Читать книгу Haus der Hüterin: Band 1 - Das Erbe - Andrea Habeney - Страница 6

Tag 1

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Ärgerlich warf Rylee die marode Wohnungstür ins Schloss. Hoffentlich war ihr Vater, sie korrigierte sich schnell, ihr Stiefvater, nicht zu Hause. Wobei Stiefvater es ebenfalls nicht richtig traf. Schließlich hatten er und seine Frau sie nie adoptiert, obwohl sie fast achtzehn Jahre, also praktisch ihr ganzes Leben, in der Familie aufgewachsen war.

Wie für alle Handlungen ihrer Pflegeeltern waren auch hier finanzielle Gründe ausschlaggebend. Das Jugendamt zahlte gut, wie ärmlich die Versorgung der Schutzbefohlenen in den Pflegefamilien auch ausfiel.

Rylee kannte es nicht anders. Sie hatte nicht hungern müssen und es gab Schlimmeres, als Kleider von der Wohlfahrt zu tragen.

In der Schule hielt sie sich abseits. Mit dem schlecht gekleideten Kind wollte niemand etwas zu tun haben, und sie hatte nie Geld, um etwas mit den anderen zu unternehmen. So oft es ging verließ sie die enge Wohnung, in der es schmutzig war und stank und ihre Pflegeeltern meist in unterschiedlichen Stadien des Betrunkenseins auf der Couch und im Sessel lungerten, und streunte durch ihr Viertel. Als sie einer Gang in die Quere kam, boxte sie mehr aus Schreck als mit Absicht dem Wortführer auf die Nase und brach ihm das Nasenbein. Zu ihrer Überraschung brachte ihr das keine Prügel, sondern widerwilligen Respekt ein, und sie durfte ab und zu mit ihnen abhängen. So schnappte sie einige Tricks auf, und als ihr Stiefvater ihre erwachende Pubertät mit immer gieriger werdenden Blicken belohnte, stellte sie die Sache ein für alle Mal klar, indem sie ihm beim ersten Versuch, sie anzufassen, zwischen die Beine trat.

Seitdem war sie nur noch geduldet und sehnte den Tag herbei, an dem sie ihr Zuhause, wenn man es überhaupt so nennen konnte, verlassen würde.

Morgen würde sie achtzehn Jahre alt werden und wäre theoretisch ihr eigener Herr, doch immer noch wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte.

Sie war gut in der Schule und entschlossen, Abitur zu machen, auch wenn das hieß, noch etwas länger bei den Pflegeeltern aushalten zu müssen.

Doch noch war unklar, ob das Amt weiter zahlen würde. Der Bescheid sollte morgen ergehen. Falls nicht, musste sie wohl ab morgen auf der Straße schlafen.

In der Wohnung war es still. Ihre Pflegemutter war am Tag zuvor im Suff gestürzt und hatte sich eine Rippe gebrochen. Wahrscheinlich holte ihr Stiefvater sie aus dem Krankenhaus ab.

Sie ging in die Küche und öffnete hoffnungsvoll den Kühlschrank, fand aber nichts darin, das halbwegs essbar aussah.

Sie seufzte. Zwar verdiente sie ein paar Euro mit dem Austragen von Zeitungen und Werbeprospekten, doch hatte sie nicht vor, das schwer verdiente Geld für Essen auszugeben. Im Schrank fand sie noch ein paar trockene Kekse und zog sich damit in ihr winziges Zimmer zurück, nicht ohne die Tür hinter sich abzuschließen.

Eine Stunde später kamen ihre Stiefeltern nach Hause und klopften an ihre Tür. Sie ignorierte das Klopfen und zog sich das Kopfkissen über die Ohren.

Morgen würde sie achtzehn Jahre alt werden, und wie immer in den letzten Jahren würde niemand sich um ihren Geburtstag kümmern. Wie sollte sie es nur anstellen, hier heraus zu kommen und sich ein eigenes Leben aufzubauen? Über diesen Gedanken schlief sie irgendwann ein.

