Читать книгу Operation Terra 2.0 - Andrea Ross - Страница 6
ОглавлениеTerra – Es ist (vielleicht) vollbracht!
Kalmes alias Maria Magdalena wusste sich nicht mehr zu helfen. Seit ihr über alles geliebter Gefährte sich betend in sein Innerstes zurückgezogen hatte und während seiner Dauer-Meditationen kaum mehr ansprechbar erschien, blieb sie mit ihren Sorgen und Nöten weitgehend alleine.
Selbst ihre tiberianischen Missionskollegen ließen die ehemalige Dozentin für Ideologie neuerdings schmählich im Stich, offenbar weil die hochtrabend Operation Terra 2.0 benannte Mission total ihrer Kontrolle entglitten war. Sie harrten einfach untätig der Dinge, die da kommen mochten.
Trotzdem, Maria benötigte nun dringend einige Informationen aus dem nahezu allwissenden Bordcomputersystem des Raumgleiters. Alle Welt sprach derzeit in freudiger Erwartung über das bevorstehende Passahfest, und sie als Außerirdische wusste noch nicht einmal genau, worum es sich bei dieser jüdischen Festwoche handelte.
Jesus hatte zwar um diese Jahreszeit stets ungesäuertes Brot gegessen, besonders ausgiebig gebetet und dasselbe Gebaren auch bei seinen Jüngern vorausgesetzt; hätte sie jedoch neugierig nach dem Grund gefragt, wäre dies zumindest dem noch immer eifersüchtigen Simon Petrus verdächtig vorgekommen. Er nutzte jede Gelegenheit, um sie beim Meister anzuschwärzen. Eine angeblich gläubige Jüdin, die nicht einmal um althergebrachte Riten wusste? Ein gefundenes Fressen zum Lästern!
Das Passah-Fest … Was war der Anlass dafür, wie liefen die traditionellen Festivitäten in der großen Stadt Jerusalem mit ihren unzähligen Einwohnern ab? Und wieso glaubte Jesus fest daran, dass er diese vermaledeiten sieben Tage bestimmt nicht überleben werde?
Die als Jüdin verkleidete Tiberianerin zwang sich seufzend, ihren Blick von Jesus‘ versteinerter Gestalt loszueisen. Er war ohnehin nur körperlich anwesend und würde es sicher nicht einmal bemerken, wenn sie sich jetzt aus seinem Dunstkreis entfernte. Deprimiert folgte sie einem staubigen Feldweg, hinaus aus jenem immergrünen Pinienhain, in welchem Jesus seit ein paar Tagen mit seinen engsten Anhängern lagerte.
Die Natur hatte sich nach einem kräftigen Regenguss ihr schönstes Gewand übergestreift. Der Frühling war ins Land gezogen, und mit ihm ein Teppich aus kleinen Blütenkelchen in Gelb, Weiß und Lila. Die Vögel jubilierten unter dem einzigartig blauen Himmel des Mittelmeerraumes, überall begegnete man gut gelaunten Menschen.
Doch für Maria Magdalena lag ein hässlicher Grauschleier über dieser heiteren Herrlichkeit, der ihr sogar den strahlenden Sonnenschein vergällte. Als hätte man ihr eine dunkel getönte Glasglocke übergestülpt, konnte sie die frisch erwachte Schönheit ihrer Umgebung nur erahnen, selbst aber nicht mit Leib und Seele daran teilhaben.
Jene unheimliche Düsternis stammte aus Marias liebendem Herz, das sich vor lauter Sorge um das Leben ihres Gefährten wundgescheuert hatte. Die Zukunftsangst überschwemmte ihr Bewusstsein mit lähmender Tristesse, die sogar banale Pflichten des Alltags zur Bürde geraten ließ. Spürte sie etwa schon körperlich, dass ein unrühmliches Ende der Mission bevorstand?
Mittlerweile hatte sich die dunkelhaarige Tiberianerin weit genug vom Lager entfernt, um sich unbeobachtet wähnen zu können. Kein Mensch durfte auch nur ansatzweise bemerken, was sie hier klammheimlich zu tun beabsichtigte.
Behutsam nahm Maria Magdalena den winzigen, mit bloßem Auge kaum sichtbaren Augor vom Halsausschnitt ihres Gewandes ab, um ihn vorsichtig an einem Zweig des vor ihr stehenden Wacholderbusches festzuklammern. Diese tiberianischen Vollignoranten sollten ruhig live und in Farbe mitbekommen, wie verhärmt ihre sturmerprobte Frau Kollegin wegen jenes riesengroßen Problems aussah!
Sie positionierte sich, warf ihr verschwitztes Haar über die Schultern nach hinten. Dann setzte sie mit weit aufgerissenen Augen den vielleicht wichtigsten Appell ihres bisherigen Lebens ab und hoffte inständig, dass er Gehör finden und vor allem eine baldige Reaktion hervorrufen möge.
»Balthasar, Gabriel … es ist mir inzwischen vollkommen egal, wer im Camp gerade lauschen und zusehen mag … wir sind ernsthaft in Gefahr! Ich kann beim besten Willen nicht ermessen, weshalb sich nach meinem letzten Bericht niemand von euch gemeldet hat.
Habt ihr denn den bitteren Ernst der Lage nicht erkannt? Seid ihr überhaupt noch am Leben, oder allesamt bei einem Räuberangriff oder einem sonstigen Desaster umgekommen? Habt ihr euch womöglich gar, ohne uns mitzunehmen, feige durch Raum und Zeit nach Hause verflüchtigt?
Entschuldigt bitte, dass ich hier ein wenig süffisant werde, doch ich weiß mir keinen Reim auf eure Untätigkeit, ja, Gleichgültigkeit mehr zu machen! Lässt es euch denn wirklich völlig kalt, dass man unserem Solaras eifrig nach dem Leben trachtet? Jemand muss endlich ins Geschehen eingreifen, bevor es zu spät sein könnte! Ehrlich gesagt, traue ich nicht einmal seinen Jüngern vorbehaltlos über den Weg.
Versteht mich bloß nicht falsch. Ich tue, was in meiner Macht steht. Es liegt in meiner Verantwortung, für seine Sicherheit zu sorgen. Mir fehlen leider jedoch immens wichtige Informationen, die mich wenigstens befähigen würden, mein Handeln umsichtig danach auszurichten.
Wie gefährlich kann solch ein Passahfest für ihn werden? Mir ist aufgefallen, dass die römischen Truppen erheblich verstärkt wurden. Sie sollen offenbar Aufstände und Unruhen in der jüdischen Bevölkerung verhindern oder Prozessionen bewachen. Irgendetwas in dieser Art.
Na gut, in Wirklichkeit habe ich keine blasse Ahnung davon, wieso die bis an die Zähne bewaffneten Einheiten hier in derartigen Massen antreten, das räume ich gerne ein. Gerade deswegen bin ich ja so nervös! Ihr müsst bedenken, dass Jesus und sein Gefolge seit einiger Zeit durchaus als lästige Unruhestifter angesehen werden.
Daher meine Frage: Worauf soll ich während der Feierlichkeiten achten, worum geht es bei diesem ominösen Passah eigentlich überhaupt? Mehrmals habe ich das Wort »opfern« aufgeschnappt, was mir natürlich arges Kopfzerbrechen bereitet.
Also, ganz wichtig: Wer oder was wird bei diesem Kult geopfert? Doch hoffentlich keine Menschen? Auf Terra weiß man nie! Es scheint sich jedenfalls um uralte Rituale zu handeln; unser Bordcomputer müsste somit hierüber einiges an wertvollen Auskünften parat haben. Diese Details brauche ich jetzt so schnell wie möglich!
Schickt mir schleunigst jemanden zur Verstärkung hierher, sonst kann ich für nichts garantieren. Am besten Gabriel, denn der bleibt auch in stressigen Situationen ruhig und war mir stets ein besonnener Ratgeber, auch wenn ich zu meinem nachträglichen Bedauern nicht immer gleich auf ihn gehört habe.
Ihr findet mich – respektive uns – am Fuße des sogenannten Ölbergs, denn da wollen wir für die kommenden Tage bleiben, um dem Massenauflauf in Jerusalem tunlichst zu entkommen. Jesus ist dort nach ein paar fragwürdigen Aktionen nämlich nicht mehr gerne gesehen und meidet deswegen insbesondere die Innenstadt und den Tempelbereich.
