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Kapitel 2

Kleine Ursache – große Wirkung

»Stephen, ist dir nicht gut? Soll ich dir ein Glas Wasser bringen? Oder Kreislauftropfen vielleicht?«

Als Steve zu sich kam, tätschelte jemand vorsichtig seine Wange. Vorsichtig öffnete er die Augen, ihm war tatsächlich schwindelig, die Welt drehte sich im Kreise. Er lag rücklings auf einer Couch, die ihm äußerst bekannt vorkam. Seine Mutter Kirstie stand mit besorgtem Blick über ihn gebeugt und Steve fiel auf Anhieb auf, dass sie sehr blass wirkte und ganz in Schwarz gekleidet war, was untypisch und unvorteilhaft an Mama aussah.

Da die rothaarige Kirstie stets vergeblich versucht hatte, ihren sehr hellen Haut-Ton in der Sonne etwas dunkler zu bekommen und hieran jeden Sommer in schönster Regelmäßigkeit kläglich gescheitert war, machte sie die dunkelste aller Farben einfach noch blasser, als sie eigentlich sowieso schon war. Das einzig Dunkle in ihrem Gesicht bildeten nach ihren erfolglosen Versuchen alljährlich die Sommersprossen, deren Population sich schon beim ersten Sonnenbad zu vervielfachen pflegte; oft hatte Stephen sich als Kind hierüber köstlich amüsiert.

»Es geht schon wieder, glaube ich. Lass mich bitte einfach noch einen Moment hier liegen und ausruhen, dann komme ich sofort zu dir«, sagte Stephen mit dünner Stimme. Seine Mutter entfernte sich mit einem traurigen Nicken und ging langsam in leicht gebeugter Haltung auf die große Glastür zu, welche aus dem riesigen Wohnzimmer hinausführte. Sie schien es normal zu finden, dass ihr Sohn gerade unpässlich war. Warum eigentlich? Stephen registrierte zu seinem Erstaunen, dass er sich in der geräumigen Villa seiner Eltern in Hamburg-Blankenese befand. Er musste sich erst in der Situation zurecht finden und nachdenken, konnte gerade jetzt absolut niemanden um sich herum gebrauchen. Deshalb erhob er sich vorsichtig und suchte das Badezimmer im ersten Stock auf, auch um sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Achtete sorgfältig darauf, im Flur und auf der breiten Treppe niemandem zu begegnen, denn er hörte die gedämpften Geräusche vieler Stimmen durch die geschlossene Terrassentür. Was war die Ursache? Eine Party, ein Geschäftsessen seines Vaters? Er erreichte das Badezimmer, sperrte erleichtert die Tür hinter sich ab. Himmel noch mal, bei welcher Gelegenheit hatte ihn eigentlich die peinliche Kreislaufschwäche ereilt? War der vorherige Aufenthalt im Himmel nun geträumt oder nicht? So viele offene Fragen … Stephen sah an sich herunter. Trug er nicht gerade seine Lieblings-Levi’s-Jeans, die er wegen Materialermüdung einst so ungern ausrangiert hatte, nachdem sich die Löcher endgültig nicht mehr hatten stopfen lassen? Die schaute heute noch ganz neu aus …

Ach, Du lieber Himmel! Klar, Kirstie hatte vor einigen Minuten viel zu jung gewirkt und er selbst … herrjeh, er konnte höchstens 25 Jahre alt sein! Also musste er seinen schlimmsten Verdacht bestätigt sehen – man verpasste ihm ungefragt ein weiteres Leben. Das Dritte in Folge.

Kraftlos ließ sich Stephen McLaman auf den Rand der riesigen, runden Badewanne fallen. Nicht schon wieder, nicht noch einmal! Konnte er nicht einfach wieder tot umfallen, gleich jetzt und hier? Oder sollte er vielleicht sogar nachhelfen? Er sah sich im Geiste schon die Pulsadern mit einer Rasierklinge aufschneiden. Aber in diesem Fall, so fiel ihm ein, würde man ihn wohl gleich ins Untergeschoss zum Teufel schicken, denn Selbstmord war nach Lage der Dinge strengstens verboten.

Er zwang sich, weiter nachzudenken. »Also, mal angenommen, ich liege richtig. Dann hat man mich 2029 zusammen mit meinem Vater erschossen und ich bin in den Himmel gekommen, zumindest vorübergehend, während mein Vater in die Hölle abgeschoben wurde. Oder ins Fegefeuer, was weiß ich«, murmelte Stephen frustriert vor sich hin.

»Man hat mich mal wieder zusammengefaltet und mir erklärt, dass meine Sichtweise über die Welt und meiner Rolle darin komplett daneben war und ich mir angemaßt hätte, Gott zu spielen. Na, fein! Mit dem Ergebnis, dass ich schon wieder eine Ehrenrunde drehen »darf«. Hmmm …«

Stephen erhob sich und sah in den Spiegel. Tatsächlich! Dieser zeigte zur Bestätigung einen jungen, blonden Mann mit Wuschelkopf, dessen Gesicht noch glatt wie ein Kinderpopo war. In Jeans und einem blauen T-Shirt, dessen Säume bereits ausgefranst waren. Auch ein Lieblingsstück, erinnerte sich Steve.

»Scheiße, ich hasse es manchmal, wenn ich recht habe!«, fluchte Stephen. »Bloß … zu welcher Zeit genau haben die mich wieder auf der Erde abgeladen? Das muss ich unbedingt als Erstes herausfinden. Und warum ich mich beim Wiedereintritt ins Leben dieses Mal in Hamburg und nicht in Spanien befinde, das wäre auch wichtig. Mann, ist das krank!«

Stephen wurde klar, dass er diese Punkte nicht ausgerechnet im Badezimmer würde klären können; er beschloss, sich in Vaters Arbeitszimmer zu schleichen. Dort musste es einen Computer geben, der ihm zumindest Auskunft über das Datum und das aktuelle Weltgeschehen liefern konnte. Wie ein Verbrecher drückte er sich leise an den Wänden entlang, doch hier oben hielt sich außer ihm sowieso niemand auf; die Stimmen klangen weiterhin aus einiger Entfernung zu ihm herauf.

Er passierte das Zimmer, das er selbst einst hier bewohnt hatte, warf einen raschen Blick hinein. Nanu, weshalb stand dort auf dem Schreibtisch sein Notebook? Das hatte er bei seinem Auszug doch mitgenommen gehabt!

Steve huschte ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich. Hier lagen unordentlich massenweise Kleidungsstücke auf dem Boden verstreut und auf dem Bett stapelten sich Bücher und CDs. So wie üblich, als er dieses Zimmer noch bewohnte. Oft hatte Mutter diesen Raum als »Bermuda-Dreieck« bezeichnet, weil ihrer Ansicht nach in diesem Chaos garantiert nichts mehr auffindbar war.

Stephen drückte den Einschaltknopf des Rechners. Staunte darüber, wie langsam dieses altersschwache Ding hochfuhr.

»Mensch Meier, so wenig Anwendungen und kaum Rechenkapazität. Das ist, als wäre man von heute auf morgen ins Mittelalter zurückversetzt«, dachte Steve genervt. Endlich erschien die Mini-Anwendung mit dem Kalenderblatt rechts oben im Eck des Bildschirms auf seinem Desktop.

Exakt in diesem Augenblick wurde Stephen McLaman klar, dass man ihn dieses Mal zu einem früheren Zeitpunkt auf der Erde wieder ausgewildert hatte – man schrieb aktuell den 18. Juni 2004 und der jetzt wieder junge Mann glaubte sich zu erinnern, in der anderen Version seines Lebens erst im Herbst dieses Jahres nach Spanien ausgewandert zu sein. Somit dürfte sich auch der tragische Motorradunfall in Guardamar noch nicht ereignet haben, nicht einmal der erbitterte Streit mit seinem Vater hatte bislang stattgefunden, falls er mit seiner Analyse richtig lag. Das üble Zerwürfnis, dessentwegen er überhaupt erst wütend seine Sachen gepackt hatte und ohne viel nachzudenken gen Süden abgehauen war.

Das alles lag noch in der Zukunft – einer Zukunft, die er jetzt neu und besser gestalten konnte. Oder vielmehr MUSSTE.

* * *

Kirstie McLaman ging wie in Trance zwischen ihren Gästen umher. Sie fühlte sich, als wäre sie nur die Hauptdarstellerin in einem Albtraum, müsse jeden Moment aufwachen. Viele der Anwesenden drückten mit ehrlicher Anteilnahme im Blick ihre Hand, murmelten Beileidsbezeugungen; von anderen wusste sie mit ziemlicher Sicherheit, dass das Mitleid nur geheuchelt wurde; es gab leider immer Neider und Missgünstige, wenn einem geschäftlicher Erfolg beschieden war. Manch einer unter denen malte sich womöglich schon aus, auf welche Weise er von der Katastrophe, die ihr vor vier Tagen widerfahren war, profitieren würde.

