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Begegnung im Bois de Vincennes

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Nachrichten vom 23.Oktober 2003:

Gestern ist unsere älteste Mitbewohnerin, Marieke Wijnbracht im Alter von 102 Jahren friedlich eingeschlafen.

Die Trauerfeier findet heute Abend um 18:00 Uhr in der Kapelle statt.“

Am Morgen des 24.Oktobers entfernte Lucia unter Anderem auch diese Mitteilung vom schwarzen Brett im Eingangsbereich des Seniorenwohnstiftes Zeezicht. Mit Frau Wijnbracht hatte sie sich gut verstanden. Die alte Dame war immer sehr erfreut und dankbar, wenn Lucia nach ihrer Schicht noch rein privat ein wenig Zeit mit ihr verbrachte. Marieke Wijnbracht hatte weder Angehörige noch Freunde hinterlassen. Ihre Bekanntschaften bezogen sich auf einige Mitbewohner des Stiftes und den alten Bibliothekar Marinus aus Bergen op Zoom, der Gemeinde zu der Zeezicht gehörte.

Eine Woche später war in das verwaiste Zimmer ein neuer Bewohner gezogen. Marieke Wijnbrachts persönlicher Besitz lagerte, in Plastiksäcke und einen großen Karton verpackt auf dem Dachboden. Vielleicht meldete sich doch noch jemand der Ansprüche erhob. Ein Stapel Bücher, der ebenfalls von ihr stammte, lag noch im Eingangsbereich der kleinen, hauseigenen Bibliothek. Lucia machte sich daran den Lesestoff zu sortieren und aufzulisten. Sie war fast fertig, als sie auf ein Buch mit dunkel-blauem Einband ohne Beschriftung stieß. Lucia blätterte es auf:

„Mijn dagboek“

stand handschriftlich auf der ersten Seite geschrieben und weiter:

„Marieke Wijnbracht,

mei 1924 - april 1925“

Frau Wijnbrachts Tagebuch. Das gehörte natürlich nicht in die Bibliothek. Lucia legte es erst mal beiseite und sortierte die anderen Bücher ein. Dann verließ sie die Bibliothek und nahm das Tagebuch mit. Frau Wijnbracht hatte ihr oft Begebenheiten aus ihrem Leben erzählt. Die betrafen aber meist die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. 1924, da war Marieke 23 Jahre. Genauso alt wie Lucia heute. Lucia war gespannt, was sie zu lesen bekommen würde. Noch am selben Abend begann sie in das Leben der Marieke Wijnbracht vor 79 Jahren einzutauchen.

4. mei 1924 - Heute, am Sonntag wurden die 8. Olympischen Sommerspiele in Paris eröffnet und ich war dabei! Amsterdam hatte sich auch beworben und eigentlich hätte mein Herz höher schlagen sollen, würden die Spiele in der Heimat stattfinden. Aber Paris finde ich mittlerweile besser (für mich). Es macht mehr Plaisir nach Paris als nach Amsterdam zu reisen. Gestern bin ich mit Papa hier eingetroffen. Unser Hotel liegt in der Nähe des Place de la Bastille. Das ist bequem. Mit der Hochbahn ist man schnell mitten in der Stadt und auch die Austragungsorte der einzelnen Disziplinen sind sehr gut erreichbar. Papa interessiert sich in der Hauptsache für den Reitsport, der im Stade de Colombes stattfindet. Ich sehe gerne beim Tennis zu, das ist der einzige Sport den ich hin und wieder selbst betreibe. Und tanzen, ja das gefällt mir, leider ist das nicht olympisch!

