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Das alte Haus war auf Hochglanz gebracht. Bohnerwachs hing in der Luft. Der Dielenboden und die Holzstiege schimmerten samten. Ihre Mutter hatte früher pünktlich am ersten Samstag des Monats gewachst, und Damaris, Paul und Sonja liebten es als Kinder, in Strümpfen über den glatten Boden zu gleiten. Sonja lächelte bei der Erinnerung. Ein Samstagsgefühl begann sie zu durchströmen, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr kannte. Es war ein erwartungsvolles, freudiges Prickeln, als ob irgendetwas Außergewöhnliches, Besonderes geschehen müsste.

Verlegen ertappte sie sich dabei, dass sie auf die vertrauten Schritte ihres Vaters lauschte. Am liebsten wäre sie nicht durch den schmalen Flur in die Küche, sondern die Holzstiege hoch in ihr altes Zimmer gegangen. Daneben hatte das Schlafzimmer ihrer Eltern und später dann das ihres Vaters gelegen. Wenn sie sacht anklopfte, vielleicht würde die warme, alte Stimme wie früher: „Komm schon endlich rein! Schön, dass du da bist!“, rufen, und sie könnte sich daheim fühlen.

Aus dem Esszimmer drang geschäftiges Klappern. Damaris wies ihre kleine Tochter an, die Servietten nicht auf, sondern neben die Teller zu legen. Sonja rief sich zur Ordnung. Ihr Vater war seit drei Jahren tot. Wolfgang hatte das Haus komplett renoviert und außer dem Flur erinnerte nichts mehr an ihre Kindheit. Der Speicher war ausgebaut, die Küche verkleinert, das Wohnzimmer vergrößert und der Garten betoniert worden. Grellorange gemusterte Tapeten waren ausgetilgt und durch dezentere Struktur- und Textiltapeten ersetzt worden. Bäuerlich anmutende Einbaufronten verliehen der Küche nun trotz Geschirrspülmaschine, Eierkocher und Mikrowelle einen bodenständigen Charme. Die funktionalen, himmelblauen Plastikschränke ihrer Mutter waren auf dem Sperrmüll gelandet.

Das Wohnzimmer wurde von einer Schrankwand beherrscht, nussbaumfurniert, als Abrundung eine ausladende Polstergarnitur. Natürlich fehlte auch der Glastisch nicht - die Krönung der Gemütlichkeit. Drei Kinder schmückten ihn mit Handabdrücken, damit Damaris ihn täglich polieren konnte. Zweifellos hätte ihre Mutter diese Einrichtung gemocht, wahrscheinlich hatte sie sogar selbst von einer Schrankwand geträumt, aber sie waren nie wohlhabend gewesen. Wie früher war das Esszimmer Sperrgebiet und nur zu besonderen Gelegenheiten zugänglich. Edelmöbel, teure Ziergegenstände, das gute Geschirr und ein schwer zu reinigender, kostbarer Teppich - vielleicht hatte sich doch nicht so viel verändert.

Allerdings den Gemüse- und Kräutergarten vermisste Sonja. Wo er sich einst den Hang hinaufgeschlängelt hatte, von Steinmäuerchen, Sträuchern und Obstbäumen durchbrochen, lag jetzt Wolfgangs Stolz - eine gewaltige Betonterrasse, die in der Tat Platz für Damaris Wäschespinne und das Familiengartenmöbel bot. Sonja besuchte ihre Schwester nicht oft, denn Wolfgang und sie verband eine zur festen Gewohnheit gewordene Abneigung.

Beide hassten dieses jährliche Familienfest. Fünf Personen, die sich nichts zu sagen wussten, versammelten sich um den ausziehbaren Kirschbaumtisch. Nur Damaris schien sich unermüdlich auf dieses Geschwistertreffen zu freuen. Als Älteste hielt sie es wohl für ihre Pflicht, die Familie zusammenzuhalten. Paul, der Jüngste von Ihnen, wohnte mit seiner Frau und seinem vierjährigen Sohn in Hamburg. Er hatte in der Großstadt seine Wahlheimat gefunden, und nichts zog ihn in das provinzielle Heilbronn zurück. Trotzdem würden die drei pünktlich zum Abendessen erscheinen, zum Umfallen müde von der langen Fahrt.

