Rylee ließ Kairos zurück und ging in ihr Büro, wo auch die technischen Anlagen, die Squeech bei seinem ersten Besuch eingerichtet hatte, untergebracht waren. Sie konnte mit ihrer Hilfe sowohl jedes Zimmer im Haus als auch die Umgebung über Kameras beobachten, verzichtete aber normalerweise aus Gründen der Diskretion darauf. Momentan hatte sie allerdings die Kameras, die die Umgebung des Hauses überwachten, aktiviert. Sie prüfte die Aufnahmen, fand aber keinen Hinweis auf die Bedrohung, die ihr nachts im Wald aufgelauert und sie mit ihrem Sirenengesang vom Haus weggelockt hatte. Auf dem letzten Stück der Aufnahme einer Kamera, die zur Wiese ausgerichtet war, konnte sie sehen, wie Kairos aus dem Wald trat und auf die Arbeiter zukam. Er lief unsicher, als wüsste er nicht, wohin er sollte, und blieb verloren mitten auf dem Baugelände stehen, bis Stephan auf ihn zuging. Nach einem kurzen Wortwechsel wies Stephan auf Securus Refugium, und Kairos wandte sich ab und kam zum Gartentor.
Den Rest des Nachmittags verbrachte Rylee mit Büroarbeiten und unterbrach die Arbeit nur, um zwei Stammgäste, Exo und Richard, die regelmäßig zum Handeln auf die Erde kamen, zu begrüßen.
Exo reiste unverzüglich weiter, um neue Weinsorten zu testen und einzukaufen, der winzige Richard traf sich wie immer im hinteren Teil des Gartens mit einer zwergischen Handelsdelegation. Rylee sah die geheimnisvollen Händler nur selten, aber wenn, erinnerten sie sie immer noch an Gartenzwerge.
Weit entfernt in einem alten Schloss in den Karpaten …
Vlad lief mit langen Schritten einen Gang entlang und passierte dabei mehrere reich mit Holzschnitzereien verzierte Türen. Den Steinboden bedeckten teuer aussehende Läufer.
Vor einer Tür weit hinten blieb er stehen. Er zögerte, als müsse er sich sammeln, dann straffte er die Schultern und klopfte.
Eine weibliche Stimme rief: „Ja bitte!“
Er öffnete die Tür so energisch, dass sie gegen die hölzerne Wandtäfelung schlug. Unbeirrt schritt er weiter ins Zimmer und steuerte auf das bodentiefe Fenster zu, vor dem ein bequem wirkender Sessel stand.
In ihm saß eine schlanke Frau mit langen, welligen, blonden Haaren. Sie sah fast aus wie ein Mensch, wären da nicht die senkrechten Pupillen und die Fangzähne gewesen, die ein wenig über die Unterlippe ragten.
Ihr Lächeln wirkte dadurch seltsam und gefährlich, wie das eines hungrigen Predators. All dies ging Vlad in Sekundenschnelle durch den Kopf. Er verbarg seinen Widerwillen und deutete eine Verbeugung an.
„Du hast mich rufen lassen?“, sagte er und sah sie abwartend an.
Sie lächelte ihr Reptilienlächeln und wies auf den leeren Sessel neben sich. „Wir haben seit unserer Hochzeit kaum Zeit miteinander verbracht. Sicher bist du sehr beschäftigt, aber ich langweile mich.“
„Das tut mir leid“, sagte er kühl. „Aber ich habe viel Arbeit und werde in nächster Zeit fast ununterbrochen auswärts sein. Du solltest dir eine Beschäftigung suchen. Vielleicht möchtest du deine Eltern besuchen?“ Es klang mehr wie ein Vorschlag als wie eine Frage. Ihr Gesicht verfinsterte sich.
„Meine Eltern werden es sicher nicht gutheißen, wenn du mich so vernachlässigst. Immerhin sind wir jung verheiratet.“
Er seufzte tief und setzte sich neben ihr auf den angebotenen Sessel.
„Ymani, was soll das? Du weiß so gut wie ich, dass unsere Heirat eine rein geschäftliche Basis hat. Oder muss ich dir den Absatz im Ehevertrag noch einmal zeigen?“
Sie schmollte, was bedingt durch ihre Fangzähne die Wirkung verfehlte und eher lächerlich aussah. „Aber das muss doch nicht heißen, dass sie rein geschäftlich bleibt. Was wir daraus machen, hängt ganz von uns ab. Und mein Vater wünscht sich nichts sehnlicher, als mich glücklich zu sehen. Wenn er mein Glück anzweifeln müsste, könnte es Konsequenzen für dein Volk haben.“
Es fiel Vlad nicht leicht, die unverhohlene Drohung im letzten Satz zu ignorieren.
„Wie dem auch sei“, sagte er und stand auf. „Ich muss jetzt weg. Ich werde in ein paar Tagen wieder hier sein. Dann können wir noch einmal darüber sprechen.“
Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, sprang Ymani auf und warf ihm wütend ein Glas nach, das an der Tür zerschellte. Dann ging sie zu einem Sideboard, nahm ein Telefon, das dort lag, und blaffte hinein: „Es soll sofort jemand herkommen und sauber machen. Und ich habe keine Lust, wieder so lange zu warten wie beim letzten Mal.“
Ärgerlich lief sie auf und ab, bis es leise an der Tür klopfte. Ein junges Mädchen trat schüchtern herein, den Blick zu Boden gesenkt, einen Eimer mit Putzzeug in der Hand.
