Читать книгу Der Pakt der sieben Krieger - Andrea Hubrich - Страница 1
ОглавлениеDer Pakt der sieben Krieger
Als die Haustür von außen aufgeschlossen wurde und sich gleich darauf öffnete, bahnte sich gleißender Sonnenschein seinen Weg in den Flur. Die junge Frau, die nichts weiter am Leib trug, als eine bis zu den Knien hochgekrempelte, schwarz-weiß karierte Hose, einen dicken, grauen Wollpullover und völlig durchweichte, vor Schlamm und Dreck starrende Turnschuhe, wurde freudig von Tortie, dem alten Hund, begrüßt. Seufzend nahm sie den großen, hellblauen Müllbeutel vom Rücken, stellte ihn neben der Flurgarderobe ab und strich dem Kaukasischen Hütehund beherzt durch das lange, grau-weiße Fell. „Hey, du taube Nuss! Lass mich doch wenigstens die Schuhe ausziehen, ja?“ Tortie war wirklich taub, denn er hörte noch nicht einmal mehr die Sirene auf dem Dach des Feuerwehrdepots auf der anderen Seite des Flusses, als sie vor etwas mehr als fünfzig Stunden zum ersten Mal Alarm geschlagen hatte. Wenn diese Sirene losheulte, hörte man sie nicht nur im gesamten Tal, sondern auch am Skihang hinter Rebecca und Florian Fincks Haus, und noch weit über die zum Teil dicht bewaldeten Bergkämme hinaus. Vor fast fünf Jahren, als Sarah Tortie zum ersten Mal begegnet war und sie das Herz ihrer Vermieterin mit einem einzigen Satz erobert hatte, war es noch anders gewesen. Überhaupt war alles anders gewesen, denn damals besaß Sarah noch eine Zukunft. Vor knapp zehn Stunden wurde sie davongetragen und blieb mit dem Dachfirst unter der Moschner-Brücke am Ende des Tales stecken. Die junge Frau entledigte sich ihrer Schuhe und stand nun barfuß im Flur des über dreihundert Jahre alten Zweifamilienhauses. Um sie herum hatte sich eine Pfütze gebildet. Das Wasser tropfte nur so aus Sarahs spärlicher Kleidung herab, und erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie eigentlich fror. Jetzt, während sie allmählich zur Ruhe kam und nachdenken konnte, erschienen ihr die Ereignisse in den vergangenen beiden Tagen so unwirklich, so absurd und realitätsfern, dass sie sich unmöglich ereignet haben konnten. Die Sonne schien doch, und es wurde am Ende des viel zu kalten Märzes endlich wärmer. Der Schnee, der sich im Laufe des monatelang andauernden Winters stellenweise bis zu einer Höhe von über hundertachtzig Zentimetern getürmt hatte, war hier im Tal fast vollkommen weggeschmolzen, und in der Luft lag ein ganz zarter Hauch von Frühling. Doch in diesem Jahr war es viel zu schnell gegangen. Die schweren Regenwolken waren weitergezogen, aber der Stern des Lebens sandte seine Strahlen über eine verwüstete Landschaft. Sein helles Licht beschien eine schreckliche Vernichtung. Es konnte alles nicht wahr sein. Nichts von dem, was in den letzten vierzig, achtundvierzig Stunden passiert war, sollte jemals geschehen. Niemals. Sarah strich Tortie noch einmal über den Rücken. Dazu musste sie sich wenigstens nicht bücken. Der Kaukasier besaß eine Schulterhöhe von achtundneunzig Zentimetern. Sarah war 1,59 Meter groß. Sie war schlank, um nicht zu sagen, schon ein wenig mager, doch ihre kräftigen Oberarme zeugten von harter, fortwährender Arbeit. Die halblangen, dunkelblonden Haare fielen nass und struppig in ihr Gesicht und in den Nacken. Da Sarah die Ärmel des ihr viel zu großen Wollpullovers ebenfalls hochgekrempelt hatte, konnte man an den gleichermaßen kräftigen Unterarmen und auch auf beiden Handrücken einige dunkelrote, verheilte Striemen erkennen. Sie waren unterschiedlich groß, einige schmal und ein paar Zentimeter lang, andere nur wenige Millimeter klein. Verbrennungen. Sie gehörten zu Sarahs Beruf nun mal dazu. Als sie sich in Bewegung setzte, um die letzte Tür am Ende des Flures zu erreichen, hatte die junge Frau das Gefühl, als würde sie eine tonnenschwere Last hinter sich herziehen. Es war einfach zu viel gewesen. Ihr Weg führte Sarah zwangsläufig an dem großen, schmalen Spiegel vorbei, der neben der Flurgarderobe an der Wand hing. Sie kam nicht umhin, vor ihm stehen zu bleiben und jene erbärmliche Gestalt zu mustern, welche ihr das Spiegelbild bot. „Meine Güte“, murmelte Sarah, während sie dem riesigen Hund über den Kopf strich. „Das Ding ist kaputt, Tortie. Jetzt zeigt es schon fremde Leute.“ Sie erkannte sich selbst nicht mehr wieder. Dunkle Schatten umlagerten Sarahs stahlblaue Augen. An den Wangen, am Kinn und an der Stirn prangerten Schlammspritzer, und ein blutiger Kratzer verlief quer über der linken Augenbraue. Er stammte von herumfliegenden Trümmerteilen, als ein riesiger Baum in das Dach eines leer stehenden Schweinestalls krachte und sich Sarah nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Eine halbe Stunde vorher waren in dem alten Gemäuer noch dreißig Schweine untergebracht gewesen, im angrenzenden Nebengebäude 53 Kühe und noch weiter hinten vier Schafe, elf Ziegen und 25 Hühner. Sarah und ihre beiden Nachbarn konnten alle Tiere ins Freie treiben. Später trotteten ihnen auch noch die beiden leicht verstörten Hofkatzen über den Weg. Somit musste das Leben keiner einzigen Kreatur beklagt werden. Nur das zählte. Kurz, nachdem der Baum in eines der insgesamt fünf Stallgebäude gestürzt war, kam das Wasser. Der Bauernhof, ein mittelständiges Landwirtschaftsunternehmen, stand zu nah am Dorfbach. Dessen Pegel betrug zu normalen Zeiten an seiner tiefsten Stelle keine fünfzig Zentimeter. Jener Dorfbach existierte nicht mehr. Er hatte sich in ein reißendes Ungeheuer verwandelt, welches nicht nur den mehrere Hundert Meter weit entfernten Bauernhof mit sich gerissen hatte, sondern nahezu alles, was ihm im Weg stand. Als das Wasser nahezu zeitgleich auch die Traditionsbäckerei erreichte und binnen einer halben Stunde das gesamte Erdgeschoss überflutete, musste Sarah begreifen, dass sie längst nicht alles retten konnte, was sie retten wollte. Vor zehn Stunden musste sie einmal mehr einsehen, auch verlieren zu können. Es war nicht fair. Diese Bäckerei war ihr Leben gewesen, dort verdiente sie mit unentwegter, ehrlicher Arbeit ihren Lohn. Nun war es vorbei. Sarah stand vor den Trümmern ihrer beruflichen Existenz. Sie löste sich von ihrem schauderhaften Spiegelbild und sah zur hintersten Tür am Flurende. Noch ehe sie den Eingang erreicht hatte, wurde er zaghaft von innen geöffnet. „Hallo, Becky“, rief Sarah ihrer Vermieterin zu. „Wie geht es euch?“ Rebecca, eine wohlbeleibte, dunkelhaarige Frau Anfang Fünfzig, starrte Sarah mit weit aufgerissenen Augen an. Statt auf die Frage ihrer Mieterin zu antworten, rief sie: „Du kommst jetzt erst nach Hause? Nach siebenundvierzig Stunden?“ Sarah zuckte mit den Schultern. Als sie näher trat und sich an die rechte Wandseite quetschte, um Tortie vorbei zu lassen, drang die nächste Frage in ihre Ohren: „Mein Gott, wie siehst du denn aus?“ Becky nahm Sarah in die Arme, drückte sie kurz an sich und strich ihr über die nassen, schmutzigen Haare. „Es war zu viel gewesen, Becky“, rief Sarah leise. „Wir hatten keine Chance.“ „Hast du dich wenigstens ein bisschen ausgeruht?“ Sarah schüttelte mit dem Kopf. „Auch nicht für eine Stunde? Du musst doch wenigstens etwas gegessen haben!“ Die Jüngere der beiden Frauen lächelte matt, während sie antwortete: „Ja, doch. Als unsere Bäckerei noch stand, haben wir uns zwei Schubkarren geschnappt und soviel Brot und Brötchen heraus geschleppt, wie wir tragen konnten. Florian war der Letzte gewesen. Er konnte gerade noch entkommen, bevor das ganze verdammte Haus einfach davon geschwemmt wurde.“ Plötzlich traten Sarah Tränen in die Augen. Sie lächelte immer noch, doch während sie davon sprach, wie knapp sie und ihre Truppe mit dem Leben davon gekommen waren, begann sie zu verstehen, dass niemals wieder irgendjemand auch nur einen einzigen Fuß in die Bäckerei setzen würde. Sicherlich trug auch ihre Erschöpfung dazu bei, dass Sarah weinen musste. Sie war am Ende ihrer Kräfte und bemerkte erst jetzt, wie fertig sie nach knapp zwei Tagen des unermüdlichen Noteinsatzes eigentlich war. Becky umarmte Sarah noch einmal. „Denke nicht darüber nach, Kind. Nicht jetzt. Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich dir oben ein heißes Bad einlassen. Es wird dir gut tun. Meine Mutti hat nach dir gefragt. Du weißt ja, wie sie ist. Sie hat die Bilder im Fernsehen gesehen. Es waren meistens Luftaufnahmen gewesen, aber wir haben euch erkennen können, als ihr Florian vom Bäckereigrundstück gezerrt habt und gerade noch das Brot in Sicherheit bringen konntet, bevor das Gebäude in die Fluten stürzte. Unser Dorf ist im ganzen Land berühmt geworden. Die Bilder werden auf fast allen Kanälen ausgestrahlt.“ Becky sprach die letzten Sätze mit fremder Stimme, denn wüsste auch sie es nicht besser, so wollte sie liebend gern glauben, dies alles sei nur ein schlechter Film gewesen. „Ach, Becky“, seufzte Sarah. „Auf diesen Ruhm möchte ich nur zu gern verzichten. Aber nun sag’ schon. Wie geht es Mariechen?“ Sarah hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sie ihren Namen rufen hörte. Sie öffnete die angelehnte Tür vollends und betrat einen hellen, lichtdurchfluteten Raum. Die linke Wandseite wurde fast vollständig von einer Anbauwand aus dunklem Holz vereinnahmt. Die breite Fensterseite mit der gläsernen Balkontür wurde mit etlichen Zimmerpflanzen begrünt, und an der rechten Wandseite stand Mariechens Bett. Das Fußende des Schlaflagers zeigte zum Fenster. Mariechen lächelte, als sie Sarahs Stimme erkannte. „Oh, mein Schätzchen! Wie schön, dass du da bist! Ich habe dich im Fernsehen gesehen. Dich, Florian und ein paar Leute aus dem Dorf. Ich hatte ja keine Ahnung, wie schlimm es wirklich ist!“ „Ich hoffe, dass wir das Gröbste überstanden haben, Mariechen!“ Sarah setzte sich auf jenen Stuhl, auf dem zuvor Becky gesessen und gemeinsam mit ihrer Mutter die neuesten Ereignisse im Fernsehen verfolgt hatte. Mariechen war weit über achtzig Jahre alt, geistig noch völlig wach und bis auf ein paar kleine Zipperlein kerngesund. Nur ihre Beine gaben vor fast neun Jahren schon ihren Dienst auf. Sarah hatte die Mutter ihrer Vermieterin niemals eigenständig stehen gesehen. „Wie geht es dir?“, wollte Sarah wissen. Sie nahm die knochige Hand der alten Frau und streichelte sie sanft. „Seit der Strom wieder gekommen ist und auch das Telefon funktioniert, geht es mir viel besser.“ Sarah erinnerte sich. Anfangs, noch bevor die Hölle auf Erden über das kleine Dorf hereingebrochen war, kündigte sich das Unheil mit dem Stromausfall an. Im gesamten Ort herrschte völlige Finsternis. Keine zwanzig Minuten später brach auch das Mobilfunknetz zusammen, sodass Hohenhausen vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten war. Wann beides wieder zu funktionieren begann, wusste Sarah nicht. Als sie zu dem Mann in dem schwarzen GMC-Geländewagen hinübersah und sie erkennen konnte, dass er sie immer noch ganz genau beobachtete, während er sein Handy ans Ohr hielt und telefonierte, war es schätzungsweise kurz nach Mittag gewesen. Seit ein paar Tagen klebte der dunkle GMC wie ein zweiter Schatten an Sarahs Fersen, und sie konnte sich nicht erklären, warum. Das erste Mal, als sie den befremdlich wirkenden Wagen erblickte, war am Montagmorgen gewesen, also vor zwei Tagen erst. Der Wetterbericht hatte zum ersten Mal am Freitagnachmittag in der vorangegangenen Woche von einsetzendem Tauwetter in den Bergen gesprochen und vorsichtshalber eine Unwetter- und Lawinenwarnung herausgegeben. Letzteres geschah in einem Mittelgebirge so gut wie nie. Selbst die Dorfältesten, von denen viele schon seit mehr als siebzig Jahren in Hohenhausen wohnten, konnten sich an eine Lawinenwarnung nicht erinnern. Jedoch wurde die Wirklichkeit von den Vorhersagen der Wetterfrösche bei Weitem übertroffen. Keiner konnte am Wochenanfang ahnen, wie schlimm es wirklich werden würde. Doch seit genau diesem Montag wurde Sarah auf Schritt und Tritt beobachtet. In den vergangenen beiden Tagen hatte sie keine Zeit mehr gehabt, um darüber nachzudenken. Erst vorhin, ehe sie die Haustür aufgeschlossen hatte, drehte sie sich noch einmal um und erblickte zwischen den reißenden Fluten des Dorfbachs und der heimischen Auffahrt zur Garage, dieses unheimliche Auto mit dem heruntergelassenen, getönten Fenster auf der Fahrerseite. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber Sarah stand nicht der Sinn danach, um sich mit dem Fremden anzulegen. Vielleicht sah sie auch nur Gespenster. Vielleicht war es nur ein verspäteter Winterurlauber gewesen, der den Abschluss der Skisaison fernab des üblichen Trubels feiern wollte und nun in Hohenhausen festsaß. Die einzige, größere Zufahrtsstraße auf der Seite des Skihanges war auf einer Länge von knapp vierzig Metern einfach nicht mehr da. Sie fiel wie so vieles der entfesselten Naturgewalt zum Opfer. In Gedanken an die zerstörte Verbindung zur Außenwelt, lehnte sich Sarah zurück. Sie wollte am liebsten für den Rest ihres Lebens auf diesem Stuhl sitzen bleiben. Es geschah zum ersten Mal seit über zwei Tagen, dass sie länger als eine Minute am Stück in einem warmen, trockenen Zimmer saß, ihre schmerzenden, kalten Füße von sich strecken konnte und die großen Hautfetzen entdecke, die sich von ihren aufgeweichten Fußsohlen gelöst hatten. Dennoch kämpfte sich Sarah wieder hoch. „Sei mir nicht böse, meine Liebe, aber Becky lässt mir gerade ein heißes Bad ein. Ich bin so müde!“ Mariechen lächelte. Ihre grauen Augen musterten die über sechzig Jahre jüngere Frau, während sie sprach: „Du musst dich nicht entschuldigen! Was du, was ihr getan habt, war großartig und heldenhaft! Florian war einmal kurz hier, als er sich trockene Kleidung geholt hat. Er hat uns erzählt, wie mutig und rastlos ihr gearbeitet habt! Unser Dorf ist euch allen zu großem Dank verpflichtet!“ „Aber Mariechen“, entgegnete Sarah ein wenig peinlich berührt. Sie war es einfach nicht gewöhnt, dass sich jemand so überschwänglich und herzlich bei ihr bedankte. „Es hätte doch jeder getan, nicht nur wir Zwölf. Denke nur mal an unsere Feuerwehrleute. Außerdem kommt man in manchen Situationen einfach nicht mehr dazu, großartig nachzudenken. Dann muss man handeln, ohne Fragen zu stellen. Ich bin nur froh, dass keinem von uns etwas Schlimmeres passiert ist. Soweit ich weiß, gab es bisher auch nur Sachschäden. Niemand wurde ernsthaft verletzt, und ich glaube, dafür sollten wir trotz allem, was passiert ist, dankbar sein!“ Sarah begab sich zur Tür, winkte Mariechen zu und verabschiedete sich von ihr. Tortie blieb am Krankenbett sitzen und bewachte die alte Dame. Diese Aufgabe übernahm er oft und gern. Mariechen hatte ihm vor elf Jahren, als er ein sechs Wochen alter Welpe war und sie noch laufen konnte, das Leben gerettet. Ein treues Hundeherz vergisst so etwas nicht.