Sonja straffte die Schultern. Sie konnte nicht ewig hier im Flur stehen bleiben, es wurde Zeit offiziell anzukommen. Die Tür zum Esszimmer lag zu ihrer Rechten. Sie musste nur die Hand ausstrecken und die Klinke herunterdrücken. Und wenn sie einfach kehrt machte? Wenn sie sich zu ihrem Auto zurückschlich und von der nächsten Telefonzelle aus anrief? Darmgrippe, von jetzt auf nachher. Am Morgen hatte es angefangen, aus heiterem Himmel. Was konnte sie nur gegessen haben? Sie wäre gerne gekommen, daher hatte sie auch bis zum letzten Augenblick gezögert abzusagen. Keine Frage, kommendes Jahr wäre sie zur Stelle. Es tat ihr schrecklich leid! Lautlos streifte sie die Schuhe von den Füßen - nur jetzt nicht noch ertappt werden! Ein vierunddreißigjähriges Schulmädchen - nicht kichern, sie durfte auf keinen Fall kichern, sonst war ihre Chance vertan.

Polterndes Klirren und das entsetzte Weinen von Dagi, dem fünfjährigen Nesthäkchen, drangen aus dem Esszimmer. „Du weißt genau, dass du die Gläser nicht in die Hand nehmen darfst, Dagi! Sieh dir an, was du angerichtet hast! Habe ich dir nicht gesagt, dass du das Besteck verteilen sollst? Raus hier, und lass dich erst wieder blicken, wenn Tante Sonja da ist!“ Die Tür wurde aufgerissen, und das kleine Häufchen Elend blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. „Raus mit dir, ich will dich nicht mehr sehen!“

Sonja fühlte die Röte ins Gesicht steigen. Sie legte den Zeigefinger an die Lippen und blinzelte Dagi verschwörerisch zu, aber es war zu spät. Die Kleine, ganz neugierige Verwunderung, hatte ihr eigenes Unglück längst vergessen. „Tante Sonja, Tante Sonja ist da! Mami, guck doch, sie ist strümpfig.“ Schnell wischte Dagi sich die Tränen vom Gesicht und musterte die seltsame Tante kritisch. „Man darf nicht strümpfig gehen, da wird man krank und die Socken gehen kaputt.“

Damaris trat hinter ihre Tochter und warf ihrer Schwester einen erstaunten Blick zu. „Die verdammten Schuhe drücken. Ich habe von den paar Metern schon eine Blase.“

Tadel zuckte um Damaris Mundwinkel. Würde sie es sagen? Sonja wartete gespannt. Sie sah förmlich, wie sich ihre Schwester auf die Zunge biss. „Du sollst nicht vor dem Kind fluchen!“

Immerhin, sie hatte es versucht. Sonja lächelte entschuldigend. „Hallo Schwesterherz! Ich habe im Stau festgesteckt. Tut mir leid, dass ich so spät komme. Kann ich dir noch etwas helfen?“

„Wir sind fast fertig. Der Auflauf ist im Ofen, der Tisch so ziemlich gedeckt. Paul hat vor knapp einer Stunde von einem Rastplatz angerufen. Sie müssten gleich ankommen. Hast du Lust, den Salat zu machen? Geputzt ist er schon.“

Sonja verschwand mit Dagi im Schlepptau in der Küche. Wolfgang und die Zwillinge saßen im Wohnzimmer und sahen sich die Sportschau an. Sie hoben kaum die Köpfe, um auf Sonjas Begrüßung zu reagieren. Schade eigentlich, dass an diesem Abend kein wichtigeres Spiel wie zum Beispiel die Endausscheidung einer Weltmeisterschaft übertragen wurde!

„Darf ich dir die Zwiebeln schneiden, Tante Sonja? Ich kann das schon. Die Mama lässt mich das auch machen.“

Mit schlechtem Gewissen wandte Sonja ihre Aufmerksamkeit dem Kind und der Salatsoße zu. „Klar, darfst du!“ Sie schälte eine Zwiebel, halbierte sie und legte sie dem Kind zurecht. Mit Feuereifer machte Dagi sich ans Werk und ihre Zunge spitzte vor Konzentration etwas zwischen den Lippen hervor während sie mit dem Messer hantierte. Die Zwiebelstücke, die sie zuwege brachte, waren viel zu grob, aber Sonja tadelte die Kleine nicht, sondern beobachtete sie mit einem seltsamen Gefühl der Traurigkeit. „Soll ich dir die Geschichte vom Zwiebelkönig und der Heulsuse erzählen?“, bot sie quasi als Widergutmachung an.