Ich hinterlasse am Wegesrand ein Zeichen in Form gekreuzter Stöcke, damit ihr wisst, wo ihr querfeldein abbiegen müsst, um geradewegs auf unser Lager zu treffen. Es liegt am Rande eines Gartens, denn man Gethsemane nennt.
Gebt euch einfach als gläubige Anhänger von Jesus aus, als hungrige Passah-Pilger oder meinetwegen auch als potentielle Täuflinge. Damit könnt ihr euer ungebetenes Eintreffen unauffällig kaschieren, denn es kommt häufiger vor, dass vollkommen Fremde Jesus‘ unmittelbare Nähe suchen.
Denkt mir unbedingt daran, bei der Wanderung keinerlei Lebensmittel oder Geschirrteile mitzuführen; ich weiß nicht sicher, was in diesen Tagen erlaubt ist und was als nicht koscher gilt. Schon kleinste Fehler könnten uns auffliegen lassen oder in die Kritik bringen.
Ich flehe euch ein letztes Mal an … helft uns doch endlich!«
*
Der Statthalter Pontius Pilatus drehte sich erfreut um, als er das dezente Klingeln von schweren Ohrgehängen vernahm. Ein sehr vertrautes Geräusch, denn so hörte es sich an, wenn seine Ehefrau Claudia reich behängt des Weges kam. Ihr schulterlanger Ohrschmuck im byzantinischen Stil, den er ihr vor kurzem verehrt hatte, pendelte beim Gehen stetig gegen die designgleiche Halskette aus purem Gold.
»Sei gegrüßt, meine Liebe! Was führt dich um diese Tageszeit zu mir? Verschaffen dir deine Damen heute nicht genügend Kurzweil, oder verspürst du Sehnsucht nach deinem Gatten?«, fragte er gut gelaunt.
Claudia Procula lächelte kokett, lehnte sich anmutig gegen eine Marmorsäule. »Beides ist richtig! Darüber hinaus hätte ich ein Anliegen an dich, oder vielmehr zunächst einmal eine Frage … aber du darfst mir bitte nicht böse sein!«
Der einflussreiche Römer schüttelte missbilligend den Kopf, umfasste ihre auffallend schmale Wespentaille.
»Wie sollte ich der schönsten Frau des gesamten römischen Reiches jemals böse sein können? Setz dich doch zu mir, und dann freimütig heraus damit!«, schmeichelte er und taxierte Claudias vollschlanke Sanduhr-Figur mit einem begehrlichen Blick. Wie gerne wäre er einfach über sie hergefallen! Doch das musste warten.
Claudias weibliche Rundungen saßen wohlproportioniert an den richtigen Stellen, was durch den semitransparenten, weich drapierten Stoff ihres lavendelblauen Kleides vorteilhaft unterstrichen wurde. Nur ein doppelreihiger Flechtgürtel aus weichem Leder hielt die textile Pracht am Körper zusammen.
Pontius Pilatus konnte sich kaum sattsehen, auch wenn er schon seit Jahren mit dieser Frau verheiratet war. Keine seiner zahlreichen Konkubinen konnte ihr optisch das Wasser reichen, nicht einmal die blutjungen Dinger aus den nördlichen Provinzen! Jedenfalls galt das bestimmt noch für die kommende Dekade, bevor seine Blume den vorgezeichneten Weg alles Irdischen gehen und zu welken anfangen würde.
Die schöne Römerin schnurrte wie ein Kätzchen, schwebte leichtfüßig zur nächstgelegenen Kline und ließ sich dekorativ niedersinken. Dann schnippte sie gekonnt mit den Fingern, um einen der dunkelhäutigen Diener herbeizurufen.
»Bring uns Wein und Wasser, wir sind durstig!«
Eilfertig führte der Mann den Befehl seiner Herrin aus, und schon verbarg er sich mitsamt seinen Karaffen wieder devot hinter einem schweren Samtvorhang, als wäre er dort niemals hervorgekommen.
Pontius setzte sich seiner Frau diagonal gegenüber, wo er sie in voller Schönheit betrachten konnte. Wie begehrenswert dieses Abbild der Venus doch war, ganz anders als diese dürren Kleiderständer!
»Komm, lass mich nicht länger warten! Was liegt meinem erlesenen Juwel auf der Seele? Womit kann ich meinem Vögelchen eine Freude machen? Ich lege dir die gesamte Welt zu Füßen, falls dir danach ist!«, protzte er eine Spur zu schwülstig. Die Angesprochene zögerte ein bisschen, begann zu schwitzen. Drehte verlegen eine ihrer gelockten Haarsträhnen um den Zeigefinger. Auf ihrer hohen Stirn bildete sich sogar eine kleine Sorgenfalte, was bei dieser Frohnatur eher selten vorkam. Sie entschloss sich jedoch mutig, ihre Bedenken abzustreifen und einfach ohne Umschweife zu fragen.
»Sage mir bitte, ob es wahr ist, dass der Sanhedrin ein Todesurteil über einen jüdischen Prediger gefasst hat, welches du in Kürze zu vollstrecken hast? Die Leute erzählen sich empört davon – und manch ein gläubiger Bewohner Jerusalems befürchtet gar, aufgrund seiner treuen Gefolgschaft gleich zusammen mit seinem Meister hingerichtet zu werden!«
Der Statthalter musste herzhaft lachen.
»Nanu? Seit wann interessiert sich meine Frau für das Schicksal hakennasiger Eiferer aus Galiläa? Nun, dieser Jesus von Nazareth soll ja bei den Leuten recht charismatisch herüberkommen, dabei ist er vermutlich nicht mehr als ein besonders aufsässiger Jude!«, scherzte Pontius Pilatus ziemlich respektlos und verdrehte die Augen.
Claudia wirkte indes überhaupt nicht amüsiert; eher wie jemand, der auf der Hut ist und seine Worte aus Gründen der Diplomatie sehr genau abwägen muss.
»So entspricht das Gerücht also der Wahrheit. Das hatte ich befürchtet! Pontius … du bist doch keine hilflose Marionette dieser selbstherrlichen Tempelhüter, nicht wahr? Wir Römer sind schließlich eine legitimierte Besatzungsmacht und nicht bloß willige Erfüllungsgehilfen für eitle Schriftgelehrte aus dieser reichlich provinziellen Region.
Wenn du nun beispielsweise das Ersuchen um Jesus‘ Kreuzigung ablehnen würdest, dann müsste der Vorsitzende Kaiphas deine Entscheidung sicherlich zähneknirschend hinnehmen, meinst du nicht auch?«
Pontius Pilatus stutzte, zog ein säuerliches Gesicht.
»Seit wann mischst du dich in die Politik oder meine ureigenen Entscheidungen ein? Ich hätte gerne eine Erklärung dafür, weshalb du dich dermaßen hartnäckig für irgendeinen dahergelaufenen Rabbi einsetzt! Hat er dich etwa verführt? Ist dies dein Beweggrund?«
Jetzt musste auch Claudia wider Willen lachen. Sie und der
Messias … völlig unvorstellbar!
»Aber nein, wo denkst du hin! Es ist nur so, dass ich zufällig einer seiner Reden gelauscht habe, als ich mit meinen Damen auf dem Markt zugange war. Wir haben beim Seidenhändler nach edlen Stoffen gesehen, als er wenige Meter entfernt plötzlich mit einer wunderschönen Stimme zu predigen begann. Die anderen Frauen sind neugierig hingelaufen – und ich folgte ihnen, wollte nicht alleine am Stand zurückbleiben.
Was er da mit leuchtenden Augen erzählte, erschien mir gar nicht so verkehrt zu sein. Jesus sprach unter anderem davon, dass man seine Mitmenschen lieben und ihnen besser alle Fehler verzeihen solle, damit man selbst ebenfalls Vergebung finden könne.
Es ist doch wahr, Pontius! Wenn die Menschen etwas rücksichtsvoller miteinander umgehen würden, so wäre das Leben weit weniger anstrengend und gefährlich!«, philosophierte die Römerin gestikulierend.