Wie erwartet gratulierte ihr am nächsten Morgen niemand. Ihr Vater saß unrasiert im Unterhemd am Tisch. „Hättest ruhig mal einkaufen können gestern, wo deine Mutter so krank ist.“

Rylee setzte Wasser für einen Tee auf. Kaffee war seit Tagen aus. „Und wovon?“, fragte sie ehrlich interessiert.

„Verdienst doch genug Geld! Du könntest endlich auch mal an uns denken! Jahrelang haben wir dich ernährt! Oder glaubst du, die paar Kröten, die wir vom Amt bekommen, reichen?“

Rylee hatte die Leier schon öfter gehört. „Klar, Klamotten von der Fürsorge und Resteessen von der Tafel. Ihr habt euch richtig für mich in Unkosten gestürzt!“

Er blickte sie aus blutunterlaufenen Augen an. Ah, dachte Rylee, daher weht der Wind. Der Alk ist alle.

Sie wollte gerade den Mund öffnen, um zu antworten, als es klingelte. Überrascht schloss sie ihn wieder. Es kam selten jemand zu den Webers, am frühen Morgen erst recht nicht. Ob das Amt …? Nein, die würden den Bescheid schicken und sicher nicht selbst vorbeikommen. Rylee hatte seit Jahren keinen von ihnen gesehen. Sie wollten von den Zuständen, in denen sie lebte, nichts wissen.

Mit einem Blick auf ihren Pflegevater, der sich nicht rührte, ging sie zur Tür und öffnete. Ihre Wohnungstür lag unter der Eingangstreppe und führte direkt auf die Straße. So sah sie nicht nur den Mann im schwarzen Anzug, der vor ihr stand, sondern auch die große dunkelgraue Limousine, die hinter ihm parkte.

Verblüfft starrte sie ihn an.

„Fräulein Rylee Montgelas?“, fragte der Mann und zog seinen Hut.

„Äh, was?“, fragte sie wenig intelligent. Ein Hut, was um alles …?

Er räusperte sich ungeduldig. „Sie sind doch Rylee Montgelas?“

„Montgelas? Mein Name ist Rylee, aber ich trage den Nachnamen meiner Pflegeeltern, Weber.“

Er sah sie von oben herab an. „Aber sie werden doch Ihren richtigen Namen kennen?“

Sie zögerte. „Ich war sehr klein, als ich zu Pflegeeltern kam. Ich weiß nichts über meine richtigen Eltern und habe den Namen noch nie gehört.“

Er murmelte etwas, das sich anhörte wie „das wird ja immer besser“. Laut sagte er: „Glauben Sie mir, das dürfte Ihr richtiger Name sein, es sei denn, es wohnt hier noch eine junge Dame, die Rylee heißt. Könnten wir den Rest vielleicht drinnen besprechen?“

Diesen Moment benutzte ihr Pflegevater, um aus dem Hintergrund „Wer issn da, Mädel?“, zu grölen. Unangenehm berührt sah Rylee sich um. „Möchten Sie mit meinem Stiefvater sprechen?“

„Eigentlich mit Ihnen, aber vielleicht sollte er anwesend sein. Allerdings hat er, wenn ich die menschlichen Gesetze korrekt verstehe, ab heute keine Verfügungsgewalt mehr über Sie?“

Menschliche Gesetze? Sie starrte ihn an.

„Stehen Sie ihm nahe? Dann beziehen wir ihn natürlich ein.“

Aus der Küche klang ein neuerlicher Ruf, dann ein Poltern. Sie zog die Tür hinter sich zu. „Was wollen Sie von mir? Wer sind Sie überhaupt?“

Er verbeugte sich knapp. „Ich bin in gewissem Sinn der Testamentsvollstrecker Ihrer Eltern.“

Rylee glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Sowohl das Amt als auch ihre Pflegeeltern hatten ihr, als sie alt genug war, erklärt, ihre Eltern wären mittellos bei einem Autounfall gestorben.

Der Mann starrte sie ungeduldig an. Dann blickte er die Straße hinauf und hinab. „Vielleicht sollten wir uns in den Wagen setzen.“

Rylee sah an ihm vorbei. Ob das eine gute Idee war? Die Limousine war riesig. Ein uniformierter Mann stieg in diesem Moment aus, kam um den Wagen herum und hielt die hintere Tür auf.