„Oh ja! Eine ganz, ganz lange Geschichte, bitte!“, jubelte Dagi mit leuchtenden Augen, ließ sich anstandslos Brett und Messer wegnehmen und setzte sich erwartungsvoll auf der Eckbank zurecht.

„Es war einmal ein armer, alter Bauer“, begann Sonja zu erzählen. „Seine Frau war gestorben und hatte ihn mit seiner Tochter Suse allein zurückgelassen. Suse vermisste ihre Mama sehr, aber da sie wusste, dass auch ihr Vater sehr einsam war, klagte sie nicht, sondern half ihm, so gut sie konnte. Sie kochte, putzte, arbeitete auf dem Feld und kümmerte sich um die Kuh. Natürlich hatte sie da keine Zeit mehr zu spielen, oder den Fröschen zuzusehen. Abends fiel sie todmüde ins Bett und stand mit dem Hahn im Morgengrauen auf. Eines Morgens, als Suse das große Zwiebelfeld hackte, wurde sie von einer dunklen, tiefen Stimme gerufen. Erschrocken sah sie sich um, aber es war weit und breit niemand zu sehen. Nachdenklich schüttelte Suse ihren Kopf und wollte weiterarbeiten, da hallte ihr Name erneut dumpf durch die Stille zu ihr herüber. Der Ruf schien aus der Mitte des Feldes zu kommen, und tatsächlich thronte dort eine prächtige Riesenzwiebel, die sie mit ihren langen Blättern zu sich heran winkte. Neugierig näherte sich Suse. Wer bist du?, fragte sie verwundert und ein wenig furchtsam.

Ich bin der König der Zwiebeln. Du bist ein fleißiges Kind, und ich würde dich gerne auf meine Reisen mitnehmen. Hast du denn Lust, die große, weite Welt kennen zu lernen?

Dagi saß bewegungslos und lauschte.

„Sonja, ich glaube das Auto ist vorgefahren. Siehst du mal aus dem Wohnzimmerfenster?“ Der Ruf kam aus dem ersten Stock. Wahrscheinlich richtete Damaris die Betten für ihre Gäste.

„Nicht aufhören! Weitererzählen, Tante Sonja! Was ist mit der Suse?“

„Das geht jetzt nicht, Dagi, vielleicht später. Komm, lass uns zusammen nachsehen, ob Onkel Paul und Tante Claudia angekommen sind!“

Das Kind zuckelte unzufrieden hinter ihr her. Eine Schiebetür führte von der Küche direkt ins Wohnzimmer. Um an das Panoramafenster zu gelangen, musste Sonja am Fernseher vorüber. Sie konnte hören, wie Wolfgang und seine sechzehnjährigen Söhne verärgert die Luft einsogen. Sonjas Nackenhaare sträubten sich. Es hatte angefangen, jetzt gab es kein Entkommen mehr. Ein endloses Abendessen, ein endloser Abend, kein Zimmer für sich allein, ein endloses Frühstück und ein endloses Mittagessen standen ihr bevor. Paul kam schließlich extra aus Hamburg, da durfte sie sich doch nicht vor ihm verabschieden.

Das erste Wochenende im September verlief nach einem strengen Ritual. Am späten Vormittag würde Paul mit seiner Familie wieder abfahren, um bei einem alten Schulfreund den Sonntag zu verbringen. Sonja hatte am Samstag etwas früher zu erscheinen, um Damaris bei den Vorbereitungen zu helfen. Am Sonntag musste sie das Mittagessen noch im Kreise der Familie einnehmen, dann erst war auch sie entlassen.