»Aha! Dann muss er dich mit seinen rührseligen Theorien ziemlich nachhaltig beeindruckt haben, wenn du mir das noch Tage danach so enthusiastisch herüberbringst. Ihr Frauen seid manchmal eben etwas arg unbedarft und glaubt blauäugig, die Welt ließe sich gewaltlos, mithilfe von großartigen Worten und Vernunft, regieren.
Doch bedenke: Ohne den Einsatz brutaler Gewalt wäre Rom im Laufe der Zeit wohl kaum zu einer imperialen Großmacht geworden – und wir beide würden in der Toskana Schafe züchten, anstatt hier mit allem Komfort zu residieren!
Du bist mit deinen pazifistischen Ansichten zwar mächtig auf dem Holzweg, meine Liebe, aber ich nehme dir deine Sentimentalität nicht übel! Es birgt gewisse Vorteile, wenn ein Weib sanftmütig veranlagt ist«, spottete Pontius überheblich.
»Aber dennoch – selbst falls ich diesen angeblich so erleuchteten Rabbi nicht hinrichten ließe, um dein mitleidiges Herz zu erfreuen … ich bin mir vollkommen sicher, dass der Sanhedrin Mittel und Wege finden würde, dass Jesus letzten Endes trotzdem zu Tode käme. Die Pharisäer schätzen es nicht, wenn man ihren Plänen in die Quere kommt!«, sinnierte der Statthalter pessimistisch und ließ sich schon wieder Wein nachschenken.
»Dann musst du eben zu einer schlauen List greifen, um deine anderslautende Entscheidung zu rechtfertigen!«, ereiferte sich Claudia erregt. »Du bist intelligent und gewieft, da sollte dir bestimmt aus dem Stegreif etwas Passendes einfallen. Aber eines musst du mir vorab unbedingt versprechen … !«
»Was denn? Komm endlich auf den Punkt!«
»Dass du ihm zumindest einen fairen Prozess machst, falls alle Stricke reißen sollten. Gib ihm ausreichend Gelegenheit zur Verteidigung, lasse ihn sein Handeln erklären und sich dafür rechtfertigen! Ich bin sicher, dass er dir ein paar schlagende Argumente liefern wird, die es dir anschließend gestatten dürften, ihn guten Gewissens ohne jede Strafe von dannen ziehen zu lassen«, bettelte die Römerin mit einem Augenaufschlag.
»Im Falle eines eindeutigen Freispruchs könnte der Sanhedrin es nicht wagen, Jesus in Eigenregie hinzurichten, auch nicht unter einem hanebüchenen Vorwand. Der Nazarener hat doch tatsächlich nichts Schlimmes verbrochen! Was kann er denn eigentlich dafür, dass ihn die unbedarften Leute für Gottes Sohn oder einen König der Juden halten?«
Pontius Pilatus seufzte resigniert, gab sich versöhnlich. »Na schön! Du glaubst offenbar, dass seine Eloquenz ihm das Leben retten könnte. Gut, probieren wir das eben aus! Aber ich muss dir so oder so eine klitzekleine Gegenleistung abverlangen. Von nichts kommt nichts, verstehst du?«
»Alles, was du willst! Was darf ich denn für dich tun?«, fragte Claudia und konnte verräterische Tränen der Erleichterung nur mit großer Mühe zurückhalten.
Der Mann erhob sich mit einem vielsagenden Glitzern in den Augen und steuerte leicht schwankend auf sein charmantes Eheweib zu. Der verführerische Anblick ihres Körpers und der exzellente Wein hatten ihre Wirkung getan.
»Mir ist nach einem ausgedehnten Gladiatorenkampf zumute! Was ist, willst du mir ins Schlafgemach folgen?«, fragte er lüstern und fuhr mit der Hand über ihr prachtvolles Gesäß. Ein bisschen plump, aber unmissverständlich.
Hätte Pontius Pilatus in diesem Augenblick gewusst, dass seine Frau sich im vergangenen Monat heimlich von Jesus auf den christlichen Glauben hatte taufen lassen, hätte er wegen ihres dringlichen Wunsches wahrscheinlich ganz anders reagiert. Manchmal war es unbestreitbar klüger, die Wahrheit für sich zu behalten.
*
Gabriel galt von jeher als äußerst selbstbeherrschter, kühl kalkulierender Mensch, dem seine Gefühle nur selten äußerlich anzumerken waren. Seit er auf Terra in ein gesetztes Alter gekommen war, schien er im Grunde überhaupt nicht mehr aus der Ruhe zu geraten.
Doch an jenem Donnerstag im April platzte jenem charakterstarken Mediziner der Kragen gründlicher, als Balthasar dies jemals für möglich gehalten hätte. Der muskulöse Hüne erinnerte nun stark an einen wütenden Racheengel, der im Begriff stand, Amok zu laufen.
»Genug, das reicht! Ich habe mir nun über eine geschlagene Stunde lang deine kaltschnäuzigen Ausflüchte darüber angehört, weshalb wir keinesfalls in das Geschehen eingreifen sollten. Mehr davon kann und will ich nicht ertragen!
Du hast als Missionsleiter eine Fürsorgepflicht für sämtliche Teilnehmer, auch wenn du das anscheinend nicht mehr wahrhaben willst! Solaras erfüllt den wahnwitzigen Plan, welchen wir am grünen Tisch für ihn ausersehen haben, bis hin zur totalen Selbstaufgabe. Kalmes wiederum hat es mit viel Mühe geschafft, ihn bis dahin zu bringen und sorgt sich nun zu Recht um sein nacktes Leben. Und da sollen wir einfach tatenlos zusehen, ohne den beiden zu Hilfe zu kommen?!
Balthasar, es handelte sich heute schon um den zweiten Hilferuf! Wir müssen darauf reagieren, unsere hochgeschätzten Kollegen sofort am Ölberg abholen … oder zumindest irgendeine Show mithilfe unserer fortgeschrittenen Technik veranstalten, die den undankbaren Leuten in Jerusalem einen dermaßen gewaltigen Respekt einflößt, dass sie es nicht mehr wagen würden, Hand an Jesus zu legen!
Was weiß ich, man müsste sich eben etwas Ausgefallenes einfallen lassen, was ihnen Angst und Schrecken bereitet und eine Intervention ihres Gottes vorspiegelt!
Dir ist in deiner doch sehr theoretischen Denkweise hoffentlich klar, dass sie auf diesem Planeten unbequeme Menschen bereits aus geringsten Anlässen köpfen, erstechen, steinigen, verbrennen oder sogar ans Kreuz zu nageln pflegen, oder?
Wir haben die Pflicht, eine solche Barbarei im Namen Tiberias zu verhindern! Zumindest aber wäre es nur fair, Kalmes wenigstens die gewünschten Informationen zukommen zu lassen, damit sie sich wehren oder beizeiten in Sicherheit bringen kann. Mission hin oder her wir sind immer noch Menschen, keine gefühllosen Roboter!
Ich melde mich freiwillig für den Einsatz und bin bereit, noch in dieser Minute zum Ölberg aufzubrechen. Kalmes hat mich schließlich explizit angefordert!«, stieß Gabriel in ungewohnter Lautstärke hervor. Dabei lief er schnellen Schrittes auf und ab, als wäre er ein im Käfig gefangener Tiger.
Balthasar verschränkte die zitternden Hände über seinem aufgedunsenen Leib, kniff die Lippen zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammen und schwieg beharrlich. Er ließ sich von seinem Kameraden nicht aus der Reserve locken, denn er durfte nichts genehmigen, das seinen klar definierten Befehlen zuwider laufen würde.
Aus Gabriels eingeengtem Blickwinkel heraus trafen dessen Argumente durchaus zu, doch er musste das große Ganze im Fokus behalten, durfte sich bei seinen Entscheidungen nicht von Emotionen beherrschen lassen. Der Missionserfolg stand in der Rangfolge über allen anderen Belangen, denn hier ging es nicht um das Wohl von Einzelnen, sondern vielmehr um dasjenige einer komplexen Kultur, die auf seinem fernen Heimatplaneten um ihre Existenz kämpfte. Tiberias Überleben zählte, andere Prioritäten gab es nicht.