Sie fühlte sich zu schwach, zu ausgebrannt. Ansonsten wäre ihr sprichwörtlich irisches Temperament sicherlich längst mit ihr durchgegangen und sie hätte den Herrschaften gehörig die Meinung gegeigt. Hätte ihnen an den Kopf geworfen, was sie von zielgerichteter Scheinheiligkeit hielt. Aber nicht heute, nicht jetzt. Sie hatte sowieso keinen blassen Schimmer, wie ihre eigene Zukunft aussehen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben packte Kirstie McLaman neben ihrer Trauer die nackte Existenzangst. Wo blieb eigentlich Stephen? Musste sie sich nun auch um seine Gesundheit Gedanken machen? Verstört und besorgt eilte Kirstie zurück ins Haus, doch seinen Platz auf der Couch fand sie leer vor.

»Stevie? Alles in Ordnung mit dir?«

Mutter! Stephen hatte ganz vergessen, dass sie sich Sorgen machen könnte. Aber war das ein Wunder? Er durfte sich vorsichtshalber mit niemandem konfrontieren, solange er nicht einigermaßen über sich selbst Bescheid wusste, nicht einmal mit seiner eigenen Mutter. Gerade eben las er fasziniert die E-Mails einer gewissen Kati auf seinem Rechner, mit der er 2004 eine Liaison am Laufen hatte. Na ja, die Mails legten eher den Schluss nahe, dass diese Beziehung im Sommer dieses Jahres schon ziemlich im Sterben lag. Musste sie wohl, denn er konnte sich beim besten Willen an keine rührenden Abschiedsszenen erinnern, die er mit seiner Abreise nach Spanien zu verbinden hätte.

Kati. Ja, die war hübsch gewesen, mehr aber auch nicht. Steve fand es echt interessant, was von einer einstigen Beziehung in der Erinnerung so übrig blieb, sofern sie nicht viel bedeutet hatte. Seltsamerweise war ihm in diesem Fall ein kotzgelbes T-Shirt am deutlichsten im Gedächtnis haften geblieben, welches Kati einst bei einem Date getragen hatte.

Kirstie klopfte nun leise an seine Zimmertür, schlüpfte dann in den Raum, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ach so, hat dir Kati wieder geschrieben? Ich will dich ja nicht noch weiter belasten, aber ich denke, das hat wirklich keinen Sinn mehr.«

»Hast Recht! Die ist ab sofort Geschichte«, bestätigte Stephen zu ihrer Verwunderung. Seltsam – noch letzte Woche hatte er sich mit aller Macht gegen diese Erkenntnis gesträubt und Kati samt deren Eskapaden wortreich gegen seine Mutter verteidigt.

»Geht es dir besser? Dann komm doch bitte mit nach unten, lass mich mit diesen Hyänen nicht alleine. Ich fühle mich so verloren zwischen all den vielen Leuten«, bat seine Mutter.

Stephen verstand nicht. »Wieso Hyänen? Hat Vater wieder einmal seine dubiosen Geschäftsfreunde eingeladen? Soll er sich doch selber um die kümmern! Diese geschniegelten Blender kann außer ihm sowieso keiner von uns ausstehen, stimmt’s?«, versuchte er zu scherzen.

Einen Augenblick später tat ihm die Bemerkung bereits leid, denn sie schien seine Mutter ungewohnt stark zu deprimieren. Was war nur mit ihr los? Sie wirkte heute derart blass, dass man nicht einmal die Sommersprossen deutlich sehen konnte. Selbst das feuerrote Haar schien an Farbe verloren zu haben.

»Da hast du nicht Unrecht, auch wenn es gerade jetzt nicht an der Zeit ist, blöde Witze zu reißen! Aber so wie es aussieht, könnten wir schon sehr bald von genau diesen Leuten finanziell total abhängig sein«, seufzte Kirstie. »Kommst du jetzt mit mir hinunter oder nicht?«

Was meinte sie bloß? Kopfschüttelnd klappte er das Notebook zu und setzte sich in Bewegung. »Klar. Schon unterwegs.«

Kirstie, die bereits zur Tür hinaus war, blieb plötzlich stehen und drehte sich zu ihrem Sohn um. »Aber bitte nicht in diesem Aufzug, Stephen! Zieh dir schnell etwas Schwarzes an, so viel Respekt hat er zumindest sogar von dir verdient. Tu es und komm nach.« Mit diesen Worten ließ sie ihn alleine.

Jetzt dämmerte ihm ein furchtbarer Gedanke. Der Anblick seiner Mutter … schwarze Klamotten … Gäste, die keiner haben will … die nebulösen Äußerungen … ach, du lieber Himmel! Stephen klappte das Notebook wieder auf und rief mit fliegenden Fingern die Online-Ausgabe der Tageszeitung auf. Die Seite mit den Todesanzeigen.

»Harmstetter … König … Schumacher … Andersen … Scheiße!« Nicht, dass letzteres als Name in der Zeitung gestanden wäre. Stephen hatte seiner Befürchtung gemäß schlicht und einfach festgestellt, dass sein Vater vor vier Tagen einem Herzinfarkt erlegen war. Er fühlte schlagartig nahezu alle Energie aus seinem Körper schwinden, als müsse ihn auf der Stelle dasselbe Schicksal ereilen. Seine Gedanken überschlugen sich in einem wilden Reigen des totalen Chaos.

Vater TOT? Was wollte ihm die himmlische Zentrale der Macht eigentlich noch alles zumuten?

Den Rest dieser makabren »Feier«, im Volksmund »Leichenschmaus« genannt, ertrug Stephen nur unter Aufbietung sämtlicher Kräfte. Seiner Mutter zuliebe. Doch als die letzten Gäste sich schließlich verabschiedeten, stahl er sich wie ein Dieb zum Gartentürchen hinaus. Er musste unbedingt kurz alleine sein und einigermaßen brauchbare Gedanken aus dem Eintopf des Wahnsinns extrahieren, welcher sein Gehirn immer mehr zu verkleben drohte.

»State Of Doom« nannte er jene bittere Verzweiflung, die klare Gedanken so überaus effektiv vereiteln konnte; leider hatte er sich in diesem »State« schon öfters befunden, fast fühlte er sich darin zu Hause. Wie sollte er nun weitergehen, sein dritter Versuch eines Erwachsenenlebens? Stephen nährte den unangenehmen Verdacht, dass dieses letzte Bonusleben noch weitaus schwieriger auszufallen drohte als seine Vorgänger. Was schon so begann – wie würde das wohl enden?

Er hatte in seinem Schockzustand gar nicht bemerkt, dass jemand ihm heimlich folgte.

* * *

Die junge Frau, die Stephen in einigem Abstand verfolgte, wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Sie hatte ihren Halbbruder schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen und er wirkte gerade so sehr in seine düsteren Gedanken versunken, dass sie ihn eigentlich gar nicht stören wollte. Andererseits hatte sie ihn von jeher gut leiden können, er zählte zu den sehr erträglichen Teilen ihrer merkwürdigen Familie. Was längst nicht für alle Mitglieder galt.

Sie sah auf die Uhr. Verflixt, schon in einer Stunde würde sie ihren kleinen Sohn bei der Nachbarin abholen müssen! Versprochen ist versprochen. Also blieb nichts anderes übrig. Sie ging schneller, um Stephen einzuholen. Dieser war inzwischen am Elbuferweg angekommen und blieb kurz stehen, um auf die Elbe hinaus zu sehen und tief Luft zu holen. Dann setzte er sich auf eine Bank, stützte seinen Kopf in beide Hände, als wiege er eine Tonne. Jetzt oder nie!