Warum nur war sie wieder hier? Es wäre ihr fast gelungen, die Tradition zu brechen. Der Stau war reine Erfindung. Auf der A81 hatte sogar ungewöhnlich schwacher Verkehr geherrscht. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand hatte sie zuhause reglos am Küchenfenster gestanden und gewartet. Die Minuten waren verstrichen, aber sie hatte das mahnende Ticken der Uhr ignoriert und darauf gehofft, spontan zum Telefonhörer zu greifen. Vergeblich. Es war ein sonniger Septembertag. Ein Tag, um einen langen Waldspaziergang zu machen. Hinterher hätte sie sich ein Stück Torte gönnen können und auf dem Balkon in ihrem Dickens schmökern. Ein schöner, erholsamer Tag, den sie sich verdient hatte und den sie dringend brauchen konnte. Sie stand sehr lange so da, starrte aus dem Fenster, hoffte und gab schließlich auf.

Als sie ins Bad ging, um sich zu richten, gelang es ihr nicht, der Frau im Spiegel das gewohnte Lächeln des Erkennens abzuringen. Die weit auseinanderstehenden grünen Augen, das kurze dunkelblonde Haar, der zu groß geratene Mund - Zeichen einer Zugehörigkeit, die sie nicht nachvollziehen konnte. Ihre Schwester sah ihr entgegen, sie kamen beide nach ihrer Mutter. Von zierlicher Statur und zäher Natur. So hatte ihr Großvater die Grundcharakteristika seiner Familie oft schmunzelnd auf einen Nenner gebracht. Auch Paul war nicht verschont geblieben. Mit seinen einsfünfundsechzig pflegte er außer seinen Schwestern, nur selten jemanden zu überragen. Sonja wusste, dass sie vor der Verpflichtung im Spiegel nicht davonlaufen konnte.

Pauls roter Mercedes stand tatsächlich vor dem Haus. Ob er wohl auch am liebsten weitergefahren wäre? Sonja fühlte Schadenfreude in sich aufsteigen. Wenigstens scheiterte sie nicht als einzige an der Aufgabe, einen Schlussstrich zu ziehen. „Ich will auch raussehen! Heb mich hoch! Ich seh nichts!“, quengelte Dagi und zupfte ungeduldig an der Bluse ihrer Tante.

„Sonja, Herzensschwägerin, bitte, halte uns Dagi noch ein Weilchen von der Pelle!“, knurrte Wolfgang genervt, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Schnell nahm Sonja das Kind auf dem Arm und flüchtete aus dem Zimmer.

Wie in der Nachkriegszeit üblich, lagen Keller und Garage des Hauses ebenerdig. Um zu den Wohnräumen zu gelangen, musste man eine gewundene Außentreppe, die um das rechte Hauseck führte, hochsteigen. Damaris stand bereits auf dem unteren Treppenabsatz und begrüßte die Hamburger herzlich. Dagi hatte es eilig, von Sonjas Arm zu kommen, um so schnell als möglich zu ihrer Mutter zu gelangen. Mutter und Tochter winkten fröhlich, eingerahmt von stattlichen Geranien, die auf den Treppenpfeilern standen. Ein schönes Stillleben.

Sonja wusste, dass auch sie dort hätte stehen sollen. Das Bild hätte den Titel Begrüßung oder Verabschiedung tragen können. Die Winkenden gaben darüber keinen Aufschluss. Sonjas Beine wogen Tonnen. Sie musste ihren Platz einnehmen und konnte sich einfach nicht bewegen. Wie sollte sie erklären, dass es nicht Gleichgültigkeit oder Ablehnung waren, die sie zurückhielten und lähmten? Sie konnte sie nur nicht zusammenbringen, die Bilder der Vergangenheit und der Gegenwart.

Dagis Jauchzen und ein vertraut anmutendes Männerlachen rissen sie aus ihrer Starre. Schnell eilte sie die Treppe hinab, um an dieses Lachen anzuknüpfen. „Da ist ja auch die Frau Lehrerin? Wie geht es dir? Waren deine Schüler brav?“ Irritiert hielt sie inne. Keep smiling in ernsthafte Züge gemeißelt. Die Linien in seinem Gesicht wiesen streng nach oben. Sie suchte nach der herzlichen Natürlichkeit, die sie eben noch wiedererkannt zu haben glaubte, aber sie musste sich getäuscht haben. Der erfolgreiche Unternehmensberater hatte keine Ähnlichkeit mit ihrem Bruder.

