Читать книгу Operation Terra 2.0 - Andrea Ross - Страница 8
ОглавлениеDie Vorderste der Sektion Wissenschaft, Geschichte, Technik und Schrift wirkte ungewöhnlich matt. Die stundenlangen Diskussionen im zentralen Saal ihrer Einrichtung hatten sie gründlich zermürbt. Trotzdem musste sie durchhalten, denn ein Ende der Gespräche schien noch lange nicht in greifbare Nähe zu rücken.
»Könnte mir bitte jemand noch einen Energieschub verabreichen?«, rief sie einer Ansammlung schräg hinter ihr wartender Mediziner zu.
»Selbstverständlich, Vorderste!« Ein ganz in Gelbgrün gekleideter Mann eilte herbei, zog ein quadratisches Etui aus seinem Gewand hervor. Diesem entnahm er ein handliches weißes Gerät, platzierte es direkt auf dem Solarplexus Alannas. Ein optisch kaum wahrzunehmender Lichtbogen versorgte sie augenblicklich mit neuer Kraft. Man bezeichnete diese praktischen Hilfsmittel als ›Chaktivatoren‹, weil man mit deren Hilfe die Energiezentren des Menschen, also die Chakren, gezielt aktivieren konnte.
»Das ist schon viel besser! Also, wo waren wir stehengeblieben? Ach, genau. Die Terraforming-Option für den Mars! Darf ich also nach den bisherigen Ausführungen davon ausgehen, dass wir diesen Gedanken nicht weiter verfolgen sollten?« Die siebenköpfige Abordnung der führenden Wissenschaftler Tiberias nickte einhellig, darunter auch Solaras.
»Na schön!«, sagte Alanna erleichtert. »Der Schreiber möge bitte zu Protokoll nehmen, dass ein Transfer von Bevölkerungsteilen auf den Mars nicht infrage kommt. Und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens würde es viel zu lange dauern, die notwendigen Gerätschaften aufzubauen und eine Biosphäre zu errichten. Ein dorthin entsandtes Wissenschaftler-Team hätte außerdem neben der lebensbedrohlichen Strahlung mit den rötlichen Feinstaubpartikeln zu kämpfen, welche die Restatmosphäre des Mars durchsetzen und Raumanzüge beschädigen können; die scharfkantigen Teilchen würden auch Filteranlagen verstopfen und im Falle von Staubstürmen die Solaranlagen ineffektiv machen.
Zudem existiert flüssiges Wasser nur noch unterhalb der Kryosphäre. Wir müssten es mühselig nach oben befördern, um die Trinkwasserversorgung und die Bewässerung der Kulturpflanzen zu gewährleisten. Selbst wenn wir all diese Probleme sicherlich innerhalb absehbarer Zeit lösen könnten: der Planet ist nach wie vor vulkanisch aktiv – wer weiß schon genau, wann der große Kegel wieder ausbrechen und seine Umgebung verheeren wird?
Dann wäre da noch ein zweiter, mindestens ebenso wichtiger Hinderungsgrund. Die vielen Bauteile für ein BiosphärenHabitat müssten hier auf Tiberia gefertigt und anschließend schubweise zum Mars transportiert werden. Das würde bedeuten, dass wir weitere Teile des Graslandes für Fertigungshallen und Raumtransporter annektieren müssten. Wir sind aber mit den Nutzflächen schon ohne solche zusätzlichen Bauprojekte hart am Limit!
Im Endeffekt würden wir also unsere heimatliche Landschaft beschädigen, nur um ein Projekt von ungewisser Erfolgsaussicht ins Leben zu rufen. Das ist für die Bevölkerung keinesfalls tragbar. Die Regentenfamilie könnte einem derartigen Vorschlag aus Fürsorgegründen ebenfalls nie zustimmen! Wir müssen uns somit etwas Besseres überlegen«, schloss Alanna ihre Zusammenfassung fürs Protokoll kopfschüttelnd ab.
»Realistisch betrachtet bliebe uns somit nur eine Option übrig. Euch ist doch sicherlich längst bewusst, welche ich hier anspreche?«, fragte Alanna in die Runde, forschte dabei aufmerksam in den Gesichtern ihrer führenden Wissenschaftler.
Solaras meldete sich zu Wort. Er drückte mit vorsichtig gewählten Worten aus, was offenkundig alle anderen Wissenschaftler im Saal ebenfalls über dieses Thema dachten.