„Mach das sauber!“, zischte Ymani.
Die junge Frau beeilte sich, dem Befehl Folge zu leisten. Dann fragte sie leise: „Kann ich sonst noch etwas für Euch tun, Herrin?“
„Verschwinde“, knurrte Ymani. „Und mach die Tür leise zu.“
Sie setzte sich an ihren Laptop und gab eine Adresse ein. Vlad saß auf dem Beifahrersitz eines großen schwarzen SUVs und brütete vor sich hin.
„Was ist los?“, fragte Michael, sein langjähriger Mitarbeiter und Freund, der das Fahrzeug steuerte. „Du siehst aus wie sieben Tage Regenwetter.“
„Ich habe diese alberne Redewendung noch nie leiden können“, antwortete Vlad missmutig.
„Trotz deiner jungen Ehe scheinst du nicht sonderlich glücklich zu sein“, sagte Michael vorsichtig.
Vlad brummte etwas, statt zu antworten.
Es blieb einige Zeit still im Wagen. Dann versuchte Michael es noch einmal.
„Ist es die junge Hüterin?“
Jetzt sah Vlad ihn direkt an. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und sein Blick warnend.
„Ich möchte nicht darüber sprechen.“
„Gut, ich verstehe das, aber …“ „Ruhe jetzt!“ Seine Stimme klang eisig und Michael verstummte.
Das Abendessen wurde in der Küche serviert, wie meist, wenn keine große Gesellschaft zusammenkam. Kairos war neben Percival, der inzwischen fast zum Inventar gehörte, der einzige Gast, der am Essen teilnahm. Hoheitsvoll kam er pünktlich um neunzehn Uhr in die Küche geschritten und betrachtete den gedeckten Tisch. Erwartungsvoll ließ er sich von Maj einen Platz zuweisen und setzte sich.
Rylee nahm daneben Platz und erklärte ihm, in der Annahme, dass er keine davon kannte, die menschlichen Speisen.
„Das ist Rindergulasch, von einem großen pflanzenfressenden Tier und das Runde sind Klöße. Sie werden aus Kartoffeln gemacht, einer Frucht, die in der Erde wächst. In der Schale ist Salat.“
Kairos sah sie aus unergründlichen Augen an. „Ich danke für die Erläuterung, jedoch kenne ich einige der Speisen. Allerdings nicht alle.“
„Nach Eurem Aussehen stammt ihr ursprünglich wohl nicht von der Erde?“, fragte Rylee neugierig, und zerteilte dabei einen Kloß.
Er sah an sich herunter. „Auch das weiß ich nicht. Sieht auf der Erde niemand aus wie ich?“
„Nein“, erklärte sie. „Der goldene Schimmer überall auf Euch. So etwas gibt es bei Menschen nicht.“
Er sah verwirrt aus. „Ich habe das Gefühl hier gelebt zu haben“, sagte er langsam. „Aber dann … Ich erinnere mich nicht. Nur Dunkelheit.“ Sein Gesicht wurde abweisend, und Rylee verzichtete auf weitere Fragen.
Einige Minuten aßen sie schweigend.
„Schmeckt wieder köstlich!“, erklärte Rylee, und Percival stimmt sofort zu.
Kairos neigte den Kopf. „Es schmeckt sehr angenehm.“
Maj sah verlegen weg und räumte die Teller ab. Dann brachte sie den Nachtisch.
Rylee würde Zimmermann, Mitglied der deutschen Ortsgruppe der Gesellschaft, der beim Angriff der Fremden getötet worden war, ewig dankbar sein. Er hatte ihr die seltene Nachspeise Bacluva gebracht, die für jeden den Geschmack annahm, den er bevorzugte. Indem sie eines ihrer magischen Bilder darauf geeicht hatte, besaß sie einen unerschöpflichen Vorrat. Für Rylee schmeckte der Nachtisch heute wie Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Amüsiert beobachteten Maj und sie, wie Kairos einen Löffel zum Mund führte und vorsichtig probierte. Optisch machte Bacluva nicht viel her, und so erlebte manch einer eine Überraschung, wenn er die unscheinbare Creme in den Mund schob und die Geschmacksexplosion einsetzte.
„Ambrosia, wie kann das sein?“, rief ihr Gast und nahm noch einen Löffel.
Rylee erklärte ihm den Trick.
„Die Speise der Götter“, sagte er ehrfürchtig und sah auf seinen Teller. „Ich … erinnere mich. Nicht daran, wann ich sie gegessen habe. Aber an die Speise selbst!“
Rylee wechselte einen Blick mit Maj. „Was genau ist Ambrosia?“
Kairos suchte nach Worten. „Es ist … eine Süßspeise, ein Trank, eine Salbe …“ Hilflos sah er sie an. „Wieso kann ich mich daran erinnern und an sonst nichts?“
Rylee wechselte einen Blick mit Maj, doch die Tabatai zuckte kaum merklich mit den Achseln.
„Ich weiß es wirklich nicht. Wir sollten vielleicht jemanden finden, der sich mit Gedächtnisverlust auskennt. Nur wen? Ich kann Euch schlecht zu einem menschlichen Arzt bringen. Warten wir lieber noch ein bisschen. Vielleicht kommt Euer Gedächtnis nach und nach von selbst zurück. Dass Ihr Euch an eine Speise erinnert, ist doch ein guter Anfang.“
Sie legte den Löffel weg und brachte ihre Schale zur Anrichte. Percival aß ungerührt seine zweite Portion und schien dem Gespräch nicht zu folgen.