Es konnte nicht gut gehen, wenn sie sich gegen die Veränderung wehrten. Das Vergangene war verloren und bot keine Anhaltspunkte. Angestrengt versuchte sie, die Menschen zu sehen, mit denen sie an diesem Abend zusammen am Tisch saß, aber es gelang ihr nicht. Ihre Zusammenkünfte waren eingespielt. Sie folgten einem strengen Ritual und keiner - auch sie nicht - fiel aus seiner rituellen Rolle. Vielleicht verbargen sich hinter den Masken Menschen, zu denen eine Beziehung möglich gewesen wäre, aber sie konnte sie nicht erkennen. Ausgesprochen erfreute Gesichter versicherten einander, dass alles noch beim Alten war. Floskelhafte Vertrautheit und undurchsichtige Zuneigung als spiegelnde Oberfläche, die luftdicht versiegelte. Darunter erstickten Gefühle, die vielleicht einmal tief und ursprünglich gewesen waren.

Damaris lachte schallend. Wolfgang erzählte mimisch brillant. Claudia aß in aller Ruhe, sah sich anerkennend um, lobte das Essen, eine Veränderung der Einrichtung, die Sonja nie aufgefallen wäre, Dagis gute Tischmanieren und Damaris Frisur. Pauls Frau verstand es hervorragend, höfliche Konversation zu machen, ohne wirklich anwesend zu sein. Paul lächelte zu allem, stimmte allem zu und versuchte dabei kokett, seinen beruflichen und materiellen Erfolg nicht gar zu sehr durchblicken zu lassen, ohne dass er auch nur für eine Sekunde in Vergessenheit geriet. Sie alle würden diesen Tag aussitzen. Alles ging vorüber, man musste nur gleichmäßig weiteratmen und durfte sich nicht gehen lassen.

Dagi und Peter hatten die Köpfe eingezogen, und sogar die Zwillinge verhielten sich unnatürlich schweigsam. Eifrig bemüht, ein unverfängliches Tischgespräch aufrecht zu halten, blieben den Erwachsenen nur ihre Kinder. Rücksichtslos schützten sie sich, indem sie diese preisgaben. Es gab keine Intimsphäre, denn es gab niemanden, der sie hätte einklagen können. Damaris berichtete anschaulich von den ersten Annäherungsversuchen ihrer Söhne an das andere Geschlecht. Lustige Episoden pubertärer Schwerfälligkeit - die Jungen zogen sich beschämt in sich zurück, während die Tischrunde dankbar in haltloses Gelächter ausbrach.

Sonja hatte das Gefühl in tiefes Wasser geraten zu sein. Die Unterströmung war unberechenbar und stark. Sie zog sie mit sich fort, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. Die Tischgeräusche wurden leiser und schienen nur noch aus weiter Ferne zu ihr zu dringen. Worte erreichten sie kaum noch, und sie bemühte sich verzweifelt, irgendwie angemessen zu reagieren. Die lächelnden Lippen schmerzten und schienen nicht zu ihr zu gehören. Zeit verdichtete sich und keilte sie ein. Die Linien zurück schienen abgerissen, die Linien nach vorn, lagen weit außerhalb ihrer Reichweite.

„Ach Sonja - die ist keine Hilfe. Sie kommt kaum öfter als ihr. Keine Kinder, keinen Mann zu versorgen, mehr Ferien als Schule, aber nie Zeit für einen Besuch bei uns.“ Damaris Stimme war ein Flüstern, das zu ihr herübergeweht wurde. Sonja erkannte die Rettungsleine und wollte nach ihr greifen. Warum sollte sie sich nicht verteidigen? Vielleicht war ein Streit das einzige, was sie noch erlösen konnte. Sie suchte nach einer angemessen empörten Erwiderung, aber der träge kraftvolle Strom zog sie weiter. Lächelnd waren ihre Lippen versteinert, und sie konnte nur wie die Kinder den Blick senken.

Jetzt war Dagi an der Reihe. Wie konnte sie nur zwei der guten Gläser fallen lassen. Sie war noch zu tollpatschig für ihr Alter. Vielleicht wäre es besser, sie ein Jahr zurückzustellen. Die Schule würde sie wahrscheinlich noch überfordern. Es war noch ein Jahr Zeit. Man würde genau darüber nachdenken müssen. Sonja war froh, als sie Zorn in sich aufsteigen fühlte. Damaris hatte diese Gläser immer genauso gehasst wie sie. Es waren unproportionierte, plumpe Kristallungetüme, die bereits ihre Mutter nur wie einen Schatz gehütet hatte, weil die Gläser sie an ihre Mutter erinnerten.