»Terra? Bei allem Respekt – das kann doch nicht Euer Ernst sein, Vorderste! Schon die Grundvoraussetzungen für eine Besiedlung sind dort äußerst ungünstig, selbst wenn man die nahezu flächendeckenden Verwüstungen durch den Menschen einmal außen vor ließe.
Bedenkt doch bitte, es handelt sich um einen Planeten mit zerbrochener Erdkruste. Das bedeutet unter anderem ständige Erdbeben, welche die Bevölkerung und ihre Wohnstätten bedrohen! Mehrere Supervulkane könnten alles Leben innerhalb kürzester Zeit ausradieren, wir haben deren riesige Magmakammern doch erst wieder vermessen! Die Ergebnisse fielen alles andere als beruhigend aus.
Außerdem herrschen dort extreme klimatische Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen, von desaströsen Wetterphänomenen wie Hurrikanen, Überflutungen und schweren Gewittern ganz zu schweigen.
Die Meere sind tief und unruhig, können daher nicht für eine Besiedelung nach hiesigem Vorbild genutzt werden. Weite Gebiete auf dem Festland liegen ebenfalls brach – weil sie atomar verstrahlt oder mit Chemikalien verseucht sind. Überhaupt ist dort alles voller Müll; selbst im Weltall umkreist zurückgelassener Schrott den Planeten, als wäre das eine vielsagende Warnung an potentielle Besucher!
Die derzeitigen Bewohner von Terra sind meines Erachtens wahnsinnig geworden, bekriegen sich ständig untereinander. Sogar bis hin zur drohenden Selbstvernichtung. Sie kennen nur einen einzigen Lebensinhalt, nämlich das Streben nach ihrem Zahlungsmittel und Macht. Das ist doch kein annehmbarer Lebensraum für uns!«, fasste Solaras seine Gedanken trocken zusammen.
Alanna seufzte. Sie hatte durchaus mit einigem Widerstand gerechnet, jedoch nicht mit dieser ungewohnten Einigkeit unter den Sieben. Wie eine geschlossene Front saßen die Wissenschaftler mit versteinerten Mienen am Besprechungstisch und ließen keinen Zweifel daran, was sie von der Idee hielten. Normalerweise waren stets einer oder zwei unter ihnen, die eifrig als Opposition fungierten. Ausgerechnet heute schien jedoch schönste Eintracht zu herrschen.
Die Vorderste der Sektion Wissenschaft, Geschichte, Technik und Schrift befand sich gleichwohl in der misslichen Lage, der versammelten Runde eine äußerst weitreichende Entscheidung behutsam kundtun zu müssen. Denn selbige war im Grunde längst gefallen, sogar die Regentenfamilie hatte ihre Zustimmung zur Operation Terra 2.0 vor 3.25 KIN einstimmig erteilt. Es drehte sich nur noch um das Wie.
Ausgerechnet ihr oblag nun die undankbare Aufgabe, zunächst die Wissenschaftler und unmittelbar danach die Vordersten der darüber hinaus ebenfalls beteiligten Sektionen von deren Richtigkeit und Notwendigkeit zu überzeugen. Zum allerersten Mal in der langen Geschichte Tiberias hatte man sein eigenes Kontrollsystem verraten müssen, um eine notwendige Entscheidung quasi durch die Hintertür herbeiführen zu können. Alanna fühlte sich reichlich unwohl in ihrer Haut, durfte sich das jedoch keinesfalls anmerken lassen.
Würde sie es überhaupt schaffen, die Diskussionen in die vorgegebene Richtung zu lenken? Teil 1 ihrer Überzeugungsarbeit hatte bereits Früchte getragen. Die Option Mars war definitiv vom Tisch. Im Vergleich zu der Aufgabe, die noch vor ihr lag, war dies allerdings ohne Frage nur ein leichtfüßiger Spaziergang gewesen.
›Vielleicht sollte ich Solaras und den anderen ermöglichen, den unangenehmen Gedanken erst einmal zu verdauen, bevor wir allzu sehr ins Detail gehen!‹, überlegte Alanna angespannt. Die Vorderste straffte ihren Rücken, erhob sich mit gemessenen Bewegungen aus dem schwebenden Sessel.
»Ich möchte, dass ihr euch bis zum nächsten Treffen Gedanken darüber macht, auf welche Weise wir Terra in einen annehmbaren Zustand zurückversetzen könnten. Wir müssen auch diese recht unpopuläre Option gründlich prüfen, dürfen sie nicht gleich im Ansatz verwerfen.