Boh kam in die Küche, dicht gefolgt von Amelie. Er maunzte Maj an und sie beeilte sich, eine Schüssel mit Thunfisch zu füllen. Boh stupste Amelie an und ging dann zwei Schritte zurück. Er setzte sich und beobachtete, wie sie sich dem Schälchen näherte und zierlich kleine Bissen fraß. Als sie satt war, leckte sie sich die Schnauze sauber und ging zu Boh, um ihren Kopf an seinem zu reiben.
Rylee beobachtete den Austausch zufrieden. Die beiden Werkatzen gaben ein wunderschönes Paar ab. Amelie ließ Boh stehen, lief zu Percival und sprang graziös auf seinen Schoß. Der junge Hüter schrak zusammen, doch sein Gesicht erhellte sich rasch wieder, als er erkannte, wer da plötzlich auf ihm saß. Er streichelte sie zärtlich.
Boh fraß, was Amelie ihm übrig gelassen hatte, beäugte Kairos und kam dann zu Rylee.
Als er Stimmen an der Haustür hörte, bog er jedoch ab und wartete in der offenen Küchentür. Es waren Stephan in Begleitung von Emmea und Squeech, die von der Baustelle zurückkamen. Maj stand auf und holte weitere Teller aus dem Schrank.
Alle drei hatten rote erhitzte Gesichter und strahlten Begeisterung aus. „Die Bodenplatte ist fertig!“, rief Emmea strahlend. „Wenn es in diesem Tempo weitergeht, können wir nächste Woche einziehen!“ Sie sah Rylees Blick, und ein Anflug schlechten Gewissens mischte sich unter die Freude. „Bitte versteh das nicht falsch. Wir fühlen uns superwohl hier. Nicht wahr Squeechi?“
Der junge Squatch nickte entschieden. „Natürlich. Securus Refugium ist wie ein zweites Zuhause für uns.“
„Aber ein eigenes Haus!“, unterbrach Emmea ihn. „Das ist so …“ Sie suchte nach Worten.
„Supertoll?“, fragte Rylee grinsend.
„Genau!“, rief Emmea und lachte schon wieder.
„Setzt euch“, bat Rylee und nickte zu den freien Stühlen. „Das ist Kairos“, erklärte sie. „Emmea, Squeech und Stephan. Ihr kennt Euch ja schon.“
„Stephan war so freundlich, mich zu dieser Herberge zu weisen“, bestätigte Kairos mit einem Kopfnicken.
Stephan sah müde aus. Er schien zwar mit Begeisterung den Hausbau zu überwachen, Rylee, die ihn schon einige Zeit kannte und ihm einmal recht nahe gestanden hatte, sah jedoch den Schmerz in seinen Augen. Erst vor wenigen Tagen hatte Nalani, seine Freundin, sich als Betrügerin entpuppt, die es auf sein beträchtliches Vermögen abgesehen hatte. Rylee nahm an, dass Nalani es geschafft hatte, einiges von Stephans Besitztümern auf die Seite zu schaffen. Sie respektierte jedoch, dass er nicht darüber sprechen wollte und fragte ihn nicht nach Einzelheiten.
Der Schamane ließ sich auf den Stuhl neben Kairos sinken. „Woher kamt Ihr eigentlich? Ich dachte, ich hätte Euch aus dem Wald auftauchen sehen, aber da findet man kilometerweit nichts als Bäume.“
Kairos sah ihn verwirrt an. „Woher? … Ich … weiß es nicht. Ich war plötzlich da, auf der Lichtung.“
Stephan setzte sich aufrecht. „Ihr wisst nicht, wie Ihr dorthin gekommen seid? Hat Euch jemand niedergeschlagen?“
Kairos hob, aufmerksam von allen Anwesenden beobachtet, die golden schimmernde Hand und strich sich über das glänzende Haar. „Ich glaube nicht“, sagte er dann. „Ich spüre keinen Schmerz. Es ist, als wäre ich aus einem tiefen Schlaf erwacht. Als hätte mich etwas gerufen.“
Rylee sah irritiert von Stephan zu Maj. „Was hat Euch gerufen?“, fragte sie nach.
Kairos wandte sich ihr zu. „Keine Ahnung. Etwas … oder jemand.“ Er hob hilflos die Schultern. „Aber niemand war da. Ich habe gewartet, und, als ich Hunger bekam, bin ich losgelaufen.“
„Vielleicht könnt Ihr mich zu der Lichtung bringen?“, fragte Stephan. „Möglicherweise finden wir dort etwas, das auf Eure Herkunft schließen lässt.“
Kairos überlegte einen Moment. „Ich kann mich nur noch an die ungefähre Richtung erinnern und weiß nicht, ob ich sie wiederfinde. Und ich habe mich gründlich auf der Lichtung umgesehen, bevor ich mich auf den Weg gemacht habe, um irgendwo Menschen zu finden. Es stehen einige bearbeitete Steine dort, aber sonst konnte ich keinen Hinweis auf meine Herkunft entdecken.“
Stephan erklärte: „Ich bin Schamane und verfüge über einige besondere Fähigkeiten. Vielleicht kann ich durch sie etwas mehr erfahren.“ Er stand auf.