»Bist du nun fertig? Kann man mit dir wieder vernünftig reden, oder willst du dich weiterhin aufführen wie ein Irrer?«,
fragte Balthasar verschnupft und erhob sich mit gemessenen Bewegungen von seiner Sitzbank, die aus Bequemlichkeitsgründen mit dicken Kissen belegt war.
»Solltest du nämlich weiterschimpfen wollen, so kannst du das auch anderswo tun. Ich werde mir deine Respektlosigkeit nicht mehr lange gefallen lassen. Deswegen bestehe ich darauf, dass du mich künftig wieder mit den höflichen Bezeichnungen Ihr und Vorderster ansprichst. Wir hatten diese Floskeln in den vergangenen Jahren bloß deswegen nicht mehr verwendet, weil wir prima als Team harmonierten und ohnehin alle im selben Boot saßen.
Da ich nun meine Vormachtstellung durch dein unangemessenes Verhalten gefährdet sehe, führe ich die offizielle Anrede für Vorgesetzte ab sofort wieder ein. Dazu bin ich autorisiert, wie du weißt.
Ich warne dich vorsichtshalber aus alter Freundschaft; unternehme besser gar nichts ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Wir befinden uns in einer hochsensiblen Phase der Operation, die keinerlei Fehler verzeiht. Nimm dich und deine Befindlichkeiten zurück, ansonsten wirst du mich nämlich bald von einer völlig neuen Seite kennenlernen!«
Gabriel verließ den Schauplatz wortlos, denn er hätte andernfalls nicht mehr an sich halten können. Was ging hier Übles vor sich? War ein mieses Intrigenspiel im Gange, dessen Regeln er nicht einzuschätzen vermochte? Balthasar ließ sich trotz aller Bemühungen weiterhin nicht in die Karten sehen.
Zwei Seelen wohnten in Gabriels Brust. Diese einander ebenbürtigen Kontrahenten stritten heftig um die Kontrolle über seine Handlungen. Eine davon wollte dem soeben erhaltenen Befehl buchstabengetreu Folge leisten, denn der hochdotierte Mediziner hatte auf Tiberia in seiner Jugendzeit selbstverständlich die allgemein übliche ideologische Ausbildung erhalten.
Es war tatsächlich Fakt, man konnte es nicht wegleugnen … vorangegangene Missionen waren maßgeblich daran gescheitert, dass einzelne Teilnehmer aus der Reihe tanzten und ihren ursprünglichen Befehlen zugunsten intuitiver Planänderungen zuwiderhandelten. So stand es jedenfalls in den Abschlussberichten dokumentiert. Aber würde die von ihm beabsichtigte Intervention dem Gelingen der Operation Terra 2.0 überhaupt entgegenstehen?
Die andere Seite seiner Seele zwickte und zwackte, peinigte ihn mit schweren Schuldgefühlen. Er musste doch Kalmes und ihrer Gruppierung zu Hilfe eilen! Wäre er vollkommen ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte er sich gleichwohl die wahren Beweggründe für seine unkontrollierten Ausraster bei Balthasar eingestehen müssen.
Jesus‘ Schicksal berührte ihn zwar, doch hätte Gabriel wegen ihm nicht seine eigene Reputation leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Wenn dieser Revoluzzer jetzt in einem illegalen Prozess zum Tode verurteilt wurde, dann war er größtenteils selber daran schuld. Solaras predigte als Jesus unablässig Liebe und Sanftmut, ging dabei aber ziemlich ungeschickt vor, machte sich mit seiner larvierten Aggressivität viele Feinde.
Nein, im Grunde sorgte sich Gabriel ausschließlich um jene Frau mit den sanften braunen Augen, in die er seit langer Zeit insgeheim verliebt war. Solange sie als Maria Magdalena an Jesus‘ Seite weilte, war sie höchstwahrscheinlich selbst in Gefahr.
Wütend schleuderte der Außerirdische Steine gegen einen Baumstamm, um seinen überschäumenden Frust zu kanalisieren. Balthasar hatte soeben sein blindes Vertrauen, seine Loyalität verraten. Was Gabriel über Jahrzehnte hinweg für eine gelungene Männerfreundschaft gehalten hatte, war in Wirklichkeit wohl keinen Pfifferling wert. Wie sehr musste er sich in seinem vermeintlichen Weggefährten getäuscht haben!
Sollte er noch heute desertieren, mit Kalmes untertauchen und für immer mit ihr auf Terra zurückbleiben? Aber was geschähe, falls Kalmes ihm seine selbstlose Rettungsaktion nicht danken und lieber mit dem lebenden oder toten Solaras brav nach Tiberia zurückkehren würde? Liebte sie diesen langhaarigen Hänfling etwa immer noch?
In diesem Falle säße er hinterher alleine hier in der Wüsteneinöde dieses rückständigen Planeten herum und würde sich bis an sein Lebensende wegen der verpassten Chancen und seiner fatalen Fehleinschätzung grämen!
Während Gabriel einen Stein nach dem anderen zur Kompensation seiner Ratund Machtlosigkeit zerschellen ließ, eilte Balthasar aufgewühlt ins Commudrom. Die schneidenden Vorwürfe seines Kollegen hatten ihn stärker verletzt, als er sich anmerken lassen durfte.
Ungeachtet dessen kam er zuverlässig seinen Pflichten nach, fügte der Missionsdokumentation einen neuen Eintrag hinzu. Er wägte seine Wortwahl ungewöhnlich lange ab, bevor er zu sprechen begann.
Balthasar 209/13.3.6.1.4, terrestrische Zeit: 7.19.10.8.3, Donnerstag
Es ist vorbei. Der Traum, dem manche Crewmitglieder in romantischer Verkennung der Realität nachhingen, ist vorüber. Aus einer verschworenen Gemeinschaft von ziegenzüchtenden Wahl-Terranern ist nun von einer Sekunde zur anderen wieder die tiberianische Missionscrew geworden, und zwar mit sämtlichen Rechten, Pflichten und Hierarchiestrukturen. Unsere Tage auf Terra sind gezählt.
Wir haben alle gewusst, dass es eines Tages soweit kommen wird. Und doch kann auch ich keinen Hehl aus meiner Betroffenheit machen, denn dieses unzivilisierte Terra hat unsere Seelen schon kurz nach der unsanften Ankunft gefangen genommen. Der Planet ist uns trotz oder gerade wegen seiner Unvollkommenheit zur zweiten Heimat geworden. Aber das erwähnte ich sicher bereits in einem meiner früheren Berichte.
Ich weiß, das ist eine seltsame Sichtweise für einen rational erzogenen Tiberianer; ihr Daheimgebliebenen werdet sie sicherlich sehr schlecht nachvollziehen können. Aber folgendes solltet ihr bedenken, bevor ihr euch über meine Gedanken wundert oder mich dafür an den Pranger zu stellen gedenkt:
Tiberia ist im Grunde genauso viel oder wenig unsere »Heimat« wie Terra … diese Bezeichnung verdient eigentlich einzig und allein der Mars, auch wenn er leider schon vor unvorstellbar langer Zeit unbewohnbar geworden ist.
Am schwersten fiel mir die Entscheidung, Jesus hier seinem vorgezeichneten Schicksal zu überlassen. Mir kam zu Ohren, dass er vom Sanhedrin zum Tode verurteilt worden sein soll; sofern der Statthalter Pontius Pilatus diesem Beschluss innerhalb der kommenden Tagen folgt und den Hinrichtungsbefehl antragsgemäß erteilt, werden wir unseren Gefährten verlieren.
Als wir einst auf Tiberia über die erfolgversprechendste Vorgehensweise für einen solchen Fall diskutierten und berieten, fiel es mir leicht, den Sinn und Zweck eines Märtyrertodes zu erkennen. Solaras‘ Leben galt mir als kleines Opfer, verglichen mit dem Effekt, den sein Tod bei den Gläubigen auslösen müsste. Auch ich habe dafür gestimmt, den Dingen ihren Lauf zu lassen, falls man ihm nach dem Leben trachten sollte.
Ein mildtätiger Mann, der mutig und selbstlos für das Heil seiner Welt stirbt, dürfte den Menschen Terras für eine ganze Weile im Gedächtnis haften bleiben. Vielleicht überlebt auf diese Weise zumindest sein Andenken.