Bitte lasst euch dabei nicht einseitig von negativen Einschätzungen leiten, bedenkt insbesondere die positiven Aspekte, die für Terra sprechen würden. Seid kreativ, durchleuchtet eure Konzepte sorgfältig. Es sollte mehr als eine gangbare Möglichkeit geben, den Planeten wieder lebenswert zu machen. Betrachtet es ausnahmsweise mal von dieser Seite:
Es gibt dort massenhaft Wasser in flüssigem Aggregatzustand an der Oberfläche. Die Atmosphäre weist eine gerade noch annehmbare Zusammensetzung auf; sie lässt trotz der erheblichen Verschmutzung das Atmen ohne Schutzmaske oder sonstige Filterung zu! Das sind schon einmal zwei wesentliche Punkte, die wir unbedingt ins Kalkül zu ziehen haben.
Die Sonne des Systems ist noch relativ jung, weit genug vom Stadium eines Roten Riesen entfernt. Da wäre es geradezu eine Verschwendung, würde man die ›Restlaufzeit‹ des Planeten nicht nutzen wollen!
Denkt bitte nicht, wir könnten die Sache einfach aussitzen, bis uns eines Tages von selbst etwas Bahnbrechendes einfällt. Die Lage hier auf Tiberia ist erheblich ernster, als viele von euch dem Anschein nach annehmen möchten. So viel kann ich schon heute verraten. Wir sind leider durch bestimmte Umstände gezwungen, zeitnah eine brauchbare Lösung zu finden.
Und noch etwas solltet ihr in diesem Zusammenhang besser jetzt sofort erfahren und in eure Gedankenkonstrukts einfließen lassen:
Die terrestrischen Wissenschaftler haben unser Sonnensystem mithilfe eines für dortige Verhältnisse fortschrittlichen Weltraum-Teleskops namens Hawking ausfindig gemacht. Sie nennen unser heimatliches Sternbild ›Cygnus‹, was so viel bedeutet wie Schwan. Man könnte also in absehbarer Zeit auf die unselige Idee kommen, uns hier auf Tiberia heimzusuchen. Hätten wir das Ding nur rechtzeitig zerstört, bevor es die verräterischen Aufnahmen nach Terra senden konnte!
Was, wenn auf Terra jemand den Antrieb der dort existierenden Raumfähren revolutionären würde? Man verfügt dank der Metrik eines gewissen Miguel Alcubierre bereits über theoretische Kenntnisse, welche die Funktionsweise des Warp-Antriebs grob beschreiben! Da fehlt im Grunde nur noch der zündende Einfall zur sinnvollen Umsetzung, was ich persönlich mehr als bedenklich finde. Man nähert sich der Lösung schrittweise, nicht zuletzt wegen eines gewissen Sergej Krasnikov.
Ich werde euch diese und andere Überlegungen gerne näher darlegen, doch im Augenblick benötigen wir dringend alle eine Ruhepause. Ihr wisst ja – ein gesunder Geist wohnt am liebsten in einem gesunden Körper, nicht wahr? Wir sehen uns also in exakt 0,25 KIN wieder. Vielen Dank für eure geschätzte Aufmerksamkeit!«
Die Wissenschaftler realisierten frustriert, dass die Versammlung damit unwiderruflich aufgelöst war. Verstört und nachdenklich verließen sie den Saal, niemand sprach ein Wort. Zu tief saß das ungute Gefühl, das sich in den Herzen der siebenköpfigen Gruppe breitgemacht hatte.
Besonders Solaras bekam es mit der Angst zu tun – ihn hatte Alanna schließlich bereits explizit nach seiner Bereitschaft gefragt, an einer gefahrvollen Mission nach Terra teilzunehmen. Die Antwort war er ihr bislang schuldig geblieben, hatte sich stattdessen Bedenkzeit ausgebeten.
Schließlich waren alle bisherigen Versuche, die Bewohner Terras auf den Weg der Vernunft zurückzuführen, ergebnislos im Sande verlaufen! Im Gegenteil, einige Expeditionen hatten dort sogar zusätzliche Schäden angerichtet, die in ihrer Summe überhaupt erst zum heutigen Zustand jener fernen Welt führen konnten. Sollte man diesen fatalen Fehlern aus der Vergangenheit einen weiteren hinzufügen?
Zum allerersten Mal in seinem Leben fühlte Solaras sich unter Druck gesetzt, mit der Entscheidungsfindung total überfordert. Hätte er nur besser einschätzen können, was ihn im Falle einer Zustimmung erwartete! Ihm schwante, dass es sich im schlimmsten Fall um eine Reise ohne Wiederkehr handeln könnte.