»Hey, Stevie! Entschuldige bitte, dass ich dich hier so einfach überfalle – aber vorhin warst du viel zu belagert, um in Ruhe mit dir sprechen zu können. Ich hoffe, du erkennst mich noch. Ich bin es, Belinda!«

Stephen hob den Kopf, sah seiner Halbschwester aus Vaters erster Ehe ungläubig ins Gesicht. »Belinda? He, ich dachte, du seist in Amerika drüben? Bist du vielleicht extra wegen der Beerdigung über den großen Teich eingeflogen?«

Belindas Gesicht verdüsterte sich. »Nein, ich habe nur eine Zeit lang drüben gewohnt. Bis mich dieser … dieser … abserviert hat. Du weißt, der Vater von Dennis. Dann stand ich plötzlich mit dem Kind alleine da, ohne Job und ohne alles. Mein lieber Herr Lebensgefährte hat sich abgesetzt, einfach so« – sie vollführte eine entsprechende Handbewegung – »wie das Würstchen vom Kraut! Na, und da es in USA kein Melderecht wie in Deutschland gibt, war er eben einfach nicht mehr auffindbar. Fort, weg, verschwunden. Ich weiß ja, ihr hattet mich gewarnt. Doch ich wollte damals vor lauter Verliebtheit nicht sehen, was das von Anfang an für ein verantwortungsloser Volldepp gewesen ist«, erzählte Belinda in ihrer erfrischenden, wenn auch etwas schnoddrigen Art.

»Ach so? Das hat mir niemand erzählt. Ich dachte nur, dass du noch drüben bist, weil ich dich nirgends mehr getroffen habe, auf keinem der üblichen Familientreffen. Da hatte ich dich jedes Mal schmerzlich vermisst, ohne dich waren diese Events ganz schön langweilig. Du kannst dich sicher erinnern, oder?«

Jetzt gelang Stephen sogar ein verhaltenes Lächeln. Er mochte Belinda und war froh, dass genau sie es war, die ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. Vater hatte sich kurz nach ihrer Geburt von seiner damaligen Frau scheiden lassen und drei Jahre später seine Sekretärin geheiratet, seine eigene Mutter Kirstie. Acht Monate nach der Hochzeit brachte diese ihn, Stephen, zur Welt. Also musste Belinda heute 28 Jahre alt sein. Vater hatte sich leider nie für die verlassene Tochter interessiert und in der logischen Folge diese auch nicht für ihn.

Belinda erriet seine Gedanken. »Ich hing nicht sehr an dem Alten, wie du dir vorstellen kannst! Der war auch nicht gerade ein Muster an Fürsorge, außer einem monatlichen Geldbetrag haben ich oder meine Mutter nach der Trennung von ihm nichts mehr zu erwarten gehabt. Ach, Schwamm drüber. Heute wollte ich im Grunde nur sicher gehen, dass er seine gerechte Strafe erhalten hat! Wie meine liebe Familie über mich hergezogen ist, als ich Dennis erwartete, ist dir sicher noch im Gedächtnis. Dich und deine Mutter mal ausgenommen.«

»Ja, leider. Aber das ist jetzt alles Schnee von gestern. Gut siehst du aus, wie geht es dir denn?« Stephen musterte seine Halbschwester und stellte fest, dass sie genauso hübsch wie früher aussah. Er musste an Lena denken, seine andere Halbschwester mit dem rotblonden Haar. Schon fühlte er wieder die Stiche in der Herzgegend, die ihm leider vertraut waren. Er konzentrierte sich schnell wieder auf Belinda, bevor ihn die traurigen Gedanken an Lena allzu sehr übermannen konnten.

Belinda sah Lena entfernt ähnlich. Beide hatten Vaters Augenfarbe und die Form der Nase geerbt. Während sich in Lenas Blond viele rote Farbreflexe mischten, war Belindas Haar von einem hellen, warmen Goldton. Auch sie trug es lang, beide Frauen waren in etwa gleich groß und von ähnlicher Statur. Trotzdem mutete Belindas Erscheinung etwas derber, grober an. Vielleicht lag das an ihren Bewegungen, die nicht ganz so gemessen und feenhaft wirkten wie Lenas; Belinda gestikulierte gerne wild, um ihre Worte zu untermalen. Sie musste ja auch mit beiden Beinen fest im Leben stehen, schon wegen ihres kleinen Sohnes, da blieb vermutlich nicht viel Zeit für Träumereien.

»Mir geht es ganz gut. Dennis macht mir Freude, andererseits hindert er mich natürlich auch daran, auszugehen und Leute kennen zu lernen. Na ja, er ist jetzt Vier und wird auch größer, dann wird das bestimmt besser werden. Apropos Dennis – ich glaube, ich muss dann! War schön, dich wieder mal zu treffen.« Belinda drückte seine Schulter und wollte eilig davongehen.

»Warte mal, ich begleite dich zurück. Hast du ein Auto dabei, wo wohnst du denn eigentlich?« Plötzlich hatte Steve Angst vor dem Alleinsein, vor der Wiederkehr in seine arg belastete Gedankenwelt.

»Klar besitze ich ein Auto, das parkt bei eurem Haus gleich um die Ecke. Damit es den feinen Herrschaften nicht peinlich sein musste, mit welch einer alten Schüssel ich hier ankomme. Ich wohne aber nicht in Hamburg, sondern drüben in Cuxhaven«, verriet Belinda grinsend.

Cuxhaven! Wie Lena! Stephen war beim neuerlichen Gedanken an Lena wie elektrisiert, ohne sich das anmerken zu lassen. Im Plauderton meinte er: »Das ist ja nicht völlig aus der Welt. Wir könnten uns doch demnächst mal treffen, wenn du magst. Ich habe meinen Neffen schließlich noch nie gesehen und möchte den jungen Mann endlich kennen lernen«, schmunzelte Stephen, während er seine Halbschwester zum Auto begleitete. Belinda freute sich tierisch und die beiden tauschten eifrig ihre Telefonnummern aus.

»Bis bald!« Belinda stieg in ihren alten, grünen Peugeot 206 und brauste davon. Es fuhr einen heißen Reifen, das Schwesterchen. Ihr Temperament erinnerte eher an die Spanierin Yolanda als an die sanfte Lena.

Yoli … bestimmt war sie jetzt im Jahre 2004 noch/wieder am Leben, je nachdem, wie man es betrachtete. Dieser Gedanke freute Stephen, denn die Schuldgefühle wegen ihres Todes hatten ihn im vorigen Leben nie komplett verlassen. Schließlich war sie mit SEINER Harley verunglückt. Oder vielmehr würde ihr dieses Unglück erst noch passieren, schon im nächsten Jahr. Jedoch nur, falls er wieder nach Spanien auswandern und sich nicht von ihr fernhalten würde. Aber musste er denn unbedingt wieder nach Spanien gehen? Der ursächliche Streit mit seinem Vater jedenfalls würde nach Lage der Dinge todsicher ausfallen.

Nachdenklich blieb Steve noch ein paar Minuten auf demselben Fleck stehen. Er könnte ja Belinda besuchen, sich dabei in Cuxhaven etwas umsehen und vielleicht würde er, ob Zufall oder nicht, hierbei Lena treffen und einen ersten neuen Grundstein legen können …

Ihm war nicht bewusst, auf welche ihm bislang unbekannten Äste Yggdrasils er soeben im Begriff war abzubiegen.

* * *

Kirstie saß in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch, wühlte sich seit Stunden entnervt durch riesige Stapel von Papieren. Um sie herum standen Dutzende von Aktenordnern, doch keiner davon schien das Gesuchte zu enthalten. Stephen lugte ins Zimmer, wollte seine Mutter mit einem Kaffee aus ihrer Grübelei retten.

»Du kommst gerade recht«, seufzte sie resigniert. »Ich muss dich unbedingt etwas fragen, auch wenn ich weiß, wie wenig du aus nachvollziehbaren Gründen mit Vater kommuniziert hast. Aber ich kann bestimmte Dokumente einfach nicht finden, vielleicht hat er ja trotzdem dir etwas darüber verraten!«

Stephen konnte sich durchaus denken, was sie suchte. »Jetzt komm erst mal mit hinunter, wir trinken auf der Terrasse einen Kaffee. Ich glaube, mir sind da einige Zusammenhänge klarer als dir. Zwar kann ich dir schlecht erklären warum – doch ich habe Vater im Laufe der Zeit besser kennen gelernt, als du denkst.«

Natürlich hatte er das; schließlich musste er gleich zwei Erwachsenenleben mit Thomas McLaman verbringen, das zweite sogar wegen der intensiven Zusammenarbeit bei der LAMANTEC AG ziemlich auf Tuchfühlung. Doch das konnte er seiner Mutter SO nicht erzählen, auf keinen Fall.

Mutter und Sohn nahmen auf der Terrasse neben dem Pool Platz. Stephen liebte diese Stelle ganz besonders, denn ein namhafter Gartendesigner hatte vor einigen Jahren begeistert seine spontane Idee aufgegriffen und eine kleine Wasserkaskade geschaffen. Die ergoss ihr Wasser nun gurgelnd und glucksend wie ein Bach in einen kleinen Teich, der optisch nur durch ein dekoratives Bruchstein-Mäuerchen von der geschwungenen Silhouette des Schwimmbeckens getrennt war.