„Jetzt?“, fragte Rylee überrascht. „Es wird bald dunkel! Möchtest du nichts mehr essen?“
„Nein danke. Aber du hast recht. Heute ist es zu spät. Ich werde jetzt nach Hause gehen und mir die Lichtung morgen früh, wenn es hell wird, ansehen.“
„Ich komme mit“, erklärte Rylee und rief damit ein Lächeln bei Stephan hervor.
Der Morgentau durchnässte ihre Jeans, und Rylee fluchte innerlich, dass sie wider besseren Wissens auf Stiefel verzichtet hatte. Es war kalt, und sie hoffte, dass die Sonne Wärme bringen würde. Noch stand sie jedoch nicht hoch genug, um mit ihren Strahlen durch die hohen Baumkronen zu dringen.
Kairos hatte sie begleiten wollen, sich aber heute Morgen schwach und schwindelig gefühlt. So waren sie alleine losgezogen, unter Zuhilfenahme einer vagen Richtungsangabe und Stephans Verbindung mit der sie umgebenden Natur.
Die Lichtung lag tiefer im Wald, als sie angenommen hatte. Eine Zeit lang waren Stephan und sie einem schmalen Pfad gefolgt, dann hatten sie diesen verlassen und sich ihren weiteren Weg durch das lichte Unterholz gebahnt.
Endlich traten sie aus dem Dunkel des Waldes auf eine kreisrunde grasbewachsene Lichtung.
„Das muss sie sein“, sagte Stephan und schloss die Augen. „Irgendetwas ist hier anders als in der Umgebung.“
„Da ist eine Art Steinkreis“, sagte Rylee und deutete in die Mitte des Areals. Sie ging vorsichtig näher und blieb am Rande eines angedeuteten Kreises aus unregelmäßigen, etwa kopfgroßen Steinen stehen. Das Gras war hier kürzer, wirkte aber, als wäre es ausgerissen, statt maschinell geschnitten worden. In der Mitte des Kreises befand sich ein etwas größerer, flacher Stein, auf dem einige aus der Entfernung unidentifizierbare Gebilde lagen.
Stephan trat näher heran und nickte. „Das ist es, was ich eben gespürt habe. Eine von Menschen gemachte Stätte. Nur … wozu dient sie?“
Rylee sah sich beklommen um. Der Wald schien ihr auf einmal düster, und sie dachte an das Böse, das erst kürzlich versucht hatte, sie tiefer hinein zu locken. Ihre Hand umklammerte den Hüterinnenschlüssel in ihrer Tasche. Sie wünschte, Boh wäre jetzt hier, schalt sich dann jedoch. Stephan war bei ihr und wusste sich zu verteidigen. „Sind das Opfergaben?“, fragte sie und trat widerwillig über den äußeren Kreis. „Hoffentlich keine toten Tiere.“
Stephan schüttelte den Kopf. „Ich fühle hier keine dunkle Magie.“ Er bückte sich und betrachtete die Gegenstände auf dem Stein aus der Nähe. „Zusammengebundene Pflanzen, Nüsse und Früchte. Seltsam, dass sie noch nicht von Tieren weggeholt wurden. Vermutlich liegt tatsächlich eine Art Schutz darüber. Fühlst du etwas?“
„Außer einer Gänsehaut gar nichts. Aber das geht mir momentan im Wald immer so.“
Er richtete sich auf. „Aber was hat das mit Kairos zu tun? Wieso ist er hier auf der Lichtung ohne Erinnerung an sein vorheriges Dasein erwacht?“
Rylee sah sich ratlos um. „Vielleicht wurde hier mit Drogen experimentiert, und er erinnert sich deshalb an nichts.“
„Wenn ja, warum sollten sie ihn hier alleine zurücklassen?“
„Keine Ahn …“, begann Rylee und fuhr dann herum. „Was war das?“
Auch Stephan hatte das Geräusch eines knackenden Zweiges gehört und starrte in den Wald. „Jemand ist da draußen“, flüsterte er.
„Ein Tier vielleicht?“, fragte Rylee hoffnungsvoll, doch er schüttelte den Kopf.
Bevor Rylee ihn bitten konnte, die Lichtung zu verlassen und zum Haus zurückzugehen, sank Stephan mit einer geschmeidigen Bewegung in die Hocke und schloss die Augen. Eine geisterhafte Gestalt in Form eines grauen Wolfes löste sich aus seinem Körper und rannte Richtung Wald. Rylee hatte schon von der Geistergestalt der Schamanen gehört, sie aber noch nie in dieser Form erblickt. Staunend sah sie von Stephan, der unbeweglich verharrte, zu der davon rennenden Gestalt.
Nach etwa einer Minute, in der sie sich kaum zu regen wagte, um Stephan nicht abzulenken, kam der Geisterwolf aus dem Wald geschossen, rannte auf den Schamanen zu und verschmolz wieder mit ihm.
Stephan schüttelte sich, als würde er erwachen, öffnete die Augen und erhob sich mit einer fließenden Bewegung.
„Zwei Jugendliche verstecken sich da hinten in einem Gebüsch und beobachten uns“, sagte er leise.