10. mei1924 – So schnell flieht die Zeit! Jetzt sind wir schon eine Woche in dieser wunderschönen Stadt, an der ich mich nicht satt sehen kann. Ich habe auch schon eine Bekanntschaft geschlossen: Madame Margaretha. Getroffen habe ich sie im Bois de Vincennes. Es war schon spät. Papa hatte ich verpasst und nun war ich auf dem Weg zur Bahnstation um ins Hotel zu fahren. Die Wege im Park sahen in der Nacht so ganz anders aus. Musste ich rechts oder links abbiegen? Ich wusste es nicht. Als ich der Verzweiflung schon ziemlich nahe war, bemerkte ich einen Schatten, der sich mir schnellen Schrittes näherte. Erschrocken wollte ich mich verstecken, man hört ja von allerlei sich umhertreibenden Gesindel, da sah ich, es war eine Dame die da auf mich zukam. Ganz in schwarz gekleidet und tief verschleiert. Als sie direkt vor mir stand, schlug sie den Schleier zurück und lächelte mich an. Ein Hauch von Guerlains Jicky lag in der Luft. Erleichtert, nicht mehr alleine in dieser Dunkelheit zu sein, grüßte ich sie, stellte mich vor und erzählte, welches Missgeschick mir widerfahren war. Wortlos machte sie eine Bewegung auf mich zu und lenkte meinen und ihren Schritt in die Richtung aus der ich gekommen war. Nach einigen Minuten des stummen Nebeneinanders nahmen wir einen schmalen Pfad, der auf einen breiten gepflasterten Weg führte. Nun blieb die Dame stehen, ordnete ihren Schleier und sprach: „Mein Name ist Margaretha. Mein Weg führt mich des Nachts durch diesen Park. Auch ich bin auf der Suche. Komm wieder und begleite mich.“ Ich blickte geradeaus und konnte entfernt das schwache Licht einiger Laternen sehen. Dort musste der Bahnhof sein. Als ich mich bedanken wollte, war die Dame verschwunden.

Papa war heilfroh, dass er mich zwar sehr spät aber unbeschadet in die Arme schließen konnte. Ich schlief nach diesem Erlebnis tief und traumlos.

12. mei 1924 – Papa besuchte gestern Abend die Oper. Gegeben wurde „Pelléas et Mélisande“ von Debussy, soweit mir bekannt war, ein Stück welches 3 Stunden dauert. Ich entschuldigte mich, sagte mir sei nicht wohl, er aber könne unbesorgt ausgehen. Insgeheim wollte ich Margaretha noch einmal treffen. So außergewöhnlich die Begegnung im ersten Moment war, so neugierig war ich darauf, mehr zu erfahren. Ich bestellte mir kurz vor Mitternacht eine Kutsche und gab Anweisung zum Bois de Vincennes zu fahren. Angekommen, gab ich dem Kutscher einige Franc, lieh mir von ihm eine Handlaterne und bat ihn, auf meine Rückkehr zu warten. Ich ging den breiten gepflasterten Weg entlang bis zur ersten Gabelung. Dort leuchtete ich in die Anfänge der abzweigenden Pfade. Nichts zu sehen. Ich ging noch ein Stückchen weiter und da sah ich sie. Margaretha saß auf einer etwas versteckt stehenden Bank unter dem weit ausladend hängenden Gezweig einer Trauerweide. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und blickte nach oben. Trotzdem musste sie mich bemerkt haben, denn sie begann ohne ihre Haltung zu verändern zu sprechen: „Wie schön sie wieder zu sehen Mademoiselle. Ich hatte gehofft ihnen nochmals zu begegnen. Die Nächte hier sind einsam. Ich bin auf der Suche. Kennen sie Luise-Jeanne MacLeod? Sie wird auch Non genannt. Sie müsste in ihrem Alter sein. Haben sie von ihr gehört, sie gesehen?“

Margaretha war aufgestanden und hielt meine Hand. Seltsam erschien es mir, den Händedruck nicht zu spüren. Im gedämpften Licht meiner Handlaterne sah ich sie vor mir stehen. Eine schöne Frau ganz in Schwarz, das dichte dunkle Haar hochgesteckt, gekrönt von einem kleinen Hut, den heute ein kleiner Schleier zierte. Ihre Haut hatte die Farbe von Alabaster, blass und durchscheinend. Der Duft von Jicky umwehte sie auch in dieser Nacht. „Madame“ antwortete ich, „seien sie meiner Hilfe versichert, aber leider kenne ich die gesuchte Person nicht. Ich lebe ja nicht in Paris, sondern in der Nähe von Breda.“

Non wohnt auch nicht in Paris“ flüsterte Margaretha, „ihr letzter Aufenthaltsort von dem ich weiß war Velp. Das liegt in der Gegend um Nijmegen.“