Schweigend genossen beide ihren heißen Kaffee, jeder für sich in Gedanken versunken. Dann klärte Stephen seine Mutter schweren Herzens auf.

»Es gibt kein Testament und auch keine Lebensversicherung, Mama. Du brauchst gar nicht weiter danach zu suchen. Vater war halt so – nach ihm die Sintflut. Er war ein Mensch, der auch nie ernsthaft ins Kalkül gezogen hätte, vorzeitig abzuleben. Es durfte ohnehin keinerlei Umstände geben, die er nicht selbst kontrollieren konnte. Nicht einmal den Tod. Tut mir leid, aber ich glaube, wir müssen ohne solche hilfreichen Verfügungen zu Recht kommen.«

Kirstie starrte ihn erschrocken an. »Wie kannst du das wissen? Selbstverständlich kenne ich seine Denkweisen … aber dass er so weit gehen konnte?« Sie blickte ungläubig drein, sträubte sich innerlich gegen die bittere Erkenntnis, dass es ihrem verstorbenen Mann tatsächlich egal gewesen sein könnte, wie sie nach seinem Tod in finanzieller Hinsicht überleben würde.

»Ich bin mir ziemlich sicher, aber durchsuche ruhig weiter seine Unterlagen, wenn du mir nicht glaubst. Rufe zur Sicherheit seinen Anwalt an, falls er bei diesem oder einem Notar Verfügungen hinterlassen hat. Aber ich würde mich an deiner Stelle von vornherein damit abfinden, dass diese Bemühungen höchstwahrscheinlich vergeblich sein werden. Das hält hinterher wenigstens die Enttäuschung in Grenzen.«

Als Stephen registrierte, wie schockiert seine Mutter auf ihre Fingernägel starrte, taten ihm seine allzu nüchternen Ausführungen leid; er stand auf, legte ihr die Arme um die Schultern und sagte in weitaus einfühlsamerem Ton: »Wie dem auch sei – du bist nicht allein, schließlich hast du noch mich! Ich werde dir helfen, wo ich nur kann. Zum Beispiel kann ich in der Firma nach dem Rechten sehen, deren Leitung an Vaters Stelle übernehmen und die existierenden Projekte fortführen, das wird mir eine Ehre sein. Du wirst sehen, ich bringe die LAMANTEC AG eines Tages ganz groß raus!«

Jetzt sah Kirstie drein, als sei er Münchhausen persönlich, der gerade üble Lügengeschichten erzählt. »Stevie, sei mir bitte nicht böse, aber du hast dich noch nie für die Firma deines Vaters interessiert, ganz im Gegenteil! Was ihn übrigens sehr enttäuscht hat, doch das ist dir bekannt. Dir fehlt es an sämtlichen Kenntnissen über dieses Imperium, genau wie mir auch. Also, entweder Simon bekommt das in Kürze auf die Reihe, oder wir müssen uns zurückziehen und unsere Anteile verkaufen!«

»Simon? Wieso Simon?« Stephen kramte in seiner Gehirnschublade. Ach, genau! Siedend heiß fiel es ihm wieder ein. Anders als in seinem zweiten, parallelen Leben gab es Simon Jansen im ersten Leben als seinen Vorgesetzten und er selbst war nur ein ihm unterstellter Programmierer gewesen, der weisungsgebunden arbeitete. Aber hatte Simon überhaupt 2004 schon eine Anstellung bei der LAMANTEC inne gehabt?

Kirstie stöhnte. »Stimmt, du weißt es ja noch gar nicht! Vater wollte nächste Woche mit dir reden und befürchtete schon im Vorfeld, dass du dich mit ihm anlegen würdest. Genauer gesagt rechnete er fest mit deiner Absage. Also, zur Verdeutlichung: dein Vater wollte dich einstellen. Er hatte gemeint, dass du gefälligst dein Potential in das einstige Familienunternehmen einbringen sollst, anstatt mit deinen Programmen konkurrierende Firmen reich zu machen. Aber er kannte natürlich auch deine Einstellung zu allem, was mit seiner Person zu tun hatte. Insbesondere dein Problem, dich ihm bedingungslos unterzuordnen. Von der Pike auf hättest du dich in der Firma hocharbeiten sollen und gerade deshalb rechnete er nicht ernsthaft mit deinem Einverständnis. Aus diesem Grund sagte er diesem Simon gegen meinen Widerstand schon mal unter Vorbehalt zu, auch wenn die Verträge noch nicht unterzeichnet sind. Tut mir leid, aber haargenau so war das!« Himmel noch mal, genau dieses Gespräch mit Vater war einst dafür verantwortlich gewesen, dass er nach Spanien auswanderte! Nur mit seiner Harley, den Klamotten auf seinem Leib und dem Notebook. Viel mehr hatte nicht in den Rucksack gepasst, den er in sein neues Heimatland mitnahm. Doch dieses Mal hatte Vater sich vorzeitig ins Nirwana verfügt, dieses emotionsgeladene Gespräch würde nicht mehr stattfinden können.

Er sah seiner Mutter fest in die Augen. »Simon ist recht gut und ein netter Kerl obendrein. Aber er ist nicht innovativ genug, nicht wirklich brillant. Da die Verträge noch nicht unterzeichnet sind, können wir ihn immer noch als gewöhnlichen Programmierer ohne Aufstiegsoption einstellen, meinetwegen auch zur Koordination der einzelnen Programmbestandteile bei den Projekten. Aber die Leitung des Unternehmens und den Überblick darüber möchte ich mir selbst vorbehalten! Bitte vertrau mir; ich bin sicher, dass die Firma nahtlos weiterlaufen sowie sogar ihren Umsatz steigern wird.«

Kirstie war schlichtweg baff. »Du kennst Simon? Woher hast du denn Informationen über seine Qualifikation? Und wieso glaubst du, dass du die Firma im Griff hättest? Du weißt, wir haben einen Aufsichtsrat. Das ist eine Schlangengrube, vielen war Thomas schon lange ein Dorn im Auge, sie kamen nur nicht gegen ihn an. Wie könntest DU dich da behaupten?«

Wie sollte er seiner Mutter nun das wieder erklären, ohne ausgiebig über seine Erfahrungen aus den Vorleben berichten zu müssen?

Er verfügte als Programmierer über mindestens 60 Jahre Berufserfahrung aus zwei Karrieren und obendrein über Kenntnisse, die Innovationen bis 2029 beinhalteten. Im letzten Leben hatte er sich sogar die Firmenleitung mit Vater geteilt, dieser war für Finanzen und PR zuständig gewesen, er selbst für die technische Seite der Medaille. Simon war beim ersten Mal sein Chef gewesen, beim zweiten Mal ein einfacher Programmierer.

In nur scheinbar gelassenem Ton bat Stephen daher Kirstie: »Lass uns das in Ruhe angehen, Mama. Morgen gehe ich erst einmal ins Büro, die Lage checken. Ich schau mal, ob ich die Kombination für den Safe herausbekomme, da drin sind die Quellcodes und die wichtigsten Papiere aufbewahrt. Ich unterhalte mich zunächst mit Vaters Sekretärin, die wird hoffentlich auch so einiges wissen. Danach sehen wir weiter, okay? Vielleicht kann ich durch Kompetenz überzeugen.«

Kirstie stimmte halbherzig zu, was sollte sie auch anderes tun? Allerdings machte sie sich schon ein paar Sorgen, als sie ihren Sohn beobachtete, wie er zurück ins Haus schlenderte. Sah er wie ein angehender Firmenchef aus, wie ein Aufsichtsratsvorsitzender? Eindeutig nein.

* * *

An diesem ersten Tag seines dritten Lebens ereilte Stephen die zweifelhafte Freude, im Zimmer seiner Jugendzeit zu Bett gehen zu dürfen. Es fühlte sich seltsam an, von heute auf morgen wieder jung zu sein, genauer gesagt 25 Jahre jünger als zum Zeitpunkt seiner Erschießung auf dem Hamburger Flughafen.

Tagsüber hatten sich die turbulenten Ereignisse überschlagen, er war jeweils nur aus aktuellen Situationen heraus zum Nachdenken und Handeln gezwungen gewesen. Erst dieses makabre TrauerEvent nach Vaters Beerdigung, dann das Wiedersehen mit Belinda

… bislang hatte er sich weder ausreichend mit sich selbst, noch mit seiner neuen Situation befassen können. Geschweige denn mit der Frage, welche grobe Planung er für den Beginn seiner neuen und allerletzten Chance als am sinnvollsten erachtete. Nicht dass er womöglich gleich wieder seine Weichen in die falsche Richtung stellte.