„Vermutlich haben sie dich nicht gesehen, sonst wären sie wohl panisch davon gerannt“, sagte Rylee trocken. „Ich nehme an, Wölfe sind hier nicht allzu häufig und schon gar nicht durchsichtige.“
Er lächelte. „Das stimmt. Lass uns sehen, warum sie sich verstecken. Ich spüre, dass sie etwas mit dem, was wir hier gefunden haben, zu tun haben. Ich gehe links herum, du rechts.“
Rylee nickte zweifelnd. Sie hielt es für keine gute Idee, sich zu trennen, war jedoch neugierig, was das alles bedeutete.
Sie wandte sich nach rechts und stieß am Rand der Lichtung auf einen kleinen Pfad, der erst erkennbar war, als sie direkt vor ihm stand. Er war fast zugewachsen, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er in letzter Zeit benutzt worden war. Ein kleiner Zweig war abgeknickt, und an einer Stelle war die Andeutung eines Fußabdrucks zu erkennen.
Sie folgte dem Pfad einige Meter in den Wald hinein, blieb dann stehen und lauschte. Sie nahm jedoch nichts wahr außer Vogelgezwitscher und dem Summen von Insekten. Plötzlich hörte sie links von sich ein lautes Rascheln und einen unterdrückten Schrei. Sie bog vom Pfad ab und bahnte sich einen Weg durch die Büsche.
„Ich habe sie!“, brüllte Stephan keine Sekunde später.
Sie fand ihn nur einige Meter weiter neben einem Haufen Findlinge. Seine rechte Hand hielt das Handgelenk eines mageren, etwa neunjährigen Jungen fest, die Linke den Oberarm eines noch magereren, höchstens dreizehnjährigen Mädchens. Beide trugen schmutzige Jeans und T-Shirts, die ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatten. Die des Mädchens waren rosa, die des Jungen hellblau. Obwohl einige Jahre zwischen ihnen zu liegen schienen, sahen sie sich so ähnlich, dass es sich bei ihnen um Geschwister handeln musste.
„Lassen Sie uns los!“, rief das Mädchen wütend und versuchte, ihren Arm aus Stephans Griff zu befreien. Ihre mausbraunen Haare hingen ihr zerzaust ins Gesicht.
„Ganz ruhig“, sagte er und hielt sie mit Leichtigkeit fest. „Wir möchten nur wissen, was ihr hier macht und warum ihr euch vor uns versteckt.“
„Das geht Sie gar nichts an!“ Die Stimme des Mädchens war schrill. „Der Wald gehört Ihnen nicht!“
Stephan lächelte breit. „Das siehst du falsch. Ich habe gar nichts dagegen, dass ihr hier seid. Ich möchte aber wissen, was es mit der Lichtung auf sich hat.“ Er hielt sie weiter fest.
Sie starrte ihn mit großen Augen an. „Der Wald gehört Ihnen?“
„Aber ja. Soll ich dir die Besitzurkunde zeigen?“
Das nahm ihr den Wind aus den Segeln. Ihr junger Begleiter wirkte so eingeschüchtert, dass Rylee Angst hatte, er würde in Ohnmacht fallen.
„Wir … wir haben nichts gemacht“, stieß er schließlich hervor.
Rylee hatte Mitleid mit den beiden traurigen Gestalten. „Sagt zuerst einmal, wie ihr heißt.“
„Ich bin Manuel“, sagte der Kleine und wies auf das Mädchen „Das ist meine große Schwester Milla.“ Sie funkelte ihn wütend an.
Rylee ignorierte sie und wandte sich an Manuel. „Wo wohnt ihr? Im Dorf?“
Der Junge drehte sich um und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. „Wir kommen aus Sprikewoog.“
Stephan fragte erstaunt. „Aber das liegt mindestens fünfzehn Kilometer in östlicher Richtung.“
„Na und?“, antwortete das Mädchen schnippisch. „Wir sind mit dem Fahrrad bis zum Wald gefahren. Da wohnt unsere Oma. Man läuft von dort aus nur etwa eine halbe Stunde bis hierher. Könnten Sie uns jetzt bitte endlich loslassen?“
„Versprecht ihr, nicht wegzulaufen?“
Während der Junge heftig den Kopf hob und senkte, nickte sie widerwillig. Stephan löste seinen Griff, ließ sie aber nicht aus den Augen. „Also, was ist an der Lichtung so interessant, dass ihr den weiten Weg auf euch genommen habt?“
„Sie ist verzaubert!“, stieß der Junge mit großen Augen hervor.
Rylee sah Stephan überrascht an.
„Was meinst du mit verzaubert?“, wandte er sich an den Jungen.
„Unsere Oma sagt, die Waldgeister leben hier. Und wenn man ihnen Opfer darbringt, helfen sie einem und machen einen außerdem reich. Ich habe Kastanienmännlein für sie gebaut und auf den Stein gelegt.“
Das Mädchen schnaubte höhnisch.
Stephan warf ihr einen scharfen Blick zu. „Wenn du ihm nicht glaubst, warum bist du dann hier?“
„Hier gibt es doch keine Waldgeister“, sagte sie abfällig. Dann senkte sie die Stimme und sah sich nach allen Seiten um. „Die Lichtung gehört dem Teufel“, flüsterte sie.
Rylee betrachtete sie. Natürlich hatte sie schon von Teenagern gehört, die den Teufel anbeteten. Sie glaubte nicht, dass ein ernsthafter Wunsch nach Kontakt mit dem Satan dahinterstand. Vermutlich war es eher der Reiz des Verbotenen, der Grusel, der ihnen einen Kick verschaffte. Doch die Kids hier wirkten anders. Sie waren nicht angezogen wie Gruftis, in Schwarz und mit Totenkopfohrringen, nicht mit hellrosa Jeans und Sneakers.