Es tut mir so leid Madame, ich kann ihnen nicht weiter helfen. Engagieren sie am besten einen Detektiv. Erst kürzlich habe ich einen Roman gelesen, in dem ein solcher eine vermisste Person gefunden hat. Sherlock Holmes lautet sein Name, wobei ich nicht weiß, ob es ihn wirklich gibt.“

Schade“ antwortete sie. „Ich bin gebunden an diesen Ort“

Jetzt erfüllte ein Schaudern meine Brust. Konnte es denn sein, das ich mit einem Geistwesen sprach? Ich trat einen Schritt zurück und schaute verstohlen zu Madame. Die strich verloren eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie sah so unendlich traurig aus. Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und fragte: „Madame, ist es möglich, dass sie noch im Tode auf der Suche sind?“

Margaretha rang die Hände und blickte zu Boden. Dann straffte sich ihre Gestalt, sie raffte ihren Rock und begann sich in Tanzschritten zu drehen. Wie ein feiner kühler Luftzug hatte mich ihre plötzliche Bewegung gestreift.

Mademoiselle Wijnbracht, liebste Marieke, sie sind eine außerordentlich kluge junge Dame. Genau so klug und so schön wie meine Luise-Jeanne. Wollen sie meine Non sein? Wie wäre das: Marieke am Tage und Non in der Nacht?“

Noch ehe ich antworten konnte, hörte ich das typische Geräusch, welches Hufeisen auf gepflastertem Grund verursachen. Ein Augenblick des Umschauens genügte und Margaretha war verschwunden. Ich rief sie ein- zweimal, es geschah nichts. Verwirrt trat ich den Rückweg an. Der brave Kutscher hatte wahrhaftig auf mich gewartet obwohl es schon nach Mitternacht war. Noch bevor Papa kam, war ich im Hotel angelangt. In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Gedanken und Vorstellungen machten sich in meinem Gehirn breit und führten doch zu keinem Ergebnis. Wer war diese Margaretha? Kein lebendes Wesen. Soviel stand für mich fest.

Der Schlaf hat mich anscheinend doch noch übermannt, denn ich bin erst um die Mittagszeit erwacht. Die vergangene Nacht war lang und unwirklich. Hatte ich das erlebt oder geträumt? Mit Papa wollte ich nicht darüber sprechen. Aber dir, mein liebes Tagebuch vertraue ich dieses Erlebnis an.

13. mei 1924 – Versailles, welch eine Pracht! Beim Spaziergang durch die herrlichen Parkanlagen dachte ich nicht an Margaretha und hatte deshalb im Nachhinein fast ein schlechtes Gewissen! Hier strahlte die Sonne von einem blitzblauen Maienhimmel und erweckte eine gewaltige Frühlingssymphonie. Nicht vergleichbar mit den mondblassen Nächten im Bois de Vincennes!

15. mei 1924 – Heute in der Frühe hat Papa eine Depesche erhalten. Sein Bruder, mein lieber Onkel Johannes ist schwer erkrankt. Sofort haben wir die Heimreise angetreten.

Lucia blätterte die Tagebuchseite gespannt um. Sie war schon ziemlich müde, aber wer diese Margaretha war und was es mit ihr auf sich hatte, wollte sie schon gerne wissen. Enttäuscht blickte sie die folgenden zehn Seiten an. Alte Ansichtskarten von Paris waren fein säuberlich eingeklebt. Dann folgte das Datum 30.05.1924. Darunter ein gelbstichiges Foto einer jungen Frau. Das musste Marieke in jungen Jahren sein. Oh ja, sie war sehr hübsch. Mit diesem Foto endete das Tagebuch. Lucia war enttäuscht. Das Gelesene warf zu viele Fragen auf. Sie beschloss, dem alten Bibliothekar Marinus van Breegen am nächsten Tag einen Besuch abzustatten. Wenn jemand etwas über das Leben von Frau Wijnbracht wusste, dann er.

In der guten Stube des Herrn van Breegen bedeckten raumhohe Bücherregale alle vier Wände. Die restliche Einrichtung bestand aus einem kleinen Tisch, zwei Sesseln und einer altmodischen Stehlampe, die dieses Ensemble in heimeliges Licht tauchte. Lucia erzählte kurz was sie herführte. Marinus van Breegen lächelte und deutete auf den Tisch, auf dem ein Stapel von sieben Büchern lag. Alle mit dunkelblauem Einband, alle außen nicht beschriftet.