Stephens Blick fiel auf seine CD-Sammlung, die reichlich chaotisch geordnet auf dem Regal neben seinem Bett residierte. Spontan griff er nach einer Scheibe von AC/DC, ließ den Song »Highway To Hell« abspielen; der dünkte ihm irgendwie passend. Als er nun hellwach auf seinem, nach wie vor, unordentlichen Bett lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, wurde ihm langsam die Tragweite der vielen Geschehnisse des heutigen Tages bewusst. So kurz erst war er im Leben zurück; und so viel hatte sich schon verändert, ohne dass er irgendetwas davon hätte maßgeblich beeinflussen können.

Nach dem eher unerfreulichen Gespräch mit seiner Mutter hatte sich Stephen zwecks Recherchen noch einmal ans Notebook gesetzt und eine weitere Mail von Kati gefunden. Sie klagte ihn darin wortreich an, sie ständig zu ignorieren und stellte ihm ein freches Ultimatum. Falls er sich bis zur genannten Uhrzeit nicht bei ihr gemeldet habe, sei es aus und vorbei, und zwar für immer und ewig.

»Sei’s drum!« Steve löschte die Mail. »Wenn DU wüsstest, wie lange du für mich schon abgemeldet bist«, grummelte Stephen grimmig. Er mochte Frauen grundsätzlich nicht leiden, die ihn dauernd unter Druck setzen wollten. Außerdem reagierte seine Seele nicht im Geringsten beim Lesen des Namens »Kati«.

Als Nächstes fand er eine Mitteilung unter der Rubrik »Wissenschaft«, die erst um 23 Uhr eingestellt worden war. Stephen hatte seit einiger Zeit diese Sparte aus den brandneuen Nachrichten auf der Startseite seines Internet-Explorers abonniert und saß jetzt mit weit aufgerissenen Augen stocksteif vor dem Rechner. Ein Adrenalinschub der Sonderklasse war ihm vom Kopf bis zu den Zehenspitzen durch den Körper geschossen.

Na klar! Deshalb also kam ihm das heutige Datum von Anfang an so bekannt vor! Nun brauchte er sich wenigstens nicht mehr das Gehirn zu zermartern, weshalb ihm dieses irgendwie bedeutungsvoll erschien – es war exakt jener Tag, an welchem dieser verfluchte Komet Apophis zum allerersten Mal von Wissenschaftlern einer Sternwarte in Arizona gesichtet worden war. In den Monaten vor dem errechneten Einschlag 2029 war dieses Entdeckungsdatum immer wieder durch die Presse gegeistert; als Beginn des Countdowns für das himmlische Planeten-Billard. Verdammt!

Damit stand wohl gleichzeitig fest, dass er von dieser unheilvollen Problematik auch in seiner neuen Existenz nicht befreit bleiben würde. Entmutigt ließ er sich auf sein Bett fallen, das war in etwa vor drei Stunden gewesen. Seither kam er aus dem Schwarzmalen und Sinnieren nicht mehr heraus.

Stephen fand sich damit ab, dass an Schlaf mit Sicherheit weiterhin nicht zu denken war. Es gab Wichtigeres. Er schälte sich aus den Kissen und setzte sich zurück an den Schreibtisch, zog ein DIN A 3-Papier aus der Schublade, denn ihm war ein Einfall gekommen. Warum zeichnete er nicht einfach diesen Lebensbaum Yggdrasil schematisch auf, mit allen wichtigen Ereignissen aus seinen verschiedenen Lebenswegen? Damit er nichts übersah? Richtig. Und er würde drei verschiedene Farben benutzen, wegen der Verwechslungsgefahr. Man konnte dann auf Anhieb erkennen, welches Ereignis in welches Leben gehörte, wo Überschneidungen sichtbar wurden.

Zunächst schrieb Stephen die einzelnen Begebenheiten in der jeweiligen Farbe auf ein Extrablatt. Danach wollte er sie auf dem Baum anordnen, um zu sehen, an welcher Stelle er jeweils eine andere Abzweigung genommen hatte, die dann in neue Richtungen führte. Offensichtlich gleich zweimal in die Falsche.

»Mercedes wäre stolz auf mich, wenn sie das sehen könnte!«, murmelte Stephen, während er konzentriert seine Aufzeichnungen begann. Als Ziel malte er ein Strichmännchen, das eine Chipkarte bei der Himmelspforte in einen Schlitz steckte und grünes Licht zum Eintritt angezeigt bekam. Mit 25 Jahren war Stephen McLaman eben immer noch ein unverbesserlicher Scherzkeks gewesen.

Zwei Stunden später, als er endlich befriedigt in sein Bett zurückkehrte, waren ihm beim Anblick seiner Zeichnung ganz von selbst mehrere Thesen in den Sinn gekommen:

Er durfte sich in keiner Weise mehr in puncto Weltuntergang oder dessen Abwendung engagieren, auch nicht bei seiner künftigen Tochter, dem Messias es war besser, die geschäftlichen Bemühungen der LAMANTEC AG aus diesem Themenkomplex total herauszuhalten, sich hier nirgends hineinzusteigern; vor allem: Kein Spiel namens »Die Ikarus-Matrix« zu kreieren Lena musste er zwar beschützen, doch durfte er dennoch nicht allzu krampfhaft versuchen, sie wieder zu seiner Frau zu machen; damit hatte er ihr im letzten Leben definitiv keinen Gefallen getan Er konnte es sich sparen, nach Spanien auszuwandern. Er war dort sowieso nie besonders erfolgreich gewesen und wollte überdies Yolandas Leben keinesfalls gefährden.

Im Grunde musste er nur eines tun – gar nichts, außer später vielleicht auf Lena und seine Tochter ein wenig zu achten. Aus einer gewissen Entfernung heraus, mehr gleich einem wachsamen Schatten. Wenn er dann neue Ereignisse immer zeitnah an der richtigen Stelle in seine Zeichnung integrierte, konnte er wahrscheinlich besser abschätzen, wohin sie führen mochten und adäquat darauf reagieren.

Vielleicht hatten die Menschen in grauer Vorzeit genau deswegen die Zeichnung dieses Baums erfunden … konnte es womöglich wahr sein, dass es schon vor ihm menschliche Unglücksraben gegeben hatte, die ihr Leben oder Teile davon mehrmals durchlaufen mussten?

Mit diesen wenig zuversichtlichen Gedanken fiel Steve erschöpft in einen langen, unruhigen Schlaf. Seine detaillierte YggdrasilZeichnung lag indessen unverändert neben dem Notebook auf seinem Schreibtisch.

* * *

Hektisch hängte Belinda ihren rosafarbenen Berufskittel an den Haken. Verdammt, warum waren manche Kundinnen nur derart geschwätzig? Sie vergab ihre Termine durchaus immer mit einem gewissen Spielraum, der Verzögerungen mit einberechnete. Aber diese Frau Schiller sprengte jedes Mal auch diesen großzügigen Rahmen, indem sie mit herausgedrehten Augen ausgiebig über jeglichen Klatsch und Tratsch berichtete, dessen sie habhaft werden konnte.

Wozu ließ diese fette Kuh mit dem teigigen Gesicht überhaupt ihre Augenbrauen und Wimpern färben? Ein wirklich sinnloses Unterfangen, eine solche Frau hätte höchstens ein Sack über den Kopf ansehnlicher gemacht. Oder ein Ganzkörperkondom.

Manchmal hasste Belinda ihren Job im Dienste der Schönheit. Sie arbeitete als angestellte Kosmetikerin in einem stadtbekannten Salon, einen anderen Beruf hatte sie leider nicht erlernt. Jedenfalls nicht zu Ende. Sie barg in ihrem Inneren wohl das, was man als flatterhafte Natur bezeichnete; Belinda liebte plötzliche Kehrtwendungen, verhielt sich alles andere als beständig. Deshalb war sie trotz eines sehr gut bestandenen Abis nach vielen anderen Experimenten auch in diesem eher schlecht bezahlten Beruf gelandet, wo Eskapaden langmütig geduldet wurden.

Sie war eben lediglich unbeständig, andere Kolleginnen hingegen stellten sich in ihren Augen wirklich ausgesprochen dumm an. Da zog ihre Arbeitgeberin Belindas Naturell wohl immer noch notgedrungen vor. Belinda war wenigstens hart im Nehmen, bekam nicht schon wegen eines abgebrochenen Fingernagels Flenn-Anfälle, feierte nie absichtlich krank.

Anfangs hatte es der quirligen Blondine sogar richtig Spaß bereitet, mit Farben zu hantieren. Jeden Tag schuf sie neue kleine Kunstwerke auf den Gesichtern der Frauen, die ihr dafür mehr oder weniger dankbar waren und gutes Geld im Salon zurückließen. Mit der Zeit jedoch gingen ihr die leeren, meist inhaltslosen Gespräche dieser verwöhnten Tanten ziemlich auf den Wecker.