„Ich glaube, wir sollten uns mit eurer Oma unterhalten“, stellte Stephan fest und sah Rylee fragend an. „Kommst du mit oder musst du zurück zum Haus?“
„Maj kommt gut zurecht“, antwortete Rylee, von Neugier getrieben. „Mich interessiert sehr, was hinter der Geschichte steckt.“
Stephan wandte sich den Kindern zu. „Wenn ihr mir sagt, wo genau eure Großmutter wohnt, könnt ihr von mir aus eures Weges gehen.“
Unter wütenden Blicken des Mädchens sagte der Junge gehorsam die Adresse auf. Nachdem Stephan sie losgelassen hatte, verschwanden die beiden wie der Blitz im Wald. Stephan und Rylee untersuchten akribisch die Lichtung, fanden jedoch außer dem Steinkreis nichts Außergewöhnliches. Es sah nicht aus, als würden viele Menschen hierher kommen. Das Gras war nur an wenigen Stellen niedergedrückt und obwohl die Erde an manchen Stellen feucht und lehmig war, hatten sich keine Fußspuren dauerhaft eingegraben.
„Ich frage mich, wieso die Lichtung nicht zuwächst“, sagte Rylee nachdenklich. „Sie sieht weitgehend unberührt aus, und müsste eigentlich im Laufe der Zeit zuwuchern. Aber die Büsche scheinen nicht über den Rand der Lichtung zu wachsen. Sie ist fast kreisrund, wie abgeschnitten. Als hätte sie jemand bewusst so angelegt.“
Stephan war einige Schritte am Übergang von der Lichtung zum Wald entlang gelaufen. „Ich spüre Magie, aber von einer Art, die ich nicht kenne. Sie fühlt sich für mich weder gut noch böse an. Ich glaube nicht, dass wir hier noch mehr herausfinden werden. Lass uns zu der Großmutter der beiden Kinder fahren.“
Schweigend liefen Rylee und Stephan zurück zum Haus und stiegen in seinen Wagen. Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie ins Dorf gefahren und dort auf die Straße nach Osten abgebogen waren. Kurz vor Sprikewoog zweigte ein schmaler Weg ab, der bald in einen unbefestigten Feldweg überging. Vor einem winzigen windschiefen Häuschen hielten sie an und stiegen aus. Auf der wackeligen Veranda saß eine weißhaarige kleine Frau in einem Schaukelstuhl und rauchte Pfeife. Sie hob die freie Hand zum Gruß, nahm noch einen Zug und begrüßte sie dann mit kratziger Stimme. „Ich wusste, dass ihr mich eines Tages besuchen würdet.“
Rylee und Stephan sahen sich an. Dann traten sie näher an die wackelig wirkende Veranda. „Ihr wisst, wer wir sind?“, fragte Rylee.
Die Alte wies mit der Pfeife auf Stephan. „Den kenne ich nicht, aber Ihr seid das Mädchen, das das verwunschene Haus bewohnt.“
Rylee sah noch einmal unsicher zu Stephan. Dann blickte sie wieder zu der Frau. „Was meint Ihr mit verwunschen?“
Ein Kichern war die Antwort. „Stell dich nicht dumm, Mädchen! Einer alten Frau wie mir kannst du nichts vormachen. Ich kenne das Haus seit Langem. Ja, ich weiß, dass es für andere normal aussieht, wenn sie es überhaupt sehen.“ Sie machte eine Pause und zog an der Pfeife. Rylee bemerkte, dass ihr keinerlei Rauch entströmte. Als hätte die Alte ihre Gedanken erraten, sagte sie: „Ich habe es mir abgewöhnt. Aber es passt einfach zum Image, findest du nicht?“ Bevor Rylee etwas sagen konnte, sprach sie weiter. „Im Dorf halten mich alle für eine Hexe!“ Sie kicherte wieder. „Was ich sagen wollte: Ich wusste nie, was es mit dem Haus auf sich hatte, aber ich wusste immer, dass es verzaubert ist. Als ich viel jünger war …“ Sie sah in die Ferne. „Das muss so Anfang des vorigen Jahrhunderts gewesen sein. Ich habe einmal versucht, es zu betreten.“ Sie rieb sich abwesend den Arm. „Es hat mich nicht hereingelassen.“
Dann sah sie Rylee direkt an. Ihr Blick schien unmittelbar in ihr Innerstes vorzudringen. „Was wollt ihr von der alten Theklia?“
Rylee hatte vor nicht allzu langer Zeit einen ganzen Hexenalkoven zu Gast gehabt. In dieser Zeit war die Freundschaft zu Evanora entstanden. War diese Hexe hier echt oder nur eine alte Frau, der es Spaß machte, sich mysteriös zu geben?
„Seid Ihr denn eine echte Hexe?“, fragte Rylee direkt und erntete abermals ein Kichern.