*
Die junge Frau betätigte den roten Kontaktschalter zur Unterbrechung des Magnetflusses, wodurch ihr lautloses Fahrzeug langsam ausrollte; sie ließ es routiniert in eine der vielen Parkbuchten gleiten, die sich seitlich der Piste befanden. Jene Parkmöglichkeit lag in einer langen Kurve, von welcher aus sich das Ziel ihres Ausflugs nicht einsehen ließ. Gut so!
Neugierig bahnte sich das Mädchen einen Weg durch das dornige Gestrüpp, blieb immer wieder mit den weiten Ärmeln ihres dunkelblauen Gewandes an den Zweigen hängen. Wie gehetzt sah Katelara sich um, denn niemand durfte sie hier bemerken. Wie hätte sie den Zweck ihrer kleinen Wanderung andernfalls glaubhaft darlegen sollen, ohne unangenehme Fragen aufzuwerfen?
Ein Glück, dass diese Piste kaum frequentiert wurde, seit man die Siedlung an ihrem Ende weiter nach Osten verlagert hatte! Das Gelände wäre an dieser Stelle viel zu unwegsam gewesen, um das Siedlungsgebiet einfach nur um weitere Flächen zu erweitern. Seit der Verlegung und dem Abtransport der Wohneinheiten führte die Strecke nur noch bis zu einer kleinen Wasserfläche, endete dort abrupt. Eigentlich ein Wunder, dass man bislang noch nicht auf den Gedanken gekommen war, deswegen den Magnetstrom der Piste zu kappen.
Jetzt hatte sich auch noch eine ihrer hüftlangen rotblonden Locken in den Dornen verfangen! Sollte sie ihren kühnen Plan unverrichteter Dinge aufgeben und lieber schleunigst zum Magnetfahrzeug zurückkehren? Wäre da bloß die brennende Neugierde nicht gewesen … eventuell bot sich hier im Nirgendwo auch die seltene Möglichkeit, die eigene Situation nachhaltig zu verbessern!
Katelara war bewusst, dass sie im Begriff stand, gegen eherne Vorschriften der Gemeinschaft zu verstoßen. Doch weshalb sollte ausgerechnet sie sich vorbildlich verhalten, wenn andere es nachweislich auch nicht mehr taten? Der Zweck heiligte in diesem Fall die Mittel, denn die Novizin der Wissenschaft hatte neuerdings nur noch wenig zu verlieren.
Von dort drüben war er gekommen … ungefähr jedenfalls!
Stück für Stück arbeitete die junge Frau sich mühsam zu der Stelle vor, die nach ihrer Ansicht am ehesten nach einer Felsspalte aussah. Es musste dort gemäß allen Regeln der Logik einen Durchgang geben. Der gutaussehende Mann im grünen Gewand konnte schließlich kaum aus dem Nichts aufgetaucht sein! Was mochte sie dahinter erwarten?
Ein schwacher Lichtschein zeigte ihr, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand. Noch zirka zehn mehr oder weniger schmerzhafte Schritte, dann wäre sie endlich am Ziel angelangt!
Sorgenvoll betrachtete Katelara ihre zerkratzten Arme und die vielen kleinen Löcher im Gewand. Die würden sie wohl später ein wenig in Erklärungsnot bringen – doch über eingängige Begründungen nachzudenken, dafür blieb auf dem Rückweg sicherlich immer noch genügend Zeit.
Aufgeregt legte die Novizin den letzten Schritt zurück, der sie noch von der Felsspalte trennte. Sie hatte sich nicht getäuscht, man konnte sich hier durchquetschen, wenn auch nur kriechend. Katelara raffte ihr Gewand zusammen und schickte sich mutig an, auf allen Vieren in das unbekannte Gebiet vorzudringen.
*
Arden wanderte nervös auf und ab, wischte sich immer wieder die feuchten Handflächen an seinem Gewand ab; das Gewissen drückte ihn bereits, obwohl er im
Grunde noch gar nichts Falsches getan hatte. Das würde sich allerdings unweigerlich ändern, sobald Solaras endlich auftauchte. Wo blieb sein Vertrauter heute nur?
So wunderschön und beruhigend ihm dieser Ort im Niemandsland normalerweise erschien, so wenig konnte Arden dem Naturgenuss an jenem schicksalhaften Tag abgewinnen. Nicht einmal die warmen Sonnenstrahlen auf seiner Haut, die ihn wie tröstende Finger streichelten, vermochte er angemessen zu genießen.