Bevor Sarah in das eingelassene Badewasser eintauchen konnte, leerte sie den blauen Müllsack. Sie förderte ein nasses, schmutziges Kleidungsstück nach dem anderen zutage. Eine dicke Winterjacke hing nun auf einem Wäscheständer im Bad, ebenso eine verschmutzte Jeanshose, vier Paar Socken, ein dunkelblaues T-Shirt und eine braune Kapuzenjacke. Auf dem Badezimmerschrank, unter dem Waschbecken, lag eine große, rote Taschenlampe, daneben ein Handy, die Schlüssel und Sarahs Portemonnaie. Auf einem Wischlappen unter der Heizung standen schwarzgraue Gummistiefel, die gänzlich ruinierten Turnschuhe, sowie ein Paar einstmals weiße Pantoletten. Ausnahmslos alles, was Sarah bei sich getragen und irgendwann in diese Mülltüte gestopft hatte, war völlig durchgeweicht. Sie wunderte sich nur, dass ihr Handy noch funktionierte. Es war schon einige Jahre alt, und als sie es gekauft hatte, war es schon nicht mehr neu gewesen. Für ein besseres Telefon fehlte Sarah das Geld. Nun saß sie auf der Toilette, denn auch dafür konnte sie sich nach mehr als zwei Tagen endlich wieder genug Zeit nehmen. Sie rieb sich ihre brennenden, müden Augen, als das Mobiltelefon klingelte. Der schrille Ton erschreckte Sarah bis ins Mark, denn sie rechnete nicht damit, dass es überhaupt jemals wieder klingeln würde. Zu den wenigen Menschen, die im Besitz von Sarahs Telefonnummer waren, gehörten nur Becky und Florian, sowie ihr Backstubenmeister und ihre beiden Kolleginnen aus dem Verkauf. Sarah sah auf das Display. Unbekannter Anrufer. Sie zögerte einen Moment lang, dann nahm sie ab. Ihr Blick richtete sich auf das geblümte Toilettenpapier neben sich, während sie in einem wunderlichen Anfall von Sarkasmus sprach: „Friedhofsgärtnerei Immergrün, wir führen auch Klopapier mit Blümchenmuster! Welchen Traum dürfen wir für Sie begraben?“ Nach einer kurzen Pause von vielleicht zwei, drei Sekunden, in denen der Anrufer überlegte, was er auf diese alberne Begrüßung antworten sollte, rief er: „Sie müssen aus diesem Haus verschwinden!“ Sarah nahm das Handy vom Ohr und sah es verwundert an. Als sie es wieder anlegte, rief sie: „Geht’s noch? Ich sitze gerade auf dem Scheißhaus, und dort fühle ich mich zurzeit auch wirklich pudelwohl! Was soll das überhaupt? Wer spricht da?“ „Hören Sie mir zu! Ich habe keine Zeit für Späße oder lange Erklärungen! Sie sind in höchster Gefahr!“ Plötzlich begriff Sarah. Sie sah alles so klar vor sich. Alles passte zusammen. „Mein Vater schickt Sie, habe ich Recht?“ „Er hat mich beauftragt, Sie von hier wegzubringen, falls Sie in Schwierigkeiten geraten! Ich stehe mit dem Wagen vor Ihrem Haus ...!“ „Der schwarze GMC“, unterbrach Sarah ihren Gesprächspartner. „Ich weiß. Sie waren nicht zu übersehen! Aber nun hören Sie mir zu, und spitzen Sie Ihre Lauschlappen gefälligst genau! Da Sie seit Beginn dieser Woche wie fest gebacken an meinem Arsch kleben und es seltsamerweise immer geschafft haben, sich genau dort aufzuhalten, wo ich mich gerade befunden habe, dürften Sie ja mitbekommen haben, dass ich in letzten Tagen keinen Kindergeburtstag veranstaltet habe! Ich habe keine Ahnung, wie Sie an meine Handynummer gekommen sind, ebenso wenig, wie ich weiß, wie viel Ihnen mein Vater zahlt! Beides interessiert mich im Moment auch überhaupt nicht, aber Sie können Ihrem Boss ausrichten, dass Sie Ihren Wirkungsbereich zukünftig wohl unter eine Brücke verlagern müssen! Dort werde ich nämlich landen, weil ich vor ganz genau elf Stunden erst meinen Arbeitsplatz verloren habe und nun nicht mehr weiß, von welchem Geld ich meine Miete bezahlen soll! Und nun entschuldigen Sie mich bitte! Ich werde jetzt in die Badewanne steigen, etwas essen und dann zu Bett gehen, damit Sie auch wissen, was Sie in Ihr verdammtes Protokoll schreiben sollen! Auf Wiederhören!“ „Sie verstehen nicht ...!“ Sarah unterbrach die Verbindung und schleuderte ihr Handy mit einer fahrigen Bewegung auf den Unterschrank, der sich neben ihr befand, zurück. In ihre Erschöpfung mischte sich Wut. All ihre Bemühungen, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, all die Opfer, die sie in den vergangenen fünf Jahren gebracht hatte, waren vergebens. Ihr alter Herr, ihr Erzeuger, hatte Sarah aufgespürt. Als sie sich damals in diesem kleinen Ort im Erzgebirge versteckt und den Mädchennamen ihrer über alles geliebten Mutter angenommen hatte, war sie sich sicher gewesen, für den mächtigen Patriarchen und Erben eines der größten deutschen Transportunternehmen unauffindbar zu sein. Sarah hatte sich geirrt. Einen Herbert Lansink konnte niemand an der Nase herumführen. Auch nicht seine eigene Tochter. Erneut klingelte das Handy. Ohne nachzudenken, erhaschte Sarah das kleine, schwarze Teil und warf es in die Badewanne. Es versank in den weißen Schaumfluten und verstummte, noch bevor es den Boden des mit dampfendem Wasser gefüllten Bottichs erreicht hatte. Zufrieden stand Sarah auf, ließ die Jalousie am Badezimmerfenster herab und zog sich aus. Als sie ins Wasser stieg und die wohlig warmen Wellen auf ihrer Haut spürte, veränderte sich ihr wütender Gesichtsausdruck in ein Lächeln. Sie fischte das abgesoffene Mobiltelefon heraus, warf es mit voller Wucht gegen die gegenüberliegende Badezimmerwand und beobachtete begeistert, wie es in viele kleine Einzelteile zersprang. Heute würde sie keiner mehr nerven. Doch kaum hatte Sarah diesen Gedanken zu Ende gebracht, klopfte es leise an die Tür. Die junge Frau tauchte soweit in das herrlich wohltuende Badewasser ab, bis nur noch ihr Hals und ihr Kopf herausragten, bevor sie rief: „Ja, bitte?“ Beckys Kopf lugte herein. „Entschuldige bitte! Ich habe dir ein paar warme Sachen zurechtgelegt und ein paar Brote zubereitet. Schwester Berit hat eben angerufen. Sie wird es schaffen und heute noch nach Marie sehen. Sie ist gerade eingeschlafen. Seit sie weiß, dass es dir gut geht, ist die gesamte Anspannung von ihr abgefallen. Tortie muss aber raus, und so werde ich ihn mitnehmen, wenn ich nach Florian suche. Kommst du zurecht?“ Sarah lächelte. „Aber natürlich. Ich werde nur noch etwas essen und mich gleich hinlegen. Berit hat doch einen Haustürschlüssel, also braucht sie mich nicht. Bis später, okay? Und vielen Dank für deine Mühe!“ Becky lächelte beruhigt. „Keine Ursache! Bis später. Ich nehme mein Handy mit, falls etwas sein sollte. Mach´s gut!“
Sarah fand die liebevoll zurechtgelegten Kleidungsstücke in ihrem wenige Quadratmeter großen Wohn- und Schlafzimmer. Es gehörte neben dem Bad und der winzigen Kochnische zu Sarahs kleinem, aber gemütlichem Reich. Eine warme Baumwollhose, dicke, selbst gestrickte Wollsocken, sowie ein T-Shirt und ein weicher, warmer Pullover lagen auf der Schlafcouch. Auf dem Schreibtisch, auf dem unter anderem ein alter Fernseher und ein noch älterer Computer ihren Platz gefunden hatten, entdeckte Sarah einen Teller. Auf ihm lagen vier mit Wurst und Käse belegte Brötchenhälften, sowie einige Gurkenscheiben und Tomatenecken. Still in sich hinein lächelnd, dankte Sarah ihrer lieben Vermieterin. Mit eben solchen Kleinigkeiten zeigte Becky ihre tiefe Verbundenheit für die aufopferungsvolle Pflege und Betreuung von Marie, die Sarah immer dann übernahm, wenn Becky auf Arbeit war und sich Florian auf Montage in ganz Deutschland befand. Kaum hatte sich Sarah fertig angezogen, klingelte es unten am Hauseingang. Genervt rollte die junge Frau mit den Augen und hastete zu ihrer Zimmertür. „Becky?“, rief sie laut. Das von Sarah bewohnte Obergeschoss stellte keine in sich geschlossene Wohnung im eigentlichen Sinne dar, sondern bestand aus einem offenen Flur, der an der Treppe endete. „Becky? Bist du noch da?“ Sarah erhielt keine Antwort. Stattdessen wiederholte sich das Läuten der Türglocke, diesmal lang anhaltender und ungeduldiger. „Ja, zum Teufel, ich komme doch schon!“ Sarah schleppte sich langsam die letzten Treppenstufen ins Erdgeschoss hinunter, denn sie war inzwischen so müde und erschöpft, dass ihre Beine nicht mehr richtig gehorchen wollten. So schlich sie an der Flurgarderobe mit dem großen Spiegel und dem Schuhschrank vorbei. Sobald sie die Haustür öffnete, blickte sie in das von leichter Panik ergriffene Gesicht des von ihr so forsch abgewiesenen Anrufers. „Sie verstehen nicht, Miss Kossin! Sie schweben in höchster Gefahr“, rief der Fremde betont und nachdrücklich. Er war mindestens fünfundzwanzig Zentimeter größer als Sarah, hatte kurzes, fahl-blondes Haar und musste um die 55 Jahre alt sein, jedoch keinesfalls älter. Seine Augen musterten die junge Frau mit unverhohlenem Entsetzen. Wahrscheinlich hatte er noch nie so einen abgehalfterten, übernächtigten Menschen gesehen. Erst jetzt fielen Sarah wieder ihre dunklen Augenringe ein, ein Zeichen ihrer anhaltenden Übermüdung. Dennoch schien ihre herabwürdigende Schlagfertigkeit von diesem Umstand noch nichts mitbekommen zu haben. Aufgebracht rief sie: „Miss Kossin? Also gut, Sie aufgeblasener Riesengorilla! Helfen Sie mir doch bitte auf die Sprünge, okay? Ich kann Ihnen nämlich gedanklich gerade nicht mehr folgen! Entweder sind Sie blind, taub, oder einfach nur dämlich, aber ich werde mich hüten, mit Ihnen in diesen Wagen zu steigen!“ Sie deutete an den großen Mann vorbei und hinunter zur Straße. Dabei stellte sie besorgt fest, dass der aus allen Ufern geratene Dorfbach begann, auch diesen Teil der Straße zu überfluten. „Nun halten Sie aber mal die Luft an, ja?“, schimpfte der Angestellte von Sarahs verhasstem Vater. „Spüren Sie es denn nicht?“ „Was spüren? Meine müden Knochen, oder diesen verdammten Muskelkater? Natürlich! Schon seit spätestens gestern früh und im gesamten Körper!“ Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, bemerkte sie das Beben der Erde. Es waren winzige, fast nicht wahrnehmbare Erschütterungen, doch sie veranlassten, dass ein selbst gemaltes Landschaftsbild von der linken Flurwand zu Boden fiel und die Glasscheibe zerbrach. Von der einen Sekunde zur nächsten wich Sarahs Streitsucht einer furchtbaren Panik, welche die des Fremden um Längen übertraf. „Was ist das?“, hauchte sie mit weit aufgerissenen Augen. „Wir haben keine Zeit mehr! Der ganze Hang gerät in Bewegung! Kommen Sie!“ Jetzt erst drang ihr das dumpfe Grollen in die Ohren. Gerade eben konnte sie außer dem lauten Rauschen des Dorfbachs nichts anderes wahrnehmen, aber jetzt hörte sie neben dem Getöse des Wassers auch das ferne Rutschen von schweren, regennassen Schneemassen. Doch anstatt ins sichere Freie zu flüchten, kehrte Sarah auf einem Absatz um und rannte ins Haus zurück. „Marie! Mariechen!“ Aus dem Zimmer am Ende des Flures im Erdgeschoss hörte Sarah die alte Dame rufen. Sie erreichte die Tür, stieß sie auf und blieb erschrocken unter dem Rahmen stehen. Von ihrer Position aus hatte Sarah einen freien, weitreichenden Blick auf den knapp einen Kilometer weit entfernten Hang, der sich hinter dem Haus befand. Die gesamte Böschung bewegte sich. Die von den tagelangen Regenfällen zersetzen Schneemassen stürzten den steilen Abhang hinunter und rasten geradewegs auf das einzige Haus zu, welches direkt am Fuße des Berges stand. Alle anderen Gebäude, die sich in der näheren Umgebung befanden, wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichtet und standen in relativ sicherer Entfernung. Nur das Haus der Fincks wurde in der Gefahrenzone aus dem Boden gestampft, damals, vor über dreihundert Jahren, noch bevor die Menschen ihren Fehler bemerkt hatten und die erste Lawine nur haarscharf an dem Anwesen vorbei stürzte. Die letzte Lawine ging 1928 über Hohenhausen nieder und streifte genau jenes Haus, in dem Sarah heute wohnte. Welcher geistig umnachtete Trottel kam damals nur auf diese beschissene Idee, es überhaupt wieder aufzubauen? Sarah löste sich vom fesselnden Anblick der schmutzig weißen Schneemassen und eilte zu Maries Bett. „Komm, wir haben keine Zeit mehr! Ich bringe dich hier raus!“ Mariechen schüttelte mit dem Kopf. „Nein, Schätzchen, das wirst du nicht.“ Ihre Stimme strahlte eine seltsame Ruhe aus. Sarah konnte sich die Gelassenheit der alten Dame nicht erklären. „Was redest du da? Natürlich werde ich dich in Sicherheit bringen!“ Sie versuchte, Mariechen in ihrem Bett aufzurichten. Fast gleichzeitig griff sie nach dem Rollstuhl, der am Fußende stand. Sarahs Hände waren überall. Wie in Trance verrichtete sie ihre Tätigkeiten, ohne genauer zu überlegen. Und ohne in Mariechens Gesicht zu sehen, denn hätte es die junge Frau getan, so wäre ihr der Unmut der hochbetagten Seniorin aufgefallen. Sarah wollte Mariechens Bettdecke beiseite ziehen, doch dies ließ die Pflegebedürftige nicht zu. „Nein, Kind! Verschwinde von hier. Ich werde bleiben. Meine Zeit ist gekommen.“ Entsetzt blickte Sarah in ihre Augen. „Was ist denn los mit dir? Ich kann dich doch nicht zurücklassen!“ „Geh! Ich will, dass du aufbrichst! Es ist in Ordnung!“ „Marie“, wimmerte Sarah vor Fassungslosigkeit. „Ich habe dich immer geliebt, mein Kind! Du bist mein Engel, mein Stern in letzten fünf Jahren gewesen! Richte Florian aus, dass er auch weiterhin auf meine Becky aufpassen soll! Gott beschütze euch!“ „Mariechen“, stammelte Sarah erneut. Unversehens und ohne Vorwarnung wurde sie am Ärmel ihres Pullovers gepackt und aus dem Zimmer gerissen. Sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und fiel der Länge nach im Flur hin, wobei sich der derbe Griff um ihr Handgelenk gelöst hatte. Die junge Frau rutschte einen knappen Meter über den Parkettfußboden und kam auf halbem Wege zur Flurgarderobe zum Stillstand. Bevor die schweren, nassen Schneemassen durch die Fenster des Hauses hereinbrachen, bevor das gesamte Gebäude unter der Tonnenlast über sie zusammenstürzte, sah Sarah, dass der Fremde die offenstehende Haustür erreicht hatte und mit einem gewaltigen Satz den Treppenaufgang hinuntergesprungen war. Dann wurde ihr schwarz vor Augen, und der allgegenwärtige Lärm erstarb. Sarah wurde unter den Schneemassen und den Trümmern des Hauses begraben.
Der Fremde war an seinem Auto angelangt, als die Lawine die hintere Seite des Wohnhauses erreicht hatte und die starken Mauern einzudrücken begann. Seiner jahrzehntelangen Berufserfahrung verdankte er jenen Umstand, dass er den Motor seines Wagens angelassen hatte, bevor er an der Haustür der Fincks geklingelt hatte. Sobald er die winzigste Regung aus dem entfernten Hintergrund des Gebäudes vernommen hatte, bestimmten immer wieder trainierte und geübte Handgriffe sein weiteres Schaffen. Nun trat er das Gaspedal des schwarzen GMC bis zum Anschlag durch und brachte sich mit knapper Not in Sicherheit. Im Rückspiegel beobachtete er, dass genau dort, wo er vor einer, vielleicht auch zwei Sekunden noch gestanden hatte, ein Meer aus wässrigem Schnee und Gebäudeteilen über die Straße krachte und in den weiterhin stark angeschwollenen Dorfbach zu rutschen drohte. Die ersten Trümmer hatten das Wasser bereits erreicht und wurden von der reißenden Strömung sogleich davongetragen. „Scheiße“, fluchte der hünenhafte Kerl laut vor sich hin und schlug mit beiden Handballen mehrmals auf das schwarze Lenkrad ein. So abrupt, wie er auf das Gaspedal getreten war, drückte er nun auf die Bremsen. Seine Rechnung hatte er jedoch ohne das Risiko des Aquaplanings gemacht. Der GMC entzog sich für wenige Augenblicke der Kontrolle des Fahrers und schleuderte mit einer viertel Drehung über den Asphalt. Die Motorhaube versank leicht im flachen Straßengraben und zeigte nun direkt auf den riesigen, abgerutschten Hang. Dort, wo zuvor der zusammengesunkene, schwere Schnee gelegen hatte, zeigten sich nun hässliche braune und gelblich graue Grasflecken. Der Fremde schaute aus dem immer noch geöffneten Fenster auf der Fahrerseite. Das Haus der Fincks glich einer Trümmerwüste. Er stieg aus und hastete zu dem Wirrwarr aus Holzbalken, Mauerresten, Ziegeln und festgedrücktem Schnee hinüber. In Gedanken überschlug er die letzte Position seiner Schutzbefohlenen, jener Frau, für deren Sicherheit und Unversehrtheit er nahezu fürstlich entlohnt wurde. Doch so, wie die Dinge jetzt standen, würde er sich nicht nur seinen nächsten Gehaltsscheck in die Haare schmieren können, sondern auch gleich den gesamten, verteufelten Auftrag. Die Chancen, dass jemand diesem Inferno bei lebendigem Leibe entfliehen konnte, standen gleich Null. Vor allem erst recht, wenn er in das eiskalte Wasser gerutscht sein sollte. Der alte Lansink musste sich wohl der übel damit abfinden, dass seine Tochter den Lawinenabgang nicht überlebt haben würde. Wider jeglicher Vernunft, begann er trotzdem zu graben. Die einzigen Waffen im Kampf gegen die Zeit waren die Hoffnung auf ein Wunder und seine großen Hände gewesen, die unermüdlich die Trümmer und den Schnee beiseite schaufelten. Je erfolgloser er dabei vorging, desto verzweifelter wurde er. „Komm schon, Mädchen“, murmelte er vor sich hin. „Gib mir ein Zeichen!“ Eine knappe Minute später umfassten seine kalten, blutig gewetzten Hände eine ebenfalls kalte Frauenhand. Sie war von verheilten Brandnarben und frischen Hautabschürfungen überzogen. „Na endlich!“ Erleichtert stieß der Fremde einen Seufzer aus und grub hastig weiter. Er befreite Sarahs Kopf, säuberte ihre Mundhöhle von halb verschlucktem Schnee und begann, die Verschüttete zu beatmen. Fünf Mal blies er Luft in Sarahs zusammengepresste Lungen, ehe sie ihren Kopf nach hinten fallen ließ und mit geschlossenen Augen zu husten begann. Dabei spie sie feuchten Dreck und kleine Holzsplitter aus. Nachdem es ihm gelungen war, auch den Rest des verschütteten Körpers freizulegen, hob er die erschlaffte, ohnmächtig gewordene Frau an und trug sie zu dem immer noch quer zur gesamten Fahrbahnbreite stehenden GMC. Der Fahrer des Wagens legte Sarah auf der Rückbank des Geländewagens ab und begann, nach eventuellen Knochenbrüchen zu tasten. Zwar war er kein Arzt gewesen, doch sein Beruf verlangte von ihm, dass er in jedem Jahr einen Auffrischungskurs im Sanitätswesen besuchen musste, was ihm nun zugutekam. Erleichtert stellte er fest, dass Sarah bisher keine Anzeichen von schwereren Verletzungen aufwies. Nur die große Wunde am Hinterkopf bereitete ihm Sorgen. Sie blutete stark und musste genäht werden. Darum würde er sich jedoch erst später kümmern können, ebenso um die zahlreichen anderen Schnittverletzungen und Blessuren. Zunächst einmal wäre er gut beraten, von hier zu verschwinden. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Sarah gleichmäßig und flach atmete, schloss er die hintere Tür des Wagens, stieg vorn ein und lenkte den GMC mit geschickten Zügen in die richtige Richtung. Der Weg des Fremden führte ihn durch den noch stehenden Rest von Hohenhausen, vorbei an den letzten Häusern des Dorfes und aus diesem Höllenschlund heraus. Am Ende des Tales bog der Wagen ab und fuhr tief in den Wald hinein.
Nach einer holprigen Fahrt über schlammige, unebene Waldwege, erreichte der GMC eine alte, verlassene Blockhütte. Der Zufahrtsweg zu der von Bäumen und Sträuchern umwucherten Behausung war freigeschaufelt worden und stand aufgrund des eingesetzten Tauwetters völlig unter Wasser. Sobald der Fahrer des über und über mit Schlamm bedeckten Geländewagens unmittelbar vor dem verschlossenen Eingang der Hütte geparkt hatte, stieg er aus und öffnete die Autotür hinter dem Fahrersitz. Sarah war immer noch bewusstlos. Sie atmete kaum spürbar, jedoch – und nur das war wichtig – regelmäßig und rhythmisch. Der Fremde bugsierte sie aus dem Wagen und stieß die recht massive Holztür des Blockhauses auf. Drinnen umfing ihn der muffige Geruch von altem Holz, Staub und jahrelanger Verlassenheit. Wenigstens herrschte eine verhältnismäßig angenehme Wärme, welche von der einzigen Feuerstelle des Holzhauses, einem altgedienten, gusseisernen Ofen stammte. Sarahs Retter trug die ohnmächtige Frauengestalt in einen winzigen Nebenraum, in dem neben einem wenig vertrauenerweckenden Bett nur eine Kommode mit drei Schubladen, sowie ein uralter, durchgesessener Stuhl standen. Das einzige Fenster war schmutzig und ließ das gedämpfte Licht der aufziehenden Abenddämmerung nur spärlich in den Raum. Dank eines neuen Generators verfügte die gesamte Hütte immerhin über Strom, sodass die Deckenlampe ihren kargen Schein im Zimmer ausbreiten konnte. Es musste genügen. Sobald der Fremde Sarah auf das Bett gelegt hatte, begann er, ihre triefenden Baumwollhosen, die Wollsocken und den ebenfalls nassen, mit Blut durchdrängten Pullover auszuziehen. Die gesamte Kleidung der Verletzten war durchnässt und bot überhaupt keinen Schutz vor der klammen Kälte, die Sarah inzwischen bis unter die Haut gekrochen war und ihre Lippen lila-bläulich eingefärbt hatte. Ein Blick auf das angesetzte Fieberthermometer verriet ihre gesunkene Körpertemperatur: 30,2 Grad Celsius. Dieser Wert war noch nicht lebensbedrohlich, doch er zeigte bereits die Unterkühlung der Bewusstlosen an. Im Zusammenhang mit der fehlenden Nahrungsaufnahme, dem Flüssigkeitsmangel und dem deutlichen Blutverlust, den Sarah aufgrund ihrer Wunde am Hinterkopf davongetragen hatte, konnte sich diese leichte Hypothermie jedoch zu einem ausgewachsenen Problem entwickeln. Das Letzte, was der Fremde sich wünschte, war eine Lungenentzündung seines Schützlings. Er zog Sarah zwei Paar trockene und warme Kniestrümpfe an und deckte sie mit ebenfalls zwei dicken, weichen Decken bis zum Hals zu. Dann verließ er kurz den Raum und kam mit einem großen, dunkelgrünen Nylonrucksack wieder. Darin befand sich alles, was er brauchte: Einmalhandschuhe, Infusionsnadeln, Spritzen, Nährstofflösungen, Vitaminpräparate, Schmerzmittel und Narkotika in flüssiger und auch in Tablettenform, Desinfektionsspray, eine Chirurgennadel und jede Menge Verbandszeug. All diese Sachen hatte er sich am Montagmorgen erst besorgt, bevor er nach einer fast sechs Stunden andauernden Autofahrt endlich in Hohenhausen angekommen war und die gegenwärtige Situation mit seinem scharfen, objektiven Verstand beurteilt hatte. Die Katastrophe war noch nicht völlig über den kleinen Ort hereingebrochen, doch sie kündigte sich bereits mit jenem starken Regen an, der beinahe blitzartig begann und erst am heutigen Mittwochvormittag aufgehört hatte. Es war sein Wochenende gewesen. Der Retter bereute es fast, nach Hause geflogen zu sein, denn die Vorboten des Unwetters dämmerten bereits in der vergangen Wochen herauf. Zu allem Übel stand er am Montag Vormittag beinahe drei Stunden lang auf der Autobahn A5 im Stau. Die Zeit, die er dabei vergeudet hatte, hätte ausgereicht, um das Bundesland Sachsen zu erreichen. Nun, er war zum Glück noch rechtzeitig in Hohenhausen angekommen, bevor die Zufahrtsstraßen gesperrt oder unpassierbar wurden. Lansink hatte am Sonntag Mittag Alarm geschlagen und ihn nach Frankfurt gerufen. Dort wäre er auch schon früher losgefahren, doch es mussten wichtige Schritte eingeleitet werden, welche sich unter Umständen schon sehr bald auszahlen würden. Nun blieb ihm nicht mehr viel Zeit, doch er schaffte es, seine Vorbereitungen zu treffen, die es ihm im schlimmsten Fall erlaubten, überwiegend sachgemäß und komplikationslos handeln zu können. Nun, der schlimmstmögliche Fall war eingetreten, worüber er sich zwar keinesfalls freute. Doch gegenwärtig konnte er dank seiner Vorkehrungen unter weitgehend akzeptablen Bedingungen hantieren. Er setzte mit geschickten Handgriffen einen Infusionszugang an, verabreichte Sarah ein leichtes Schlafmittel und begann, die klaffende Platzwunde an ihrem Hinterkopf zu nähen, nachdem er den Bereich großräumig desinfiziert hatte. Nach sieben Stichen stoppte endlich die Blutung. Vorsichtig klebte er die Wunde mit Mull und Pflasterstreifen ab, entfernte das besudelte Kopfkissen und ersetzte es durch zwei neue, frisch bezogene, damit sich Sarahs Oberkörper in einer höheren Position befand und das Blut in ihre eiskalten Füße fließen und sie erwärmen konnte. Als nächstes desinfizierte er die unzähligen kleineren Schnitt- und Schürfwunden an Sarahs Händen, den Armen, im Gesicht und an den Knien. Seine letzte Amtshandlung bestand darin, an der Betäubten eine Kochsalzlösung und eine Nährstofflösung anzubringen. Die Flaschen fixierte er an einem eigens dafür vorgesehenen Metallständer, welchen er neben all den medizinischen Sachen ebenfalls erst am Montag aufgetrieben hatte. Mehr konnte er im Moment nicht für sie tun. Alles, was sie brauchte, war Ruhe, Wärme und Schlaf. Er wusste, wie hart die Tochter seines Auftraggebers gegen das Wasser angekämpft hatte, wie sie Sandsack um Sandsack gefüllt und geschleppt hatte, ohne sich auszuruhen. Und er wusste, dass Sarah siebenundvierzig Stunden lang nahezu ohne Unterlass geackert hatte, um Menschen, Tiere, Gebäude und Gegenstände vor den kalten, braunen Fluten zu retten. Insgeheim zog er vor dieser Leistung seinen Hut. Er kannte keinen Menschen, der je eine solche Leistung zustande gebracht hatte, sich selbst mit einbegriffen. Nach einem letzten Blick auf die schlafende Frau verließ er den Raum. Dabei ließ er die Tür offen stehen, damit der letzte Rest der kläglichen Wärme bis in Sarahs Gemach vordringen konnte.