Alanna, es war Euch damals mühelos gelungen, mich vollends von Euren wohldurchdachten Plänen zu überzeugen! Doch heute, da ich inmitten des tragischen Geschehens sitze und voller Nervosität unserem Abflug entgegenfiebere, quälen mich Zweifel. Mein Gewissen meldet sich unüberhörbar mit ätzenden Vorwürfen.
Mich vermag derzeit nur der Gedanke ein wenig zu trösten, dass Jesus nun höchstwahrscheinlich ein schwerer Schock erspart bleibt. Die Erkenntnis, dass er in Wirklichkeit gar kein Terraner, sondern ein tiberianischer Messias ist, wäre bestimmt weit über sein Begriffsvermögen gegangen! Hätte er sich nach dem Rückflug jemals akklimatisieren können? Ich weiß es nicht zu sagen!
Ich kenne diesen Solaras persönlich, habe ihn in seiner zweiten Identität aufwachsen sehen und viele TUN in seiner Nähe verbracht.
Ich musste mitansehen, wie sehr er manchen Kollegen am Herzen lag und immer noch liegt. Allen voran gilt das natürlich für Kalmes, die ihr eigenes Leben als Maria Magdalena ohne Zögern für ihn hingeben würde, wenn sie nur den leisesten Hauch einer Chance sähe, ihn dadurch retten zu können.
Sie hat im Grunde vollkommen Recht: Jesus‘ Verurteilung ist zweifellos ein himmelschreiender Akt der Ungerechtigkeit, selbst nach unseren zumeist abweichenden Maßstäben! Die Fähigkeit zu selbstlose Liebe fehlt uns auf Tiberia, wir sind bei aller Fortschrittlichkeit viel zu kopflastig geworden. Haben wir die falschen Werte geopfert, damit wir unsere kulturellen Errungenschaften um jeden Preis erhalten konnten?
Trotz dieser sentimentalen, in euren Augen vermutlich höchst unangebrachten Überlegungen – die finale Entscheidung über unser weiteres Vorgehen ist nach terrestrischen Termini schon vor Jahrzehnten gefallen, auch wenn sie für euch auf Tiberia erst wenige Tage zurückliegt. Ich werde mich den Vorgaben unter von vorneherein fruchtlosem Protest beugen und zusehen, dass ich die Mission zu einem gelungenen Abschluss bringe. Plangemäß, genau wie es von mir erwartet wird.
So kann ich unserem künftigen Helden nur wünschen, dass ihm wenigstens ein schneller Tod beschieden sein möge. Für den Fall, dass man ihn mit Spott und Häme zur Schau stellt oder ihn irgendwelchen Qualen aussetzt, kann ich nämlich nicht dafür garantieren, dass hier keine Meuterei ausbricht.
Womöglich könnte es Kollegen geben, die unbefugt Rettungsversuche unternehmen und sich strikt weigern würden, durch den Zeittunnel zurückzukehren. Ich könnte eventuellen Renegaten bei wohlwollender Betrachtung nicht einmal einen Vorwurf machen, und doch würde ich bei einer solchen Entwicklung hart durchgreifen müssen, um die Heimreise der restlichen Crew nicht zu gefährden. Mir steht eine gefährliche Gratwanderung bevor.
Wir mögen damals bestens geschult und auch auf Traumata aller Art vorbereitet worden sein … dennoch sind und bleiben wir Menschen, deren psychische Belastbarkeit Grenzen kennt. Wir neigen aufgrund der ausgedehnten Aufenthaltsdauer genau wie die Terraner zu unüberlegten, recht spontanen Handlungen, sobald wir an unsere Grenzen gelangen. Stellt euch besser beizeiten darauf ein.
Wie auch immer es am Ende kommen wird – der Raumgleiter ist jedenfalls repariert und abflugbereit. Es stellt sich nur die Frage, ob ich am Tag X eine ausreichend große Crew für den Start zur Verfügung habe. Die nächsten KIN werden es erweisen.
Balthasar 209/13.3.6.1.4, Ende
*
Eine Woche später wirkte Jesus von Nazareth plötzlich wie ausgewechselt. Er schien seine Emotionen jetzt besser unter Kontrolle zu haben, fokussierte sich offenbar konzentriert auf ein neues Ziel. Seine depressive Phase war zur Freude Maria Magdalenas quasi über Nacht sangund klanglos vorüber gegangen; man merkte es daran, dass Jesus sich wieder emsig den Aktivitäten der Gemeinschaft widmete.
Gleichwohl sah der ausgebrannte Prediger nicht gerade fröhlich drein, doch meisterte er seinen Alltag an jenem Donnerstag gefasst und verschwand sogar für eine Stunde ins benachbarte Dorf, um dort etwas für das bevorstehende Passah-Sedermahl auszuhandeln. Seine Apostel atmeten erleichtert auf, denn ihr hochgeschätzter Meister schien langsam zur Normalität zurückzukehren.
Maria Magdalena nahm Jesus beiseite, sobald er beschwingten Schrittes ins Lager zurückkehrte. Sie war dankbar für die Abwechslung, denn wie schon in den vergangenen Tagen hatte sie unablässig die Gegend nach verirrten Wanderern abgesucht. Vergeblich, doch sie glaubte im Grunde ihres Herzens noch immer fest daran, dass die tiberianische Crew bald Hilfe schicken müsste. Es konnte, nein, durfte gar nicht anders sein!
Wenigstens konnte man inzwischen mit Jesus wieder kommunizieren; er hüllte sich, Gott sei Dank, nicht mehr in rätselhaftes Dauerschweigen. Marias Gefühle von Trauer und Einsamkeit lösten sich allmählich in Wohlgefallen auf, machten neuer Zuversicht Platz.
»Da bist du ja wieder!«, begrüßte sie ihn freudig und drückte ihm einen liebevollen Kuss auf den Mund. »Wie ich von Petrus hörte, willst du uns heute Abend ein traditionelles Sedermahl stiften? Hast du drüben im Dorf etwas organisieren können?«, fragte Maria neugierig.
Maria brannten noch so viele Fragen auf der Seele, die ihr viel dringender erschienen – aber sie durfte ihrem Liebsten so kurz nach Beendigung der Funkstille nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Ihre Sorgen mussten noch ein wenig warten.
Jesus lächelte, wirkte jedoch ein bisschen abgelenkt.
»Ja, es ist alles geregelt, auch wenn ich im Nachbardorf keinen geeigneten Ort finden konnte. Wir werden heute jedoch trotzdem ein gemeinsames Abendmahl bei Kerzenschein einnehmen können. Ein freundlicher Großbauer stellt uns dafür sein geräumiges Wohnhaus am Stadtrand von Jerusalem zur Verfügung und versorgt uns fürsorglich mit Speis und Trank.
Alles wird ordnungsgemäß nach jüdischen Traditionen hergerichtet sein, wenn wir in der Abenddämmerung gemeinsam dorthin wandern. Judas Iskariot mag den Mann nachher fürstlich für seine Mühe entlohnen. Mehr kann ich für euch leider nicht tun!«
Die gutaussehende Tiberianerin stutzte. »Aber du tust doch mehr als genug für uns!«, protestierte sie kopfschüttelnd. Nach kurzem Überlegen fügte sie eindringlich hinzu:
»Apropos Judas … Jesus, bist du dir sicher, dass du ihm vorbehaltlos trauen kannst? Er geht als Einziger oft seine eigenen Wege, auch nach Jerusalem hinein. Dabei achtet er jedes Mal peinlich genau darauf, dass ihm niemand folgt. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was er dort Absonderliches treiben mag. Besorgungen macht er jedenfalls nicht, denn er kehrt stets mit leeren Händen zurück.
Meines Erachtens verbirgt er irgendein dunkles Geheimnis vor uns, das sagt mir die weibliche Intuition. Übrigens ist Judas zurzeit schon wieder unterwegs!«
Jesus wirkte mit einem Mal traurig. »Zerbrich dir darüber bitte nicht den Kopf, Maria. Ich habe alles im Griff, gehe ebenso wie du mit wachen Augen durch die Welt. Alles hat seine vorbestimmte Ordnung im Universum. Noch heute Abend werde ich zu euch auf dieser Feier über die Zukunft sprechen. Danach essen und trinken wir zusammen, denn die Zeit drängt!«
Der Mann mit den hellen Augen, in denen plötzlich Tränen standen, ließ seine Gesprächspartnerin nach dieser nebulösen Ankündigung einfach stehen und trottete zu seinen wartenden Jüngern, um ihnen dieselbe Botschaft zu überbringen.