Die Wissenschaftler aus der Sektion Gesundheit und Medizin behielten in diesem Punkt wohl Recht: geriet der Geist in Unruhe, wirkte sich das unmittelbar auf den Körper aus.
Als Arden aus Richtung der Felsspalte ein kaum wahrnehmbares Rascheln gewahrte, zuckte er erschrocken zusammen. Hastig verbarg er sich hinter einem besonders dicht gewachsenen Farn, als müsse er jeden Moment mit einem Angriff auf Leib und Leben rechnen. Sein Herz klopfte wild, pumpte ihm das Blut in Rekordgeschwindigkeit durch die Adern.
»Arden? Bist du auch schon hier?«, fragte die vertraute Stimme Solaras‘ besorgt. Der Angesprochene spähte ein letztes Mal prüfend durch die Farnwedel und stellte erleichtert fest, dass es sich bei dem Ankömmling tatsächlich um seinen Freund handelte. Genau wie sonst auch strebte dieser mit federnden Schritten dem flachen Felsblock zu, auf dem sie für gewöhnlich saßen.
Weswegen hatte er überhaupt etwas anderes erwartet? Jetzt war ihm sein übervorsichtiges, geradezu paranoides Verhalten schon fast peinlich.
»Ja, ich bin schon seit einer ganzen Weile hier!«, antwortete er mit einiger Verzögerung und bemühte sich nach Kräften, seine Erregung zu verbergen. Als wäre er nur spazieren gegangen, schlenderte er aus seinem Versteck hervor und ging Solaras entgegen.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Solaras beim Anblick Ardens. Der Geschichtsschreiber wirkte verkrampft, sogar der Klang seiner Stimme hatte sich verändert. Ob dies womöglich an der veränderten Atmung lag, die heute eher stoßweise und gepresst seine Lungen verließ?
Die Freunde nahmen an ihrer angestammten Stelle Platz.
»Mir geht es gut, Solaras!«, beschwichtigte Arden. »Ich bin lediglich ein wenig nervöser als sonst. Wir stehen schließlich im Begriff, uns mit vollem Vorsatz eines Vergehens wider die Gemeinschaft schuldig zu machen. Dir ist doch bewusst, was uns als Strafe drohen würde?«
Solaras‘ Miene wurde augenblicklich ernst. »Klar! Man hat es uns während der Schulungen regelmäßig eingetrichtert. Mal sehen, ob ich alles richtig im Gedächtnis behalten habe! Wir müssen uns vor Beginn der Gespräche vollständig darüber im Klaren sein, worauf wir uns einlassen!«, nickte er und zog die hohe Stirn in Falten.
»Also – das erste, etwas leichter wiegende Vergehen wäre schon die sinnlose Zeitvergeudung. Auf einer Strecke herumzufahren, die ins abgelegene Nirgendwo führt, würde wohl als solche betrachtet werden. Freilich, man kann sich legal mit einem Freund treffen und seine Freizeit mit ihm verbringen – nur eben nicht hier, abseits der Zivilisation. Richtig?«
»Richtig!«, bestätigte Arden kurz und bündig. Gängelnde Vorschriften wie diese hatte er in seinem tiefsten Inneren niemals akzeptieren können, obwohl sie durchaus einen tieferen Sinn beherbergen mochten. Man wollte auf diese Weise wahrscheinlich sichergehen, dass sich aus der Abgeschiedenheit geheimer Zusammenkünfte keine Revolten wider die Obrigkeit entwickeln konnten. Alles fand geregelt in der Gemeinschaft statt, jeder überwachte jeden. Konnte man da noch ernsthaft von der vielgerühmten Freiheit des Einzelnen sprechen?
»Nummer 2: Wir haben hier zufällig einen unberührten Ort aufgefunden, der unter Umständen für eine Nutzung durch die Gemeinschaft infrage käme. Wir hätten das auf der Stelle melden müssen! Dieser ebenfalls vorsätzlich begangene Fehler würde bei Aufdeckung sicher dazu führen, dass wir beide wegen Vertrauensverlusts als untragbar von unseren Sektionen ausgeschlossen werden würden.
Was für mich einer Katastrophe gleichkäme, um ehrlich zu sein. Stelle dir nur vor, man ließe uns nicht mehr forschen und recherchieren … nein, soweit darf es keinesfalls kommen!«, fuhr Solaras kopfschüttelnd fort.