Blabla … schon gehört? Die mit dem und der andere weiß nichts davon, hach, die neueste Mode … blabla. Und sie, Belinda, musste sich den ganzen Wortmüll geduldig anhören und Interesse heucheln, sonst gab es kein Trinkgeld. Am liebsten waren ihr noch die Damen, welche selbstverliebt einen bloßen Monolog hielten, egal worüber – da konnte sie währenddessen wenigstens geistig auf Durchzug schalten.

Diese Schiller war leider anstrengender. Was meinen Sie hierzu, was meinen Sie dazu … Belinda meinte in Gedanken insgeheim nur eines: »Du bist fertig geschminkt, mach den Kopf zu und verzieh dich!« Die junge Frau hatte sich stets einer etwas derberen Sprache bedient, weil sie in ihrem Alltag durchaus auch vielen derben Situationen ausgesetzt gewesen war.

Klar, die meisten davon hatte sie selbst verursacht. Man unterschätzte sie leicht, denn niemand vermutete bei ihr auf Anhieb einen IQ von 135. Oft fand Belinda es total witzig, wenn man ihr bei Erklärungen die Version für doofe Blondinen servierte; dabei hatte sie entgegen des beim Gesprächspartner hinterlassenen Eindrucks den jeweiligen Sachverhalt längst mühelos bis in den hintersten Winkel analysiert.

Uff! Nun war dieses weibliche Walross endlich zur Tür hinausgeschwabbelt, was Belinda ermöglichte, ihren Sohn aus der Kinderbetreuung zu holen. Wieder einmal um zehn Minuten zu spät! Aber der Kleine war es wert, dass sie sich all das antat, von irgendetwas mussten sie ja leben.

Ob sie heute Abend Stephen eine SMS schicken sollte? Gestern hatte sie wie in alten Zeiten, wenn sie ihn früher ab und zu bei Familienfeiern sprach, eine Art Seelenverwandtschaft verspürt. Die Halbgeschwister waren zuletzt vor fünf Jahren aufeinander getroffen, bevor Belinda mit dem farbigen US-Soldaten Brian Petterson ihren überflüssigen Abstecher nach Amerika antrat.

Danach ließ sie sich nirgends mehr blicken; sie mochte sich keine hundsgemeinen Kommentare über halb-negroide Kinder und deren nichtsnutzige Väter anhören, schon die ersten Bemerkungen nach ihrer Rückkehr hatten dicke gereicht. Ihre Verwandtschaft hielt sich leider für etwas Besseres, und da hatte vieles keinen Platz, was nicht ins Konzept einer ehrbaren Hamburger Familie passte. Brüderchen Stephen hatte gestern ebenfalls gewirkt, als müsse er sich mal so richtig bei jemandem auskotzen … auch er galt ja als eher schwarzes Schaf, wenngleich der Hauptverfechter dieser Einschätzung jetzt frisch verstorben war.

An diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt, betrat Belinda McLaman eilig das Kindergartengelände, wo sich im nächsten Moment ein kleiner, schokoladenbrauner Junge juchzend in ihre Arme warf.

* * *

Nervös stöckelte Annika Hugler, die Sekretärin mit dem kupferroten Haar, auf ihren schwindelerregend hochhackigen Sandaletten hinter Stephen McLaman her in den »Thronsaal«, wie das riesige Büro seines Vaters von den Bediensteten der LAMANTEC AG gerne bezeichnet wurde. Diese Bezeichnung kursierte nur halb im Scherz, denn Thomas McLaman hatte von Anfang an ein äußerst straffes Regiment geführt, welches keinen Raum für Widerspruch oder gegenteilige Auffassungen ließ.

Und nun kam sein Sohn daher und verlangte Einblick in alles und jedes, wollte auch noch den Safe entweihen. Den Safe, dessen Kombination niemand anderes in der Firma kannte und von dem man nur hoffen konnte, dass die geheime Nummernfolge für die Öffnung durch den verstorbenen Chef irgendwo hinterlegt worden war, wo man bislang noch nicht nachgesehen hatte. Denn gefunden hatte man trotz fieberhafter Suche nichts. Aktuell durchsuchte eine Horde von Programmierern den Rechner ihres ehemaligen Chefs nach versteckten Zahlenfolgen. Stephen sah es kopfschüttelnd und dachte sich seinen Teil: »Kaum bist du tot, kommen auch schon die Geier!«

»Stephen, was WOLLEN Sie hier überhaupt? Ich glaube nicht, dass es Ihrem Vater recht gewesen wäre, wenn Sie überall herumschnüffeln. Sein Stellvertreter, Herr Mühlenstein, kommt morgen von seiner Konferenz zurück und wird sich um alles kümmern! Bis dahin lassen Sie bitte alles unangetastet, Sie haben ohnehin keinerlei Befugnisse!«, konstatierte die Hugler in arrogantem Ton. Sie bedauerte längst, ihn leichtsinnigerweise in die Firmenräume eingelassen zu haben. Aber sie hatte eben gedacht, er käme nur vorbei, um sich von den ehemaligen Bediensteten seines Vaters das herzliche Beileid ausdrücken zu lassen oder ein paar persönliche Sachen aus dem Büro abzuholen.

Stephen gab sich gänzlich unbeeindruckt, grinste nur still in sich hinein. Er kannte Annika aus bereits zwei parallelen Leben und wusste daher recht genau, dass sie nur eines wirklich gut konnte: gut aussehen. Ansonsten war vor allem nicht wirklich viel Gehirn hinter diesen sagenhaft großen blauen Kulleraugen auszumachen. Halt nein, das war ungerecht, schalte sich Stephen in Gedanken. Kaffee kochen konnte sie auch noch ganz gut! Vater jedenfalls hatte die Aufgabenteilung so gefallen. Annika repräsentierte und gab das Covergirl der Firma, andere Damen erledigten währenddessen die restliche Arbeit des Sekretariats und ließen sich nebenbei von ihr zähneknirschend schikanieren.

Genau das versuchte sie nun auch mit dem Sohn ihres verstorbenen Chefs. »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei! Ich habe klare Anweisungen und was Sie hier vorhaben, das ist nicht nur Hausfriedensbruch, sondern sogar … ach, keine Ahnung. So etwas wie Diebstahl, Raub oder Veruntreuung, ist ja auch egal!« Wütend funkelte sie ihn an, bevor sie ihr schickes Firmenhandy betont auffällig aus der Jackentasche zauberte.

Dieses Theater wurde Stephen nun doch zu viel. Er verspürte absolut kein Bedürfnis, sich vor diesem kühlen Püppchen und der Polizei rechtfertigen zu müssen. Jedoch war ihm klar, dass ER und niemand sonst in dieser Firma den letzten Trumpf im Ärmel stecken hatte. Denn er kannte die Safe-Kombination, hatte sie im letzten Leben (Gott, wie blöde das klang) selbst oft genug eingegeben, als er noch zur Geschäftsleitung gehörte.

»Wissen Sie was, Annika? Setzen Sie sich einfach wieder hinter ihren Schreibtisch und schlagen die Zeit tot, so wie sonst auch! Ich werde Ihnen den Gefallen tun und jetzt gehen. Aber ich wette mit Ihnen: spätestens in ein paar Tagen werden Sie mich anrufen und auf Knien darum bitten, dass ich Ihnen die Kombination verrate; ich kenne sie nämlich auswendig. Ach, übrigens: beten Sie lieber, dass ich niemals Ihr Chef werde – ansonsten wäre es ganz bestimmt meine allererste Amtshandlung, Sie zu feuern!« Das künstliche, glockenhelle Lachen Annikas, welches sie ihm zum Abschied verächtlich hinterherschickte, klang nicht ganz so souverän, wie sie beabsichtigte; Stephen bemerkte es mit Genugtuung.

Zuhause angekommen, berichtete er seiner Mutter von den Vorkommnissen im Büro ihres Mannes. Kirstie stieg augenblicklich die Zornesröte ins Gesicht und sie stellte ihr Glas mit einem Knall energisch zurück auf die Spüle. Wenn gelegentlich das irische Temperament mit Mama durchging, dann warf sie gerne mit Gegenständen um sich; das Glas hatte gerade noch Glück gehabt.