Außer dem aufmerksamen Simon Petrus bemerkte niemand, dass Jesus merkwürdig bedrückt dreinsah, sich eigentlich gar nicht in Feierlaune befand. Freudig liefen sie in alle Himmelsrichtungen davon, um sich für das speziell zubereitete Mahl in frische Gewänder zu kleiden.
Man gedachte damit alljährlich dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten, dem Erhalt der Zehn Gebote im Sinai-Gebirge und ganz allgemein Gottes Bund mit den Juden. Es war normalerweise üblich, jene symbolische Kulthandlung inmitten seiner Familie zu begehen. Wobei in diesem speziellen Fall Jesus den Status der Vaterfigur einzunehmen hatte, denn seine engsten Jünger galten ihm als gleichwertiger Ersatz für einen Familienverband herkömmlicher Art. Er gewährte ihnen schließlich genau wie ein Patriarch Schutz, Segen und Hilfe.
Einige der Jünger hatten bereits wegen Jesus‘ introvertiertem Zustand befürchtet gehabt, dass ihr Sedermahl in diesem Jahr womöglich ausfallen könnte. Nun ging ein Aufatmen der Erleichterung durch das Lager, denn sie als seine treuesten Anhänger würden zum Glück doch nicht mit den uralten Riten des Judentums brechen müssen. Im Bauernhaus würden später ein Opferlamm, ungesäuertes Brot, Bitterkräuter und Wein auf die hungrigen Apostel warten.
Maria hingegen erstarrte abrupt mitten in der Bewegung, ihr fiel es wie Schuppen von den Augen. Hatte Jesus wirklich vom Universum gesprochen? Himmel … seine wahre Identität schimmerte anscheinend immer stärker durch die künstlich geschaffene Jesus-Fassade!
Niemand sonst in dieser archaischen Zeit ahnte auch nur ansatzweise etwas von Spiralgalaxien, Supernovae, schwarzen Löchern, Pulsaren oder Sternenhaufen – geschweige denn von jenen universellen Gesetzen, welche dem Menschen nach dem Urknall überhaupt erst seine Existenz ermöglicht hatten!
Wen hatte sie hier eigentlich vor sich? Jesus, den terrestrischen Messias – oder vielmehr den wissenschaftlich ausgebildeten Tiberianer Solaras?
*
Der diensthabende Offizier der jüdischen Tempelwache runzelte missbilligend die Stirn. Selbstverständlich war ihm bewusst, dass er jeglichen Befehl des Sanhedrins buchstabengetreu auszuführen hatte. Dennoch erschien es ihm nach eigenem Dafürhalten falsch, einen einzelnen Juden für die gelegentlichen Unruhen im Volk büßen zu lassen.
»Natürlich, ich habe den Befehl verstanden! Wir sollen Jesus von Nazareth noch in dieser Nacht festnehmen und Pontius Pilatus zur weiteren Verfügung überstellen.
Aber, mit Verlaub, nur zu meinem persönlichen Verständnis: Wie sollte dieser Heiler mit seinen Predigten und Handlungen die Machtposition des Sanhedrins gefährden können? Es handelt sich um die zentrale Institution des Judentums! Wie könnte ein Einzelner dieses mächtige Bollwerk in einem solchen Ausmaß gefährden, wie es unser Hohepriester Kaiphas offenbar zu befürchten scheint?«
Der Würdenträger zog ein säuerliches Gesicht. Ihm war anzusehen, dass auch er mit dem Befehl nicht hundertprozentig konform ging. Aber die Entscheidung war im Sanhedrin nun einmal gefallen, und aus ihr resultierte der soeben überbrachte Befehl. Was erdreistete sich dieser lausige Befehlsempfänger, ihn frech zu hinterfragen?
»Dieser Mann hat im ganzen Lande für Aufruhr gesorgt. Er ist ein potentieller Unruhestifter! Es geht auch mehr um das Gedankengut, das Jesus verbreitet, und nicht so sehr um die Person. Die Römer könnten dem Sanhedrin noch den letzten Rest an verbliebener Selbstständigkeit nehmen, indem sie einseitig das Besatzungsrecht ändern, wenn er weiter ungehindert sein zersetzendes Unwesen treibt.
Ist dir bewusst, was das letzten Endes für uns bedeuten würde? Wir wären endgültig dazu verdammt, uns wie Marionetten an der Schnur dieser Ungläubigen zu bewegen! Die Römer ersticken rebellische Tendenzen ohne Rücksicht auf Verluste im Keim, und wir wären hinterher die Leidtragenden. Kaiphas musste sich jener traurigen Tatsache leider beugen.
Die Verhaftung dieses Rabbi ist insofern mehr eine vorbeugende Maßnahme, um das gesamte jüdische Volk vor den Folgen eines Aufruhrs zu schützen und den Tempelkult nach den Geboten der Thora für die Nachwelt zu bewahren. Besatzer aus fernen Ländern mögen kommen und gehen, doch unser Glaube muss für die Ewigkeit Bestand haben!
Glaubst du, Moses hat das Volk Israel einst aus den Fängen des ägyptischen Pharaos befreit, damit es wenig später wieder von Fremden geknechtet werde? Noch dazu im eigenen, von Gott verheißenen Land?
Es ist auf jeden Fall besser, wenn ein einzelner Mensch für das Volk stirbt als umgekehrt. Vergiss nicht, dass dieser Jesus sogar mit der Zerstörung des heiligen Tempels gedroht hat! Du tust also nichts als deine Pflicht für Gott und die Menschen. Bist du dazu bereit?«, fragte der Mann lauernd.
Der Offizier nickte. »Selbstverständlich! Von dieser Seite hatte ich die Angelegenheit noch gar nicht betrachtet, bitte verzeiht mir meine Unverfrorenheit. Ich hätte Euch nicht mit unbotmäßigen Fragen belästigen dürfen. Meine uneingeschränkte Loyalität und mein Leben gehören Euch, so wie ich es einst geschworen habe.
Aber sagt mir, wie sollten wir diesen Rabbi im Kreise seiner Anhänger überhaupt identifizieren können? Diese Getauften sehen doch alle gleich aus, kleiden sich in einfache Gewänder und tragen Sandalen mit Riemen aus billigem Leder! Gibt es irgendein zuverlässiges Unterscheidungsmerkmal?«
»Aber ja! Es wurde mit unserer Kontaktperson ein Zeichen vereinbart. Wir stehen seit einiger Zeit mit einem Jünger namens Judas in Verbindung, der seinen Meister an uns verraten wird. Er entstammt dem engsten Kreis um Jesus und ist mit seiner Situation mehr als unzufrieden. Nicht zuletzt deshalb, weil er daran glaubt, dass der sogenannte Messias nur ein gemeiner Betrüger ist, der die Menschen vorsätzlich täuscht.
Legt euch auf die Lauer und wartet ab. Laut Judas wird sich die Gruppe heute Nacht im Garten Gethsemane am Fuße des Ölbergs zur Ruhe betten. Sobald du dort beobachtest, dass ein großgewachsener Mann im längsgestreiften Kaftan einen hageren Kerl herzlich mit dem Bruderkuss begrüßt und ihn unterwürfig als Meister tituliert, schlagt ihr zu! Denn dieser vermeintliche Akt der Respektsbezeugung ist in Wirklichkeit das vereinbarte Zeichen.
Vergesst dabei keinen Augenblick, dass ihr nur eure Pflicht für abertausende von Juden erfüllt! Denkt an die künftigen Generationen, sie werden es euch dereinst danken!«
Der Offizier salutierte markig, sein Gewissen war jetzt hinreichend betäubt. Die Worte seines Vorgesetzten hatten die beabsichtigte Wirkung gezeigt. So sehr, dass der Offizier den Auftrag inzwischen sogar als große Ehre und sich selbst als edlen Bewahrer des jüdischen Glaubens betrachtete.
»Es soll geschehen, wie Ihr befehlt! Noch ehe die Sonne zum nächsten Mal am Horizont erscheint, wird Jesus von Nazareth im Kerker des Pontius Pilatus sitzen und zähneklappernd auf seine Hinrichtung warten!