»Da stimme ich dir vollinhaltlich zu!«, knurrte Arden. »Es wäre auch für mich kein erträglicher Lebensinhalt, mich künftig mit profanen Montagearbeiten oder Landwirtschaft beschäftigen zu müssen!«
»Und trotzdem ließe man uns wenigstens noch weiterleben, falls wir Delikt Nummer 3 heute nicht begehen würden: den sektionsübergreifenden Verrat!«, sagte Solaras mit Nachdruck in der Stimme.
Kaum war das Undenkbare ausgesprochen, hing dieser Satz wie eine düstere Warnung in der Luft, schien die Umgebung mit Spannung aufzuladen. Beide Männer ließen die entstandene Stimmung auf sich wirken, sinnierten in geistiger Übereinstimmung über die Gewichtung des Für und Wider. Noch konnten sie ihr Vorhaben jederzeit abbrechen, sich auf den Pfad der Rechtstreue zurückbewegen.
Momente wie diese hatten den Freunden schon früher vor Augen geführt, wie perfekt sie im Fühlen und Denken harmonierten. Arden wurde überdies bewusst, dass er Solaras genau genommen in einem Anfall von Spontaneität das Brechen der Regeln beim letzten Treffen bereits in Aussicht gestellt hatte. Wie würde der auf einen Rückzieher reagieren, falls er sich hierzu entschloss?
Solaras‘ Überlegungen kreisten mehr um die Frage nach dem tieferem Sinn der starren Regelungen. Auch wenn von den Dozenten seiner Sektion in nahezu sämtlichen Unterrichtseinheiten strikt betont worden war, man solle geltendes Recht niemals infrage stellen, weil die Vorschriften von klugen Köpfen erdacht und überprüft worden seien, die im Gegensatz zu einzelnen Individuen über einen exponierten Gesamtüberblick verfügten – sein wacher Geist ließ sich niemals ganz abschalten, so sehr er das auch versuchte.
Es mochte durchaus den Tatsachen entsprechen, dass die gängige Gewaltenteilung im Alltag Sinn machte. Solange jeder sich ausschließlich um denjenigen Bereich kümmerte, für welchen er ausgebildet war, zeitigte dies wegen der Spezialisierung die bestmöglichen Ergebnisse. Die Vordersten der jeweiligen Sektionen koordinierten und kumulierten diese Bemühungen zu einem Ganzen, behielten den Überblick und die Weisungsgewalt über ihren abgegrenzten Bereich.
Nur dann, wenn Entscheidungen sektionsübergreifend getroffen werden mussten, durften ausgewählte Mitglieder zusammen mit ihren Vordersten über diese starren Grenzen hinweg Informationen austauschen und sodann geeignete Vorschläge für die Regentenfamilie ausarbeiten. Selbstverständlich unter strengster Geheimhaltung und unter Ausschluss der Öffentlichkeit – die erfuhr nur, was sie unbedingt wissen musste. Aus diesem Grund existierte auf Tiberia auch keine freie Medienlandschaft, die unkontrolliert Informationen an das einfache Volk hätte ausposaunen können.
Wie aber verhielt sich die Sache, falls Entscheidungen von epischem Ausmaß anstanden? Durften einige wenige Menschen dann tatsächlich über die Köpfe der restlichen Bevölkerung hinweg entscheiden? Was, wenn sie hierbei einem folgenschweren Irrtum unterlagen?
Es hatte in der Vergangenheit bereits einige solcher fatalen Fehlentscheidungen gegeben, zu denen er Arden unbedingt näher befragen musste. Dieser kannte als führender Geschichtsschreiber sämtliche Details, die man seiner rein wissenschaftlich orientierten Sektion leider weitgehend vorenthalten hatte.
Die Wissenschaftler hatten zwar mehrmals im Verlauf von Tiberias Geschichte ermöglichen ›dürfen‹, dass man Terra mithilfe von modernster Raumfahrttechnik zeitnah erreichen konnte; der Rest unterlag jedoch strikter Geheimhaltung. Über den Ausgang der jeweiligen Missionen waren der Allgemeinheit von offizieller Seite nur ausgewählte Bruchstücke mitgeteilt worden. Die Propaganda-Maschinerie funktionierte insoweit vorzüglich.
Klar – hätten sich die Mitglieder der betroffenen Sektionen untereinander mit detaillierten Informationen aus ihrem Gebiet versorgt, wäre es wohl schwerlich gelungen, sie für weitere Aktionen ähnlicher Art zu rekrutieren … zumal man damit rechnen hätte müssen, dass sektionsfremde Zuhörer die Ereignisse mangels einschlägiger Fachkenntnisse falsch oder zumindest mangelhaft interpretierten.