Erst jetzt bemerkte sie, dass der Mann im Anzug ihr eine Karte hinhielt. Sie nahm sie und las. Ernst Friedrich Esterhazy stand in Goldprägeschrift darauf, sonst nichts.

Er drehte sich um und ging auf den Wagen zu, ohne sich umzusehen. Sie folgte ihm wie an Schnüren, ihre Neugier war größer als die Vorsicht.

Hinter ihm stieg sie ins Auto und fand sich in einer Art Minibüro. Zwei Sitzreihen waren so positioniert, dass man sich gegenüber sitzen konnte. Vor einem Sitz war ein Pult heruntergeklappt, auf dem ein Laptop stand. Sie setzte sich gegenüber von Esterhazy und sah ihn erwartungsvoll aber auch misstrauisch an. Er zog eine Mappe aus seiner Aktentasche und schlug sie auf. Mit unbewegter Miene blickte er ihr ins Gesicht. Sein Blick war undeutbar.

„Lassen Sie mich zuerst offen sagen, dass ich es missbillige, dass Sie das Erbe Ihrer Eltern antreten sollen.“

„Warum?“, entfuhr es Rylee spontan.

„Ihre Eltern haben sich über die Gesetze unseres Ordens hinweggesetzt. Deswegen wurden sie hingerichtet. Das Haus sollte an einen anderen Hüter gehen, nicht an Sie.“

Rylee verstand gar nichts. „Hingerichtet? Ich dachte, sie hätten einen Unfall gehabt.“

Er sah sie an und sein Blick wurde etwas milder. „Natürlich verstehen Sie wenig von dem, was ich gesagt habe. Aber ich werde Ihnen nicht mehr erklären. Im meinen Augen haben Ihre Eltern Schande über uns gebracht. Aber Gesetz ist Gesetz und ich werde Ihnen das Haus übertragen, so wie es das Testament Ihrer Eltern zu Ihrem achtzehnten Geburtstag vorsieht. Meinen Glückwunsch übrigens.“

„Das Haus?“, fragte Rylee schwach.

„Unser Orden unterhält Häuser, in denen Reisende einen sicheren Unterschlupf finden. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ihre Eltern haben ein solches Haus über dreißig Jahre geführt und sich so das Recht erworben, über seinen nächsten Hüter zu bestimmen. Ob das Haus Sie akzeptiert, ist allerdings fraglich. Selbst wenn, hat es lange geschlafen und ist vielleicht nicht mehr zu erwecken. Wir gehen sogar davon aus. Aber dann hätten Sie immerhin ein Zuhause.“ Er sah aus dem Fenster und nahm mit einem Blick die heruntergekommene Gegend in sich auf. „Oder möchten Sie lieber hier bleiben?“

Sie starrte ihn an. „Was ist mit meinen Pflegeeltern? Und mit der Schule?“

„Bestehen emotionale Bindungen? Das könnte schwierig werden. Sie müssen alle Brücken hinter sich abbrechen. Auch die Schule selbstverständlich.“

Sie schüttelte den Kopf. „Keine emotionalen Bindungen. Sie kümmern sich nur wegen des Geldes um mich. Aber die Schule … Ich will doch Abitur machen.“

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wie Sie wollen. Vielleicht ist es sogar besser so.“

Rylee hob die Hand. „Moment! Bis wann müsste ich mich denn entscheiden? Zunächst sollte ich ja wohl etwas mehr wissen.“

Er klappte den Ordner zu. „Sie werden nicht mehr erfahren, und Sie müssen sich hier und jetzt entscheiden. Ich werde Sie sofort mitnehmen und zu Ihrem Haus bringen. Wenn Sie das ablehnen, verzichten Sie auf das Erbe, und wir werden einen würdigen, gut ausgebildeten Hüter finden. Soviel kann ich Ihnen versprechen.“

In Rylee regte sich Widerstand. „Sie wollen mich nicht, richtig?“

Er lächelte dünn. „Natürlich nicht. Sie sind nicht ausgebildet und die Aufgabe übersteigt Ihre Fähigkeiten bei Weitem. Außerdem vererbt sich schlechtes Blut.“

Rylee zog heftig die Luft ein. Sie kannte ihre Eltern zwar nicht, aber deshalb ließ sie sie noch lange nicht beleidigen. Was wusste der Anzugheini überhaupt von ihr? Sie würde ihm schon beweisen, wozu sie fähig war.