Wie sollen wir es eigentlich handhaben, falls seine Anhänger Widerstand leisten? Müssen wir diese Männer ebenfalls verhaften und mit ihm einsperren?«
Der Würdenträger winkte grinsend ab. »Ach was, das sind doch bloß harmlose Spinner, die schon aus religiöser Überzeugung keine Waffen tragen. Die werden euch nicht ernsthaft gefährlich werden können. Ohne den Zuspruch ihres Anführers wird eventueller Widerstand ohnehin schnell in sich zusammenfallen.
Lasst diese sogenannten Jünger ruhig nach Belieben protestieren und wehklagen; wenn sie fliehen wollen, verfolgt sie nicht, denn sie sind der Mühe kaum wert!
Sollte jemand euch wider Erwarten doch bedrohen, so seid ihr natürlich befugt, euch diese Person auf geeignete Weise vom Hals zu schaffen. Aber bitte möglichst unauffällig, die ganze Aktion soll nicht viel Aufmerksamkeit erregen!«
*
Am Rande einer Plantage aus abgeblühten Mandelbäumen stand jenes langgezogene Bauernhaus, in welchem Jesus mit seinen Aposteln den Sederabend zu verbringen gedachte. Das Gebäude war hundert Jahre zuvor aus grob behauenen Natursteinen gebaut worden, wodurch es im Innenraum selbst bei größter Hitze angenehme Kühle versprach. Kleine rechteckige Fenster tauchten den großen Wohnraum schon tagsüber in ein dämmriges Zwielicht.
Einer nach dem anderen trat staunend ein, nahm an der langen Tafel Platz. Fünf Weinkrüge und eine Ansammlung von hölzernen Kelchen standen auf einem kleinen Tisch an deren Stirnseite bereit, warteten auf durstige Gäste. Wahrscheinlich saß an diesem Platz normalerweise der Familienvater, um mit Adleraugen über den Ausschank zu wachen.
Bauer Jeremias, welchem das Anwesen in dieser Generation gehörte, trug eilfertig die bestellten Teller auf, legte einige Brote daneben und zog sich dann freundlich grüßend zurück. Er wollte mit dem verbliebenen Rest seiner einstmals großen Familie ebenfalls den Sederabend feiern, ganz still und bescheiden. Als guter Gastgeber verstand er sich darauf, den Passahpilgern nur die allerbesten Speisen zu kredenzen, die seine bestens gefüllte Vorratskammer hergab.
Die vergleichsweise wohlhabenden Bauersleute waren nur zu dritt und konnten somit auf eine lange Festtafel verzichten. Sie feierten separat in der angrenzenden Küche. Die meisten ihrer erwachsenen Kinder waren schon lange aus dem Haus und hatten eigene Großfamilien gegründet, die der alte Jeremias beim besten Willen nicht alle unter einem Dach hätte vereinen können. Seit der Ankunft des letztgeborenen Enkelkindes hätte es sich um sage und schreibe 63 Personen gehandelt!
So blieb er an diesem besonderen Abend notgedrungen mit seiner Ehefrau und dem jüngsten Sohn alleine, um keines seiner weiteren Kinder mit einer Einladung zu bevorzugen. Er wollte niemanden vor den Kopf stoßen, keinesfalls Eifersucht unter seinen Nachkommen wecken. Die Rivalität würde ohnehin noch groß genug werden, sobald sie sich dereinst um ihr Erbe zanken mussten. Er würde schließlich nicht ewig auf Erden weilen, und auf den Besitz des Bauernhofs schielten bereits jetzt so einige von ihnen.
Jeremias und seine Frau schätzten sich glücklich, stattdessen den bekanntesten aller Prediger samt Anhang als illustre Gäste bei sich zu haben. Sie waren vollkommen überzeugt davon, dass jener gottgesandte Nazarener das Haus durch seine bloße Anwesenheit segnen würde, so dass in Zukunft nie wieder ein Unglück über die darin lebende Familie kommen könne.
Jesus nahm traditionell inmitten der fröhlich plappernden Zwölferschar aus Jüngern Platz, damit wirklich jeder der Anwesenden seinen Ausführungen problemlos lauschen konnte. Er würde ihnen Unangenehmes zu eröffnen haben, doch das ließ sich leider nicht mehr vermeiden. Vielleicht bot sich hier und heute sogar die allerletzte Chance, seine Jünger schonend auf das kommende Unheil vorzubereiten.
Wie üblich saß Maria Magdalena auf Tuchfühlung an Jesus‘ rechter Seite; die meisten seiner Anhänger hatten sich an diesen Anblick gewöhnt und störten sich nicht mehr an der merkwürdigen Tatsache, dass die einzige Frau unter ihnen gleichberechtigt behandelt und überdies innig geliebt wurde.
Einzig die Herren Simon Petrus und Judas beobachteten zu Beginn dieses Abends voller Ingrimm, wie vertraut das Paar die Köpfe zusammensteckte; sie hielten es weiterhin für unangebracht, dass ihr Meister als himmlischer Messias nicht einmal über irdische Verführungen dieser Art erhaben war. Wäre es nach ihnen gegangen, so hätte er dem Weibsvolk komplett entsagen sollen.
Doch was heute noch nicht war, konnte ja später noch werden … Jesus hatte vor einigen Monaten verheißungsvoll zu Simon Petrus gesagt, dass er wie ein starker Fels sei, auf dem eines Tages seine neue Kirche erbaut werde. Bestimmt war er dazu ausersehen, Jesus‘ Nachfolge anzutreten!
Nun, falls diese Prophezeiung tatsächlich eintreffen würde, nahm sich der vierschrötige Apostel beim Anblick des unverhohlen turtelnden Paares vor, dann würde er künftigen Priestern die Ehe und damit jeglichen körperlichen Verkehr mit anderen Menschen strikt verbieten.
Wer sein Leben dem Einen Gott widmete, der hatte sich anderweitig gefälligst zurückzuhalten. Man konnte im Leben schließlich nicht gleichzeitig zwei Herren dienen!
Wäre Jesus‘ führender Jünger ehrlich zu sich selbst gewesen, dann hätte er sich beschämt eingestehen müssen, dass diese negativen, abfälligen und überaus neiderfüllten Gedanken in Wahrheit einem ganz profanen menschlichen Bedürfnis entsprangen.
Simon Petrus kämpfte nämlich verzweifelt mit einer fast unerträglichen Sehnsucht nach seiner Familie. Nach seiner eigenen Frau, die er schon seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Ob und wann er sie wieder einmal für kurze Zeit besuchen könnte, stand in den Sternen.
Nahezu in jeder Nacht suchte ihn die quälende Vision heim, wie seine Gefährtin in Kapernaum einsam und traurig zu Bett gehen und sämtliche Schwierigkeiten des Lebens alleine oder mithilfe anderer Familienmitglieder meistern musste. Er vermisste Sarah mittlerweile so sehr, dass es gehörig schmerzte.
Gut, es war seine eigene Entscheidung gewesen, sich Jesus anzuschließen. Aber wenn der Fischersmann Simon Petrus wegen seiner religiösen Gefolgschaft schon nicht bei seinem Eheweib sein konnte, dann gönnte er ein solches Vergnügen eben auch keinem anderen Menschen, der sich aus freiem Willen dem Glauben verschrieb.
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Als Jesus den Jünger Thomas bat, die Kerzen anzuzünden, kehrte allmählich Ruhe an der Festtafel ein. Aller Augenpaare hefteten sich nun gespannt auf den Meister, der aufgestanden war, um zur Feier des Tages höchstpersönlich den Rotwein auszuschenken.
Sobald endlich jeder einen gut gefüllten Kelch vor sich stehen hatte, erhob der Messias seinen eigenen, um den bestens gelaunten Jüngern freundlich zuzuprosten.
Als gläubige Juden erwarteten sie, dass Jesus nun der Tradition gemäß aus der Haggada vorlesen müsste. Am Sederabend wurde normalerweise jedes Jahr die alte Geschichte, wie Gott sein Volk einst unter ärgsten Entbehrungen aus Ägypten errettet und ins gelobte Land geführt hatte, von neuem erzählt. Man pflegte anschließend einen Segen über den koscheren Speisen auszusprechen und dann scherzend und schwatzend mit dem üppigen Festmahl zu beginnen.