„Du weiß, wovon du sprichst, Kind. Aber sagt mir zuerst, was ihr hier wollt.“
Stephan übernahm die Antwort. „Wir sind im Wald auf Eure Enkel gestoßen und auf eine merkwürdige Lichtung. Sie waren wohl dort, um etwas zu beschwören, sind sich allerdings uneins, was. Manuel geht es um hilfreiche Waldgeister, während Milla mehr am Teufel interessiert ist.“
Die Alte wurde schlagartig ernst und fluchte. „Ich habe ihnen verboten, die Lichtung zu besuchen. Niemand weiß, was dort alles hervorkommt.“
„Nun“, sagte Stephan, „das mit dem Verbieten hat offensichtlich nicht geklappt. Sie haben Opfergaben im Steinkreis deponiert. Kurz darauf ist ein Mann in der Nähe von Rylees Haus erschienen, der nichts außer seinem Namen wusste. Er kam ganz offensichtlich von der Lichtung. Was wisst Ihr darüber?“
„Wovon sprecht Ihr?“, fragte sie und gab sich erstaunt. „Ich war seit Jahrzehnten nicht an diesem Ort. Früher erzählte man, dort sei die Grenze zwischen unserer Realität und anderen Welten äußerst dünn und könnte durchbrochen werden. Aber das Wissen darum ist lange vergessen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hätte nicht mit meinen Urenkeln darüber sprechen sollen. Ich hätte mir denken können, dass meine Warnung sie erst recht dazu bewegt, dorthin zu gehen.“
„Kann es sein“, sagte Rylee langsam, „dass ihre Opfergaben etwas oder jemanden herbei gerufen haben?“
Die Alte sah einen Moment nachdenklich in den Wald. „Ich halte es für extrem unwahrscheinlich. Allerdings … wenn sie zufällig die richtigen Kräuter verwendet haben …“ Sie zögerte, bevor sie weitersprach. „Und auf der anderen Seite jemand oder etwas gewartet hat … sich zurückgesehnt hat … dann …“ Sie sah Rylee in die Augen. „Dann könnte etwas herübergekommen sein. Lasst uns hoffen, dass es etwas Gutes ist und nichts Dunkles.“
Mehr war aus der Alten nicht herauszubekommen. Obwohl sowohl Stephan als auch Rylee sie mit weiteren Fragen bombardierten, um Hilfe baten und an ihr Gewissen appellierten, blieb sie stumm, schüttelte nur den Kopf und schaukelte, an ihrer Pfeife kauend, vor sich hin.
Erst als sie sich zum Gehen gewandt hatten und schon im Begriff waren, ins Auto zu steigen, hörte Rylee hinter sich eine Stimme, die völlig anders klang, als die der alten Frau. „Hüte dich vor dem Bösen im Wald!“, sagte sie und der merkwürdige Hall ließ Rylee erschaudern. Sie schoss herum und sah, dass die Alte kerzengerade in ihrem Stuhl saß, die Augen verdreht und schneeweiß. „Hüte dich!“, sagte sie noch einmal, dann sackte sie in sich zusammen. Rylee wollte zu ihr eilen, hörte jedoch im nächsten Moment ein sanftes Schnarchen. Sie zögerte, drehte sich dann zum Wagen um und stieg ein.
Stephan saß am Steuer und sah sie fragend an. „Was war?“, erkundigte er sich.
Rylee antwortete erstaunt. „Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat?“
Er runzelte die Stirn. „Gesagt? Sie hat gar nichts gesagt.“
Rylee öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder und ließ sich im Sitz zurücksinken. Ihr war eiskalt.
Beide schwiegen die Fahrt über. Als sie sich Securus Refugium näherten, beugte Rylee sich ruckartig vor. „Das gibt es doch nicht“, rief sie wütend.
„Der Blutsauger“, stellte Stephan fest und wirkte überrascht.
„Warum kann er mich nicht in Ruhe lassen?“, sagte sie und öffnete die Autotür, bevor Stephan den Wagen richtig zum Stehen gebracht hatte.
Vlad stieg gerade aus der Beifahrertür seines Mercedes. In der Hand hielt er eine Reisetasche. Rylee schoss auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. Sie versuchte, den Eindruck, den seine hochgewachsene Gestalt auf sie machte, zu verdrängen.
„Was willst du hier?“, schrie sie ihn an. All ihr aufgestauter Schmerz entlud sich auf einmal. „Habe ich dir nicht klar gemacht, dass ich dich nicht mehr sehen will? Und deinen Brief kannst du dir sonst wohin stecken. Ich soll Vertrauen haben? Dass ich nicht lache.“
Er neigte den Kopf und sah mit unbewegtem Gesicht auf sie herab. Trotz ihres Zorns machte ihr Herz einen kleinen Satz, als sie in seine Augen sah.
Dann verzog er spöttisch den Mund. „Geht deine offensichtliche Abneigung so weit, dass du mir nicht einmal gestattest, das Portal zu benutzen?“
Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und setzte erneut zum Sprechen an. „Das Portal?“, sagte sie und schluckte. „Du willst durch das Portal reisen?“
„Was hast du denn gedacht?“, fragte er kühl. „Du hast sehr deutlich gemacht, dass du keinen Besuch aus anderen Beweggründen wünschst.“
Sie trat einen Schritt zurück und spürte Stephan neben sich. Vlad maß ihn mit einem langen Blick. „Ich sehe, dass der Baumstreichler die Gelegenheit genutzt hat …“, sagte er gefährlich leise.
Stephan richtete sich auf. „Wenn ich Rylee richtig verstanden habe, geht es dich nichts mehr an“, sagte er ebenso ruhig.
Vlad musterte ihn eine Weile und nickte dann.