Als sie nach einem tiefen Atemzug endlich aufwachte, nahm sie zunächst nur das Zwielicht im Raum wahr. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand, welches Datum man heute schrieb, oder welche Tageszeit herrschte. Sarah versuchte, sich aufzurichten, doch nicht nur ihr dröhnender Kopf verwehrte ihr diese Maßnahme, sondern auch der grauenhafte Muskelkater, den sie nun in jeder einzelnen Zelle ihres Körpers spüren konnte. Mit einem leisen Stöhnen sank Sarah ins Kissen zurück, drehte sich mit einem unmenschlichen Kraftakt auf die Seite und bemerkte erst jetzt die Infusionsnadel, welche in ihrer linken Armbeuge steckte und mit einem Verband fixiert wurde. Irgendeine Flüssigkeit wurde ihr injiziert, doch Sarah war zu erschöpft gewesen, um sich darüber Gedanken zu machen. So versuchte sie, sich so angenehm wie möglich zu betten und begann, ihre Umgebung zu studieren. Sie verließ sich dabei ausnahmslos auf ihr Gehör und ihre Nase, denn sie war immer noch so müde, dass sie ihre schweren Augenlider nach mehrmaligem Blinzeln wieder geschlossen hielt. Zunächst waltete Stille. Egal, wo sie sich befinden mochte, sie konnte nicht den geringsten Laut hören. Sarah bereitete es große Mühe, sich zu konzentrieren. So sog sie zunächst nur die staubige, abgestandene Luft in sich ein. Nun vernahm sie auch leise Schritte und das Klappen einer Tür. Da ihre Zimmertür weiterhin offen stand, richtete die junge Frau einen kurzen Blick in den angrenzenden Bereich und erkannte einen großen, langen Umriss. Jener Mensch, den Sarah als den Angestellten ihres Vaters identifizieren konnte, kam von draußen. Er trat sich schmutzigen Schnee und Schlamm von den Stiefeln und trug frisch zerhackte Holzscheite in den Armen. Mehr konnte und wollte Sarah nicht sehen. Sie schloss erneut ihre Augen und begann, soweit es ihr schmerzender Kopf überhaupt zuließ, nachzudenken. Obwohl es in ihrem Zimmer angenehm warm war, bemerkte sie erst jetzt ihre eiskalten Füße. Sie mussten mit Socken bekleidet sein. Sarah tastete an ihrem Körper herab. Soweit sie sich erinnern konnte, trug sie zuletzt doch eine lange Hose! Wo war ihre Hose geblieben? Ihre rechte Hand strich über ihre nackten Beine, den verarzteten Knien, hinauf zum Unterleib und weiter über den Bauch. Fassungslos stellte Sarah fest, dass sie außer den Socken nichts weiter anhatte, als einen Slip, das von Becky zurechtgelegte T-Shirt und ihren BH. Ihre neu gewonnene Erkenntnis ließ die junge Frau entsetzt aufschrecken. In diesem Augenblick betrat ihr Retter das Zimmer, nachdem er von Weitem schon ihre veränderte Liegeposition wahrgenommen hatte. „Was haben Sie mit mir gemacht?“, krächzte Sarah mühsam und zupfte an ihrem Pulli. Der Angesprochene verstand sofort: „Keine Angst, Schlafmütze“, entgegnete er gelassen und trat näher. „Mein Auftrag lautet immer noch, Sie zu beschützen, und nicht, Sie bis zum Umfallen durchzupoppen! Ich weiß noch nicht genau, wie Sie wirklich ticken, aber Sie sollten sich mehr mit Ihrem gesundheitlichen Zustand befassen, anstatt über andere Dinge nachzudenken.“ Er überprüfte den noch halb vollen Behälter mit der Kochsalzlösung, es war schon die fünfte Dosis, und schaute auf Sarah hinab. „Haben Sie Hunger?“ Eigentlich rechnete er nicht mit einer Antwort, doch er bekam sie laut, klar und ausdrücklich: „Blöde Frage! Natürlich!“ Sarah dachte eigentlich an feste Nahrung, an etwas Brot vielleicht, oder an ein paar Kekse, doch alles, was ihr der Fremde unter die Nase hielt, war eine Plastiktasse mit einem Schnabelaufsatz. Sie kannte solche Hilfsmittel, denn zumeist wurden diese Gefäße im Krankenhaus oder in der Seniorenpflege verwendet. Sarah hatte Mariechen oft genug dabei geholfen, aus einer Schnabeltasse zu trinken. Mariechen! Wie ein Pfeil durchbohrte dieser Name ihre Gedanken. Sarah richtete sich auf, und zum zweiten Mal innerhalb weniger Augenblicke schaute sie ihr Gegenüber total erschüttert an. „Sie können nicht aufstehen, Miss Kossin! Sie sind noch zu schwach!“ „Ich muss zu Marie!“ Grinsend und abfällig zischend antwortete der Mann, während er sich auf die Bettkante setzte: „Ja, sicher. Und ich verpasse meine Audienz beim Papst.“ Er schüttelte mit dem Kopf, bevor er hinzufügte: „Sie können sich keine Sekunde lang auf den Beinen halten und denken schon wieder nur an andere!“ Er hielt ihr noch einmal die Schnabeltasse entgegen. „Hier, trinken Sie das! Es ist eine kräftige Hühnerbrühe! Etwas anderes würden Sie auch gar nicht bei sich behalten können, weil Sie seit ihrem letzten Bissen in eine trockene Brotscheibe schon fünf Tage lang nichts Festes mehr zu sich genommen haben!“ Sarah hatte die Tasse entgegengenommen und erstarrte in ihrer Haltung. „Fünf Tage?“, rief sie völlig entgeistert. „Wir haben das Brot doch heute Morgen erst aus der Bäckerei geschafft!“ Der fürsorgliche Fremde schüttelte erneut mit dem Kopf und entgegnete: „Nein, Miss Kossin, heute Morgen ist schon lange vorbei. Wir haben Sonntag, den 3. April.“ Völlig schockiert über diese Nachricht, lehnte sich Sarah zurück. „Nun schauen Sie nicht so verblüfft! Trinken Sie die Brühe und ruhen Sie sich aus. Hier sind Sie sicher, es kann Ihnen nichts mehr passieren. Ich werde Ihnen alles erklären, was Sie wissen wollen, aber erst, nachdem Sie einigermaßen zu Kräften gekommen sind.“ Sarah nahm den Rat ihres Retters wenig begeistert an. Welch andere Möglichkeit blieb ihr auch schon? Sie nippte an der Tasse und stellte anerkennend fest, dass die heiße Brühe wirklich vorzüglich schmeckte, sodass sie sie den Becher bis auf letzten Tropfen leerte. Bevor sie bald darauf wieder einschlief, bemerkte sie, wie der Fremde noch einmal in ihr Gemach trat und eine weitere Decke über Sarahs Füßen ausbreitete.
Am Vormittag des nächsten Tages erhob sich die junge Frau zum ersten Mal seit ihrer Bergung aus dem Bett. Bevor sie überhaupt aufstehen konnte, musste sie sich von drei kuscheligen Decken befreien, ihren angeschlagenen Kreislauf mit leichten Dehnungen in Schwung bringen und ihren schweren, müden Beinen eine Chance geben, nach tagelangem Ruhen halbwegs vernünftige Schritte zu erzeugen. Sarahs Fußsohlen brannten noch immer, und nach einem Griff an ihrem Hinterkopf konnte sie sich auch ihren dumpf pochenden Brummschädel erklären. Langsam wurde ihr mulmig zumute, denn die Tatsache, dass vor ihrem Bett auch ein Paar neue Filzpantoffeln standen und dies neben den Decken, den versorgten Wunden und der heißen Hühnerbrühe ein weiteres Zeichen von beinahe liebevoller Umsorgung darstellte, ließen in Sarah ein erstes Unbehagen an ihrem Tonfall gegenüber dem Fremden aufkommen. Nachdem sie sich eine zurechtgelegte Jeanshose und ein gefüttertes Holzfällerhemd angezogen hatte, schlich sie aus ihrem Zimmer und entdeckte ihren Versorger, wie er an der behelfsmäßig angelegten Küchenzeile stand und eine alte Kaffeemaschine in Betrieb nahm. „Guten Morgen“, rief sie gähnend. Ihr Gruß wurde höflich und freundlich erwidert. „Guten Morgen, Miss Kossin! Heute sehen Sie schon viel besser aus!“ Sarah schmunzelte. „Danke! Aber wäre es nicht besser, wenn Sie mir endlich verraten würden, wie Sie heißen? Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen, und dabei haben Sie mir wahrscheinlich das Leben gerettet!“ „Jonas“, entgegnete der Mann und reichte ihr seine Hand. „Jonas Glenn!“ „Sehr erfreut!“ Sarah setzte sich an den einzigen Tisch in der gesamten Holzhütte. „Jonas Glenn“, sprach sie nachdenklich. „Dieser Name hört sich nicht gerade nach Deutschland an, Mister. Woher kommen Sie eigentlich?“ „Aus den Staaten. Ich habe ein kleines Haus in der Nähe von New York gemietet.“ Sarah stieß einen leisen Pfiff aus. „Der allseits bekannte Big Apple. Was hat Sie nach Deutschland verschlagen? Wie sind Sie an meinen Vater geraten? Und überhaupt, wie kommt es, dass Sie unsere Sprache so perfekt sprechen? Ich höre keinen Dialekt heraus!“ „Das sind aber ganz schön viele Fragen auf einmal“, rief Jonas grinsend und fuhr fort: „Zunächst einmal können Sie mich ruhig einfach nur Jonas nennen. Bis sich die allgemeine Lage verbessert hat und das Hochwasser im Tal abgeklungen ist, werden wir noch ein paar Tage hier draußen festsitzen. Wir werden uns eine Menge zu erklären haben, und dabei sollten wir die Förmlichkeiten besser ausklammern.“ „Okay, wird gemacht“, versicherte Sarah. „Aber nur, wenn Sie aufhören, mich Miss Kossin zu nennen. Das klingt irgendwie nach total verstaubter Etikette, und die liegt mir überhaupt nicht!“ „Auf du?“, fragte Jonas. „Auf du!“ Er vertiefte sich wieder in seiner Tätigkeit. „Ich habe immer noch Hunger“, rief sie schließlich, als sie den köstlichen Duft des durchlaufenden Kaffees vernahm und vergeblich auf eine Antwort bezüglich ihrer Fragen gewartet hatte. Jonas drehte sich zu ihr herum und sah sie lächelnd an. Dabei blitzte es in seinen Augen vergnügt auf. „Das glaube ich Ihnen ... dir gern. Ich denke, heute verträgst du ein wenig mehr, als nur eine Hühnerbrühe. Wie wäre es, wenn ich uns ein richtig zünftiges Frühstück zubereite, mit allem, was unser Proviant zu bieten hat?“ „Klingt großartig“, ließ Sarah vernehmen. „Dann überrasche mich mal!“ Was folgte, war wirklich eine Überraschung, aber sie zählte zweifellos zu der Besten, die der jungen Frau seit einer Woche begegnet war. Jonas hatte ihr wieder den Rücken zugewandt und werkelte auf der kleinen, hölzernen Arbeitsplatte herum. Schließlich kramte er in seiner Hosentasche, betätigte ein Feuerzeug und wischte sich seine Hände an einem rot-weiß karierten Küchentuch sauber, welches neben ihm auf dem Arbeitsplatz lag. Dann setzte er sich in Bewegung und begab sich zu Sarah hinüber. In seinen Händen hielt er einen Glasteller, auf dem sich ein kleines, mit weißer Schokolade überzogenes Törtchen befand. In dessen Mitte steckte eine rote, brennende Kerze. Sarah wusste im ersten Moment nicht, was dieser Auftritt zu bedeuten hatte. Jonas sah in das verdutzte Gesicht seiner Begleiterin. „Sag’ bloß, du hast deinen eigenen Geburtstag vergessen?“, rief er und bemerkte, wie gerührt Sarah angesichts dieser kleinen Geste war. Sie stand auf und umarmte ihn. „Alles Gute zum Geburtstag!“ „Aber ... aber ...?!“ „Doch, Sarah, auch dein Geburtsdatum ist mir bekannt. Du bist heute 22 Jahre jung geworden, richtig?“ Jonas sprach gleich darauf weiter, ohne ihr die Gelegenheit zu geben, auf seine Frage zu antworten: „Nun, eigentlich sollte man seinen Geburtstag nicht unter solchen Umständen und an so einem Ort feiern, aber eine große Party konnte ich auf die Schnelle nicht mehr organisieren. Tut mir wirklich leid.“ „Ach was! Dass überhaupt jemand an meinen Geburtstag gedacht hat, ist mehr, als ich erwarten kann! Ich habe ihn ja selbst total vergessen!“ Sarah schaute mit leuchtenden Augen auf das kleine Törtchen mit der Kerze. „Nun puste sie schon aus! Du darfst dir etwas wünschen!“ Sie überlegte kurz mit geschlossenen Augen und blies das schmale Kerzenlicht aus. „Ist es etwas Schönes?“, fragte Jonas und begab sich in die provisorische Küche zurück. „Wird nicht verraten“, entgegnete Sarah belustigt, wurde jedoch zunehmend stiller und nachdenklicher. Sie starrte auf das leckere Törtchen, ohne es wahrzunehmen. Jonas bemerkte die geistesabwesende Stimmung seines Schützlings und fragte schließlich, während er ein paar Eier über einer Pfanne aufschlug: „An was kannst du dich eigentlich noch erinnern?“ „Hm? Was?“ „Wie viel weißt du noch über den Lawinenabgang?“ Sarah zuckte mit den Schultern und antwortete: „So ziemlich alles. Ich kann mich daran erinnern, wie du mich am Ärmel gezogen und aus Maries Zimmer gerissen hast. Der Krach wurde immer lauter, und ich hörte, wie die Mauern und die Dachbalken zerbarsten. Ganz zum Schluss habe ich gesehen, wie du zur Haustür hinausgesprungen bist. Von da an habe ich einen kompletten Filmriss.“ Sarah schluckte und fuhr fort: „Mariechen! Ich hätte sie retten können.“ Jonas nahm die Pfanne von der elektrischen Doppelkochplatte, drehte den Strom ab und begab sich zu Sarah an den Tisch. Er setzte sich ihr gegenüber und ergriff ihre ineinander gefalteten, auf der Tischplatte ruhenden Hände. „Jetzt hör’ mir mal zu“, begann er. „Ich habe gehört, was Marie zu dir gesagt hat. Sie hat mit ihrem Leben abgeschlossen und ihren Frieden gefunden, schon lange, bevor das Unwetter aufgezogen war. Du darfst dich nicht mit Selbstvorwürfen quälen, verstehst du? Niemand hätte es rechtzeitig schaffen können, Marie aus dem Haus zu schaffen. Weder du, noch ich, noch sonst jemand. Marie wollte das Haus ganz und gar nicht verlassen, und weißt du auch, warum?“ Sarah sah auf und schüttelte mit dem Kopf. „Ihr lag nicht mehr ihr eigenes, ereignisreiches Leben am Herzen, sondern nur noch deines. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir, und du solltest langsam mal anfangen, es zu genießen.“ „Genießen?“, fragte Sarah kläglich. „Wie soll ich denn noch etwas genießen können, wenn ich alles verloren habe, was mir wichtig war? Mein Arbeitsplatz existiert nicht mehr, meine Wohnung, meine Zukunft, Mariechen ... Ich habe all meine Papiere verloren, sogar meinen Personalausweis und die Geburtsurkunde. Mein ganzes Leben ist binnen weniger Stunden sprichwörtlich den Bach hinuntergegangen, und ich weiß nun nicht mehr, wie es weitergehen soll!“ Sie sah in Jonas’ graublaue Augen. „Du bist am Leben und bis auf einige Kratzer wohlauf“, antwortete er und erhob sich. „Es haut dich im Augenblick vielleicht nicht gerade allzu sehr vom Hocker, aber ich denke, es ist immerhin ein Anfang.“ Sarah beobachtete ihren Retter, wie er die Rühreier auf zwei weiße Porzellanteller verteilte, etwas Toastbrot und ein paar Ecken Butter auflegte und zum Schluss angebratene Schinkenstreifen über das Essen streute. Aus einem Schubfach entnahm er jeweils zwei Messer und zwei Gabeln, schnappte sich die Teller und servierte das traumhaft duftende Frühstück. Sarah wollte aufstehen und Jonas zumindest insofern helfen, das Kaffeegeschirr aufzutragen, doch er gebot ihr nachdrücklich, am Tisch sitzen zu bleiben. „Du trinkst ihn schwarz, richtig?“, wollte er wissen. Sie nickte und sprach: „Ohne Milch und ohne Zucker.“ „Perfekt. Ich ebenfalls.“ Er setzte sich und begann, eine der getoasteten Brotscheiben mit etwas Butter zu bestreichen. „Wie geht es jetzt weiter?“ Jonas sah auf. Er schien Sarahs Frage nicht verstanden zu haben, und so entgegnete er nur: „Also, ich weiß nicht, wonach es sonst noch aussehen soll, aber zurzeit bin ich stark der Meinung, dass wir gerade frühstücken ...!“ Sarah trank einen Schluck Kaffee und setzte ihre Tasse lautstark auf dem Tisch ab. „Du weißt genau, was ich meine“, rief sie verärgert. „Was wirst du jetzt tun? Wirst du mich bei meinem Alten abliefern, deine Kohle einkassieren und nach Hause fliegen? So hat er es dir doch aufgetragen, richtig? Sollte ich bis zum Hals im Schlamassel stecken, dann ziehst du mich raus, lieferst mich bei diesem egoistischen Idioten ab und verschwindest, ohne Fragen zu stellen!“ Jonas überlegte sich genau, was er auf Sarahs Vermutung erwidern sollte. Im Grunde genommen lag sie nicht völlig daneben, um nicht zu sagen, genau richtig. Dennoch verpackte er seine Antwort in umschweifende Sätze: „Ich glaube, wenn ich so mit dir verfahren würde, wäre ich komplett aus dem Schneider. Du hast Recht, wenn du behauptest, dein Vater bezahlt mich dafür, dass ich dich wohlbehalten zu ihm nach Frankfurt bringe. Du liegst auch richtig, wenn du vielleicht an einen ominösen Briefumschlag denken solltest, den er mir in einem sterilen Büro überreichen könnte. Und zu verschwinden, ohne meinen Auftrag zu hinterfragen, gehört für mich zur absoluten Selbstverständlichkeit. Du bist nicht die erste Person, die ich ohne ihr eigenes Wissen beschattet habe. Du wirst auch nicht die Letzte sein.“ „Aber?“, fragte Sarah, nachdem sie ihren Bissen mit einem weiteren Schluck Kaffee heruntergespült hatte. „Aber du bist die erste Person, bei der ich begonnen habe, an meinem Auftrag zu zweifeln“, entgegnete er. „Weshalb?“ Jonas atmete deutlich vernehmbar ein. „Ich glaube, dazu sollte ich dir einiges erklären. Ich habe als Personenschützer gearbeitet, als Leibwächter eben, als Privatdetektiv und zeitweise auch als Kriminalermittler. Als Personenschützer hält man den verschiedensten Leuten die unglaublichsten, verrücktesten Individuen vom Hals, begleitet sie während der glamourösesten Galas und den wichtigsten öffentlichen Auftritten. Man haftet wie ein zweiter Schatten an seinem Schützling, ohne dass man allzu offensichtlich in den Vordergrund tritt. Einer meiner Ausbilder hat mir damals gesagt: Den besten Job hast du erledigt, wenn dich nicht eine einzige Kameralinse eingefangen hat. Dieser Satz hat mich von Anfang an geprägt. Damals steckte ich inmitten meines achtwöchigen Einführungslehrgangs im Federal Law Enforcement Training Center in Glynco, Georgia.“ Sarah verstand nur Bahnhof. Deshalb hakte sie vorsichtshalber noch einmal nach: „Wo hast du gesteckt?