„Dagi, nimm' s nicht so schwer! Weißt du, es sind ja noch zehn Gläser übrig, und die sind so alt, dass deine Mami sich bestimmt einmal über neue freuen würde.“ Sie war selbst am meisten verblüfft als sie sich Worte aussprechen hörte, die gedacht zu haben, sie sich nicht erinnern konnte. Schlagartig herrschte absolute Stille am Tisch. Wolfgangs Augen funkelten triumphierend. Selbst in Sonjas Ohren hatte ihre Stimme etwas zu laut und aggressiv geklungen. Dagi war erschrocken zusammengezuckt und sah wie die Erwachsenen prüfend zu ihrer Mutter. Damaris schwieg. Sollte Sonja es ruhig versuchen. Sie würde sich den Abend nicht verderben lassen. Schließlich machte sie sich nicht all die Mühe, um mit ihren Geschwistern zu streiten. Mit betont sanfter Stimme wechselte sie ohne ein weiteres Wort das Thema.

Keinem gelang es, die Erleichterung ganz zu verbergen, als es Zeit war, die Kleinen ins Bett zu bringen. Der Abendtisch war damit aufgehoben. Die Zwillinge verabschiedeten sich, und die Männer verschwanden im Wohnzimmer. Sonja blieb übrig. Sie fiel in das Single-Loch - ohne Kinder und tiefsten falls mit Altstimme. Es blieb nur der Küchendienst. Haarknoten, Spitzenkragen und Strickstrumpf lächelten ihr aus der Ferne vertraulich zu, aber sie hatte nichts dagegen. Irgendwie hatte es sogar etwas Beruhigendes. Die Geschirrspülmaschine war schnell eingeräumt, aber die empfindlichen Gläser mussten natürlich von Hand gespült werden. Die Ereignisse schienen sich immer wieder in humoristischen Schleifen zu verfangen.

Von oben drangen Kinderliedfetzen, aus dem Wohnzimmer schallte souveränes Lachen. Wo sollte sie sich anschließen? Beide Gruppen würden für einen Sekundenbruchteil innehalten, wenn sie dazu stieß. Paul und Wolfgang würden sie nach einem kurzen, bedauernden Zögern eingehend nach der Schule befragen, ohne sich im Geringsten dafür zu interessieren. Damaris aber würde sie mit einem ihrer mitleidigen Blicke bedenken, die ihr sagen sollten, wie viel ihr entging, weil sie selbst keine Kinder hatte und sie dann ins Geschehen einbinden. Keine der Alternativen war verlockend.

Müde stieg Sonja die Treppe hinauf. Die Tür zum Zimmer ihres Vaters stand weit offen. „Mir fehlt er auch!“ Erschrocken fuhr sie herum. Sie hatte Damaris nicht aus dem Kinderzimmer kommen hören. „Ich wollte dich gerade holen. Dagi will nicht schlafen, bevor du ihr das Märchen zu Ende erzählt hast.“

Während Peter daneben tief schlief, saß Dagi aufrecht im Bett und hatte die Arme trotzig übereinander geschlagen. Erst als Damaris und Claudia leise den Raum verließen, ließ sie sich entspannt in die Kissen zurücksinken. „Geht die Suse mit dem Zwiebelkönig und lässt ihren Papa ganz alleine?“, fragte sie gespannt.

Sonja lächelte und fühlte sich das erste Mal an diesem Tag einfach nur wohl. „Was denkst du denn?“, fragte sie zurück.

Dagis Stirn zog sich in Falten, und sie dachte eingehend nach. „Ich würde es tun!“, verkündete sie dann mit großer Entschiedenheit.

„Dann schaun wir mal, was Suse macht. Zuerst bekam sie ganz große, leuchtende Augen und wollte gerade begeistert nicken, als ihr der Vater einfiel. Ich würde dich furchtbar gern begleiten, Zwiebelkönig, aber ich kann meinen Vater nicht alleine lassen. Er braucht mich.

Der Zwiebelkönig brummelte zustimmend. Kind, du hast Recht. So will ich denn deinen Vater auch mit auf die Reise nehmen. Höre nun genau zu, und mache alles, wie ich es dir sage. Ich will, dass du mich nimmst und eine Suppe aus mir zubereitest. Was auch geschieht, ihr müsst vor Sonnenuntergang von mir essen, nur dann kann unsere Reise beginnen.

