Читать книгу Meist sonnig - Andrea Kiewel - Страница 10

Оглавление

Drei is ne Party

Fettes Brot

Es ist, als wollten wir uns unbedingt daran erinnern, wie es war, als wir noch nicht alles im Griff hatten. Anders kann ich mir die Lust auf Wildwiesen nicht erklären. Wildwiesen sind im Grunde genommen nichts anderes als Wiesen, die einfach so vor sich hin wachsen, ohne unser Zutun, ohne unseren Drang, alles optimieren und perfektionieren zu wollen. Wildwiesen sehen aus, als müssten sie dringend mal gemäht werden. Der Mohn wächst kreuz und quer, es gibt irgendwelche Gräser, die unter gedüngten oder kultivierten Umständen niemals den lustigen Gänseblümchen begegnet wären. Wildwiesen sind großartig. Sie sind der beste Beweis dafür, dass alles in Ordnung ist, selbst wenn nichts in Ordnung ist.

Ich möchte auch eine Wildwiese sein oder zumindest eine haben. Deswegen stelle ich mich vor dem Baumarkt mit integriertem Gartencenter an. Es ist 7.50 Uhr am Morgen. Ich bin die Einzige, die zufällig und schlecht vorbereitet die Schlange der Wartenden verlängert. Und ich bin die einzige Frau. Ohne Blaumann, dafür aber mit Hund im Auto. Der zuvor glücklich über glückliche Wildwiesen sprang. Deswegen bin ich hier.

Ich kaufe zwei Blumenkästen, die man ins Balkongeländer hängt. Erde. Blümchen mit komischen Namen und Pfefferminze. Eine Woche erfreue ich mich an meinem Wildbalkon, dann lassen erst die Blumen die Köpfe hängen, danach wird die Minze von irgendeinem Ungeziefer heimgesucht, und ich stelle resignierend fest: Ich kann nicht mal Unordnung.

Überhaupt behagt mir Unordnung nicht so sehr. Das habe ich von meinem Vater. Wir führen Kalender, Listen, schreiben Einkaufszettel und Ansichtskarten aus dem Urlaub, notieren uns Gedanken, Gedichte, streichen interessante Zeitungsartikel an, die andere unbedingt lesen sollten. Wir haben immer Briefmarken und Füllhalterpatronen zu Hause. Ordnung ist das halbe Leben. Wenn alles an seinem Platz ist, fühlen wir uns sicher. Dafür gibt es keine logische Erklärung, aber es ist so.

Im Keller meiner Eltern befinden sich drei große Stapel. Einer ist ein Tohuwabohu aus leeren Koffern und Reisegepäck. Der zweite besteht aus Ordnern voll mit all meinen Kolumnen und Texten, die ich jemals geschrieben habe. Datiert und in Klarsichtfolie abgeheftet. Der dritte Stapel besteht aus Hunderten Videokassetten. Wann immer ich im Fernsehen zu sehen war, aufgetreten bin oder gar moderierte, es ist unauslöschbar auf Video festgehalten. Mit einem Etikett auf dem Kassettenrücken: Datum, Sender, Name der Show.

Mein Vater und ich sind nicht gut mit Geld. Oder womöglich sind wir es besonders, denn es bedeutet uns nichts. Wir haben gern etwas Geld in der Tasche, aber nur, um es auszugeben, weiterzugeben, zu verschenken. Stets bat mein Vater meine Mutter, wenn diese auf mein Betteln nach etwas mehr Taschengeld »Nein« sagte: »Ach Ditti, nun gib ihr schon …«

Ich weine, wenn ich mich daran erinnere, weil ich feststelle, wie ähnlich wir uns sind. Als Kind ahnte ich nicht, wie rührend diese Charaktereigenschaft meines Papas ist. Ich war nur dankbar, dass wenigstens einer der beiden aus finanzieller Sicht auf meiner Seite war.

Mein Vater konnte mir den Umgang mit materiellen Dingen nicht beibringen, sehr wohl aber den mit geistigem Hab und Gut.

»Mutzelchen, du musst klug werden. Lese! Lerne! Und frage, frage, frage. Viele Fragen sind wichtiger als kluge Antworten.«

Ich weiß nicht, ob mein stiller und melancholischer Vater mich ermunterte, so zu sein, wie er es gern gewesen wäre oder ob er womöglich lange vor mir bemerkte, wie neugierig ich eines Tages sein würde und er mir einfach die Angst davor nehmen wollte.

Und ich? Habe ein merkwürdiges Verhältnis zu meinem Girokonto. Wir pflegen eine leidenschaftslose Beziehung. Unsere Kosten-Nutzen-Bilanz ist okay.

Aber ich halte mich an den Ratschlag meines Vaters und frage. Oftmals zu viel. Und ich rede. Zumeist ohne Punkt und Komma. Manchmal verstelle ich mich. Ich rede mir ein: »Nun ist es genug!« Es hält nicht lange vor. Etwas Neues zu erfahren, ist pures Glück für mich. Etwas Neues zu lernen, begeistert mich. Und darüber mit Freunden oder dem Liebsten zu sprechen, ist für mich kostbarer als alle Goldvorräte auf dieser Welt. Ich bin die Tochter meines Vaters. Ich übertöne seine Stille mit Gesprächen. Ich habe die Fragen zu seinen Antworten. Ich versuche, seine Melancholie mit Pink und Rosa zu kolorieren. Erbschaften kann man sich nicht aussuchen.

Muss ich meinen Eltern eigentlich sagen, dass diese Kassetten mit Sicherheit das Erste sein werden, das ich entsorge, wenn Mama und Papa mal nicht mehr sind? Warum vererbte mein Vater mir das dringende Bedürfnis nach Ordnung, nicht aber sein Talent, Geige zu spielen? Vielleicht lasse ich den Keller meiner Eltern aber auch genau so, wie er ist. Eine urbane Wildwiese im Untergeschoss eines Mehrfamilienhauses. Sie riecht nach feuchtem Beton und Farbe. Manchmal stehen Wasserpfützen in den Gängen. Und da unten, hinter einer kleinen, unscheinbaren Tür, lagert das komplette Archiv meines Berufslebens. Ob ich mich nachts mit mir selbst auf Hunderten Videokassetten unterhalte? Worüber reden wir?

Meist sonnig

Подняться наверх