„Ich nehme an“, hörte sie sich zu ihrer Überraschung sagen.

Er verzog das Gesicht, setzte aber sofort wieder seine undurchdringliche Anwaltsmine auf. „Wie Sie wollen. Ich hoffe, Sie bereuen die Entscheidung nicht. Hier sind die Papiere. Wenn Sie das Erbe annehmen, verpflichten Sie sich, alle Verbindungen zu ihrem bisherigen Leben zu kappen. Kein Kontakt mehr zu wem auch immer. Verstanden?“

Sie nickte. Erste Zweifel stiegen in ihr auf.

Er stieg aus und hielt die Tür für sie auf. „Sollen wir Ihre Sachen holen?“

Sie ging ihm voran in die Wohnung und in ihr Zimmer. Esterhazy folgte ihr und rümpfte fast unmerklich die Nase. Rylee wurde rot. „Ich kann nichts dafür, wie ich gelebt habe.“

„Natürlich nicht.“

Diesen Moment nutzte ihr Pflegevater, um ins Zimmer zu trampeln. „Wasssn los, Mädel. Wer issn das?“

„Der Testamentsvollstrecker meiner Eltern. Ich werde mit ihm weggehen.“

Ihrem Pflegevater fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Weggehen? Wie meinstn das? Erbste was? Du wirst nich einfach abhauen. Nach allem, was wir für dich getan haben. Kannse ja jetzt was zurückzahlen!“

Esterhazy sah ihn an, wie man ein widerliches Insekt betrachten würde. Angeekelt und doch fasziniert.

„Sie wollen Geld von Ihrer Pflegetochter?“

„Hab ja genug für sie ausgegebn. Was die immer alles bekommen hat. Auf alles ham wir für sie verzichtet, meine Frau und ich!“

Esterhazy ließ seinen Blick über die ärmliche Einrichtung und die paar Kleidungsstücke schweifen, die Rylee gerade aus dem Schrank in eine Plastiktüte packte.

„Ich verstehe.“ Er griff in seine Jacke und zog ein Bündel Geldscheine heraus. Weber starrte darauf und leckte sich die Lippen. Esterhazy legte sie auf einen wackeligen Tisch, holte ein Papier aus seiner Aktentasche und setzte einige Wörter ein. „Unterschreiben Sie hier. Sie werden Rylee nie mehr sehen oder kontaktieren. Dafür erhalten Sie die aufgeführte Summe.“

Weber griff hastig nach dem Stift und unterschrieb, ohne Rylee eines Blickes zu würdigen. Dann streckte er die Hand nach dem Geld aus.

Esterhazy hielt es einen Moment fest, dann ließ er es los. „Verlassen Sie jetzt das Zimmer!“

Weber verschwand in die Küche, und Rylee sah ihm nach. Obwohl sie Weber verabscheute, tat es doch weh, dass er sie so einfach verkaufte. Immerhin war er achtzehn Jahre der einzige Vater gewesen, den sie gekannt hatte. Kurz dachte sie daran, sich von seiner Frau zu verabschieden, dann entschied sie sich jedoch dagegen. Sie würde noch bis mittags ihren Rausch ausschlafen und kaum ansprechbar sein.

Sie holte im Bad ihre Zahnbürste und sah Esterhazy an. „Ich bin bereit.“

Wortlos musterte er die Tüte, in der ihr gesamter Besitz war. Dann drehte er sich um und ging ihr voran. Ohne einen Blick zurück zu werfen, folgte sie ihm zum Wagen und stieg ein.

Sie fuhren nach Norden aus der Stadt hinaus. Bald lagen die Außenbezirke der Stadt hinter ihnen. Die Autobahn schraubte sich durch bewaldete Hügel.

Esterhazy saß unbeweglich neben ihr und blickte nach vorne. Rylee hielt ihre Tüte auf den Knien und sah abwechselnd zu ihm und aus dem Fenster.