„Du magst recht haben.“ Dann wandte er sich an Rylee. „Was ist jetzt? Lässt du mich das Portal benutzen?“
Rylee hätte ihm am liebsten erklärt, er möge sich zum Teufel scheren, hielt sich jedoch zurück. Sie würde ihm nicht aus gekränktem Stolz den Zugang verwehren. „Natürlich“, sagte sie deshalb knapp und wandte sich zum Tor.
Securus Refugium reagierte irritiert und fragend. Noch vor kurzer Zeit hatte sie es angewiesen, Vlad keinesfalls Zutritt zu gewähren. Sie beruhigte es und erklärte ihm in Gedanken die Situation. Das Haus entspannte sich und gestattete es Vlad, ihr voran das Gartentor zu durchqueren. Schweigend gingen sie gemeinsam in den Keller zum Portalraum. „Wohin?“, fragte sie knapp.
Wortlos drückte er ihr einen Zettel in die Hand. „Diese Koordinaten. Die unterste Zeile ist der Code, den du eingeben musst.“
Schweigend tippte sie die Daten ein und wartete auf Antwort. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Bestätigung kam. Rasch trat sie an den Rahmen und drückte die entsprechenden Symbole. Ein gleißendes Licht erleuchtete den Raum bis in die hintersten Ecken.
Vlad trat darauf zu, blieb aber stehen, bevor er ins Licht trat. „Rylee“, sagte er und etwas Undefinierbares schwang in seiner Stimme mit.
„Gute Reise“, sagte sie knapp und vermied es, ihn anzusehen.
Er seufzte und stieg in den Rahmen. Einen Sekundenbruchteil später hatte das Portal ihn verschluckt.
Rylee atmete tief aus und wandte sich zum Gehen. Stephan lehnte am Türrahmen und beobachtete sie. „Sag nichts“, beschied sie ihn und lief an ihm vorbei. „Lass uns nach oben gehen und überlegen, was wir Kairos sagen.“
Er folgte ihr in die leere Küche und ließ sich am Tisch nieder. „Glaubst du, er sei wirklich durch die Opfergaben beschworen worden? Aber woher? Aus einer anderen Dimension?“
Sie stellte eine Flasche Wasser auf den Tisch, setzte sich neben den Schamanen und rieb sich die Augen. „Ich habe keine Ahnung. Auf jeden Fall weiß er offensichtlich nicht, woher er kommt und was er ist und vermutlich noch weniger, wo er hinwill. Ich würde ihm gerne irgendwie helfen.“ Sie seufzte. „Als ob ich im Moment keine anderen Sorgen hätte.“
„Vlad?“, fragte er und verbarg nur ungenügend seine Neugier.
Zu ihrem Ärger spürte Rylee, wie sie rot wurde. „Das ist vorbei“, sagte sie abweisend. „Nein, ich meinte mehr diesen Jemand oder dieses Etwas, das mich im Wald angegriffen hat. Die alte Frau hat mich eben noch einmal eindringlich davor gewarnt.“
Sie sah seinen verständnislosen Blick und erzählte ihm von der Prophezeiung.
Stephan rieb sich nachdenklich das wie immer makellos glatt rasierte Kinn. „Vielleicht sollten wir den Wald durchsuchen und nachts Wachen aufstellen.“
Rylee winkte ab. „Sowohl das Haus als auch die Katzen wachen ausgezeichnet über mich. Ein direkter Angriff ist nur erfolgt, als ich mich einmal spätabends ein gutes Stück vom Haus entfernt aufgehalten habe. Ich habe allerdings keine Lust, das Haus nicht mehr alleine verlassen zu können. Aber wer sollte mir Böses wollen?“
Er schwieg einen Moment und wirkte grüblerisch. „Du bist sicher, dass Percival dir nicht dein Haus und das Portal neidet?“
Überrascht sah sie ihn an. „Wie bitte? Das glaube ich nicht! Ich halte ihn für einen ehrlichen, integren Hüter. Selbst wenn er es mir neiden würde, was ich nicht glaube, bin ich sicher, dass er mich nicht hinterhältig angreifen würde. Außerdem war er zur Zeit des Angriffs im Haus, und er kennt hier niemanden.“
Stephan nickte. „Du hast sicher recht. Und was du über den Sirenengesang und das grüne Blut erzählst …“
„Passt nur zu fünf außerirdischen Völkern, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, und von denen mir, zumindest soviel ich weiß, noch nie einer begegnet ist!“, vervollständigte sie seinen Satz. Sie zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und schob ihn über den Tisch.
„Squeechs Recherchen haben ergeben, dass nur von diesen Spezies bekannt ist, dass sie grünes Blut haben:“
Stephan entfaltete das Blatt und betrachtete den Computer-Ausdruck.
Bxgedinds – insektenartige Bewohner des Planeten Fipo, keine Technologie, Ernährung vegetarisch, hohe telepathische Fähigkeiten, handeln mit einem Baumharz, das nur auf ihrem Planeten vorkommt und heilende Eigenschaften bei einer Krankheit namens Weltraumpocken hat.
Washnutis – affenartige Wesen, langes rötliches Fell und extrem lange Krallen, Raumfahrt, Händler.
Krotossianer – Kriegervolk, Körpergröße bis zu drei Metern, straffe militärische Organisation, verdingen sich als Söldner, niemand hat je eine ihrer Frauen gesehen.
Quaffels – aquatisch, verlassen Wasser nur stundenweise, riesige Unterseestädte, Überbevölkerungsproblem.