“ Nach einer kurzen Pause, in der Jonas überlegte, ob es wirklich sinnvoll ist, darüber zu sprechen, entgegnete er langsam und deutlich: „In einem Ausbildungszentrum des United States-Secret Service. “ Sarah verschluckte sich an ihrer Toastscheibe. Während sie laut hustete und ihr Gesicht schon rot anzulaufen begann, erwiderte sie: „Ja, natürlich. Und ich stand Pate für das Märchen von Frau Holle, nur, dass es in diesem Winter leider kein Märchen gewesen ist und sich diese blöde Kuh auch noch Verstärkung geholt haben muss!“ Jonas sah auf und fragte allen Ernstes: „Wer ist Frau Holle?“ „Wie? Du kennst sie nicht? Hat dir nie jemand etwas vorgelesen, als du noch klein gewesen bist? Du arme Socke ...!“ Jonas schüttelte anfangs noch mit dem Kopf, überhörte Sarahs bedauernden Tonfall und entgegnete stattdessen: „Darum geht es hier auch gar nicht! Was glaubst du denn, wie lange du schon unter meiner Beobachtung stehst? Erst seit Montag dieser Woche? Großer Gott, nein, Sarah! Seit ganzen dreieinhalb Jahren bin ich in jedem Jahr mindestens alle zwei Monate nach Hohenhausen gekommen und habe deinem alten Herrn berichtet, wie es dir geht, was du machst, wer deine Freunde sind und ob du zurechtkommst! Über fast jede einzelne deiner Erkrankungen weiß Herbert Lansink Bescheid, über beide Männer, die dich belogen und betrogen haben, ja selbst über deinen letzten Kontostand verfügt dein von dir so verabscheuter Erzeuger genaue Kenntnisse! Du hast mich nie entdeckt, hast noch nicht einmal geahnt, dass du aufgeflogen bist. Was glaubst du wohl, in welcher Einrichtung man die beste Grundlagenausbildung auf Erden bekommt, um so geschickt zu handeln?“ Jonas beantwortete sich seine Frage gleich selbst: „Sie befindet sich in Georgia, wo man nicht nur beigebracht bekommt, den mächtigsten Staatschef der Welt zu beschützen, sondern auch, sich mit und ohne Waffen zu verteidigen, jemandem medizinische Hilfe zu leisten, oder in einer Krisensituation den berühmten kühlen Kopf zu bewahren! Klingelt da etwas bei dir?“ Diesmal deutete Sarah ein Kopfschütteln an. Sie konnte nicht fassen, was sie eben gehört hatte. Nicht nur, dass ihr Lebensretter ein ausgebildeter Bundesagent der Vereinigten Staaten war, verursachte in ihr ein elendes, flaues Gefühl. Die schlichte Tatsache, dass seit dreieinhalb Jahren ihr Leben kontrolliert wurde und sie nicht den leisesten Verdacht gehegt hatte, ließ sie vor Wut und Abscheu beben. „Die Wahrheit tut weh, nicht wahr?“, fragte Jonas in einem viel ruhigeren Tonfall, als er sah, wie sehr er Sarah verängstigt hatte. „Ich wünschte, ich hätte es dir nie sagen müssen! Ich wünschte, du hättest noch dein altes, einfaches Leben, in dem du zwar nicht immer glücklich gewesen bist, aber für das, was du hattest, aufrichtig und hingebungsvoll gearbeitet hast! Dieses verdammte Unwetter hat all meine Absichten, dich dieses Dasein fortführen zu lassen, zunichtegemacht. Aber ich kann dich nicht einfach so deinem Alten übergeben! Willst du auch wissen, wieso nicht?“ Sarah sagte nichts. Sie schluckte nur an Tränen der maßlosen Enttäuschung und des Zorns. „Du bist es nicht wert, diesem Kotzbrocken ausgeliefert zu werden! Deine Entscheidung, dich von ihm loszusagen, war ein sehr guter Entschluss gewesen, weil du einfach nicht so ein niederträchtiger Lump bist, wie er oder viele von den Leuten, die ich in meinen fast dreißig Berufsjahren observiert oder beschützt habe! Du verdienst etwas ganz anderes, etwas, was deiner Hilfsbereitschaft und deinem selbstlosen Wesen gerecht wird! Wann bist du eigentlich zum letzten Mal im Urlaub gewesen, hm? Kannst du dich noch daran erinnern, wie es ist, barfuß an einem Strand entlang zu gehen und die Wellen eines Meeres an den Füßen zu spüren? Bist du jemals zum Tanzen ausgegangen, hast ein Konzert besucht oder einfach nur mal Spaß gehabt? Es spielte keine Rolle, wann und wie oft ich nach Hohenhausen gekommen bin. Ich habe immer nur gesehen, wie du dich bemüht hast, deiner Umwelt gerecht zu werden, aber niemals dir selbst. Du allein kannst die Welt nicht retten, auch wenn du sie für deine Zeitgenossen um einiges erträglicher gemacht hast. Höre endlich auf, dir an allem die Schuld zu geben!“ Sarah ließ den Tränen freien Lauf. Jonas hatte von Dingen gesprochen, von denen sie zwar keine Ahnung hatte, von denen sie aber wusste, dass sie der bedingungslosen Wahrheit entsprachen. Was sie so erschütterte, war die schlichte Tatsache, dass sie für ausnahmslos jeden ihrer Mitmenschen und wenigen Freunde, die sie hatte, Kopf und Kragen riskieren würde, nur, damit es ihnen gut ging. Ihr hatte es nur noch nie jemand so deutlich vor Augen geführt. Vieles war für Sarah zur Selbstverständlichkeit geworden. Dazu zählte Mariechens Pflege, die massenhaften, unbezahlten Überstunden in der Backstube, der ganze, gottverfluchte Hochwassereinsatz und jener Aspekt, dass sie sich selbst mehrmals mit über vierzig Grad Fieber auf Arbeit geschleppt hatte, nur, um ihren Pflichten als Berufstätige nachzukommen. An sich selbst, an ihren Körper und ihr seelisches Wohl, dachte Sarah immer nur zuletzt. Wenn überhaupt. „Marie hatte Recht“, fuhr Jonas fort. „Sie hat davon gesprochen, dass du ein Engel seist. Sie konnte es nicht treffender beschreiben. Die Menschheit braucht jedoch viel mehr von deiner Sorte. Nun, ich bin zwar nicht Gott, aber ich verspreche dir, dich zu beschützen, solange du dich unter meiner Obhut befindest. Hast du dich denn nie gefragt, was aus diesen Mistkerlen geworden ist, die dir das Herz gebrochen haben?“ Mit tränenerstickter Stimme fauchte Sarah: „Das muss ich auch nicht, weil es mich nicht die Bohne interessiert!“ „Du hast sie nie wieder im Dorf gesehen, und sie werden auch nicht wiederkommen“, sprach Jonas weiter. „Ich habe ihnen nicht ein Haar gekrümmt, aber sie werden wohl ihre Lehren gezogen haben. Mehr sage ich dazu nicht.“ Sarah stand wortlos auf. Sie bewegte sich langsam, so, als würde sie unter der Last der vielen Informationen, die Jonas ihr vermittelt hatte, beinahe zusammenbrechen. Während sie in ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich zuzog, starrte Jonas bekümmert vor sich hin. Er hatte nie gewollt, Sarah die ganze, bittere Realität vor Augen führen zu müssen. Dabei war es längst noch nicht alles gewesen, womit er sie nun wohl oder übel konfrontieren musste. Den Hauptteil seiner Informationen hielt Jonas wohlweislich noch hinter dem Berg, denn das, was noch auf Sarah zukommen würde, konnte sich selbst ein Drehbuchschreiber nur schwer ausdenken. So gewährte ihr jene Ruhe, die sie nun brauchte, um über alles nachzudenken.
Über zwei Stunden später erst traute sich Sarah wieder aus ihrem Zimmer heraus. Sie betrat den verlassenen Hauptraum der Waldhütte und setzte sich in einem Wasserkocher Teewasser auf. Sie erinnerte sich, dass vorhin neben der Kaffeemaschine eine Packung Pfefferminztee gelegen hatte. Aus reiner Wissbegier heraus begann sie, in den beiden Schränken und dem kleinen Kühlschrank neben der bescheidenen Kochnische nachzuschauen. Sarah fand alles, was das Herz begehrte: unzählige Konservendosen mit eingewecktem Obst, Gemüse und Fleisch, Suppen, haltbare Milch, Säfte, Mineralwasser, Kartoffeln, Reis, luftgetrocknete Salami, Kartoffeln, Kaffee und sogar zwei Tafeln Schokolade. Es war ihre Lieblingssorte gewesen. Sarah fragte sich zwangsläufig, was und wie viel Jonas noch über sie herausgefunden haben mochte und erschauderte bei dem Gedanken, dass es wahrscheinlich mehr sein könnte, als sie je von sich selbst zu wissen glaubte. Sie schaute in den Kühlschrank und verschloss ihnen nach einem kurzen Blick auf den reichlichen Inhalt gleich wieder. Der Proviant genügte ihrer Meinung nach für mehr als zwei Wochen. Jonas musste vor der Katastrophe einen halben Supermarkt leer gekauft haben. Der Wasserkocher schaltete sich ab. Die junge Frau fand einen weißen, einfachen Porzellanbecher und brühte sich einen Teebeutel auf. Danach begab sie sich zu der alten, abgewetzten Couch, auf der Jonas jede Nacht schlief. Beinahe betroffen stellte sie fest, dass auf dem Sofa nur eine einzige, zusammengefaltete Decke lag, die auf Sarah keinen besonders gemütlichen Eindruck ausübte. Während sich ihr Schutzengel die ganzen Nächte sogar auch ohne Kopfkissen um die Ohren schlug, logierte sie geradezu in einem Himmelbett. Wieder beschlich sie dieses seltsame, beklommene Gefühl, welches schon nach ihrem Aufwachen am Morgen in ihr hochgestiegen war. Jonas kümmerte sich wirklich beeindruckend um sie. Sarah begann sich zu fragen, womit sie diese Fürsorge eigentlich verdient hatte. Immerhin kannte sie ihn bis vor wenigen Tagen noch nicht einmal, war ihm kürzlich erst ziemlich abweisend gegenübergetreten und wurde trotz ihrer abwertenden Haltung so rührend von ihm gepflegt. Sarah verdankte Jonas ihr Leben. Dass er für ihr Wohlbefinden von ihrem Vater bezahlt wurde, konnte nicht der einzige Grund für sein Entgegenkommen sein. Wenn er es wirklich nur auf das Geld abgesehen haben würde, befände sich Sarah schon längst nicht mehr hier. Womöglich wäre sie in einer Privatklinik gelandet, wo sie auf Papas Kosten gesund gepflegt würde. Sie würde Jonas nie mehr wiedersehen, denn seine Tarnung war aufgeflogen und er selbst für eine weitergehende Observierung nutzlos geworden. Zudem legte er ihr vor zwei Stunden erst klar, dass er sie nicht so einfach bei dem alten Lansink abliefern konnte, wie ein schnödes Postpaket. Sarah begriff nicht, was Jonas ihr damit sagen wollte. Immerhin beging er mit dieser Einstellung sozusagen einen klassischen Vertragsbruch. Für Sarah warfen sich immer mehr Fragen auf. Sie stellte ihre Teetasse auf dem abgetreten Holzfußboden ab, denn neben der Couch befand sich keine einzige Ablage. Während sie sich ausstreckte und ihren Kopf auf der zusammengelegten Decke ruhen ließ, drehten sich ihre Gedanken. Ihr Blick fiel auf Jonas’ wenige, persönliche Sachen. Sie bestanden nur aus einem mit schwarzem Nylonstoff gefertigten Reisekoffer, einem grünen und einem blauen Rucksack. Sarah überlegte für einen kurzen Moment, ehe sie sich wieder erhob. Jonas wusste so viele Dinge aus ihrem Leben, aber sie so gut wie gar nichts über ihn. Okay, eine Entschuldigung war dies nicht, doch Sarah begann, den Reißverschluss des schwarzen Koffers aufzuziehen. Neben diversen Kleidungsstücken, Hygieneartikeln und einem vier Jahre alten Autoatlas – sowas gibt’s noch? – befanden sich nur ein abgegriffener Schmöker und eine lederne Brieftasche darin. Sarah schaute hinein und entdeckte nur Bargeld. Alles in allem hielt sie knapp 2500 Euro in den Händen. Dafür hätte sie mehr als drei Monate lang arbeiten gehen müssen. Dieser Betrag stellte für sie eine geradezu irreale Summe dar. Hastig steckte Sarah das Geld in die Brieftasche zurück, legte sie genau so zurecht, wie sie sie gefunden hatte und wollte den Koffer verschließen, als ihr aus dem am Deckel befestigten Innennetz ein Foto auffiel. Sie nahm es heraus und betrachtete die Menschen, die darauf abgebildet waren. Es zeigte Jonas mit einem Jungen und einem Mädchen, sowie einer bezaubernden, strahlend lächelnden Frau. Seine Familie. Die beiden Kinder sahen sich sehr ähnlich und mussten ungefähr gleich alt sein. Auf diesem Bild waren sie um die zwanzig Jahre alt, also etwa in Sarahs Alter. Jonas’ Frau war etwas jünger, als er selbst. Insgeheim gratulierte Sarah ihrem Retter zu seiner Wahl, denn diese Familie stellte für sie den Inbegriff von Glück und Zufriedenheit dar. Jonas’ Kinder schienen genau das zu haben, was Sarah seit Jahren schmerzlich vermisste. Sie löste sich von dem Familienporträt und steckte es behutsam an seinen Platz zurück, bevor sie den Koffer endgültig verschloss und ihre Inspektion fortsetzte. In dem grünen Rucksack fand Sarah nichts weiter, als ein ganzes Sammelsurium an Medikamenten, Verbandszeug und steril verpackten Spritzen. ,Und dieser Kerl will nur ein Bodyguard sein?’, fragte sich Sarah, als sie auch diese Tasche wieder verschloss. Zum Schluss nahm sie sich den blauen Rucksack vor. Er schien schwerer zu sein, als der Beutel mit dem medizinischen Krimskrams. Die junge Frau öffnete die Tasche und förderte zunächst ein Paar Kniestrümpfe zutage. Es waren dieselben, die sie an ihren Füßen trug. Selbst die angegebene Größe stimmte. Damit konnten sie keineswegs Jonas gehören, denn für ihn waren die Strümpfe viel zu klein. Sarah kramte weiter und holte unzählige, nutzlose Dinge hervor, zum Beispiel Kaugummi, ein Handyladegerät, einen leeren Notizblock und zwei Schachteln Zigaretten. Dabei hatte sie Jonas noch nie rauchen gesehen. Sie wusste nicht, wonach sie eigentlich gesucht hatte, doch als sie es fand, war sie wie vom Donner gerührt und auch total verunsichert. In ihren Händen hielt sie zum ersten Mal überhaupt eine geladene, in einem braunen Lederpolster steckende Schusswaffe. Sarah hockte immer noch wie versteinert vor dem geöffneten Rucksack und starrte auf die Pistole, als die Eingangstür geöffnet wurde und Jonas hereintrat. „Ich hoffe inständig, du hast dafür eine einleuchtende Erklärung“, rief er und nahm ihr die Waffe aus der Hand. Sarah hielt sie nicht fest, umklammerte sie nicht einmal, sondern hatte sie einfach nur auf ihren Händen liegen gehabt. Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen und beobachtet Jonas, wie er ihr die Pistole aus den Händen nahm, sie in den blauen Rucksack zurücklegte und den Reißverschluss zuzog. Sie stand auf und ergriff den Arm ihres Gegenübers, sah ihm in die Augen und bat: „Sag’ du es mir. Wer bist du wirklich, Jonas Glenn? Wie kommst du dazu, für meinen Vater zu arbeiten? Warum schickt er jemanden, der auf mich aufpassen soll? Der mir das Leben rettet und sich mehr um mich kümmert, als es mein eigener Erzeuger seit dem Tod meiner Mutter vor dreizehn Jahren je getan hat? Und wozu brauchst du eine Waffe? Um alles und jeden niederzuschießen, der mir zu nahe treten könnte? Warum? Du jagst mir langsam Angst ein!“ Jonas wandte sich ab und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. „Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten“, antwortete er leise. „Dazu besteht kein Grund. Aber ich glaube, wir sollten ein wenig spazieren gehen. Nicht weit von hier gibt es eine Sitzgruppe für Wanderer, damit du dich ausruhen kannst ...“ Sarah wurde sauer. „Siehst du, genau deswegen könnte ich ausrasten“, rief sie aufgebracht dazwischen. „Damit ich mich ausruhen kann! Verdammt, Jonas! Ich habe in der vergangenen Woche siebenundvierzig Stunden am Stück gerammelt, wie die letzte Hafenhure, während du in deinem scheiß Ami-Schlitten gesessen und jeden meiner Handgriffe penibel genau beobachtet hast! Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du währenddessen auch nur einmal auf mich zugekommen bist und mich gefragt haben könntest, wie es mir dabei ergangen ist!“ „Dein Vater hat es mir verboten.“ „Oh, mein Vater, na klar! Willst du mich verarschen? Er konnte dich doch bis zum Mittwochmittag überhaupt nicht erreichen, weil sämtliche Verbindungen zur Außenwelt unterbrochen waren!“ Jonas deutete ein schiefes Grinsen an und entgegnete beinahe mürrisch: „Glaubst du denn ernsthaft, in den Hubschraubern über eurem Dorf saßen wirklich nur Kamerateams und Journalisten?“ Er ergriff Sarahs Arm und bedeutete ihr, ihm zu dem kleinen Tisch zu folgen, an dem sie vor zwei Stunden gesessen und gefrühstückt hatten. Nun lag nur eine kleine Pappschachtel auf ihm, aus der Jonas einen Pflasterstreifen und einen Wattebausch entnahm. „Setz’ dich“, sprach er. „Ich möchte die Injektionsnadel entfernen, bevor wir gehen.“ Sarah ließ sich nieder und krempelte den linken Ärmel ihres karierten Hemdes hoch. „Was hast du mir überhaupt gespritzt?“, wollte sie wissen und bemühte sich, ihre stetig wachsende Wut zu unterdrücken. „Alles, was dein Körper gebraucht hat, um sich zu regenerieren. Dazu zählen neben Kochsalzlösungen auch Vitamine, Nährstoffe, Schmerzmittel und ein leichtes Betäubungsmittel.“ Sarah stutzte. „Ein Schlafmittel? Wozu?“ Jonas entfernte die dünne Mullbinde, presste die Watte auf die Einstichstelle und zog die Kanüle aus Sarahs Armwinkel. Sie drückte auf den Wattepfropfen, während Jonas das Pflaster anlegte. „Um deinem Körper die Gelegenheit zu geben, sich zu erholen und um deine Platzwunde am Hinterkopf zu nähen.“ Sarah griff sich an den Hinterkopf und strich sich über die abgedeckte Wunde. „Woher hast du eigentlich all die medizinischen Kenntnisse?“, fragte sie und krempelte sich den Hemdsärmel wieder herunter. „Du könntest glattweg als Arzt durchgehen.“ „Ich belegte einen Extrakurs beim Secret Service, als ich noch in der Ausbildung gewesen bin. Seitdem besuche ich in jedem Jahr eine Auffrischung. Ich habe mir gedacht, dass sowas nie schaden kann.“ Die beiden standen auf. Jonas warf die Abfälle in einen Mülleimer, nahm eine nagelneue Winterjacke von einem Kleiderhaken, der sich neben der Eingangstür befand, und warf sie Sarah entgegen. Sie fing sie geschickt auf, zog sich die ebenfalls neuen Winterschuhe an und kämpfte immer aussichtsloser gegen ihren unaufhörlich wachsenden Zorn an. Jonas’ ruhiges, gelassenes Wesen brachte Sarah nur noch mehr in Fahrt. Sie verstand einfach nicht, warum er ihr nicht endlich all das erklärte, was er ihr bisher verschwiegen hatte. So rauschte sie wortlos an ihm vorbei und trat in die milde, feuchte Waldluft hinaus.