„Wo fahren wir eigentlich hin?“

„Wie ich bereits sagte: zu Ihrem Haus. Es liegt an der Küste.“

Es dauerte einen Moment, bis Rylee die Information verarbeitete. „An der Küste? Wie in Nordsee?“

Er nickte. „Genauer gesagt handelt es sich um die Ostsee.“

Sie starrte ihn an. „Aber das sind, warten Sie, mindestens 800 Kilometer von hier.“

„Sie haben in Erdkunde aufgepasst, wie ich sehe.“

Sie ließ sich in ihren Sitz zurückfallen und schwieg. Dann kristallisierte sich ein Gedanke aus dem Durcheinander in ihrem Kopf. „Erzählen Sie mir von meinen Eltern?“

Ein Anflug von Abscheu zog sich über seine ansonsten unbewegten Züge. „Nein. Und fragen Sie bitte nicht mehr.“

„Aber...“ Resigniert ließ sie sich zurücksinken. „Dann von dem Haus? Was erwartet mich? Und wovon lebe ich?“

„Ihre Gäste werden für ihren Aufenthalt bezahlen.“

„Und wenn keine Gäste kommen? Sagten Sie nicht, das Haus wäre in keinem guten Zustand?“

„Ich sagte, es ruht. Wenn es erwacht ... falls es erwacht, werden auch Gäste kommen. Wenn es ordentlich geführt wird. Ich bezweifle, dass Sie das können.“

Rylee zweifelte immer mehr an ihrer Entscheidung. „Und wenn ich es nicht kann, was dann?“

Esterhazy wandte sich ihr zu. „Dann und nur dann, wenn Sie absolut und unwiderruflich scheitern, können Sie mich kontaktieren. Sie werden das Haus dann an uns abtreten, und wir werden Ihnen eine angemessene Starthilfe für ein normales Leben in einer Stadt Ihrer Wahl zur Verfügung stellen.“

„Und an wen kann ich mich sonst wenden, wenn ich Hilfe brauche?“

Er sah wieder nach vorne. „Das ist Ihre Sache. An den Orden in jedem Fall nicht. Hüter arbeiten üblicherweise alleine und auf sich gestellt.“

Rylee sah nach unten. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Aber jetzt gab es erst mal keinen Weg zurück. Sie sah wieder auf und reckte das Kinn nach vorne. Auf Esterhazy durfte sie nicht zählen. Sie würde ihm nicht die Befriedigung geben, ihr weitere Antworten vorenthalten zu können.

Schweigend verbrachten sie die nächsten Stunden, während das schwere Auto Kilometer um Kilometer der Strecke fraß.

Es war später Nachmittag, als sie die erste Prise Seeluft roch. Sie mussten in der Nähe der Küste sein. Esterhazy hatte die ganzen Stunden Statue gespielt und kein Wort gesagt. Jetzt rührte er sich und sah aus dem Fenster. Sie hatten die Schnellstraße verlassen und folgten bereits seit einiger Zeit einer schmalen Landstraße. Endlich kamen sie durch ein kleines malerisches Dorf. Der Fahrer durchquerte es und bog in eine einspurige Seitenstraße ein. Einige hundert Metern hinter den letzten Häusern hielt er an.

Esterhazy seufzte tief. „Wir sind da“, stellte er überflüssigerweise fest. Er öffnete die Tür, bevor der Fahrer dazu kam, und stieg aus. Rylee verließ den Wagen auf ihrer Seite und drehte sich um. Beim Anblick, der sich ihr bot, blieb ihr der Mund offen stehen.

Esterhazy stand mit dem Rücken zu ihr und sah auf das größte und hässlichste Haus, das sie je gesehen hatte. Langsam ging sie um den Wagen herum und stellte sich neben ihn.

Vor ihnen erstreckte sich eine halb verfallene Mauer aus Natursteinen in beide Richtungen. An manchen Stellen war sie nur noch kniehoch und von Efeu überwuchert. Ein rostiges Gartentor hing schief in den Angeln. Der Garten war ein Dschungel, in dem hier und da die Reste der einstigen Bepflanzung durchschimmerte.