»Diese aufgeblasene Tussi! Jedes Mal, wenn ich Thomas dringend sprechen hätte müssen, hat sie mich ausgebremst. Und dieser Ton, den die an sich hat! Ich bin mir vorgekommen, als hätte ich dort in der Firma ohne ihre ausdrückliche Genehmigung nicht einmal das Recht zu atmen! Thomas hat sie natürlich auch noch in Schutz genommen, seine rote Ikone. DAS allerdings ist nun vorbei, die kann was erleben!« Kirstie rauschte an ihrem Sohn vorbei durch die Tür, um ihre Schuhe anzuziehen.

»Mama, stopp! Jetzt beruhige dich erst einmal, morgen ist auch noch ein Tag. Schau auf die Uhr, die meisten werden dort sowieso schon gegangen sein; alle bis auf die Programmierer, die sind ja ein wenig nachtaktiv«, schmunzelte Stephen. »Ich bin dafür, dass wir uns so richtig schön BITTEN lassen, vorbeizukommen und den Code zu verraten. Wetten, das werden sie innerhalb absehbarer Zeit tun? Im Safe liegen unter anderem die Zugangsberechtigungen, die Quellcodes für unsere Programme und diverse Kennwörter, die sie früher oder später brauchen werden.«

»UNSERE Programme? Du arbeitest doch überhaupt nicht für die LAMANTEC, oder ist mir da etwas entgangen?« Kirstie hielt irritiert inne, stellte aber den Schuh zurück an seinen Platz. Steve hatte recht, heute würden sie nichts mehr erreichen können. Außerdem gedachte sie Annika höchstpersönlich verbal zu zerlegen und dafür musste diese nun mal anwesend sein.

Sie überlegte angestrengt, während ihr Sohn weiterhin zufrieden in der Küchentür stand. »Wieso sollten sie ausgerechnet dich nach dem Zugangscode fragen? Du kennst die Nummernfolge doch gar nicht, genau so wenig wie ich! Dein unvernünftiger Vater hat von jeher ein Staatsgeheimnis daraus gemacht, er zog absolut niemanden ins Vertrauen. Die einen waren ihm nicht gut genug, und bei denen, die ihm ebenbürtig schienen, witterte er sofort Konkurrenz und fürchtete, man würde an seinem Chefsessel sägen. Auch wenn er das niemals zugegeben hätte.«

»Wer weiß, wer weiß – vertraue mir einfach!« Stephen ging, noch immer lächelnd, hinauf in sein Zimmer. Soeben hatte seinHandy den Eingang einer SMS von Belinda angezeigt.

* * *

Manchmal verhielt sich Stephen McLaman ausgesprochen sentimental. Vor allem immer dann, wenn es in irgendeiner Weise um Erinnerungen an Lena ging. Noch immer trauerte er seinem ersten Leben nach – demjenigen, in welchem Lena seine geliebte Ehefrau gewesen war. Beim zweiten Versuch einer Lebensgestaltung war dann leider so einiges schief gelaufen, doch lebte Lena zum Schluss mitsamt der gemeinsamen Tochter wenigstens in seiner unmittelbaren Umgebung.

Das Blatt wendete sich für Stephen damals bei einem Besuch des Strandcafés; hier gelang es ihm, Lena mit der Situation etwas auszusöhnen. Es war ihr lange Zeit sehr schwer gefallen, ihm zu verzeihen oder ein Mindestmaß an Vertrauen aufzubauen. Stephen war schließlich Lenas Halbbruder und gleichzeitig der Vater ihrer kleinen Tochter, denn Lena war einst aus einer heimlichen Liaison seines Vaters mit dessen damaligen Sekretärin Mirjam Krahler entstanden. Natürlich hatte Stephen immer wieder versucht, ihr die Zusammenhänge zu erklären. Dass hier der Himmel seine wundersamen Finger im Spiel hatte und ihre Tochter sich eines Tages als Messias outen werde, sie beide nur als menschliche Werkzeuge in einem größeren Plan fungierten. Als eine Art moderner Neuauflage von Maria und Josef. Doch wer hätte schon eine solchermaßen abstruse Geschichte geschluckt, ohne Zweifel am Wahrheitsgehalt derselben zu hegen?

Lena hatte Stephen verständlicherweise im Verdacht, auf diese Weise nur den vermutlich alkoholund drogenbedingten Ausrutscher schönreden zu wollen, sich und seine Körperteile auf einer gewissen Party in Spanien nicht im Griff behalten und ausgerechnet sie, seine Halbschwester, geschwängert zu haben. Zumindest hielt sie diese Theorie so lange unverändert aufrecht, bis sich herausstellte, dass ihre gemeinsame Tochter tatsächlich merkwürdige Anwandlungen bekam, die diese unwahrscheinliche Messias-Sache dann doch mangels anderer Erklärungen irgendwie wahrscheinlich machte.

Trotzdem – das Treffen im Strandcafé war damals der erste Schritt zur Aussöhnung gewesen, Stephen verband damit sehr positive Erinnerungen. Deshalb hatte er heute genau diese Restauration in bester Lage am Elbufer für ein Treffen mit seiner anderen Halbschwester auserkoren; in zirka einer halben Stunde würde Belinda eintreffen, wie ihm ein kurzer Blick auf die Zeitanzeige seines Handys verriet.

Stephen war absichtlich etwas früher gekommen, um seinen sehnsüchtigen Erinnerungen nachzuhängen. Er wählte genau denselben Fensterplatz, auf dem er damals gesessen war. Und Belinda würde Lenas Stelle einnehmen, wenn auch nur in Bezug auf die Sitzordnung. Lena … wie sie nach intensiven Gesprächen in der Abendsonne gesessen war … wie ihr Haar mit den letzten Strahlen aufzuflammen schien …

»Hey, Stevie! So verträumt? Komm, lass dich erst einmal drücken!« Er hatte gar nicht bemerkt, dass Belinda neben ihm stand und über das ganze Gesicht amüsiert grinste. Er stand auf und begrüßte sie: links ein Küsschen, rechts ein Küsschen. Dann setzten sie sich. Erst jetzt nahm er wahr, dass draußen auf dem Parkplatz der froschgrüne Peugeot leicht schräg in einer Parklücke stand. Sie musste wohl mit Schwung eingeparkt haben.

Nach der ersten Wiedersehensfreude wurde Stephen klar, dass er im Grunde fast gar nichts über Belinda wusste. Sie hatten sich stets nur kurz auf Familienfeiern getroffen und zum Leidwesen seines Vaters gemeinsam versucht, diese etwas aufzulockern. Doch abgesehen davon war er lediglich über Grundsätzliches informiert, noch niemals zuvor traf er sich mit Belinda alleine und ohne familiären Anlass. Warum hatte sie ihn überhaupt um ein Date gebeten? Er würde sie später einfach danach fragen.

»Na, dann erzähl mal, Schwesterchen. Wie ist es dir denn so ergangen, mal abgesehen von deinem Ausflug nach USA?«, begann Stephen die Konversation. »Ich weiß ja von gar nichts, kenne nicht einmal dein Söhnchen. Wo ist das Kerlchen eigentlich jetzt, warum hast du ihn nicht mitgebracht?«

Belinda freute sich sichtlich über die ungewohnte Anteilnahme an ihrem Leben. »Dennis ist heute auf einem Kindergeburtstag eingeladen, ich muss ihn erst am Abend wieder abholen. Deswegen habe ich dir genau diesen Tag vorgeschlagen, wir hätten sonst nicht in Ruhe reden können. Dennis ist nämlich recht wild und muss ständig eingefangen werden, was Gespräche immer ziemlich erschwert!«, lachte Belinda und verdrehte die Augen. »Der hat recht viele von meinen Genen mitbekommen, weißt du?«

Oh ja, Stephen konnte sich erinnern. Als kleines Mädchen hatte Belinda ständig für Aufregung gesorgt. Einmal war sie in einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit ihrer Mutter entwischt und wurde verzweifelt im ganzen Haus gesucht, bis man schon an eine Entführung glaubte. Gerade in dem Moment, als Vater die Polizei anrufen wollte, stand sie dann plötzlich grinsend im Türrahmen, als sei nichts geschehen. Angetan mit Klamotten von Kirstie, welche ihr viel zu groß waren und deswegen auf dem Boden hinter ihr her schleiften; außerdem war sie bemalt wie ein Pfingstochse.

Es stellte sich heraus, dass sie mit einer Taschenlampe als Beleuchtung in Kirsties riesigem Kleiderschrank gesessen war und eine Modenschau nebst Schminkstudio veranstaltet hatte, die MakeUp-Spuren an Kirsties Kleidung sprachen ebenso deutlich Bände wie die vielen ausgeschütteten Schuhschachteln.