Auf diese Weise entstanden die Keimzellen für Gerüchte und Halbwahrheiten, deren Auswirkungen hernach kaum mehr kontrollierbar waren. Und was immer man nicht zur Gänze kontrollieren konnte, ging eben erst recht nie wieder einzubremsen; unaufhaltsam verbreiteten sich unzutreffende Informationen weiter, genau wie konzentrische Ringe auf einem Teich, nachdem man einen Stein hineingeworfen hat.
Solche Entgleisungen konnten in letzter Konsequenz sogar die Denkweise eines ganzen Volkes verändern, das System zum Einsturz bringen und schließlich als unumstößliche Tatsachen in die Geschichtsschreibung einfließen. Wie sollten nachfolgende Generationen sicher unterscheiden können, was auf Tiberia tatsächlich geschehen war und welche Teile der Chronik mehr oder weniger auf solchen Fehlinterpretationen basierten? Ein Ding der Unmöglichkeit!
Solaras dämmerte, dass auch er mit neuen Informationen sehr sorgfältig umgehen musste, sofern Arden zu einer Kooperation überhaupt noch bereit war. Momentan sah er drein, als trage er diesbezüglich gegen sich selbst einen erbitterten Kampf aus.
»Also gut! Ich kann dich einfach nicht ins Ungewisse reisen lassen, auch wenn wir uns jetzt beide deswegen gefährden!«, riss Arden ihn aus seinen Grübeleien. »Sollte es schiefgehen, werden wir zur Jagd freigegeben und in Kürze durch die Hand eines beliebigen Kameraden sterben. Nimmst du dieses mögliche Schicksal an, ist es dir die Befriedigung deines Ehrgeizes wert?
Bedenke, du könntest die Teilnahme an der wie auch immer gearteten Mission ebenso gut einfach verweigern. Man hat dir ja eine Wahl gelassen, wenn ich mich recht entsinne!«
Erst in diesem Augenblick musste Solaras sich ehrlich eingestehen, dass ihn an der fraglichen Mission nicht nur der Dienst für die Gemeinschaft reizte. Arden mochte freilich recht haben, wenn er darüber hinaus egoistische Motive vermutete. War er denn dermaßen leicht durchschaubar?
»Danke, mein treuer Freund! Keine Sorge, wir werden es schon nicht so weit kommen lassen, dass Schwierigkeiten auftreten. Wir treffen uns am besten mehrmals, damit unsere Abwesenheitszeiten nicht auffällig lang geraten«, versprach Solaras.
»Das klingt vernünftig. Mit welchem Teil unserer Geschichte darf ich dir überhaupt weiterhelfen? Interessieren dich Zeitalter, die wir noch auf dem Mars verbracht haben? Oder eher Begebenheiten aus der Frühzeit Tiberias? Die jüngere Geschichte?«
»Weder, noch! Ich muss alles über Terra wissen. Die gesamte traurige Geschichte seit der Besiedlung unserer Brüder und Schwestern nach der Flucht vom Mars ebenso wie den heutigen Stand der Dinge. Wann waren wir warum dort, was ist bei diesen Besuchen geschehen? Die ganze ausführliche Version eurer Sektion eben, die für uns Wissenschaftler absolut tabu ist!«
Katelara hatte genug gehört. Es würde sich auf alle Fälle lohnen, sich in einem KIN erneut der Tortur mit der Dornenhecke auszusetzen. Lächelnd wartete die junge Frau ab, bis die Herren namens Solaras und Arden sich, getrennt voneinander und sorgsam um Unauffälligkeit bemüht, vom Schauplatz entfernt hatten.
Nach einer kleinen Pause trat sie ebenfalls den beschwerlichen Rückweg zur Magnetpiste an – nur dass sie dieses Mal kaum an die lästigen Schmerzen dachte, die ihr das Gestrüpp zufügte. Es gab jetzt eindeutig Wichtigeres zu tun, als ein paar lange Kratzer auf der Haut zu betrauern. Keine Frage, Katelara witterte eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation!
Ungeachtet dessen konnte auch sie ihre Erziehung nicht verleugnen und begann ungewollt darüber nachzudenken, ob die strengen Regeln nicht tatsächlich wohldurchdacht und sinnvoll seien. Schließlich waren die beiden potentiellen Verräter schon im Vorfeld der Tat aus dem seelischen Gleichgewicht geraten. Wo mochte das für diese bedauernswerten Männer noch enden, wenn sie demnächst ihre eigene Karriere zu deren Ungunsten gerettet hätte?