Das Haus selbst war mehr eine Villa mit mindestens zwanzig Zimmern. Eine Holzveranda nahm die gesamte vordere Front ein. Das Geländer war hier und da eingebrochen, und eine alte Hollywoodschaukel lag umgestürzt auf der Seite.

Sie blickte die drei Stockwerke hinauf. Die Fenster schienen blind, und die Fassade war schmutzig und voller Löcher.

Mit viel Fantasie war hier und da noch die einstige Schönheit des Gebäudes zu erkennen. Türmchen und Giebel zierten das Dach und Ornamente rankten sich um die Fenster.

Doch alles war verfallen und machte den Eindruck einer Ruine. Rylee schluckte. „Das ist mein Haus?“, meinte sie zu Esterhazy.

Zu ihrer Überraschung sah dieser sie prüfend an. „Was sehen Sie?“

„Eine uralte eingestürzte Ruine. Da soll jemand wohnen?“

„Wenn Sie nicht möchten ...“, setzte er an.

„Nein, nein!“ Sie hob die Hände. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihr breit. So alt und verfallen das Haus war, es war ihres. Das erste, was sie in ihrem Leben wirklich selbst besaß. Wenn auch nur, weil es niemand anderes wollte. Doch das war nicht richtig. Esterhazy oder sein Orden, was immer das aus sein mochte, wollten es schon. Aber es gehörte ihr.

„Kann ich hineingehen?“

Wieder sah er sie merkwürdig an. „Das ist die Frage, nicht wahr? Versuchen Sie es.“

Rylee sah von ihm zum Haus. Sie ging zurück zum Auto und holte ihre Tüte hinaus. Ohne Esterhazy zu beachten, ging sie zum Gartentor und streckte die Hand aus. Sie zögerte, dann legte sie die Hand auf die Klinke. Ein Schauder durchlief sie. Oder war es das Tor, das bebte? Nein, es war ganz klar ein Prickeln, das über ihren Körper strömte und ihr eine Gänsehaut bescherte. Dann war der Eindruck vorbei, und sie drückte die Klinke hinunter. Das Tor öffnete sich mit einem Knarren, und sie machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Nichts geschah. Sie sah zu den Fenstern hoch. Fast schien es ihr, als würden sie sie beobachten. Hastig drehte sie sich zu Esterhazy um. Auf seinem Gesicht lag eine merkwürdige Mischung von Ärger und Resignation. Schnell nahmen seine Züge wieder einen unbewegten Ausdruck an und er nickte. „Das Haus akzeptiert Sie. Leben Sie wohl!“

Damit drehte er sich zum Gehen. Rylee lief durch das Gartentor. „Warten Sie! Sie können mich doch hier nicht einfach alleine lassen!“

Ohne sich umzudrehen meinte er. „Meine Aufgabe ist erledigt. Ich habe Sie hergebracht, und das Haus hat Sie angenommen. Mehr kann ich nicht für Sie tun.“

„Können oder wollen Sie nicht?“ Angst und Unsicherheit ließen Rylees Stimme schrill klingen.

Esterhazy ignorierte sie und stieg in den Wagen. Sobald die Tür geschlossen war, wendete der Fahrer und fuhr die Straße hinunter. Rylee sah ihnen nach, bis Staubwolken ihn verschluckten. Dann drehte sie sich wieder zum Haus um. Zu ihrem Haus.

Zum zweiten Mal durchquerte sie das Gartentor. Diesmal blieb sie nicht dahinter stehen, sondern ging weiter durch den Garten Richtung Haus. Einmal stolperte sie über eine angehobene Bodenplatte. Wurzeln kamen hier und dort hervor und viele Steinplatten waren gesprungen. Das Haus ragte turmhoch vor ihr auf, düster und bedrohlich. Sie stieg die Verandatreppe hinauf, deren Holzstufen morsch und brüchig schienen, und stand vor der Eingangstür. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie gar keinen Schlüssel besaß. Sie drückte dagegen, und die Tür öffnete sich knarrend einen Spalt. Vorsichtig drückte sie sie weiter auf und spähte ins Haus.