Nachdem sie sich einige Schritte von der schneefreien Auffahrt zum Blockhaus entfernt hatten und schweigend nebeneinander her getrottet waren, blieb Sarah plötzlich stehen und sah Jonas an. „Ist was?“, fragte er verwundert. „Du hast doch hoffentlich ein paar Zigaretten mitgenommen, oder? Ich brauche nämlich eine, bevor ich noch Zustände kriege!“ Jonas vermied es mit größter Not, seine Begleiterin darauf hinzuweisen, dass sie kurz vor einer Halsoperation damit aufgehört hatte, sich Stück für Stück ins Grab zu qualmen. Soweit es ihm bekannt war, hatte sie auch bis zum heutigen Tag durchgehalten. Zähneknirschend öffnete er den Reißverschluss seiner Jacke und fischte eine zerdrückte Schachtel aus der Brusttasche hervor. Das Feuerzeug, mit dem er an diesem Morgen die Geburtstagskerze angezündet hatte, trug er immer noch in seiner Hosentasche, und so reichte er ihr beide Sachen. Sie zündete sich eine der Zigaretten an, nahm einen tiefen Zug und seufzte, während sie eine dicke Rauchwolke ausblies: „Ooooh yes! Wunderbar! Und nun, mein geheimnisvoller Retter, würde ich es sehr befürworten, wenn du endlich anfängst, mir reinen Wein einzuschenken! Du hast mir längst noch nicht alles gesagt, und ich habe das komische Gefühl, dass du mir all die Knackpunkte, die uns beide in diese Blockhütte getrieben haben, immer noch verschweigst!“ Sie deutete, während sie sprach, mit einer kurzen Handbewegung hinter sich, bevor sie fortfuhr: „Und ich hasse es, wenn man mich anlügt, oder nur mit der halben Wahrheit abspeisen will!“ Jonas räusperte sich geräuschvoll. Er griff an seine hintere Hosentasche und zog eine kleine, schwarze Brieftasche heraus, aus welcher er wiederum seinen amerikanischen Führerschein entnahm. „Damit du mir auch wirklich glaubst“, rief er und hielt Sarah das Dokument entgegen. Sie konnte darauf sämtliche Daten lesen, die eine Fahrerlaubnis eben beinhaltete. Er hatte nicht gelogen. Sein Name stimmte und sein Wohnort wurde mit St. James, Long Island, Bundesstaat New York, angegeben. Sie gab ihm den Ausweis zurück. Während er ihn wieder einsteckte, fuhr er fort: „Ich habe deinen Vater vor vier Jahren in Boston kennengelernt. Die Wachschutzfirma, für die ich damals gearbeitet habe, wurde damit beauftragt, ein paar hohe Tiere aus der Wirtschaftsbranche vor allzu neugierigen Fragen der Reporter abzuschirmen. Es fand ein zweitägiger Kongress statt, in dem es eigentlich nur darum ging, herauszufinden, wer mit seiner Firma den größten Einfluss auf den Welthandel hat und somit auch der mächtigste, reichste und blasierteste von allen Anwesenden ist. Es hat mich nicht im Entferntesten interessiert und mich durch und durch gelangweilt. Selbst ein Schwanzvergleich ist aufregender. All diese Geldesel ödeten mich an, weil sie meist durch die Bank weg nicht die geringste Ahnung hatten, wer die Fundamente ihrer Unternehmen wirklich bildet und wie es überhaupt außerhalb ihrer Bürozimmer in der realen Welt zugeht. Nun, vor dem Hotel, in dem die Versammlung tagte, kam es zu Demonstrationen. Zumeist waren Gewerkschaften und deren Sympathisanten aufgelaufen. Sie machten nur ein bisschen Krawall und waren an und für sich friedlich. Aber was wäre das Leben, wenn es nicht wenigstens einen Geisteskranken gibt, der auf den Putz hauen muss? Er umging sämtliche Sicherheitsvorkehrungen und schaffte es, als Kellner verkleidet, in den Tagungssaal zu gelangen. Er heftete sich an das echte Personal und marschierte unbehelligt an meinen Kollegen vorbei. Nach seiner Verhaftung fand man heraus, dass er keine einzige Waffe bei sich trug, noch nicht einmal ein Taschenmesser. Aber er stürzte sich auf den nächstbesten Teilnehmer, der wie einer dieser Wirtschaftsbosse aussah, und das war dein Vater.“ Sarah sah auf. „Wurde er verletzt?“, fragte sie Jonas. „Nicht, dass es mich wirklich etwas angehen würde, aber ...“ „Nein“, antwortete er. „Ich stand in unmittelbarer Nähe zu ihm und konnte den Angreifer ohne große Anstrengung ausschalten. Deinem Vater war nichts passiert, doch er bat mich, nach dem Ende des Kongresstages zu ihm zu kommen. Ich nahm seine Aufforderung an und besuchte ihn in seinem Hotelzimmer. Er kam auch gleich zum Punkt und bot mir einen Job in seiner Firma an. Ich sollte das Team seiner persönlichen Leibwächter in seiner Firma leiten und dessen Leistungsfähigkeit optimieren. Die Lansink Transport & Containerdienst Gesellschaft kannte ich bis zu diesem Zeitpunkt bestenfalls nur aus den Wirtschaftsnachrichten. Ich zögerte, denn was sollte ich in Deutschland? Ich fühlte mich in meiner Heimat wohl, denn dort hatte ich alles, was ich brauchte. Lansink kam mir entgegen. Egal, was ich bei meiner alten Firma verdiente, er würde das Gehalt verdoppeln. Meinen Hauptwohnsitz durfte ich behalten, ich würde, wenn nötig, einen saftigen Feiertagszuschuss bekommen, und würde auch beinahe jedes Wochenende im Jahr bei meiner Familie sein.“ Sarah blieb stehen. „Ich wollte dich eigentlich nicht danach fragen“, begann sie. Sie hatte aufgeraucht und warf die Kippe in einen der letzten Schneereste des Winters. „Du ... du trägst keinen Ehering, aber ich habe ...!“ Jonas unterbrach sie. „Das ist auch nicht mehr nötig“, rief er streng. „Unsere Ehe bestand schon damals nur noch auf dem Papier. Anja zog es vor, sich einen dieser reichen Immobilienhaie zu schnappen und nach Miami zu verduften. Ich weiß nicht, was sie unseren Kindern erzählt hat, aber sie haben bisher nicht ein einziges Mal von sich aus bei mir angerufen, seit Anja kurz vor meinem Auftrag in Boston endgültig die Scheidung eingereicht hat. Wenn ich mich bei Jenny und Ken melde, verhalten sie sich bis heute kalt und abweisend. Manchmal streiten wir uns auch und ich lege auf, bevor die Situation eskaliert. Die Trennung war übrigens auch der ausschlaggebende Grund, warum ich bei deinem alten Herrn zugesagt habe. Das Geld, was er mir bot, konnte ich gut zum Schulden abbauen gebrauchen, denn Anja bekam fast den gesamten Verkaufserlös für unser Haus zugesprochen, beinahe die gesamte Einrichtung, das Auto und unseren Hund. Laut der Scheidungsrichterin war ich nämlich der alleinige Verursacher der Scheidung gewesen, weil ich meine Frau zu oft mit den Kindern allein gelassen habe. Die Unterhaltszahlungen, zu denen ich für Anja und die Kinder verdonnert wurde, haben sich gewaschen. Dabei wusste meine Frau von Anfang an, auf was sie sich einlässt, denn als wir geheiratet haben, war ich noch beim Secret Service. Du kannst dir hoffentlich vorstellen, dass ich mehr gearbeitet habe, als bei meiner Frau gewesen zu sein. Sie hatte für alles Verständnis, zog Jenny und Ken quasi im Alleingang auf und hielt mir bedingungslos den Rücken frei. Ich war ungeheuer stolz auf Anja, und dass ich sie sehr geliebt habe, muss ich dir wohl nicht erzählen. Ken und Jenny sind Zwillinge, und sobald sie aufs College gingen, begann Anja, sich zu verändern. Ich schob es auf eine Midlifecrisis, das würde sich schon geben. Aber es wurde immer schlimmer. Plötzlich musste ich mir Vorwürfe anhören. Ich sei ein Rabenvater, der noch nicht einmal wüsste, was sich seine Kinder wirklich zu Weihnachten oder zum Geburtstag wünschten. Daraufhin quittierte ich meinen Dienst beim Secret Service und heuerte bei einer großen Sicherheitsfirma in New York an, die auch den Auftrag in Boston bekam, denn dort lag auch deren Hauptsitz. Ich arbeitete also für die New Yorker Außenstelle und wurde nur für Dauer des Kongresses nach Bean Town abberufen. Es gibt noch eine in Columbus in Ohio und eine in Dallas, Texas. Wie dem auch sei, von da an war ich zwar beinahe an jedem Abend zu Hause, dafür aber meine Frau nicht mehr. Sie zog um die Häuser, lernte Miami Boy kennen, und der Rest ist Geschichte.“ Sarah und Jonas hatten inzwischen jene Sitzgruppe erreicht, von der er vorhin gesprochen hatte. Sie bestand aus vier Holzbänken und zwei langen, grob gehauenen Tischen und lag direkt am Wegesrand. Die beiden Menschen setzten sich so hin, dass sie ihrem Gesprächspartner unmittelbar gegenüber saßen. „Das tut mir leid“, rief Sarah und fuhr fort: „Anja ist ein deutscher Name, richtig?“ Jonas nickte zustimmend. „Ja. Ihre Eltern stammten aus West-Berlin und sind gegen Ende der 1970er in die USA ausgewandert. Anja war damals noch ein Kleinkind, aber sie ist zweisprachig erzogen worden. Sie begann schon nach unserem ersten Date, mir Deutsch beizubringen. Ich denke, es hat ganz gut funktioniert.“ Sarah lächelte. Sie beobachtete ein Eichhörnchen, welches nach seinem Winterschlaf auf Nahrungssuche war. „Ja, das hat es.“ Nach einer kurzen Pause fragte sie: „Du hast meinem Vater also zugesagt. Wie ging es dann weiter?“ „Nun, da mir auch meine Kinder die kalte Schulter zeigten und Lansink mir wirklich gute Konditionen bot, kündigte ich bei meiner alten Firma und stieg bei ihm ein. Er ist ein gerissener Hund und hat sich Informationen über mich besorgt. Mein Lebenslauf, den ich bei ihm vorlegen musste, hat ihm wohl nicht ausgereicht. Nach ungefähr einem halben Jahr als Leiter seiner Security kam er erneut auf mich zu und fragte mich, ob ich bereit für eine neue Herausforderung sei. Ein Mitarbeiter habe seinen Auftrag abgegeben, und so wurde eine Stelle im Außendienst frei. Ich fragte ihn, um was es ging. Als ich zögerte, köderte er mich wieder mit Geld. Ich nahm den Auftrag an und lernte dich so vor dreieinhalb Jahren kennen.“ Sarahs Gesichtszüge verfinsterten sich schlagartig, als sie die letzten Sätze vernahm. „Du willst mir aber nicht gerade beibringen, dass du nicht der Erste und Einzige bist, der mir hinterher spioniert hat, oder habe ich etwas nicht richtig verstanden?“ „Meinem Vorgänger wurde sein Job zu langweilig. Er ist einer der Typen, die ständig Action brauchen, um sich wohl zu fühlen. Zwar hat er für Lansink herausgefunden, dass du den Mädchennamen deiner Mutter angenommen hattest, nachdem du abgehauen bist, ebenso, wie er herausbekommen hat, wohin es dich verschlagen hatte. Doch alles Weitere wurde ihm einfach zu eintönig. Er ließ sich für andere Aufgaben einteilen.“ „Wie, in Gottes Namen, kommt man bloß an jede x-beliebige Adresse, die man haben will? Ich habe mir aus gutem Grund keinen Internetzugang angeschafft und niemals einen Handyvertrag abgeschlossen! Für wie blöd will mich mein Alter denn verkaufen?“ „Nun, Lansink kommt nicht gerade auf der Wurstbrühe daher geschwommen. Er hat nach deiner Flucht aus seinem goldenen Käfig bereits geahnt, dass du den Geburtsnamen deiner Mutter annehmen würdest, denn natürlich merkte er auch, wie sehr du ihn zu hassen begannst. Nun ließ er dich nicht unter dem Namen Lansink, sondern unter Kossin suchen. Um an eine Adresse heranzukommen, braucht man auch kein Internet. Es ist wirklich ziemlich einfach, an die Daten fremder Menschen zu gelangen. Wenn der Gesuchte darüber nicht Bescheid weiß, tappt er voll in eine Falle, ohne es zu ahnen.“ Jonas unterbrach sich. „Hey“, rief er und ergriff Sarahs Hände, so, wie er es an diesem Morgen schon einmal getan hatte. „Ich weiß, dass du alles Mögliche unternommen hast, um unerkannt zu bleiben.“ „Aber wenn es nicht gereicht hat, dass ich mich im hintersten Winkel Deutschlands und unter einem anderen Namen versteckt habe, dann erkläre mir doch bitte, was ich falsch gemacht habe“, rief Sarah niedergeschlagen und wütend zugleich. „Nichts“, antwortete Jonas. „Du hast gar nichts verkehrt gemacht. Du hast dich während deiner Anmeldung auf dem Einwohnermeldeamt deiner jetzigen Heimatgemeinde nur nicht ausreichend informiert.“ Sarah stutzte. „Wie meinst du das?“, fragte sie und kehrte in Gedanken an jenem Tag vor fast fünf Jahren zurück, als sie bei Rebecca und Florian Finck im Wohnzimmer gesessen und den Mietvertrag für ihre kleine, möblierte Wohnung im Obergeschoss unterschrieben hatte. Sarah hatte das Ehepaar gebeten, so schnell wie möglich bei ihnen einziehen zu dürfen und tischte ihnen ein geradezu unglaubliches Märchen auf, indem sie behauptete, ihre Eltern seien kurz zuvor nach Eritrea gegangen, um Entwicklungshilfe zu leisten. Die junge Frau war siebzehn gewesen, also noch nicht volljährig. So benötigte sie eigentlich bei jedem Vertragsabschluss die Unterschrift von mindestens einem Elternteil. Um sich lästige Fragen vom Hals zu schaffen, erklärte Sarah den verdutzten Vermietern, dass sie und ihre Eltern nicht im Guten auseinandergegangen seien und ihnen die Aufbauhilfe in Afrika wichtiger sei, als das Wohl ihrer Tochter. Zum Glück ließen es Becky und Florian dabei bewenden und erklärten sich bereit, Sarah bei sich aufzunehmen. Zum entscheidenden Punkt gehörte auch jener Umstand, dass sich Sarah sehr gut auf den Zeitraum nach ihrer Flucht vor ihrem Vater vorbereitet und sich schon im Vorfeld um einen Ausbildungsplatz bemüht hatte. Sie fand eine Lehrstelle in der Hohenhausener Bäckerei und konnte Florian und Becky folglich einen Einkommensnachweis vorlegen. Der wiederum gewährleistete den Fincks einen regelmäßigen Mieteingang. Mit dem gerade unterschriebenen Mietvertrag begab sich Sarah auf das Einwohnermeldeamt, füllte das gebräuchliche Anmeldeformular aus und ließ sich ihre neue Adresse auch auf dem Personalausweis eintragen. So weit sich Sarah erinnern konnte, lief alles reibungslos und ohne Probleme. „Dich hat niemand nach einer Auskunftssperre gefragt, richtig?“, fragte Jonas und holte somit seine Begleiterin in die Gegenwart zurück. „Was ist denn das nun schon wieder?“, lautete die unverzügliche Gegenfrage. „Eine Auskunftssperre, und das wissen die Wenigsten, kann man immer dann beantragen, wenn zum Beispiel eine Gefahr für Leben, Leib und Seele besteht. Mit Inkrafttreten dieses Formulars wird jeder, der nach deiner Adresse fragt, bei dir namentlich gemeldet. Dann entscheidest ganz allein du, ob die Mitarbeiter deine Daten weitergeben dürfen, oder nicht. Ohne dieses Formular genügt eine einfache Anfrage auf jedem willkürlich ausgewählten Bürgeramt, und gegen eine geringe Schutzgebühr bekommt man alles, was man wissen will. So einfach ist das.“ Sarah schluckte und erhob sich. Sie begann zu frieren, weshalb sie Luft in ihre hohlen Hände blies und sie aneinander rieb. Sie lief um die Tischgruppe herum und blieb vor Jonas stehen. Er hatte sich ebenfalls herumgedreht und lehnte nun mit dem Rücken an der Tischkante, während er seine langen Beine ausstreckte und übereinanderschlug. „So geisteskrank kann man doch gar nicht denken“, stieß sie hervor und rieb sich fortwährend ihre kalten Hände. „Seit wann weiß mein Alter, wohin es mich verschlagen hat?“, fragte sie und sah zu Jonas herab. „Seit ziemlich genau dem Tag, an dem deine neuen Daten im Zentralrechner eingetragen wurden“, antwortete er leise. Die junge Frau erschrak. „Das ist einfach nicht zu fassen“, entfuhr es ihr. „Er hat aber auch nichts anbrennen lassen! Und sowas nennt man Datenschutz? Soll ich mich jetzt etwa noch geehrt fühlen, weil sich dieser Halunke endlich mal um mich kümmert? Ich bin ja absolut begeistert! Soviel Zuwendung hätte ich ihm gar nicht zugetraut!“ Jonas erhob sich. Er vergrub seine Hände in den Hosentaschen, denn auch ihm fröstelte ein wenig. „Es bringt nichts, sich darüber aufzuregen, Sarah“, versuchte er, sie zu trösten. „Es wissen nicht viele, dass das Erfragen der Daten so simpel ist und die Herausgabe dieser Informationen nicht dem Datenschutzgesetz unterstehen, solange keine Auskunftssperre erwirkt wurde. Dabei sind die Polizei und die Behörden natürlich ausgeschlossen.“ „Das, Jonas, das hilft mir nun auch nicht mehr weiter! Aber warum, verdammt noch mal, will dein Boss auf einmal wissen, wie es mir geht? Es hat ihn doch sonst auch nicht interessiert! Noch nicht einmal zu Weihnachten! In den seltensten Fällen hat er sich auch für meinen Geburtstag Zeit genommen! Bis zu meinem Weggang war mein Kindermädchen der einzige Mensch gewesen, der mich als eine eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen, mich sogar wie sein eigenes Kind getröstet hat. Einmal habe ich sie dabei erwischt, wie sie meinen Alten in seinem Büro angerufen und ihn daran erinnert hat, dass sein lästiger Bastard zuhause vor einer Torte mit zehn Kerzen sitzt und sich nichts Sehnlicheres wünscht, als nicht auch noch ihren Vater zu verlieren!“ Sarah Empörung schien keine Grenzen zu kennen. Sie sah Jonas an, der nichts weiter unternahm, als vor ihr zu stehen und ihr zuzuhören. „Und du erzählst mir nun, genau dieser Mensch schickt mir einen Schutzengel, einen Aufpasser, von dem ich zwar erst seit einer Woche weiß, der mir aber seit dreieinhalb Jahren unsichtbar zur Seite steht?“ Sarahs Bestürzung war so außerordentlich, dass sie nicht merkte, wie sie an einem dicken Kloß in ihrem Hals schlucken musste, während sie sich ihren Frust von der Seele schimpfte. „Wo warst du denn, als ich so krank gewesen bin, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte? Als ich mich trotzdem auf Arbeit geschleppt habe, weil ich ungeachtet meiner knapp dreihundert angesammelten Überstunden so wenig verdient habe, dass ich zum Monatsende manchmal kaum etwas zu Fressen im Kühlschrank hatte? Wo bist du gewesen, als mich mein erster Kerl einfach sitzen gelassen und der Zweite mich wochenlang mit so ziemlich jedem Weibsbild betrogen hat, was noch keine achtzehn Jahre war und bei Drei nicht auf den Bäumen gewesen ist? Eine von diesen Querfotzen hat er sogar geschwängert, um Gott und der Welt beweisen zu können, dass neben Lügen erzählen nur noch Minderjährige knallen das Einzige ist, was er in seinem lächerlichen Dasein zustande bringt!“ Sarah zitterte am ganzen Körper, während sie davon sprach, wie sehr sie hintergangen und gekränkt wurde. Ihre Ausdrucksweise spiegelte in ganzer Bandbreite die tiefe Verletzung ihrer Seele wider. Das, was ihr angetan wurde, hatte die junge Frau selbst nach zwei Jahren noch nicht verarbeiten können. „Ich sagte doch, dieses Thema ist erledigt! Sie werden dir nie wieder wehtun“, warf Jonas ein und bekam eine prompte Antwort: „Natürlich! Und wie hast du das angestellt? Hast du solange mit deiner Knarre vor ihnen herumgefuchtelt, bis diese feigen Drecksäcke schreiend davongerannt sind? Entschuldige, wenn ich bei der bloßen Vorstellung daran nicht lachen kann, denn ich habe mich nach dem zweiten Beziehungsdesaster ernsthaft gefragt, ob es für mich noch einen Sinn ergibt, mich mit jemandem einzulassen, der vorn heraus einen Rüssel mit sich herumschleppt!“ „Nun krieg’ dich mal wieder ein, ja? Vielleicht habe ich mich heute Morgen nicht deutlich genug ausgedrückt, aber ich wollte dich wachrütteln! Nicht nur, was deine Enttäuschungen angeht! Ich weiß ganz genau, dass du dir für keine noch so schwere Arbeit zu schade bist, aber hast du jemals darüber nachgedacht, was du dafür bekommen hast? Dabei rede ich nicht nur von deinem lächerlichen Lohn in der Bäckerei! Um dir vor zwei Jahren die Medikamente gegen deine chronische Mandelentzündung leisten zu können, bist du an halbwegs guten Tagen im Hotel kellnern gegangen und hast nicht nur Marie gepflegt, sondern auch zwei weitere Senioren! Du hast sie gefüttert und gewindelt, hast sie in ihren Rollstühlen spazieren gefahren, nebenbei noch den Hund aus eurem Haus mitgenommen und bist mit ihnen einkaufen gegangen! Dabei bist du mit Sack und Pack bis ins Nachbardorf gelaufen, weil du dir vor lauter Geldnot noch nicht einmal einen Führerschein, geschweige denn, ein Auto leisten konntest! Mit diesem schwer verdienten Geld hast du auch gleich noch die kleine Apotheke im Nachbarort geplündert und innerhalb von sechs Monaten sechzig Antibiotika-Tabletten geschluckt, weil dein Körper nach der zweiten Packung eine Resistenz gegen diese Stoffe aufgebaut hat und sich dein Hausarzt keinen weiteren Rat wusste, als dir immer und immer wieder eine andere Sorte zu verschreiben! Ich weiß auch, dass du dir das Krankenhaustagegeld nicht leisten konntest und nur deswegen eine bitter benötigte Operation hinausgezögert hast! Wer hat dir letzten Endes aus der Patsche geholfen, Sarah?“ Nun reagierte auch Jonas immer gereizter, denn das, was er damals mit eigenen Augen und Ohren erlebt hatte, konnte er immer noch nur schwer begreifen. „Es war Marie gewesen, die sich dieses Drama nicht länger mit ansehen konnte, weil es gut sein konnte, dass du deine Krankheit nicht überleben würdest“, fuhr er fort. Sarahs Augen füllten sich mit Tränen. „Woher weißt du nur davon?“, schluchzte sie. „Marie hat mir versprochen, mit keiner Menschenseele darüber zu sprechen!“ „Sie hat sich auch daran gehalten und nimmt euer kleines Geheimnis nächste Woche Donnerstag mit ins Grab! Ihr seid spazieren gewesen. Ihr habt euch in den Biergarten des kleinen Hotels am Waldrand gesetzt, weit genug weg von den anderen Gästen, von denen dich fast jeder angestarrt hat, weil du vor Schmerzen und Fieber kaum noch aufrecht stehen konntest! Ich war dabei gewesen, offen und ohne jegliche Deckung. Ich saß nur ein paar Tische von euch entfernt und konnte jedes einzelne Wort verstehen! Du hast mich nur nicht registriert, weil du zu sehr damit beschäftigt warst, nicht zusammenzuklappen!