Aufgeregt nahm Suse den Zwiebelkönig mit nach Hause und machte sich daran, das Mittagessen zu bereiten. Als sie aber begann, die gewaltige Zwiebel zu schneiden, begannen ihre Augen zu tränen. Mit jedem Schnitt rannen mehr Tränen über ihre Wangen, und schließlich weinte sie so stark, dass sich zu ihren Füßen ein See bildete, der überschwappte und als kleiner Fluss unter der Türschwelle verschwand. So lange und ausdauernd sie auch schnitt, die Zwiebel wurde und wurde nicht kleiner, und eine schreckliche Traurigkeit schlich sich in ihr Herz.

Die Mittagszeit kam heran, und der Vater kam aus dem Dorf zurück. Verärgert fragte er, warum das Essen noch nicht auf dem Tisch stand. Als Suse ihm vom Zwiebelkönig erzählte, schimpfte er zornig. Was soll ich auf Reisen gehen? Habe ich nicht Freunde hier, mit denen ich Karten spielen kann? Habe ich nicht eine Tochter, die sich um mich kümmert? Ich habe Hunger, gib mir zu essen!

Schnell kochte Suse für ihn ein Mahl. Hast du die Betten schon gelüftet?

Schnell ging Suse und kümmerte sich um die Betten. Sieh, was für ein schmutziges Hemd ich trage! Du bist eine faule Tochter! Geh und wasche die Wäsche!

Schnell ging Suse zum Brunnen und holte Wasser, um die Wäsche zu waschen. Erst als der Abend kam, ging der Vater zu seinen Freunden ins Dorf. Der Zwiebelkönig entschwand mit dem letzten Sonnenstrahl. Suse konnte nicht mehr weinen und saß stumm und starr. Als sie sich schließlich mühsam erhob, um die Schweine zu versorgen, war sie eine alte Frau geworden. Vor der Tür aber wartete bereits eine prächtige Kutsche auf sie. Eine wunderschöne Frau saß auf dem Kutschbock, die Suses Mutter sehr ähnlich sah. Lass uns aufbrechen!

Darf ich denn einfach so gehen?, fragte Suse.

Da lächelte die Frau weise. Es soll ihnen an nichts fehlen.

Erschöpft stieg Suse ein und sah nicht zurück, als die Kutsche anfuhr und sie mit sich fortnahm. Später, als ihr Mann und ihre Kinder von der Arbeit nach Hause kamen, stand das Essen auf dem Tisch, die Betten waren gemacht und die Wäsche gewaschen. Zufrieden gingen sie zu Bett und schliefen auf der Stelle fest ein. Dagi, und genau das machst du jetzt auch! Schlaf gut, Schatz, und träume etwas Schönes!“ Zärtlich strich Sonja dem Kind übers Haar und blieb bei ihm sitzen, bis es eingeschlafen war. Erst dann schlich sie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Es war 21.30 Uhr. Die Devise lautete durchhalten. Das Haus war nicht groß und vier zusätzliche Personen nicht leicht unterzubringen. Im ausgebauten Dachboden residierten die Zwillinge und verteidigten ihr Reich. Natürlich traten Damaris und Wolfgang ihr eigenes Schlafzimmer für dieses Wochenende ab und quartierten sich selbst im Gästezimmer ein. Zwei Menschen, ein Bett und ein Schrank, mehr passte beim besten Willen nicht in die ehemalige Abstellkammer ihrer Mutter. Für Sonja blieb die Couch im Wohnzimmer. Normalerweise hätte ihr das nichts ausgemacht, ungünstig daran war nur, dass sie sich nicht zurückziehen konnte. Meist saßen sie alle noch bis in die frühen Morgenstunden zusammen und plauderten. Keine persönlichen Probleme, keine strittigen Fragen, kein Wort über ihren Vater - so lautete das Gesetz. Im vermeiden kritischer Themen waren sie geübt. Familie musste zusammenhalten.