Endlich erreichte die blasse, hochgewachsene Novizin ihr Fahrzeug; einem spontanen Einfall folgend, zerkratzte sie dessen seitliche Struktur mit einem abgebrochenen Dorn. Sie würde sich schnurstracks zur Krankenstation begeben und ihren lädierten Zustand mit einem Unfall begründen, den sie wegen einer plötzlichen Unterbrechung des Magnetflusses erlitten habe.
Später würde sie dann hoffentlich unumwunden zugeben können, dass sie für kurze Zeit auf verbotenen Pfaden im Dienste der Allgemeinheit unterwegs gewesen war.
*
Alarmiert beobachtete Arden bereits seit einer Weile, wie hektisch es auf dem benachbarten Gebiet der Wächter zuging. Nicht zuletzt aus eigenem Interesse schielte er während der Arbeitspausen immer wieder verstohlen in Richtung der riesigen, in einem rötlichen Farbton erbauten Konferenzhalle.
Im Gegensatz zu den eher luftig-leichten Bauten der restlichen Sektionen wirkte dieses langgezogene Gebäude derb und verschlossen, geradezu abweisend massiv.
Heute geschah es schon wieder! Aus allen Himmelrichtungen strömten die uniform in Blutrot gewandeten Mitglieder dieser Sektion eilig ihrem Versammlungsort zu; die ungewohnte Geschäftigkeit erinnerte zunehmend an einen frequentierten Raumbahnhof. Immer mehr Magnetfahrzeuge trafen ein, drohten die Kapazität der Parkmöglichkeiten auf dem weitläufigen Gelände zu sprengen.
Was hatte das zu bedeuten? Allein im aktuellen UINAL waren bis dato 37 Personen zur Jagd freigegeben worden, Tendenz steigend. Da sich das tiberianische Strafsystem in der Zwischenzeit nicht verändert hatte, musste es andere Ursachen für das Phänomen geben.
»Komm, sieh nicht so auffällig dort hinüber! Man könnte sonst glauben, du interessierst dich für die Tätigkeiten anderer Sektionen!«, ermahnte ihn ein älterer Kamerad. Der greise Tirim legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter, sah ihm sorgenvoll ins Gesicht. »Oder hast du gar ein persönliches Interesse daran, was dort vor sich geht?«
Arden erschrak fürchterlich. Sah man ihm sein schlechtes Gewissen bereits derart deutlich an, konnte ihm diese Schwäche zum tödlichen Verhängnis werden? Sein Körper begann kalten Schweiß abzusondern, deswegen bemühte er sich zur Ablenkung um eine Ausrede, gepaart mit einem verbindlichen Lächeln.
»Aber nein, wo denkst du hin? Mir ist lediglich aufgefallen, wie sehr unsere Wächter momentan mit Arbeit belastet werden. Deswegen habe ich mitfühlend darüber nachgedacht, ob das deren Gesundheit nicht langsam aber sicher abträglich sein müsste!«
Tirim schien ein Stein vom Herzen zu fallen. »Ach, du weißt es doch – unsere Mediziner sind zur Stelle, wo immer sie gebraucht werden. Konzentriere dich besser auf das Jetzt und Hier, anstatt in solch unfruchtbaren Überlegungen zu schwelgen. Lass uns lieber wieder hineingehen und uns nützlich machen.«
Mit diesen Worten setzte der Alte sich gemächlich in Bewegung. Arden wusste sehr genau, dass er ihm auf dem Fuße nachzufolgen hatte, ohne den Blick nochmals in Richtung der Sektion Schutz und Verteidigung zu lenken. So trottete der junge Geschichtsschreiber ergeben neben Tirim her, verwickelte ihn bis zum gemeinsamen Eintreten in die schirmartige Gebäudekonstruktion in ein belangloses Gespräch über jene Fakten, welche als nächstes in die Chronik Tiberias einzutragen waren. Würden sie bis zur Dämmerung die weltweite Jagdfreigabe Nummer 38 in Händen halten, welche einem bedauernswerten Kameraden oder einer ganzen Gruppierung das Leben kosten sollte? Auszuschließen war das nicht!
Fast ein wenig wehmütig betrachtete er die smaragdgrünen Lichtreflexe, die den Boden des in allen Grüntönen verglasten Eingangsbereichs mit immer neuen Mustern verzierten. Nein, einen Ausschluss aus seiner Sektion würde er kaum verkraften können. Es durfte beim Informationsaustausch mit Solaras einfach nichts schiefgehen!