“ Sarah schüttelte mit dem Kopf. „Es sollte niemand wissen“, stammelte sie verstört. „Hast ... hast du meinem Vater davon erzählt?“ Jonas schnaubte missmutig: „Nein, natürlich nicht! Zuerst wollte ich es, aber dann besann ich mich, weil du Marie geradezu angefleht hast, niemandem von deiner ausweglosen, schwierigen Situation zu erzählen! Und, weil ich es nicht verstehe, wie so etwas Unbegreifliches, wie das, was du durchgemacht hast, im angeblich sozialsten Staat Europas geschehen konnte! Ich kann es übrigens immer noch nicht fassen!“ „Daran solltest du dich aber gewöhnen! Das Thema der Geldnot trotz Vollzeitjob wurde von den Politikern in unserem schönen Land jahrelang ignoriert und heruntergespielt! Dabei bin ich noch nicht einmal arbeitslos gewesen! Und komme mir bloß nicht auch noch mit der Frage, warum ich keine staatliche Unterstützung beantragt habe! Der Grund ist derselbe, aus dem ich kein Internet und auch keinen Handyvertrag habe! Das ist meine Wahrheit, Jonas! Das ist das wahre Leben, von dem Leute wie du und mein Alter nicht die leiseste Ahnung haben! Ich habe es mir vor fünf Jahren freiwillig ausgesucht, weil ich für das, was ich mir mühevoll aufgebaut habe, aufrecht und ehrlich gewesen bin!“ „Im Gegensatz zu deinem Erzeuger“, ließ Jonas vernehmen und sprach weiter: „Ich bin nur froh, dass du deine Charakterzüge augenscheinlich von deiner Mutter geerbt hast, und nicht von ihm ...“ Plötzlich und unverhofft klingelte sein Handy. „Wenn man vom Teufel spricht“, rief er, nachdem er das Mobiltelefon aus seiner linken Jackentasche genommen und auf das Display geschaut hatte. Sarah war sofort alarmiert und legte sich hastig den rechten Zeigefinger auf den Mund. So gab sie Jonas zu verstehen, dass er von dem, was Sarah und er seit diesem Vormittag besprochen hatten, nicht eine Silbe andeuten sollte. Sie wischte sich eine Träne des Zorns aus dem Gesicht und gab sich gefasst, obwohl ihre Nerven angesichts des klingelnden Telefons zum Zerreißen gespannt waren. „Mr. Lansink“, rief Jonas in das Handy, packte Sarah an der Schulter und bedeutete ihr, im auf seinen Weg zurück in die Blockhütte zu folgen. „Ja, ihr geht es gut ... Nein, sie ist nicht in dem Haus gewesen ... Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist, ich habe sie seit ein paar Stunden nicht mehr gesehen ... Natürlich, Mr. Lansink ... Nein, ich brauche noch ein paar Tage hier draußen!“ Jonas gab sich wirklich große Mühe, Sarahs Erzeuger nach Strich und Faden zu belügen. Sie konnte nicht in ihn hineinsehen, aber Sarah glaubte zu spüren, wie unwohl er sich dabei fühlte. „Nein, Mr. Lansink. Ich habe Ihre Tochter zuletzt dabei beobachtet, wie sie in das kleine Hotel gegangen ist. Sie wird dort beim Aufräumen helfen ... Ja ... Auf Wiederhören!“ Jonas unterbrach die Verbindung und steckte sein Handy wieder in die Jackentasche zurück. Er wollte Sarah gerade erzählen, was ihr Vater mit ihm besprochen hatte, doch Sarah hob abwehrend ihre Hände. „Ich will es gar nicht hören“, rief sie. „Lass uns lieber weitergehen. Ich bin müde und habe Hunger.“ Die beiden Menschen nahmen ihren Rückweg wieder auf und liefen schweigend nebeneinander her. Erst, als sie wenig später in ihrer warmen Behausung am Tisch saßen und einen heißen Tee tranken, fand Sarah ihre Sprache wieder. „Danke“, sprach sie und nippte an ihrer Tasse. Jonas zog die Augenbrauen hoch. „Wofür?“, fragte er überrascht, wobei er seinen Teebeutel aus der Tasse nahm und ihn mit einem Löffel ausdrückte. „Dafür, dass du meinen Alten angelogen hast. Dass du ihm nicht erzählt hast, was wirklich los ist.“ „Nun, ich fürchte, meine Täuschung werden wir nicht mehr lange aufrecht halten können.“ „Wieso nicht? Mein Vater ist zwar zu allem fähig, aber ich glaube nicht, dass er hellsehen kann.“ „Das muss er auch nicht.“ Jonas trank einen Schluck Tee und fuhr fort, als er in das verwirrte Gesicht seines Gegenübers sah. „Die Hubschrauber, Sarah, weißt du noch? Sie sind von Montag bis Mittwoch Dutzende Male über euer Dorf hinweggeflogen und haben die kleinsten Regungen registriert. Ich habe nicht jeden Einzelnen zuordnen können, aber es waren zumeist deutsche, tschechische und polnische Fernsehsender gewesen, welche die gegenwärtige Lage in die Welt hinausgetragen haben. Sie werden auch heute noch über Hohenhausen hinwegfliegen, allen voran der Hubschrauber, in dem Lansinks dümmlicher Assistent sitzt und vor lauter Flugangst wahrscheinlich den ganzen Innenraum vollkotzt ...!“ Sarah erstarrte. „Bajic?“, rief sie entgeistert. „Milo Bajic leckt meinen Alten immer noch am Arsch?“ „So ist es“, bestätigte Jonas und fragte: „Aber woher kennst du ihn? Er ist zwar schon seit fast zehn Jahren in der Firma deines Vaters tätig, aber damals ...“ „... Aus dem Fernsehen“, spie Sarah angewidert aus und unterbrach ihren Retter. „Ob ich nun will oder nicht: Wenn er meinen Vater vertritt und öffentliche Stellungnahmen abgibt, komme ich leider nicht umhin, seine Hackfresse ansehen zu müssen, bevor ich die Fernbedienung finde und umschalten kann. Ich bin ihm nie persönlich begegnet, aber ich … ich kann ihn nicht leiden.“ Schulterzuckend bekräftigte sie ihre Meinung, indem sie hinzufügte: „Ich kann dir nicht sagen, warum, aber ich hasse Milo Bajic, seitdem ich ihn als Jugendliche zum ersten Mal in einem Interview gesehen habe und er als Lansinks Stellvertreter vorgestellt wurde. Das war etwas über ein Jahr, bevor ich nach Hohenhausen ging, glaube ich.“ Jonas ließ einige Sekunden vergehen, bevor er antwortete. Sarahs respektlose Meinung über die rechte Hand ihres Vaters schien einen bleibenden Eindruck bei dem Personenschützer hinterlassen zu haben. „Vor über sechs Jahren“, murmelte er leise und grüblerisch. Es schien, als würde er in seinen Gedanken Sarahs Informationen sortieren und versuchen, sie in ein bestimmtes Bild einzufügen. So kurz, wie der Moment des Nachdenkens auch war, umso bestimmter fuhr Jonas nun fort: „Dieser Idiot kriecht Lansink seit dessen Aufstieg zum alleinigen Firmenboss wie ein treuer Dackel hinterher. Er macht wirklich alles, was er aufgetragen bekommt und würde sogar aus dem Fenster springen, wenn dein Vater es ihm befiehlt. Lansink hat mir nur eines hoch und heilig versprochen“, bemerkte er und sah Sarah in die Augen, während er fortfuhr: „Bajic hat von ihm nie erfahren, wo du bist, wie du heißt und was du machst, denn dies, so begründete ich mein Anliegen, könnte meinen Auftrag gefährden. Alle Gespräche, die dein alter Herr und ich geführt haben, spielten sich hinter verschlossenen Türen ab. Ich habe es ihm nahegelegt, denn auch ich konnte Bajic von Anfang an nicht ausstehen. Irgendwas ist faul an diesem Burschen, und ich bin gerade dabei, herauszufinden, was es ist. Ich hoffe nur bei Gott, dass dein Vater ihn ohne weitere Kommentare hier rauf geschickt hat. Dass er ihm irgendeinen Scheingrund erzählt hat, der seinen Ausflug ins hinterste Nimmerland gerechtfertigt.“ „Er wird mich finden! Wenn er mich nicht im Hotel antrifft und meine Kollegen ihm erzählen, dass ich nie dort aufgekreuzt bin, wird mein Alter alles in Bewegung setzen, um mich aufzustöbern! Du hättest ihn wohl doch nicht anlügen dürfen!“ „Wir sind hier sicher, Sarah“, beruhigte Jonas seinen Schützling. „Diese Hütte liegt zu weit draußen, um entdeckt zu werden. Zur Sicherheit werde ich das Auto nachher mit Reisig und Laub bedecken, um die Möglichkeit zu minimieren, es aus der Luft erkennen zu können.“ Sarah gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Sie schwieg jedoch und gähnte zerschlagen. „Ich glaube, wir sollten etwas essen“, rief Jonas und stand auf. Sarah folgte ihm zur Küchenzeile, um ihm beim Kochen zu helfen. Nach dem Essen, es war bereits früher Abend geworden, verabschiedete sie sich von ihrem Retter und legte sich Schlafen. Sie war noch immer völlig erschöpft gewesen, und die Gespräche mit Jonas hatten ihr mehr abverlangt, als sie sich eingestehen wollte. Entgegen Sarahs Befürchtung gestaltete sich ihr Schlaf dennoch tief, lang und erholsam.
Sie wurde von leisem Stimmengemurmel geweckt und drehte sich auf den Rücken, um besser hören zu können. Ihre erste Vermutung, dass Jonas telefonieren würde, bestätigte sich sogleich, als sie durch die angelehnte Tür ihres Schlafgemachs hörte, wie er etwas über das Aufladen seines Handys sagte. Sarah konnte nicht alles verstehen, denn Jonas sprach sehr leise und wanderte im Hauptraum der Blockhütte wie ein nervöser Tiger in seinem Käfig auf und ab. Nur, wenn er sich direkt vor Sarahs Zimmer befand, verstand sie ihn deutlicher. „... Ihnen doch gesagt, dass sie nicht in dem zerstörten Haus gewesen ist!“ Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: „Dann muss es eben jemand anderes gewesen sein, der zum Hotel hinübergegangen ist ...!“ Der Rest ging wieder in diesem unverständlichen Flüsterton über. Sarah stand auf und schlich sich auf Zehenspitzen zur Tür. Sie beobachtete, wie Jonas mit ihrem Vater telefonierte. Dabei schien er sehr nervös zu sein, denn er strich sich durch sein helles Haar, setzte sich auf die Couch und sprang gleich darauf wieder auf, um auf seine Armbanduhr zu schauen und erneut durch den Raum zu wandern. „Mr. Lansink, ich verspreche Ihnen, Sarah wohlbehalten nach Frankfurt zu bringen! Ich habe inzwischen eine Idee, wo sie sich aufhalten könnte! Sie kennt den Wald um Hohenhausen herum wie ihre eigene Westentasche! Ich habe bereits eine Spur. Sie führt zu einer verlassenen Blockhütte, etwa acht Kilometer in den tiefsten Busch hinein! Aber pfeifen Sie gefälligst Bajic zurück, bevor ich noch warm werde! Diese Pissbacke scheucht ja das ganze Dorf auf! Und er soll es bloß nicht wagen, mit dem Hubschrauber dort oben aufzukreuzen! Ihre Tochter ist nicht dumm ... Was soll das heißen, es läuft aus dem Ruder? ... keine Kontrolle ...? Dieser verdammte Schwachkopf ... er sich zum Feind macht ...!“ Sarah blieb wie angewurzelt an der Tür stehen und hörte Jonas’ Stimme nur noch aus ganz weiter Ferne. Sie konnte nicht glauben, was sie soeben gehört hatte. Dieser verlogene Schuft setzte allen Ernstes den persönlichen Speichellecker ihres Vaters geradewegs auf ihre Spur an! Sarah löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie zog die Tür völlig lautlos ins Schloss und eilte zu ihren restlichen Klamotten. Die Winterschuhe und die Daunenjacke befanden sich noch im Hauptraum, also würde sie auf diese zuverlässigen Wärmespender verzichten müssen. So zog sie nur ihre Jeans, das Flanellhemd und die Filzschuhe an, hastete zum Fenster und öffnete es. Ein Schwall eisiger Luft wehte ihr entgegen. Über Nacht waren die Temperaturen wieder knapp unter die Nullgradgrenze gefallen, da es sich aufgeklart hatte und kalte Festlandsluft aus dem Osten ins Erzgebirge gelangt war. Ungeachtet der letzten frostigen Kälte des ausklingenden Winters, kletterte Sarah etwas unbeholfen durch das Fenster und sprang auf die Erde. Sie ahnte sofort, dass ihr die Filzpantoffeln während ihrer Flucht keine sonderlich guten Dienste leisten würden, doch die junge Frau rannte los, als würde eine Horde Gespenster hinter ihr her sein. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich wirklich befand, doch sie musste es schaffen, zumindest in die Nähe von Hohenhausen zu gelangen. Dort kannte sie sich aus, dort wusste sie um die kleinen Schleichwege und Verstecke, die ihr die Garagen, Schuppen und Hecken boten. Jonas war mit dem GMC hierher gekommen. Folglich musste sich Sarah an jenen Waldweg halten, auf dem er hier raus gefahren war. Jener Pfad wiederum befand sich genau in der Blickrichtung zur Vorderseite der Blockhütte. Sarah musste also einen großen Bogen schlagen, um etwas weiter unten und außerhalb der Sichtweite zur Hütte zu ihm zu gelangen. Ihre Gedanken rasten. Sie hatte gerade begonnen, Jonas zu vertrauen und wurde nun bitter von ihm enttäuscht. Sarah wollte sich für ihre Gutgläubigkeit am Liebsten pausenlos ohrfeigen. Dabei hätte ihr von Anfang an klar sein müssen, dass jener Betrag, den Jonas für ihre Gesundheit, ja, für ihr Leben erhalten würde, selbst den anständigsten Menschen dieser Erde verlocken würde. Es mussten Tausende von Euro sein, die Lansink springen ließ, um Sarah in seinem Frankfurter Bürogebäude stehen zu sehen. Angewidert spie sie auf den Waldboden, während sie über Wurzeln und Steine rannte, zwischen dichten Bäumen und Sträuchern hindurch jagte und vorbei an kahlen Brombeersträuchern hetzte, an denen sie sich blutig riss. Ihre neuen Wunden schmerzten an den Armen, die zum Teil noch mit kleinen Pflastern bedeckt waren. Erst jetzt erinnerte sie sich daran, dass ihr vor ihrer Flucht noch nicht einmal die Zeit geblieben war, die Ärmel des Hemdes herunter zu krempeln. Sarah wusste nicht, woher sie die Kraft für ihren Sprint nahm, doch das Adrenalin jagte nur so durch ihren Körper und veranlasste sie zu wahnwitzigen Sprüngen über die Unebenheiten des angefrorenen Waldbodens. Irgendwann verlor sie ihre Pantoffeln, sodass sie nun barfuß rannte. Wenigstens boten ihr die beiden Strumpfpaare, die sie seit Tagen anhatte, einen gewissen Schutz vor spitzen Steinen und Zweigen. Endlich, nachdem Sarah in etwa zehn Minuten wie von Sinnen durch das Dickicht gestürmt war, blieb sie stehen. Schwer nach Atem ringend, stemmte sie ihre Arme auf den Knien ab und begann, sich umzusehen. Sie hatte die Orientierung verloren. Sarah musste sich eingestehen, dass ihre Raserei sie zwar weit genug von der Waldhütte weggebracht hatte, sie jedoch nicht im Geringsten wusste, wo sie sich gerade wirklich befand. So besann sie sich auf das, was sie einmal in einem Buch gelesen hatte. Zuallererst fiel ihr die Sonne ein. Da sie noch relativ niedrig stand, beschien sie vorerst nur die obersten Baumspitzen. Hinter ihr lag demzufolge der Osten und somit auch die nicht allzu weit entfernte Landesgrenze zu Tschechien. Gut. Sarah musste nachdenken, obwohl es ihr in Anbetracht der zügellosen Enttäuschung und der riesigen Erbitterung, die ihr Jonas’ Verrat bescherten, nicht gerade leicht fiel. Sie sog die würzige, feuchte Waldluft ein und sah auf. Es herrschte beinahe absolute Stille, da sich kein Windzug regte. Die Bäume standen majestätisch und still zu allen Seiten und schienen ihre weit ausladende Äste und Zweige wie ein Schutzschild über Sarah ausgebreitet zu haben. In gewisser Weise stimmte es ja auch, denn sollte Milo Bajic, der Assistent ihres Vaters, wirklich auf die Idee kommen, das dichte Waldgebiet hinter Hohenhausen mit dem Hubschrauber zu überfliegen, würde er zum Glück nicht durch den dichten Baldachin der Fichten und Tannen sehen können. Sarah musste sich also auch vorsehen, nicht in einen Laubwald zu gelangen, denn deren Zweige zeigten aufgrund des vorangegangenen, lang anhaltenden Winterwetters noch nicht einmal die geringsten Anzeichen einer Knospenbildung. Die junge Frau dachte weiter. Gab es in dieser Gegend vielleicht einen kleinen Wasserlauf, nach dem sie sich richten konnte? Irgendwo musste es doch auch einen Waldweg geben. An dessen Kreuzungen standen zumeist Hinweisschilder, denen sie dann folgen konnte. Sarah sah sich um und nahm nichts weiter wahr, als die dunkle, graugrüne Umgebung des Waldes. „Verdammt noch mal“, donnerte sie ungehalten los. „Konzentriere dich doch endlich!“ Dieses Anstacheln ihrer arg in Mitleidenschaft gezogenen Geistesgegenwart schien tatsächlich zu wirken, denn Sarah hörte plötzlich ein leises Geräusch. Es war mehr ein Rauschen gewesen, welches durch die Lautlosigkeit des Waldes hallte und bis zu ihr vordrang. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sich das Geräusch soweit genähert hatte, dass sie es einordnen konnte. Es waren mindestens zwei Autos gewesen, die sich langsam ihren Weg über einen mit grobem Kies aufgefüllten Waldweg bahnten. Sarah schaute sich noch einmal um und entdeckte den Pfad, der sich ungefähr vierzig Meter unter ihr befand. Sie duckte sich hinter einem kahlen Strauch und musste Jonas sogar noch dafür danken, dass seine Wahl auf ein dunkelgrün kariertes Holzfällerhemd gefallen war, als er ihr die Sachen zurechtgelegt hatte. Ebenso gut hätte es ein rot Kariertes sein können, dessen leuchtende Farbe sie in der grauen Natur des entschwindenden Winters sehr leicht verraten würde. So hockte sie nun hinter dem Haselnussbusch, zitternd vor Kälte, hoffnungslos, enttäuscht und auch verwirrt. Das Wissen, von Jonas nur aufgepäppelt worden zu sein, weil er letztendlich nur Lansinks Geldscheine in den Augen klimpern sah, verursachte, dass sie heftig mit dem Kopf schüttelte, während sie hinter dem Strauch hervorlugte und inzwischen schon drei dicht hintereinander her fahrende Autos zählte, die langsam über die Schotterpiste rollten. Es waren nicht die typischen, grünen Jeeps der Waldarbeiter und Revierförster, die Sarah fast jeden Tag in Hohenhausen gesehen hatte, sondern drei ihr völlig fremde Fahrzeuge. Sie alle waren schwarze Geländewagen gewesen. Gleich im ersten Auto erkannte sie den Fahrer. Es war Bajic. Dieser geschniegelte Lackaffe trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd, dessen Kragen sich von der düsteren Umgebung, die in dem Wagen herrschte, erheblich abgrenzte. Lansinks Adjutant hatte das Fenster zu seiner linken Seite heruntergekurbelt und hielt seinen Arm heraus, in dessen Hand er eine Zigarette hielt. Bajic sah sich suchend um, und mit ihm mindestens ein ganzes Dutzend seiner Begleiter, denn in jedem der drei Jeeps konnte Sarah wenigstens vier Umrisse ausmachen. Sie zuckte zurück und kauerte sich so tief in den Waldboden hinein, wie sie nur konnte, ohne ihre Verfolger aus den Augen zu lassen. Die Schergen ihres Vaters fuhren langsam weiter und hielten ihre Autos in beständiger Geschwindigkeit. Sarah atmete erleichtert aus, als der letzte Wagen ihrem Blick entschwand und sich die Fahrgeräusche Meter um Meter von ihr entfernten. Minutenlang harrte die junge Frau in ihrem Versteck aus, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Sie traute sich noch nicht einmal, über ihre kalten, aufgerissenen Arme zu streichen, dessen oberflächliche Wunden immer noch ein wenig bluteten. Erst, als die Kälte immer unerträglicher wurde, richtete sich Sarah auf. Vorsichtig ergründete sie ihre Umgebung. Der Waldweg unter ihr musste also ins Dorf zurückführen. So stieg sie zu ihm hinunter, mehr über die angefrorenen Fichtennadeln rutschend, als kletternd, und stand schließlich mitten auf dem Kiesweg. Neben ihm fiel der Hang in einem Gefälle von mindestens siebzig Grad weiter ab. An dessen Ende in gut einhundert Meter Entfernung entdeckte Sarah auch einen kleinen Wasserlauf, der am Fuße des Hanges aus der Erde hervortrat. Das Regenwasser der letzten Woche hatte auch ihn anschwellen lassen, sodass er seinen gesamten Uferbereich überschwemmt hatte. Obwohl der Bach langsam wieder in sein ursprüngliches Bett zurückkehrte, umgab ihn zu beiden Seiten sumpfiger, schlammiger Waldboden. Wieder dachte Sarah nach. Wenn sie dem Wasserlauf folgen würde, umging sie die Gefahr, auf der lichten, gut einsehbaren Schotterpiste entdeckt zu werden. Sie überlegte kurz und kam zu dem Entschluss, dass die drei schwarzen Jeeps nicht die Einzigen sein konnten, die ihr Vater losgeschickt hatte, um Sarah zu suchen. Es konnte gut möglich sein, dass noch weitere Wagen hier heraufkommen könnten, dessen Insassen den gesamten Wald absuchen würden. Also begann sie, weiter abzusteigen. Vorsichtig hangelte sie sich an der steilen Böschung entlang, rutschte immer wieder ein paar Zentimeter weiter, um sich von einem Baum oder einem Strauch abbremsen zu lassen, und krallte sich an Zweigen, vermoderten Baumstümpfen oder Steinen fest. Sarahs Augenmerk richtete sich die ganze Zeit auch auf den Weg, der sich nun über ihr entlang bahnte und sich immer weiter entfernte, während sie hinab kletterte. Sie war fast bis zur Hälfte angekommen, als ihre Füße plötzlich jeglichen Halt verloren und sie nicht mehr rechtzeitig nach einer Wurzel oder einem Baumstamm greifen konnte. Sie rutschte zuerst auf dem Bauch entlang, riss sich dabei die Knöpfe des Hemdes bis zur Brusthöhe ab und schlitterte nun auf der nackten Haut weiter. Nach knapp zwölf Metern gelang es ihr, sich endlich umzudrehen, um nun auf dem Hintern weiter rutschen zu können, doch dabei verlor sie völlig den Halt. So stürzte sie unkontrolliert weiter den Hang hinab, schürfte sich nun auch die Hände, die Arme und die Knie auf und versuchte trotzdem, sich irgendwo festzuhalten. Es gelang ihr nicht. Noch während ihres Sturzes hörte sie ein schauriges Knacken in ihrem linken Knöchel. Mit einem dumpfen Knall schlug sie hart am Fuße des Hangs auf, rollte aufgrund der Geschwindigkeit und der eigenen Schwerkraft noch zwei bis drei Meter weiter und blieb mit dem Unterleib und den Beinen im eiskalten, schmutzigen Wasser des aufgewühlten Gebirgsbaches liegen.