Sonja war noch nicht bereit dafür. Leise öffnete sie die Haustür und schlug automatisch den Pfad ihrer Kindheit ein. Eine vermooste Natursteintreppe führte zu einer offenen Holzhütte und dann weiter in den Garten. Die Hütte war so breit wie das Haus. Ihr hinterer Teil war durch einen halb hohen Bretterverschlag abgetrennt, in dem früher das Brennholz gelagert hatte. Sonja schnupperte sehnsüchtig, aber es hing keine Spur des harzigen Holzduftes mehr in der Luft. Heute stand hier eine Tischtennisplatte. Im Dämmerlicht sah Sonja einige Hosen und T-Shirts hängen. Damaris verwendete den Schuppen als Wäscheplatz genau wie zuvor ihre Mutter.

Unangenehm berührt dachte Sonja an die Betonterrasse. Wie hatte gerade ihr Vater zum Tabuthema werden können. Solange es ihn gab, war er das Fundament gewesen, auf dem die Familie ruhte. Er war kein einfacher Mann gewesen, aber Sonja vermisste seinen trockenen Humor, seine unaufdringlichen Ratschläge. Hätte er geahnt, dass seine Kinder sich einmal am Erbe zerstreiten würden, er hätte es zu verhindern gewusst. Keiner von ihnen hatte sich nach seinem Tod mit Ruhm bekleckert. Die Angst zu kurz zu kommen, war zu mächtig. Allein bei den Gedanken würgte Sonja das klebrige Gefühl der Scham. Es war der Beharrlichkeit von Damaris zu verdanken, dass sie sich trotz allem regelmäßig trafen, aber der Preis war hoch. Für kurze Zeit hatten sie sich nackt gesehen, und dieser Anblick ließ Sonja nicht mehr los. Anfangs hatte sie noch versucht, darüber zu sprechen, aber der einzige Erfolg war, dass sie als Sonderling abgestempelt wurde. Sie war schon immer etwas zu ernst gewesen, und welche Lehrerin wurde nicht im Lauf der Zeit durch ihren Beruf lehrmeisterlich.

Die Dunkelheit war inzwischen endgültig hereingebrochen. Sie musste schon eine gute halbe Stunde hier stehen. Widerwillig stieg sie die Treppe hinab und hielt ertappt inne. Der Schlüssel, sie hatte vergessen, ihn abzuziehen und mitzunehmen. Längst war der Keil, der die Tür tagsüber offen hielt, entfernt worden. Einen Augenblick zögerte sie feige, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, sie musste klingeln. Die Traurigkeit in Damaris Augen schmerzte. Wieder hatte sie ihre Schwester enttäuscht. Warum nur konnte sie sich nicht einfügen? Musste sie diesen Balanceakt noch schwieriger machen? Sonja hätte sich gerne entschuldigt, aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Hilflos hob sie die Hand, um ihrer Schwester eine Haarsträhne aus der Stirn zu streichen. Damaris wich instinktiv zurück. Verlegen sahen sie sich an. Es war nicht zu überbrücken. Sonja begriff, dass sie nicht bleiben konnte.

„Nicht böse sein, wenn ich heute Abend noch aufbreche! Ich hatte kaum Zeit, mich auf die Schule vorzubereiten und habe einen Leistungskurs Geschichte und einen Grundkurs Biologie. Es wird viel Arbeit werden, aber irgendwie freue ich mich darauf. Interessierte Schüler, das wird ein ganz neues Lehrerlebnis, zumindest hoffe ich das.“ Der Wortschwall brandete ab. Sie standen immer noch an der Türschwelle. Damaris versuchte nicht, sie aufzuhalten, aber sie machte es ihr auch nicht leicht zu gehen. Vorwurf und Enttäuschung füllten den wortleeren Raum, der sie trennte.

Die allgemeine Verabschiedung fiel kurz aus. Es gab nichts zu sagen, und die üblichen Herzlichkeiten waren schnell getauscht. Erst jetzt wurde Sonja klar, wie störend sie gewesen war. Unbehagen und Anspannung ließen bei der Ankündigung, dass sie ausnahmsweise leider früher gehen musste, schlagartig nach. Paul und Claudia wirkten befreit und bemühten sich vergeblich, Bedauern vorzutäuschen. Ihr Lachen klang das erste Mal an diesem Tag ungezwungen und heiter. Wolfgang gab sich keine Mühe, seinen Triumph zu verbergen. Er empfand sich als Gewinner und legte lässig einen Arm um Damaris Schultern, als Sonja ging.

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