Es war dunkel, nur wenig Licht fiel durch die trüben Fenster. Sie tastete an der Wand nach einem Lichtschalter und fand ihn auch, höher als sie erwartet hatte. Als sie ihn betätigte, passierte jedoch nichts. Sie seufzte. Sie sollte dankbar sein, dass der alte Schuppen überhaupt über Elektrizität verfügte. Sie machte die Tür weit auf, damit Licht von draußen herein fallen konnte, und setzte zum ersten Mal einen Fuß in ihr neues Zuhause.

Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnten, erkannte sie immer mehr Einzelheiten um sich herum. Sie stand in einer Art Eingangshalle, von der eine breite Treppe in den ersten Stock hinaufführte. Mehrere Türen gingen von ihr ab. Altertümliche Möbel standen an den Wänden und ein schmutziger, vage als dunkelblau erkennbarer, Teppich lag auf dem Boden. Sie öffnete aufs Geratewohl die nächste Tür und stand in einer riesigen voll eingerichteten Küche. Hier fiel durch das große schmutzige Fenster über der mächtigen Steinspüle mehr Licht ein. Es gab keinen Wasserhahn, sondern eine Pumpe. Sie ging zum Becken und betätigte den Pumparm. Nach einiger Zeit ergoss sich ein rostbraunes Rinnsal ins Becken. Neben der Spüle führte eine Tür in den rückwärtigen Garten. Neben ihr hing ein Schlüsselbund.

Rylee wunderte sich. Wie konnte es sein, dass niemand in das leerstehende Haus eingebrochen war? Nicht, dass hier viel zu stehlen gewesen wäre, aber Vandalismus gab es doch sicher auch hier auf dem Land. Sie inspizierte den Kühlschrank, der zu ihrer Erleichterung mit Strom betrieben wurde und Vorräte für eine kleine Armee fassen konnte. Dann ging sie zurück in die Eingangshalle und stieg die Stufen hinauf. Auf dem Flur im ersten Stock öffnete sie die nächstgelegene Zimmertür und stand in einem großzügigen Schlafzimmer mit Bett, Nachttisch, Schrank und einem Schreibtisch. Eine Tür führte in ein kleines Badezimmer. Was hatte Esterhazy gesagt, das Haus sei eine Art Hotel? Wie in aller Welt sollte sie ein Hotel führen? Sie hatte nicht einmal eine eigene Wohnung besessen und kochen konnte sie auch nicht. Wo musste sie anrufen, damit der Strom angeschaltet würde? Und womit sollte sie ihn bezahlen? Sie dachte an das Bündel Scheine, das Esterhazy ihrem Pflegevater gegeben hatte. Er schien wirklich zu hoffen, dass sie hier scheiterte, sonst hätte er ihr mit Startkapital unter die Arme greifen können. Zumindest leihweise.

Sie seufzte und legte die Tüte aufs Bett. Vielleicht sollte sie sich hier häuslich einrichten. Zunächst setzte sie jedoch ihren Rundgang fort. Sie stieß auf etliche Schlafzimmer, dem ähnlich, das sie bezogen hatte. Jedes verfügte über ein eigenes Bad. Im Erdgeschoss fand sie eine Bibliothek mit uralten staubigen Büchern und einen Speisesaal, der gut und gerne zwanzig Tische fassen würde. Momentan standen nur fünf darin. Ein Wintergarten lud zum Sonnen ein und ein weiteres Zimmer sah aus, als könne man auf einem der gepolsterten Sofas herrlich fernsehen. Sie ging zurück in die Eingangshalle. Den Keller und das oberste Stockwerk hob sie sich für den nächsten Tag auf, zusammen mit dem Rest. Zunächst musste sie für etwas zu essen sorgen. Sie kramte in der Hosentasche. Ihr gesamtes Vermögen bestand aus etwas mehr als zehn Euro.

Damit würde sie nicht weit kommen. Auf einmal befiel sie Verzweiflung. Worauf hatte sie sich eingelassen? Ohne groß nachzudenken, war sie mit einem völlig Fremden quer durch den Kontinent gefahren und hatte sich mutterseelenallein in einem völlig verfallenen Haus absetzen lassen. Ihr wurde mit Schrecken klar, dass sie nicht einmal eine Telefonnummer von Esterhazy hatte. Wenn sie recht überlegte, hatte sie nicht einmal ein Telefon. Ihr Handy war vor einigen Wochen gestohlen worden, und sie hatte noch nicht genug Geld verdient, um sich ein neues zu kaufen.