Als Sarah aus ihrer Besinnungslosigkeit erwachte, durchfuhr sie die kalte Nässe wie abertausende winziger Nadelstiche. Sie zuckte zusammen und versuchte, ihre Beine aus dem Bach zu ziehen. Rasende Schmerzen im linken Knie, im Fuß und am Bauch, unter dem rechten Rippenbogen, ließ sie heftig zusammenfahren. Die junge Frau lag auf dem Rücken. Das hochgerutschte, zerfetzte Holzfällerhemd gab einen Blick auf die teilweise sehr tiefen Risswunden und Schnitte auf dem gesamten Bauch der Verletzten frei. Ihre Jeans wies große Schmutzflecke auf und war an beiden Knien, dem linken Oberschenkel und dem rechten Schienbein aufgerissen. Auch unter diesen Schlitzen befanden sich mitunter sehr tiefe Fleischwunden. Sarah strich sich mit dem rechten Handrücken über die Stirn und zog Blut in ihrer Nase hoch. Wenn sie nicht erfrieren wollte, musste sie ihre Beine endlich aus dem Wasser holen. So begann sie, sich im feuchten, morastigen Waldboden herumzuwälzen. Sarah wollte sich in die Bauchlage drehen, damit sie auf ihren Unterarmen weiterkriechen konnte. In ihrem linken Bein stach und zog es höllisch. So blickte sie, während sie sich schon auf die rechte Seite gelegt hatte, an sich herab und sah durch den weiten Schlitz in ihrer völlig durchweichten Hose die blanke Kniescheibe hervorlugen. Das beinahe senkrecht aufgerissene Fleisch klaffte ausgefranst auseinander und spannte sich in einer Länge von etwa zehn Zentimetern über das Beingelenk. Der Schock war gewaltig. Weinend und zitternd ließ sich die junge Frau wieder auf den Rücken fallen und musste an sich halten, um nicht vor Schmerzen und Entmutigung lauthals loszuschreien. So richtete sie nur ihren Oberkörper auf und begann nun, rücklings aus dem Wasser zu kriechen, immer darauf bedacht, nur nicht die bloß liegende Patella ins Auge zu fassen. Übelkeit stieg in Sarah hoch und veranlasste sie, sich heftig zu erbrechen. Nachdem sie einige Meter weiter gekrochen war, lehnte sie sich mit dem Rücken an den steilen Hang und wurde vor Erschöpfung und vor Schmerzen erneut vorübergehend ohnmächtig. Als sie kurz darauf wieder erwachte, begann sie, nach weiteren Verletzungen zu tasten. Überall machte sie Schürf – und Schnittwunden aus. Die Naht an ihrem Hinterkopf war wieder aufgerissen und blutete. An der rechten Schläfe tropfte rote Flüssigkeit herab, ebenso aus der Nase und vom Kinn. Beide Ellbogen, die Unterarme und die Handflächen waren aufgeschürft. Sarah sah weiter an sich herab, wobei sie es tunlichst vermied, ihr linkes Bein zu bewegen. Doch trotz der bitteren Kälte und der Nässe spürte sie, dass sie sich auch das Fußgelenk verletzt hatte. Immerhin konnte sie ihr rechtes Bein bewegen, was dazu führte, dass sich die junge Frau nach einem langen, abgebrochenen Stock umsah, der ihr Gewicht halten würde und sie stützte, wenn sie aufstehen wollte. Sie musste sich vom eisigen Waldboden entfernen, wenn sie sich nicht noch weiter unterkühlen wollte. In diesem Moment kam ihr zum ersten Mal nach über zwei Jahren wieder der Gedanke an den Tod. Damals, als sie unter der anhaltenden Tonsillitis gelitten hatte und sich ihre Blutwerte weit jenseits von Gut und Böse befanden, wollte sie schon einmal aufgeben und am nächsten Morgen einfach nicht mehr erwachen. Die ständigen Fieberkrämpfe und die Schmerzen raubten der jungen Frau zu jener Zeit sämtliche Kräfte. Doch heute war es anders gewesen. Aus irgendeinem Grund wollte Sarah nicht sterben, obwohl sie auch jetzt noch unter der quälenden Enttäuschung, die Jonas ihr zugefügt hatte, zu leiden hatte. Hinzu kam, dass sie pure Zukunftsängste ausstehen musste, denn sie hatte wirklich alles verloren, was sich in ihrem Besitz befunden hatte. Selbst Sarah Kossins Identität wurde von der Lawine ausgelöscht, denn wie sie schon Jonas mitgeteilt hatte, besaß sie noch nicht einmal mehr ihren Personalausweis. Welchen Grund gab es also, der sie dazu anspornte, dieser ausweglosen Situation entkommen zu wollen? So sehr sie auch darüber nachdachte, während sie nach einem zwei Finger dicken Zweig griff, sie fand einfach keine befriedigende Antwort. Ungeachtet dessen, stieß sich die junge Frau vom feuchten Untergrund ab und zog sich mit zitternden Armen an dem Stock empor. Als sie endlich auf ihrem rechten Bein stand, sich an ihrer provisorischen, mannsgroßen Gehhilfe festhielt und sich umsah, verließ sie ein weiteres Mal der Mut. Auch wenn Sarah dem kleinen Fluss folgte, würde sie bestimmt irgendwann den Häschern ihres Vaters in die Arme humpeln. Oder auch Jonas. ,Jonas Glenn, du niederträchtiges, durchtriebenes Stück Dreck’, verdammte sie ihren vermeintlichen Retter. Abermals, zum hundertsten Male an diesem Morgen, verwünschte sie diesen Lügner und Betrüger. Wenn er ihr jemals wieder über den Weg laufen würde, würde sie ihn ... Weiter kam Sarah nicht mehr. Von hinten legte sich eine große Männerhand auf ihren Mund, sodass sie noch nicht einmal erschrocken aufschreien konnte. Sie riss nur ihre Augen weit auf und drehte sich auf ihrem rechten Bein herum, sodass sie direkt in Jonas’ Augen schauen konnte. Er schüttelte mit dem Kopf und demonstrierte ihr mit einem appellierenden Blick, auf keinen Fall gellend loszuschreien. „Sie kommen zurück“, flüsterte er und deutete nickend zum Kiesweg hinauf. Sarahs Schaudern schien kein Ende zu nehmen. Nun konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr erklären, welcher Umstand sie am meisten aus der Fassung brachte – ob es die Kälte war, die Schmerzen, die Angst vor der Zukunft, vor Lansinks Männern oder vor Jonas, der sie in seinen Armen hielt und immer noch eine Hand auf ihren Mund gelegt hatte. Jedenfalls zitterte sie, schon wieder oder noch immer, es war ihr gleich. Ihr gelang es schließlich, zwischen Jonas’ Fingern ein wütendes, nachdrückliches „Lass mich los!“ hervor zu pressen, sodass er seinen Griff lockerte und Sarah keuchend nach Luft schnappen konnte. „Sei still“, zischte er und presste Sarah unsanft an die steile Böschung. „Hörst du sie kommen?“ Wie auf Kommando schoben sich die drei Geländewagen, vor denen sich die junge Frau vorhin versteckt hatte, nun in entgegengesetzter Fahrtrichtung über den Waldweg und verstummten alsbald. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“, fragte Jonas irritiert. Er stützte Sarah, indem sie sich an seiner Schulter festhielt, und sah sie erschüttert an. „Das fragst du mich, du verlogenes Miststück?“, brüllte sie mit klappernden Zähnen los. Sie stand kurz vor einem Kollaps und drohte, komplett die Beherrschung zu verlieren. „Ich habe gehört, wie du mit meinem Alten telefoniert hast! Bist du denn völlig durchgeknallt? Was soll denn das?“ Jonas wusste sofort Bescheid. „Oh Sarah“, stöhnte er auf, griff in seine Jackentasche und zog ein Plastikkärtchen hervor. Es war ihr eigener, beinahe unversehrter Personalausweis. „Aber ... wie kann das sein ...? Und wie hast du es geschafft, noch rechtzeitig aus der Hütte zu entkommen? Warum haben dich Lansinks Männer nicht entdeckt? Du müsstest ihnen doch direkt in die Arme gelaufen sein!“ „Später, junges Fräulein! Ich habe Bajic nicht umsonst herauf gelockt! Ich erkläre es dir nachher! Ich wollte dich nach dem Telefonat wecken, damit wir aufbrechen können! Ich habe schon gestern Abend alles zusammengepackt und im Wagen verstaut, auch dein Portemonnaie und ein paar andere Sachen, die ich aufgetrieben habe! Jetzt lass uns endlich verschwinden! Wir haben keine Zeit mehr!“ Ihr blieb keine andere Wahl. Entweder erfror sie hier draußen, wurde von den Angestellten ihres Vaters aufgegabelt, oder sie ließ sich von Jonas aus dem Wald führen. Jede der drei Möglichkeiten zeigten Sarah ihre trostlosen Gesichter. So entschloss sie sich, dem ehemaligen Secret Service Agenten ein weiteres Mal zu vertrauen, denn immerhin hatte er sie eigenhändig unter einer tonnenschweren Last hervor gegraben und bewahrte sie so vor dem sicheren Tod. Nur deshalb stützte sie sich nun weiterhin an seiner rechten Schulter ab und humpelte mehr schlecht als recht mit ihm davon. Nach wenigen Metern hielt Jonas an. „So wird das nichts“, rief er, hob Sarah kurzerhand an und trug sie nun davon. Er schien unerschöpfliche Kräfte zu besitzen, denn er rannte trotz der Belastung ihrer dreiundfünfzig Kilo munter und ohne Anstrengung am Ufer des kleinen Baches entlang. „Wo steht dein Wagen?“, wollte Sarah wissen. „Ich habe ihn unter einem Felsvorsprung abgestellt, circa zehn Minuten von hier entfernt“, entgegnete Jonas. „Um die Spuren zu verwischen, bin ich knapp hundert Meter durch den Fluss gefahren, der übrigens direkt an der Einfahrt zu unserer Hütte vorbeifließt. Nur mal zur Information ...“ Jonas schüttelte mit dem Kopf. „Du scheinst es wirklich darauf anzulegen, in die brenzligsten Situationen zu geraten“, rief er und fuhr unvermindert fort: „Ich weiß immer noch nicht, was dich vorhin geritten hat! Deine Verletzungen hättest du dir sparen können! Ich hoffe, ich kann dein Knie und deinen Bauch versorgen! Es sieht nicht gut aus!“ „Was denkst du wohl, wie ich mich gerade fühle?“, fragte Sarah und überhörte die letzten drei Sätze einfach. Diese verdammten Wunden interessierten sie im Moment am wenigsten. „Wie sollte ich denn dein Telefonat einordnen, nachdem ich gehört habe, dass du Bajic unmittelbar zur Blockhütte lockst? Du hast mir hoch und heilig versprochen, mich nicht bei meinem Alten zu verpetzen und setzt diesen Arschkriecher auf mich an! Nun rate mal, wie beschissen es mir dabei geht! Meiner Meinung nach müsstest du eigentlich Holzspäne pissen, so abartig, wie du mich angelogen hast!“ „Wie gesagt“, keuchte Jonas zwischen zwei Atemzügen. „Ich hatte ganz andere Pläne! Ein bisschen Bedacht steckt schon hinter meinen Handlungen, oder glaubst du etwa wirklich, ich würde dich so rücksichtslos hintergehen?“ Sarah gab ihm darauf keine Antwort, sondern schenkte ihm nur einen vielsagenden Blick. Sie fragte sich, wie weit es noch bis zum Auto sein würde, denn sie befand sich nicht gerade in der bequemsten Position. Jonas spendete ihr mit seinem Körper zwar angenehme Wärme, doch im Rhythmus seiner riesigen Schritte wackelten ihre Beine mit. Sie traute sich, nach ihrem linken Knie zu sehen und erblickte zwischen den auseinanderklaffenden Wundrändern eben nicht nur Blut, welches in beträchtlicher Menge hervorquoll und heruntertropfte, sondern auch die freiliegende Kniescheibe. Wieder musste sich die junge Frau zusammenreißen, um keinen Schreikrampf zu bekommen. „Darum kümmere ich mich später“, rief Jonas, als er in Sarahs beunruhigtes, angeekeltes Gesicht sah. „Es ist nicht mehr weit. Schaffst du es?“ Sie nickte nur, obwohl sie zunehmend blasser wurde und immer mehr ermattete. Die nasse Kälte hatte sich schon längst über ihren gesamten Körper gelegt und veranlasste sie, unkontrolliert zu zittern und zu klappern. Verzweifelt kämpfte sie gegen ihre Erschöpfung und dem schleichenden, aber konstanten Verlust ihrer Kräfte an. Sarah bereitete es zusehends Mühe, ihre Augen offen zu halten. „Nicht einschlafen! Du musst wach bleiben! Hörst du mich? Wir sind gleich da!“ Der kleine Bach bog sich um eine ausgedehnte Kurve. Jonas begann, Sarah zu schütteln. „Dort steht es“, rief er schnaufend. „Siehst du die Klippen? Sarah? Sarah!“ Sie hing bewusstlos in seinen Armen. „Nicht schon wieder“, fluchte Jonas. Er stolperte die letzten Meter, ging in die Hocke und legte Sarah auf weiches Moos nieder. Er verweilte für wenige Sekunden auf seinen Knien, um sich eine kurze Pause zu gönnen, und jagte gleich darauf zu dem schwarzen GMC hinüber, nachdem er das funkbetriebene Schließsystem des Wagens betätigt hatte. Der große Mann öffnete die Tür hinter dem Fahrersitz und schleppte seine ohnmächtige Begleiterin mit letzter Kraft auf die Rückbank, wobei ihre Beine ausgestreckt auf der Sitzfläche lagerten. „Langsam wird es zur Gewohnheit! Glaub’ bloß nicht, dass es so weitergeht, Fräulein! Du kannst dir ruhig mal etwas anderes einfallen lassen, um mich zu beeindrucken“, murmelte er, denn genau jene Vorgänge wiederholten sich nun, seit er Sarah vor einer knappen Woche zum ersten Mal in den Wagen gelegt hatte. Jonas hastete zum Kofferraum und suchte zwischen dem verstauten Gepäck und dem mitgenommenen Proviant nach seinem dunkelgrünen Rucksack, aus dem er eine steril verpackte Spritze und ein kleines, braunes Fläschchen entnahm. Er nahm beides, kroch auf die Rückbank und zwängte sich auf die Sitzfläche. Mit hastigen, aber geschulten Zügen entnahm er dem Glasbehälter ein starkes Schmerzmittel und rammte die Spritze durch den relativ dünnen Stoff des Holzfällerhemdes in Sarahs rechten Oberarm. Sogleich eilte Jonas zum Kofferraum zurück und entnahm zwei Decken. Es waren genau jene, mit denen er Sarah vor ein paar Tagen in der Hütte eingepackt hatte. Eine von ihnen stopfte er ihr unter den Oberkörper, welcher an der Tür hinter dem Beifahrersitz lehnte, und mit der anderen umhüllte er die junge Frau. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass das verwundete Knie nicht mit dem Stoff der Decke in Berührung kam und somit keine Fasern eindringen konnten, schlug er die Tür zu und setzte sich hinters Lenkrad. Gerade, als Jonas den Motor angelassen hatte und mitten im niedrigen Flussbett umlenkte, klingelte sein Handy. Er öffnete sein Fahrerfenster, holte das laut schellende Mobiltelefon hervor und schoss es in den Bach. „Nerv’ mich nicht, du geistiger Tiefflieger“, stieß er wütend hervor. „Du hast ja keine Ahnung, was du angerichtet hast!“ Mit diesen Worten fuhr er davon und steuerte den schwarzen GMC völlig unbemerkt von sämtlichen Verfolgern aus den Wald heraus.