Doch Jesus tat zu ihrem Erstaunen nichts dergleichen. Er hielt lediglich eine kleine Dankesrede, dann brach er das Brot.
»Nehmt es und esst nach Herzenslust, denn das Brot symbolisiert meinen Leib. Ihr könnt dasselbe später zu meinem Andenken tun, da ich in Kürze nicht mehr unter euch weile! Denn dies ist unser letztes gemeinsames Abendmahl.«
Ein Raunen ging durch die Gesellschaft. Wie hatte Jesus das gemeint? Wollte er mit diesen vagen Andeutungen etwa ankündigen, dass er sie bald zu verlassen gedachte?
Niemand fand Gelegenheit, genauer hierüber nachzudenken. Denn nun griff Jesus mit weit aufgerissenen Augen nach dem Kelch, erhob ihn feierlich und bat seine zwölf Getreuen und Maria Magdalena, es ihm gleichzutun.
»Seht, dieser vorzügliche Wein ist wie mein Blut. Damit besiegle ich meinen festen Bund mit euch und zahlreichen anderen Menschen, denn ich werde es für euch vergießen. Wann immer ihr in Zukunft Wein trinkt, verkündet ihr zugleich eures Herrn Tod. Tut auch das zu meinem Andenken, bis ich eines Tages am Ende der Zeit wiederkehre!«
Nun waren die Apostel endgültig verunsichert. Simon Petrus schluckte, fasste sich ein Herz und fragte zaudernd:
»Herr, wie meinst du das? Willst du uns im Stich lassen oder befürchtest du gar dein baldiges Ableben?«
Jesus seufzte tief und verkündete mit todernster Miene: »Einer ist unter euch Aposteln, der mich noch im Verlauf dieser Nacht verraten wird!«
Rufe der Empörung wurden laut. Jeder beeilte sich zu versichern, dass er so etwas Niederträchtiges ganz bestimmt nicht im Schilde führe! Die Einen schmeichelten dem Nazarener, andere kamen ihm mit galligen Vorwürfen. Wie konnte er nur allen Ernstes annehmen, dass ausgerechnet jemand von ihnen zu solch einer hinterhältigen Gräueltat imstande sei!
Wieder war es Simon Petrus, der dem lautstarken Geplapper Einhalt gebot und Jesus mit fester Stimme geradeheraus fragte:
»Von wem glaubst du denn überhaupt so felsenfest, dass er dich verraten wird? Ich könnte mir beim besten Willen keinen Verräter in dieser Runde vorstellen!«
Jesus nahm ein Stück Brot, tauchte es tief in den Weinkelch ein. Mit dieser Geste bemühte er erneut die Symbolik, dass es hier im übertragenen Sinne um seinen Leib und sein Blut gehe.
»Es ist einer, der mit mir am heutigen Abend scheinheilig aus derselben Schüssel isst. Und zwar derjenige, welchem ich jetzt einen blutgetränkten Bissen meines Leibes überreichen werde. Dieses kleine Stück ungesäuerten Brotes hier, das ich zuvor eingetunkt habe, wird ihn entlarven. Ich bitte diesen Mann jedoch nicht um Gnade, sondern appelliere hiermit an ihn:
Was du tun willst, das tu bald!«
Mit diesen Worten überreichte er das Brot in einer demütigen Geste seinem Jünger Judas Iskariot, welcher es erschrocken in Empfang nahm und wortlos nach draußen in die Nacht entschwand. Ein deutlicheres Eingeständnis seiner Absicht hätte der potentielle Verräter gar nicht abliefern können.
»Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist in ihm verherrlicht!«, rief Jesus zufrieden aus und setzte sich in aller Seelenruhe nieder, um weiter zu essen.
Den Jüngern war der Appetit jedoch zur Gänze vergangen. Wie konnte der Meister jetzt einfach sein Märtyrerschicksal akzeptieren und zur Tagesordnung übergehen, wenn er aufgrund Judas‘ gemeiner Heimtücke mit seiner baldigen Ermordung rechnen musste? Er wirkte sogar, als sei gerade eben eine schwere Last von ihm abgefallen!
»Was ist mit euch los? Ist es die unvollkommene Natur des Menschen, die euch so zu schaffen macht? Ich habe stets darüber gepredigt und darauf hingewiesen, dass wir uns im Namen des Herrn selbst verleugnen und notfalls unser Leben für ihn hingeben müssen. Für mich scheint dieser Tag gekommen zu sein. Mein Schicksal muss sich nun erfüllen!
Kommt, lasst euch von dem Zwischenfall nicht länger stören, esst und trinkt mit mir zum allerletzten Mal! Es war leider notwendig, euch mit der unangenehmen Realität zu konfrontieren, damit sie euch nicht unvorbereitet ereilen kann.
Aber bedenkt bitte, noch bin ich lebendig wie ein Fisch im Wasser und wir sitzen hier gemeinsam zu Tisch. Genießen wir den Augenblick, solange es noch geht! Danach möchte ich euch alle mit einer Fußwaschung segnen, zum Ölberg zurückkehren und mich im einsamen Gebet auf den schweren Weg ans Kreuz vorbereiten.«
Doch die Jünger saßen nur regungslos da, als wäre ein Blitz in sie gefahren. Manch einer vergoss bittere Tränen um dieses unschuldige Lamm, das offenbar wirklich für die Sünden der Welt geopfert werden sollte. Jeder von ihnen forschte verstört in der eigenen Seele nach einem eventuellen Schuldanteil.
Hätten sie den Verräter erkennen, ihn bloßstellen und rechtzeitig etwas gegen ihn unternehmen müssen? Wie hatte der Teufel überhaupt in einen streng gläubigen Mann fahren und von seinem Wesen vollständig Besitz ergreifen können? Würden sie, die übrigen Jünger, etwa ebenfalls von einem Moment zum anderen in eine ähnlich missliche Lage geraten?
Nach wenigen Minuten beendete auch der Messias sein Mahl und hielt eine ausführliche Abschiedsrede. Er schmückte sie mit theologischen Philosophien und einer deutlichen Warnung vor dem Endgericht aus. Erneut wies Jesus zum Trost darauf hin, dass er nicht für immer von ihnen gehen, sondern eines Tages wiederkehren werde.
Am Ende versicherte er mit tränennassen Augen gegenüber Gott, seinem Herrn:
»Solange ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in Deinem Namen, den Du mir gegeben hast. Und ich habe sie behütet und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllt!«
Jesus schenkte sich ein letztes Mal den Weinkelch randvoll, bis kein Tropfen mehr hineingegangen wäre. Für ihn würde es nach Lage der Dinge ohnehin kein lebenswertes Morgen mehr geben. Was musste es ihn also kümmern, ob er einen Kater davontrug? An seine geliebten Jünger gerichtet, fuhr er in geradezu poetischer Wortwahl fort:
»Wahrlich, ich sage euch: Ich werde fortan nicht trinken vom Gewächs des Weinstocks bis zu dem Tag, an dem ich neu trinke im Reich Gottes.«
Maria Magdalena fühlte sich indessen einer Ohnmacht nahe. Sie hatte doch die ganze Zeit über gewusst, dass mit diesem verdammten Judas etwas faul gewesen war! Aber sie würde tapfer um Jesus‘ Leben kämpfen, damit sie hernach mit Solaras auf Tiberia endlich eine gemeinsame Zukunft haben könnte. Koste es, was es wolle!
Wenn doch bloß endlich die angeforderte Verstärkung eingetroffen wäre … bei diesem Gedanken angekommen, fiel Jesus‘ treuer Gefährtin siedend heiß ein, dass die tiberianische Crew ja eigentlich gar nicht wissen konnte, wo sie sich derzeit aufhielten! Wie hatte sie vorhin nur vergessen können, den Standortwechsel durchzugeben?
Eilig entschuldigte sich die Jüngerin mit einem unaufschiebbaren menschlichen Bedürfnis, stellte sich draußen hinter einen Baum und setzte ihre Mitteilung an Balthasar über den Augor ab. Die Sache begann allmählich, ihr gewaltig über den Kopf zu wachsen!