„Sind das etwa …“ Lucia schaute fragend.

„Ja“, schmunzelte Marinus „das sind Mariekes Tagebücher. Das Erste beginnt im Mai 1923. Das Letzte endet im April 1973. Sieben Bücher, fünfzig Jahre Leben. Und so wie ich das sehe, hast du Buch Numero Zwei. Das fehlt nämlich. Schon als Marieke mir ihre Tagebücher anvertraute war es unauffindbar.“

„Richtig“ antwortete Lucia. „Es war zwischen Frau Wijnbrachts Büchern nach hinten gerutscht. Ich habe es gefunden und ich muss gestehen, es auch gelesen zu haben.“

„Und jetzt möchtest du sicher wissen, wie die Geschichte weiter geht.“

„Ja, das wäre schön. Zumal das Tagebuch an einer sehr spannenden und unheimlichen Stelle nach einer Begegnung im Bois de Vincennes und der anschließenden Abreise aus Paris endet.“

Marinus van Breegen setzte sich, nahm das Tagebuch und blätterte es behutsam Seite für Seite um. Dann legte er es beiseite und fragte: „Hast du denn eine Ahnung, wen Marieke im Park getroffen hat? Sicher nicht. Die Geschehnisse, die dieser Begegnung zugrunde liegen sind zu lange her. Es ist gut, dass du zu mir gekommen bist. Marieke und ich haben oft darüber gesprochen und bei Abwägung aller Eventualitäten der genannten Namen und des Ortes, waren wir beide uns ziemlich sicher um wen es sich gehandelt hatte. Sagt dir der Name Margaretha Geertruida Zelle aus Leeuwarden etwas?“

„Nein, nicht das ich wüsste“ Lucia schüttelte den Kopf.

„Dann sagt dir vielleicht der Name Mata Hari etwas?“

„Ja, von Mata Hari habe ich schon gehört. War das nicht diese Tänzerin, die der Spionage angeklagt wurde?“

„Stimmt. Das war sie. Margaretha, die sich den Künstlernamen Mata Hari gab, hatte aus ihrer Ehe mit John MacLeod eine Tochter mit Namen Luise-Jeanne. Sie nannte sie ‚Non‘, was auf malaisch ‚Mädchen‘ heißt, denn Luise-Jeanne wurde in Indonesien geboren. Später kehrte die Familie wieder nach Europa zurück und irgendwann wurde die Ehe geschieden. Die Tochter blieb beim Vater und Margaretha zog durch die Welt. Ihre Tanzdarbietungen erregten damals viel Aufsehen. Im Jahr 1917 wurde Mata Hari der Spionage verdächtigt und angeklagt. Sie wurde schuldig gesprochen und im Oktober desselben Jahres in der Festung Vincennes erschossen. Ein Grab gibt es nicht.“

„Wow, da hatte Marieke sehr recht als sie fragte: ‚Madame, ist es möglich, dass sie noch im Tode auf der Suche sind‘?“ warf Lucia ein.

Marinus nickte: „Das stimmt, das hatte Marieke gut erkannt. Mata Hari hat ihre Tochter vor ihrem gewaltsamen Tod nicht mehr gesehen. Und als 1924 die Begegnung im Bois de Vincennes stattfand, weilte auch Luise-Jeanne nicht mehr unter den Lebenden. Sie starb im Herbst des Jahres 1919. Non wurde nur 21 Jahre alt.“ Marinus seufzte: „Das ist das Leben, was will man machen.“

„So langsam verstehe ich“ meinte Lucia. „Die Festung Vincennes liegt im oder am Bois de Vincennes, Margaretha und Marieke stammten aus dem gleichen Land. Das sind oder waren die Gemeinsamkeiten!“

„Das hast du richtig verstanden. Nun, es bleiben noch ein paar Jahre Zeit. Wer weiß, vielleicht kommt es hundert Jahre nach Margarethas Tod zu einer neuen Begegnung?

Am 15. Oktober 2017 im Bois de Vincennes.“

Begegnung im Bois de Vincennes

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