Nach nicht einmal einer halben Stunde stoppte der Wagen vor dem Grundstück eines Einfamilienhauses. Jonas stellte den Motor ab und zog den Schlüssel aus dem Schloss. Sarah erwachte aus ihrer Bewusstlosigkeit und schlug die Augen auf. „Wo ... wo sind wir? Was ist passiert?“ Ihr Begleiter drehte sich zu ihr herum und sprach: „Bevor wir von hier verschwinden, möchte dich jemand sehen! Wir haben nur ein paar Minuten, und eigentlich sollten wir schon längst über alle Berge sein, aber ich möchte, dass du dich verabschieden kannst!“ Sarah schlug die Decke zurück und wollte doch allen Ernstes aufstehen, um aus den Wagen zu kriechen. „Nein, bleib sitzen. Ich bin gleich wieder da.“ Mit diesen Worten verließ er den GMC, um keine zehn Sekunden später zurückzukehren. Jonas war jedoch nicht allein gewesen. In seiner Begleitung befanden sich ein schlanker Mann in Jonas’ Alter, der schwarzes, gelocktes Haar und einen Schnauzbart trug, sowie eine etwas jüngere, mollige Frau. Neben ihnen spazierte ein riesiger Hund mit langem, schmutzig-weißen Fell. Es war Tortie, der gehörlose Kaukasierrüde. Sobald Sarah die Gesichter der beiden Menschen erblickte, richtete sie sich auf und deckte rasch ihr linkes Knie ab. Florian und Rebecca sollten auf keinen Fall sehen, wie schlimm ihre ehemalige Mieterin zugerichtet war. Florian öffnete die Autotür hinter dem Fahrersitz und wollte in den Wagen schauen, doch Tortie war schneller. Er zwängte sich an seinem Herrchen vorbei und trat in den Fußraum, um Sarah, seine Freundin und geliebte Spielkameradin, als Erster zu begrüßen. Seine Freude war erdrückend, im wahrsten Sinne. Tortie schleckte der jungen Frau quer über das Gesicht, ließ sich von ihr herzhaft und fest über den Kopf streichen und genoss diesen Augenblick der innigen Freude. „Hey, Süßer! Mann, hast du eine feuchte Aussprache! Wie geht es meinem Großen, hm?“ Tortie wurde mit einem energischen Ruck von Florian zurückgehalten, während sich die Fahrertür öffnete und Becky in den Wagen stieg. Von ihrer Position hatte sie, wie auch Jonas, einen freien Blick auf die junge Frau. Florian setzte sich derweil vorsichtig an Sarahs Fußende und ließ seine Beine aus dem Auto baumeln. Beinahe gleichzeitig redeten die Fincks auf Sarah ein. Sie erzählten ihr, dass sie mit Dutzenden Helfern aus dem Dorf über einen Tag lang nach ihr gesucht hatten, bis sich Jonas bei Becky zu erkennen gab und ihr von Sarahs Bergung berichtete. Das Ehepaar sprach davon, wie es bei den Renners, einer jungen, vierköpfigen Familie, eine vorläufige Bleibe gefunden hatte, dass das alte Haus gegen Lawinenschäden voll versichert war und auch davon, dass es bis auf einen immensen Sachschaden keinen einzigen Todesfall in ganz Hohenhausen gegeben hatte. Keinen Einzigen, bis auf den entsetzlichen Verlust von Marie Fischer, Rebecca Fincks Mutter. Sarah bemerkte, wie sehr der Tod der alten Dame ihrer Vermieterin zusetzte. So ergriff sie ihre Hand, um sie zu trösten. „Ich wollte sie retten, Becky“, sprach sie leise. „Aber es war zu spät. Ich hatte keine Chance. Der Schnee kam so schnell ...!“ Becky wischte sich verstohlen über ihre Augen und lächelte. „Das weiß ich, meine Liebe. Jonas hat mir davon erzählt. Du trägst keine Schuld an dem, was passiert ist. Ich glaube, dass es Schicksal war, als ich nur Minuten vorher mit Tortie das Haus verlassen habe!“ Nun musste auch Sarah lächeln. „Weißt du noch, was ich zu euch gesagt habe, als ich ihn zum ersten Mal in eurem Flur gesehen habe?“ Wie auf Kommando setzten Florian, Becky und Sarah zu der gleichen Antwort an: „Geht’s vielleicht noch ein bisschen größer, oder waren deine Eltern auf Koks, als sie dich zusammengebastelt haben?“, riefen alle Drei und lachten herzlich. Selbst Jonas prustete vergnügt. Florian fuhr fort: „Damit hast du Becky sofort um den Finger gewickelt, denn so eine Reaktion hatten wir noch nie gehört.“ „Ich freue mich, dass ihr gut untergebracht seid“, sprach Sarah und sah abwechselnd zwischen ihre beiden einzigen, wirklich guten Freunde hin und her. „Macht euch bitte um mich keine Sorgen, hört ihr? Ich bin bei Jonas gut aufgehoben! Er ist mein Schutzengel und so ziemlich der Einzige, der mir jetzt noch weiterhelfen kann. Ich kann euch nicht alles erzählen, aber ihr müsst ihm und mir vertrauen! Ich muss es auch. Mir bleibt keine andere Wahl.“ Sarah beugte sich nach vorn, um nicht lauter sprechen zu müssen, als es von Nöten war. „Er war beim Secret Service“, flüsterte sie beinahe und lehnte sich wieder zurück. „Wir wissen, dass er es Ernst meint, Sarah“, entgegnete Florian und strich ihr über den rechten Fuß. „Er hat uns noch viel mehr erzählt, über dich und den Gründen, warum du nicht hierbleiben kannst ...!“ In diesem Moment vernahm Sarah das Quietschen von Reifen. Erschrocken sah sie durch das Heckfenster des GMC und erblickte einen der schwarzen Jeeps, die sie schon im Wald gesehen hatte. Florian und Becky sprangen aus dem Wagen. „Es tut mir leid“, rief Jonas und zerrte Sarahs Vermieterin vom Auto weg. Gleichzeitig sprang er auf den Fahrersitz und sprach nach einem letzten Blick auf die Fincks und ihren Hund: „Machen Sie sich keine Sorgen! Wir melden uns, sobald alles vorbei ist!“ Er ließ die Wagentür laut ins Schloss fallen, startete den Motor und fuhr los. Sarah winkte ihren Freunden zum Abschied hinterher, obwohl es Becky und Florian aufgrund der getönten Scheiben nicht sehen konnten. „Gib’ Gas, Jonas! Sie kommen immer näher! Jetzt sind es schon zwei von ihnen“, rief sie aufgebracht. Jonas ließ sich von Sarahs Drängen jedoch nicht anstecken. Dieses Szenario hatte er immer und immer wieder geübt, damals in Glynco, ebenso wie in Washington, D.C., und auch im Laufe seiner knapp dreißigjährigen Laufbahn als Personenschützer und Kriminalbeamter wurden solche Vorgänge stundenlang trainiert. Das oberste Gebot lautete damals wie heute, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sarah erkannte in Jonas nur noch den Bundesagenten, einen intelligent und scharfsinnig handelnden Bodyguard, der weder sich, noch seinen Schützling in unnötige Gefahr bringen wollte. Dennoch raste er in halsbrecherischem Tempo über die Dorfstraße auf der gegenüberliegenden Seite des Skihanges. Die Fincks hatten ihm zwar berichtet, dass diese Fahrbahn auf der gesamten Länge bis hinunter zur Moschner-Brücke instand geblieben und nur die Straße auf der anderen Seite des Flusses eingebrochen war, doch sie war um einiges schmaler gewesen, als die andere. So ergriffen Sarah in jeder Kurve, in die sich der GMC legte, panikartige Angstattacken, während es ihr größte Mühe bereitetet, halbwegs anständig auf der Rückbank sitzen zu bleiben. Und Kurven gab es hier wahrlich genügend. Plötzlich und vollkommen unerwartet knallte etwas durch die Heckscheibe. Sarah schrie entsetzt auf und duckte sich, während ihr eine Pistolenkugel um die Ohren flog und auf der Frontscheibe wieder austrat. Der Schütze hatte genau die Mitte des Wagens getroffen, sodass das Projektil ungehindert zwischen den Sitzen hindurch peitschen konnte. In beiden Fensterscheiben sah man jeweils ein kleines, rundes Loch, um welches sich feine, netzartige Risse gebildet hatten. „Der spinnt wohl?“, fragte Sarah ungläubig und sah auf. Jonas langte jedoch hinter sich und drückte ihren Kopf wieder runter. „Unten bleiben“, befahl er ihr in einem fremden, strengen Tonfall. „Jetzt wird es gemütlich!“ Er öffnete das Handschuhfach und holte ein braunes Lederpolster hervor. Seine Pistole. „Das meinst du doch nicht ernst, oder?“ Sarahs Entsetzen wurde immer größer. Ihr Verstand verweigerte ihr das schlichte Erfassen der augenblicklichen Gegebenheiten. Sie fand sich inmitten eines kinoreifen Actionkrimis wieder, nur, dass hier wirklich auf sie geschossen wurde und es niemanden gab, der mit einem einfachen „Cut!“ diesem Höllentrip ein Ende setzen konnte. „Zum Anschauen habe ich die Knarre bestimmt nicht mitgenommen“, stieß Jonas hervor und sah abwechselnd auf die Straße und in den Rückspiegel. Erneut wurde auf den GMC geschossen. Diesmal konnte Sarah den Pistolenknall deutlich zwischen dem Motorengeräusch und dem Quietschen der Reifen heraushören, als Jonas den Wagen um die nächste Kurve steuerte. Der Schuss traf den Außenspiegel auf der Fahrerseite und riss ihn einfach ab. „Sie wollen Krieg?“, fragte Jonas mehr zu sich selbst. „Den können sie haben!“ Sarah wollte entgegen all ihrer verbliebenen Vernunft erneut durch das Heckfenster sehen, doch Jonas jagte schon um die nächste Abbiegung und zielte fast gleichzeitig nach hinten. Im ersten Moment dachte die junge Frau, er würde die Waffe, eine Heckler & Koch P30L, auf sie richten, doch dann begriff sie, was Jonas eigentlich wollte. Um sich einen besseren Überblick zu verschaffen und um seinen Schüssen eine größere Durchschlagskraft zu gewährleisten, zerschoss er das durchlöcherte Heckfenster gleich selbst. Es zersprang in Tausende kleiner Scherben, die zum größten Teil nach außen fielen. Ein paar regneten jedoch auch auf Sarah herab. „Wir haben es gleich überstanden, Kleine“, rief er und begann zu feuern, sobald er sich auf einem geraden Straßenabschnitt befand. Sarah hielt sich die Ohren zu und sah nur sechs aufeinanderfolgende Mündungsblitze aufzucken. Nachdem der Lärm verhallt war, sah sie wieder auf. Der führende Verfolgerwagen wies ein Loch in der Frontscheibe auf der Fahrerseite auf. Jonas musste den Fahrer getroffen haben, denn das Fahrzeug driftete bei gleichbleibender Geschwindigkeit unkontrolliert von der Fahrbahn ab und raste in den Graben auf der rechten Seite. Das Auto überschlug sich mehrmals und kam schließlich auf dem Dach zum Liegen. „Weißt du eigentlich auch, wohin du fährst? Ich habe keine Lust, den nächstbesten Baum zu knutschen!“ Jonas grinste nur und entgegnete lässig: „Und du, weißt du eigentlich auch, dass die Moschner-Brücke wegen Hochwasserschäden gesperrt ist? Sie könnte jeden Moment einstürzen!“ „Ja und?“, fragte Sarah verstört. Blitzartig traf sie die Erkenntnis, als sie in ungefähr fünfzig Metern die rot-weiße Sperrscheibe erkennen konnte. „Oh nein“, schrie sie nur. „Das wagst du nicht, du durchgeknallter Witzbold! Stopp! Anhalten!“ Jonas trat hingegen das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Weitere Schüsse fielen, doch sie verfehlten fast allesamt ihr Ziel, als der zweite und letzte Jeep, der Sarah und Jonas gefolgt war, nicht mit der entfesselten Geschwindigkeit des GMC mithalten konnte. Die junge Frau erhaschte einen Blick auf den Tacho und sah nicht nur, dass sich die Nadel auf 130 Stundenkilometer zubewegte, sondern auch, wie die Motorhaube die Absperrung zur Brücke durchbrach, die Sperrscheibe mitsamt dem dürftigen Schlagbaum durch die Lüfte flog und der Wagen die einsturzgefährdete Flussüberführung passierte. Gleich darauf begann das gesamte Fahrzeug zu zittern. Sarah hörte ein bedrohliches Rumpeln, während das Wackeln immer stärker wurde. Jonas hatte große Mühe, den GMC unter Kontrolle zu halten. Wieder blickte die verletzte Beifahrerin zur hinteren Scheibe hinaus. Dort, wo eigentlich die Fahrbahn sein sollte, sah sie nur gähnende Leere. Asphaltbrocken stürzten in jenen Fluss, dessen Flutwellen vor einer Woche Sarahs gesamtes Leben mit sich gerissen hatten. „Fahr’ zu“, schrie sie Jonas an, schaute zurück und sah, wie das Auto ihrer Verfolger nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte und in den immer noch stark angeschwollenen Strom fiel. „Nun mach’ schon! Die Brücke stürzt ein!“ Jonas ließ sich währenddessen nicht aus der Ruhe bringen. Beständig drückte er auf das Gaspedal und hielt so mit der weg sackenden Fahrbahn Schritt. Endlich, nach schier endlosen Sekunden des Bangens, vernahm Sarah auch das Aufschlagen der Sperrvorrichtung auf der anderen Seite der Moschner-Brücke. Wie schon die andere zuvor, schleuderte nun auch diese Absperrung mehrere Meter weit davon und blieb schließlich irgendwo im Gras neben der Straße liegen. Jonas bremste den GMC langsam ab, sodass der Wagen erst nach über dreißig Metern zum Stehen kam. Noch völlig verängstigt und am ganzen Körper bebend, hockte Sarah auf der Rückbank. Sie hatte sich nach vorn gebeugt und hielt schützend die Hände über den Kopf, als sich Jonas zu ihr umdrehte und rief: „Ich hoffe, du weißt nun, warum ich die Waffe eingesteckt habe!“ Mehr sagte er nicht, sondern langte in die Brusttasche seiner Winterjacke und zog das zerdrückte Päckchen mit den wenigen, verbliebenen Zigaretten hervor. „Ich glaube, die haben wir uns jetzt verdient, oder was meinst du?“ Sarah nahm mit zitternden Fingern einen Glimmstängel heraus. Sie klapperte so sehr, dass es ihr nicht gelang, sie eigenhändig anzuzünden. Jonas gab ihr Feuer, und so nahm die junge Frau gleich mehrere Züge hintereinander. Der Leibwächter strahlte hingegen auch jetzt noch eine beneidenswerte Ruhe aus und zündete sich nun ebenfalls eine Zigarette an. Er fragte nur, während er sie im Mund behielt und den Gang einlegte: „Ich möchte bloß wissen, was dich so aus der Fassung gebracht hat! Du siehst so mitgenommen aus ...!“ Dabei strahlte er mit der hoch am klaren Himmel stehenden Mittagssonne um die Wette und lenkte den GMC gemächlich über den grauen, mit angetautem Schmelzwasser überzogenen Asphalt. Er verließ in Begleitung einer total abgekämpften und unter Schock stehenden Sarah Kossin das Hohenhausener Tal.
Nach fünfundvierzig Minuten einer ereignislosen Fahrt passierte der Wagen die Grenze der Bergstadt Freiberg. Sie lag im Erzgebirgsvorland, beherbergte eine Technische Universität, einen Dom, historische Gaststätten, sowie zahlreiche Sehenswürdigkeiten. Zum ersten Mal nach langem, gedankenverlorenen Schweigen, drehte sich Jonas wieder zu Sarah herum und fragte sie: „Wie geht es dir?“ „Mir ist immer noch kalt, ich habe immer noch Hunger und mein ganzer Körper erzählt mir immer noch, was er gerade von mir hält! Willst du sonst noch irgendwas wissen?“ Ihre Stimme klang müde und entkräftet. „Wir sind gleich da. Ich habe uns ein kleines Hotel ausgesucht, während du dich in der Hütte ausgeruht hast. Reiche mir bitte das Notebook. Es liegt unter dem Beifahrersitz.“ Sarah griff nach dem Computer, welcher in einer schwarzen Tasche eingepackt war, und zog es hervor. Während sie es auspackte und Jonas gab, fragte sie: „Sollte ich vielleicht sonst noch etwas wissen? Zum Beispiel, wie und wann genau du mit Becky und Florian in Kontakt getreten bist? Oder möglicherweise auch, warum es mein Alter so ernst meint, dass er uns ganze Salven in den Arsch jagen lässt? Es tut mir ja schrecklich leid, wenn ich auf dich einen ziemlich einfältigen Eindruck ausüben sollte, aber ich kann mir nicht erklären, wieso dein Boss mich einerseits beschützen lässt und andererseits auch in Kauf nimmt, dass ich von seinen eigenen Leuten getötet werden könnte!“ „Bajic hat ihm die Freundschaft gekündigt! Er ist übergelaufen“, erwiderte Jonas und fuhr fort: „Unsere Verfolger gehören nicht zu Lansinks Team!“ „Jetzt reicht es mir aber langsam“, zeterte Sarah und richtete sich mühevoll auf. „Was erzählst du denn da? Natürlich waren es Lansinks Männer, die uns den Hintern versohlt haben! Die schwarzen Jeeps besaßen doch allesamt ein Frankfurter Autokennzeichen! Und was soll das bedeuten, Bajic sei übergelaufen? Wohin denn?“ Jonas bog auf einen Parkplatz ein. Er befand sich hinter einem großen, gepflegten Haus. „Zu den Leuten, die deinen Vater seit beinahe sieben Jahren erpressen und ihm damit drohen, seinen einzigen, näheren Verwandten zu finden und ihn an einen Menschenhändlerring zu verkaufen, wenn er seinen Posten als einer der bedeutendsten Wirtschaftsgrößen Deutschlands nicht bald räumen sollte ...!“ Sarah wurde schlecht. „Www ... was???“, schrie sie unbeherrscht. Jonas zuckte zusammen. Sie legte solch eine Energie an den Tag, welche er ihr in ihrem Zustand gar nicht mehr zugetraut hätte. Während er einparkte und immer wieder zu ihr hinübersah, sprach er mit ruhiger, ernster Stimme: „Dein Vater hat bisher weit über zehn Millionen Euro an Schutzgeld gezahlt, damit keiner auf die Idee kommen sollte, dir auf die Schliche zu kommen. Vielleicht haben sie es versucht, aber der Mädchenname deiner Mutter hat dich bisher vor allem Unheil bewahrt, so unglaublich es sich auch anhört. Weißt du eigentlich, wie viel Glück du bisher hattest? Es ist eigentlich unfassbar. Und kannst du dir nun denken, warum wir, mein Kollege und ich, seit fünf Jahren heimlich an deiner Seite gestanden haben? Dein Vater, den du so verabscheust, den du am liebsten in die Verdammnis schicken möchtest, würde sein letztes Hemd hergeben, nur, damit du beschützt wirst. Übrigens teile ich immer noch deine Ansicht, was die miesen Wesenszüge deines alten Herrn betrifft. Er ist ein Charakterschwein ersten Ranges, aber wenn es darum geht, sein eigen Fleisch und Blut zu verteidigen, kennt er keine Gnade. Nur wird er langsam einsehen müssen, dass all die vielen Millionen Euro und das Ansetzen eines Bodyguards seinen engsten Vertrauten nicht davon abgehalten hat, die Seiten zu wechseln. Ich habe keine Ahnung, wie lange Bajic schon mit falschen Karten spielt, aber er kennt sich in der Firma deines Vaters wie kein anderer aus. Wenn er anfängt, über interne Betriebsgeheimnisse zu plaudern, mit dem Ziel, die Firma zu übernehmen und dir die Zukunft zu versauen, sieht Lansink ziemlich alt aus.“ Der Motor des GMC erstarb. Sarah saß immer noch wie paralysiert auf der Rückbank, als Jonas schon längst ausgestiegen und um den ziemlich ramponierten Geländewagen herum geeilt war. Er öffnete nun die Tür hinter dem Beifahrersitz, damit er seine starken Arme um Sarahs Brustkorb legen und sie aus dem Auto ziehen konnte. Sobald er sich davon überzeugt hatte, dass sie auf ihrem rechten Bein stehen konnte, während sie sich am Wagendach festhielt, schlug er die Tür zu und lief zum Kofferraum, um den dunkelgrünen Nylonrucksack hervorzuholen. Er schulterte ihn, umgriff mit derbem, grobschlächtigem Griff Sarahs rechten Arm und half ihr, zum Hauseingang zu gelangen. Erst jetzt stellte sie fest, dass es sich bei dem Gebäude um jenes Hotel handelte, von dem Jonas vorhin gesprochen hatte. Sie schwieg jedoch, denn sie war viel zu durcheinander, um ihre Gedanken in klare Worte fassen zu können. Außerdem brannte ihr linkes Knie. Während der Verfolgungsjagd und auch in der relativ kurzen Zeit der anschließenden Fahrt, hatte die junge Frau einfach vergessen, die Decke, mit der Jonas sie versorgt hatte, wieder vom Knie zu entfernen. Erst vorhin, als sie aus dem Wagen gehoben wurde, rutschte die Decke herunter und blieb an der Wunde kleben. Mit einer unverzagten Handbewegung riss Sarah die angetrocknete Decke von der offenliegenden Kniescheibe ab und bereute ihre Heldentat nun außerordentlich. Aber sie musste die Zähne zusammenbeißen, denn Jonas und sie standen nun vor der Rezeption in einem urigen, gemütlich eingerichteten Foyer. Sie begehrte noch nicht einmal auf, als er sie als seine Tochter einschreiben ließ, ein Zimmer für zwei Personen verlangte und sich nur einen einzigen Schlüssel geben ließ. Die Empfangsdame wusste nicht so recht, was sie von diesem seltsamen Duo halten sollte, welches gerade vor ihr stand und ein solch jämmerliches Bild abgab, dass sie die beiden neuen Gäste nur konsterniert anstarren konnte. Dabei musterte sie vorrangig die junge Frau mit einem undefinierbaren Blick. Mit letzter Kraft schleppte Jonas Sarahs immer schwerer werdenden Körper auf das ihnen zugewiesene Zimmer. Es befand sich im zweiten Obergeschoss und konnte immerhin mit einem Fahrstuhl erreicht werden. Jonas stieß die Tür auf, legte Sarah auf die rechte Seite des Doppelbettes ab und verschnaufte kurz. „Ich muss noch mal ins Auto“, rief er, während er den grünen Rucksack absetzte. „Dass du mir bloß nicht auf den Gedanken kommst, davonzulaufen!“ „Scherzkeks“, wetterte Sarah müde. „Aber aufs Klo darf wohl ich noch gehen, oder?“ „Meinetwegen. Aber nimm dich in Acht! Das Letzte, was dein Knie oder dein Fuß gebrauchen können, ist ein weiterer Sturz! Also, bis gleich!“ Jonas hetzte davon und stand keine fünf Minuten später voll bepackt wieder im Zimmer. Sarah war es inzwischen gelungen, sich die zerfetzte Jeanshose auszuziehen. Nun hing ihr nur noch das ebenfalls total zerrissene Holzfällerhemd am Körper und verdeckte nur notdürftig den verletzten Bauch. Auch, wenn er ihr gegenüber nicht zugeben würde, schockierte Jonas das Aussehen seiner Schutzbefohlenen mehr, als er es sich anmerken ließ. Sie sah an sich hinab, als sie seinen Blick auffing. „Ich habe echt keine Ahnung, wie du das alles wieder zusammenflicken willst, aber ich hoffe inständig, dass du weißt, was du tust“, rief Sarah und hüpfte auf ihrem rechten Bein zum Bett zurück. Während sie sich niederließ, unterdrückte sie mühevoll jeden einzelnen Schmerzenslaut. „Das lass’ mal meine Sorge sein“, rief Jonas und setzte seinen schwarzen Koffer, den blauen Rucksack und insgesamt vier weiße, prall gefüllte Plastikbeutel ab. „Es wird dir vielleicht nicht gefallen, aber das Beste wird sein, wenn ich dich noch einmal in Narkose versetze und dann mit meiner Arbeit beginne. Es wird Zeit, dass die Wunden gesäubert und behandelt werden! Dein Knie und dein Bauch müssen unbedingt versorgt werden, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du das bei vollem Bewusstsein erleben willst.“ Jonas hatte recht. Es passte Sarah überhaupt nicht, dass sie sich ihm voll und ganz anvertrauen musste. Aber welche Alternative blieb ihr schon? Wohl oder übel musste sie sich damit abfinden, sich noch einmal von ihm betäuben zu lassen und wünschte sich plötzlich nichts anderes, als endlich tief und fest schlafen zu können. Das Angebot der Narkose klang verlockend, doch Sarah war viel zu beunruhigt gewesen, um einfach in einen künstlich herbeigeführten Schlaf abtauchen zu können. So fragte sie, während sie sich hinlegte: „Sind wir hier wirklich sicher?“ „Für die nächsten Stunden auf jeden Fall“, wurde sie von Jonas beruhigt, der im offenstehenden Badezimmer stand und sich gründlich die Hände wusch. „Ich werde, nachdem ich deine Verletzungen behandelt habe, den Wagen verschwinden lassen. Er fällt mit der zerstörten Heckscheibe und den vielen Einschusslöchern ziemlich auf.“ Er kam aus dem Badezimmer gelaufen und begann, den Inhalt des grünen Rucksacks auf der linken Bettseite auszuschütten. Sogar aus den Seitentaschen holte Jonas medizinische Hilfsmittel hervor. „Und was ist mit dir?“, fragte Sarah. „Wie meinst du das? Was soll mit mir sein?“ „Ich spreche davon, dass ich mich erneut in deine Hände begeben muss und immer noch nicht weiß, ob ich dir vollkommen vertrauen kann! Du könntest wer weiß was mit mir anstellen, und ich würde es noch nicht einmal mitbekommen ...!“ „Also hör’ mal“, rief Jonas entrüstet. „Du könntest meine Tochter sein! Und glaube mir, sollten sich meine Kinder in deiner Situation befinden, würde ich die Welt einreißen, nur, um sie zu beschützen! Sarah, du musst mir einfach vertrauen, wenn du überleben willst! Was ich dir vorhin erzählt habe, entspricht der völligen Wahrheit! Bajic wird nun wissen, wie dein Familienname lautet und sich die Hacken wund laufen, um dich zu finden! Erwarte bloß nicht, dass er dich zu deinem Vater bringt, wo du wahrscheinlich noch am Besten aufgehoben wärst! Ich habe mich informiert, während du bis gestern geschlafen hast. Bajics vollständiger Name lautet Milo Stanislaw Dmitri Bajiczowek-Koczinsky.“ „Ach nee, wirklich? Wie schreibt man denn sowas?“, warf Sarah gleichermaßen verärgert und gequält ein, während sie sich vorsichtig über ihren schmerzenden Bauch strich. Sie erhielt prompt eine tiefgründige Antwort: „Mit drei Vornamen und einem Nachnamen, der, nebenbei bemerkt, mit einem großen B anfängt, mit einem kleinem Y aufhört, und dazwischen einen Bindestrich klemmen hat! Dieser Wichser unterhält nicht nur Kontakte zur europäischen Mafia und zu Menschenschmugglerringen in ganz Süd- und Osteuropa, sondern ist auch auf dem amerikanischen Kontinent seit ein paar Jahren kein Unbekannter mehr! Ich glaube nicht, dass du ihm freudestrahlend in die Arme rennen möchtest! Du kannst es dir also aussuchen, Sarah. Entweder vertraust du mir, oder du verschwindest für immer von der Bildfläche und wirst zur Prostitution in irgendeiner Stadt gezwungen, von der du noch nicht einmal eine Ahnung hast, dass sie überhaupt existiert!“ Sie schüttelte nur entsetzt mit dem Kopf. Der pure Gedanke daran, dass der engste Berater ihres Vaters ein Menschenhändler war, jagte ihr einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. So ließ sie schließlich alles Weitere über sich ergehen. Jonas setzte ihr erneut einen Infusionszugang, diesmal in die rechte Armbeuge, und ließ gleich darauf ein starkes Narkotikum durch die Kanüle fließen. Innerhalb weniger Minuten wurde der jungen Frau schwarz vor den Augen, und sie fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.