Eine Welle der Schwäche überflutete sie und sie ließ sich auf einen klapprigen Stuhl fallen. Müde rieb sie sich die Augen. Sie schluckte. Sie fühlte sich einsam und elend. Und das an ihrem achtzehnten Geburtstag. Die Kehle wurde ihr eng, und eine Träne lief ihr über die Wange.

Ein Beben ging durch das Haus. Sie schreckte hoch. Was war das? Sie wischte sich die Tränen weg und sah sich um. Alles war still. Dann ging wieder ein Zittern durch das große Gebäude und setzte sich bis in ihr Inneres fort.

Sie sprang auf. Gab es an der Ostseeküste Erdbeben? Panisch blickte sie sich um. Wie war das? Sollte man hinauslaufen oder sich unter einen Türrahmen stellen? Würde das in einem alten, womöglich einsturzgefährdeten Haus sicher sein?

Das Beben wiederholte sich noch einmal, dann blieb es still.

Rylee wartete einen Moment, dann entspannte sie sich. Sie war müde, doch sie musste ins Dorf und sich etwas zu essen besorgen. Sie verließ das Haus durch die Küchentür und blieb wie angewurzelt stehen. Direkt vor der Tür blühte in einem ansonsten leeren Beet eine Pfingstrose: ihre Lieblingsblume. Einen Sommer lang hatte sie in einem Blumenladen geholfen und Blumensträuße ausgetragen. Die dicken runden Blütendolden hatten es ihr angetan, mehr als Rosen oder all die anderen Edelblumen. Und jetzt stand diese hier in all der Verwüstung, als wäre sie für sie gepflanzt worden. Wieder wurden ihre Augen feucht. Es war, als hätte sie zum ersten Mal in ihrem Leben Blumen zum Geburtstag bekommen.

Sie riss sich zusammen. Normalerweise hielt sie nicht allzu viel von Sentimentalität. Sie ging durch den Garten und verließ das Grundstück durch das Gartentor. Zwanzig Minuten brauchte sie für den Weg in die Dorfmitte und kaufte in einem kleinen Tante Emma Laden Brot, Butter, Käse, Kaffee und einen Sack angestoßener Äpfel, der im Angebot war. Auf dem Rückweg aß sie einen der süßen Äpfel und fühlte sich gleich besser. Vielleicht konnte sie im Dorf Arbeit finden. Gartenarbeit konnte nicht so schwer sein.

Sie betrat das Haus durch die Küche und drückte automatisch auf den Lichtschalter. Zu ihrer Überraschung ging die Deckenlampe an. Esterhazy musste sich darum gekümmert haben, dass der Strom angeschaltet würde. Gut, dann würde auch der Kühlschrank funktionieren.

Sie machte sich ein Käsebrot und verspeiste es am Küchentisch. Dann gähnte sie und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Überrascht blieb sie in der Tür stehen. Das Zimmer kam ihr heller vor. Auf den zweiten Blick erkannte sie, dass das Fenster jetzt sauber und klar war. Auf den Möbeln lag kein Staub mehr und es roch frisch. Jemand war hier gewesen. Erschreckt fuhr Rylee zurück. Als Stadtkind, das noch dazu in einer Art Slum groß geworden war, bedeuteten Fremde im Haus Gefahr.

Sie sah ins Bad. Niemand. Statt sich hinzulegen, begann sie, jedes Zimmer auf dem Stockwerk durchzusehen, dann die Räume im Erdgeschoss. In den Keller traute sie sich nicht in der Abenddämmerung. Sie verriegelte die Tür von außen. Ebenso hielt sie es mit der Luke zum Dachgeschoss.

Dann ging sie in ihr Zimmer. Sie fluchte leise. Während sie unten war, hätte sich hier oben längst wieder jemand in einem der Zimmer verstecken könne. Sie schloss ihr Zimmer von innen ab und legte sich hin. Lange konnte sie nicht einschlafen, doch irgendwann überwältigte sie die Erschöpfung.

Haus der Hüterin: Band 1 - Das Erbe

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