»Weißt du noch?« Stephen und Belinda tauschten diese und ähnliche Geschichten aus ihren kurzen Begegnungen während der Kindheit aus. Erinnerten sich gemeinsam, wie Belinda beinahe im Gartenteich ertrunken wäre und Stephen sie ein anderes Mal von einem viel zu hohen Baum gerettet hatte. Später rauchten die beiden ihren ersten Joint zusammen hinter einem Gebüsch in einer abgelegenen Ecke des Gartens, während ihre Angehörigen angeregt über das Erbe von Tante Katharina debattierten.

Irgendwann waren diese netten Anekdoten alle aus der Versenkung des Gedächtnisses geholt und Belinda sinnierte seufzend: »Ja, diese Zeiten blieben leider die weitaus Besseren in meinem Leben. Seither habe ich nicht mehr viel Grund zum Lachen gehabt!« Während Belinda wild gestikulierend die eher unangenehmen Begebenheiten ihres Erwachsenenlebens zum Besten gab, ging der Nachmittag langsam in den Abend über. Wie einst während Stephens Besuch mit Lena stand die Sonne nun tief über der Elbe und tauchte die wenigen verbliebenen Gäste in ein eigentümliches Licht. Nicht rötlich diesmal, noch nicht.

Als habe sich die Natur seiner an diesem Tag blonden Begleiterin angepasst, wirkten die Sonnenstrahlen heute wie lange Finger aus leuchtendem Gold, die sich in Belindas langem Haar verfingen und es aufleuchten ließen. Stephen fühlte sich unwillkürlich an das Märchen »Rumpelstilzchen« erinnert, in welchem die arme Müllertochter Stroh zu Gold spinnen musste. Belinda erweckte optisch den Eindruck, als trage sie das funkelnde Ergebnis dieser Bemühungen auf dem Kopf.

Belinda bemerkte, dass Stephen sie fasziniert anstarrte und meinte schelmisch: »Keine Angst, das sieht nur so aus! Ich muss dich enttäuschen, ich trage gar keinen Heiligenschein!« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Verdammt! Ich bin schon wieder spät dran!« Belinda sprang auf und kippte hierbei ihre Kaffeetasse um, in welcher sich noch ein Rest hellbraunen Milchkaffees befunden hatte; dieser hinterließ nun unschöne Flecke auf der Tischplatte. Es kümmerte sie nicht – Belinda hauchte Stephen einen flüchtigen Kuss auf die Wange und schon war sie draußen, glitt in ihr Auto und fuhr mit aufheulendem Motor vom Parkplatz.

Stephen setzte sich wieder zurück an den Tisch, er wollte in Ruhe seinen Kaffee austrinken und noch ein wenig seinen Gedanken nachhängen. Klar, auch Belinda war seine Halbschwester und sah Lena entfernt ähnlich – doch ansonsten bildete sie wohl eher deren Gegenpol. Sie hatte, gnädig ausgedrückt, eine rechte Sauerei an ihrem Platz hinterlassen und auch ihren Kaugummi einfach in den Aschenbecher gedrückt. Jetzt erst bemerkte Stephen, dass ihr billiges Handy noch auf dem Tisch lag, sie hatte es wohl wegen des fluchtartigen Aufbruchs vergessen. Kopfschüttelnd steckte Steve es ein.

Belinda. Ob sie wohl wegen Vaters Tod auch heute in komplett schwarzen Klamotten gesteckt hatte? Eher nicht, wenn man ihr belastetes Verhältnis zu ihm bedachte, welches zu seinen Lebzeiten gründlich von seiner Missachtung gegenüber dieser Tochter überschattet gewesen war. Vielleicht war sie auch einfach eine Anhängerin der düsteren Gothic-Bewegung geworden? Egal.

Stephen zahlte und brach auf. Er wollte im Internet noch so einiges recherchieren und das Treffen mit Belinda ordnungsgemäß auf seiner Yggdrasil-Zeichnung anbringen. Als Symbol für Belinda würde er ein schwarzes Kreuz wählen, das passte zu ihr; schließlich trug sie ein auffälliges Kettchen mit einem Templerkreuz aus schwarzen Glassteinen um den Hals.

Nach Lena und Yoli war dies die dritte junge Frau, die er einzuzeichnen hatte. Lena war selbstverständlich durch ein rotes Herz dargestellt und die Spanierin Yoli durch einen schwarz-rot-gelb gestreiften Stier. Letztere allerdings nicht auf den neuesten Ästen, die symbolisch für dieses dritte Leben standen, denn da würde er sie nach Lage der Dinge nicht einmal kennen lernen.

Sollte er auch Kati einzeichnen? Zum Beispiel mit einem kotzgelben T-Shirt als Symbol? Nein, entschied er grinsend innerhalb von Sekunden. Die war nicht wichtig genug und nicht zuletzt wegen ihres fruchtlos verlaufenen Ultimatums sowieso bereits Geschichte.

* * *

Hinter einem stattlichen Aktenberg saß der höchst nervöse Volker K. Mühlenstein. Gestern erst war er von einer eilig einberufenen Konferenz unter Vorsitz der LAMANTEC AG aus Frankfurt am Main zurückgekehrt. Die kommissarische Konzernleitung hatte sich mit Vertretern der Großkunden und der in das Unternehmen finanziell involvierten Banken getroffen, um die vorläufigen Pläne nach dem plötzlichen Ableben des Vorstandsvorsitzenden Thomas McLaman zu besprechen.

Eigentlich war diese Konferenz mehr oder weniger eine Bestandsaufnahme der gegenseitigen Erwartungen geworden, denn Mühlenstein hatte im Grunde nur mit unvollständigen Papieren jongliert und sich notgedrungen in allgemeinen Feststellungen ergangen, konnte nirgends richtig konkret werden. Wie ein Politiker hatte er viel und gleichzeitig nichts gesagt.

Jetzt erst war vielen so richtig aufgefallen, wie wenig sich die ser Herr McLaman in die Karten hatte sehen lassen. Wie ein Sonnenkönig hatte er die Firma dominiert, auch nach deren Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. Immer wieder hatte er Mittel und Wege gefunden, seinen Willen durchzusetzen und den Aktionären seine verschachtelten Methoden zur Konzernführung schmackhaft zu machen. Solange die wiederum Dividenden sahen, hielten sie freiwillig die Füße still.

Im Laufe der Zeit hatte es so einige Emporkömmlinge gegeben, die ihm in die Suppe spucken wollten. Doch der eigenwillige Konzernchef pflegte stets rechtzeitig an den richtigen Fäden zu ziehen, um diese Bemühungen samt und sonders im Keim zu ersticken. Außerdem gab ihm sein Erfolg Recht – er hatte ein kleines, aufstrebendes Familienunternehmen in einen internationalen Konzern verwandelt, der sich sehen lassen konnte. Waren andere Software-Unternehmen innovativ, so war die LAMANTEC AG in den allermeisten Fällen trotzdem noch eine Nasenlänge voraus. Volker K. Mühlenstein seufzte, rieb sich über die schmerzhaft geröteten Augen. Man hatte sich darauf geeinigt, dass die alles entscheidende Sitzung nächste Woche am Dienstag stattfinden sollte. Die überaus wichtige Sitzung, die ihn entweder in seinem derzeit noch kommissarischen Amt als Nachfolger von Thomas bestätigen sollte, oder eben nicht. Das würde jedoch höchstens dann funktionieren, falls es ihm gelänge, sichere Kompetenz auszustrahlen – und dazu gehörte nun einmal, über alles haarklein Bescheid zu wissen, was sich in dieser Firma tat.

Genau da lag das Problem und dieses hatte sich leider bereits in Frankfurt offen gezeigt. Wie sollte er einen solchen Kraftakt hinbekommen, wenn er bislang nicht einmal alle Verträge oder sonstigen Papiere aufzufinden in der Lage war? Die lagerten wahrscheinlich allesamt friedlich vereint in diesem verfluchten Safe, den er nicht zu öffnen vermochte.

Diese Hugler war ihm da auch keine große Hilfe gewesen, ziemlich genau vor einer Stunde hatte er schließlich seine geballte Wut an ihr ausgelassen und sie dermaßen zusammengestaucht, dass sie kreidebleich sein Büro verlassen musste, um erst einmal hastig auf die Damentoilette zu verschwinden.

»Ist doch wahr!«, rechtfertigte Mühlenstein seinen Ausbruch vor sich selbst, fühlte schon wieder seinen Adrenalinspiegel ansteigen. »Wofür ist die gut, wenn sie als Chefsekretärin nicht einmal die elementarsten Dinge weiß?« So einfach würde er sie nicht davonkommen lassen! Sollte sie sich kurz ausheulen, doch danach erwartete er nicht mehr oder weniger als die Leistung, welche sie nach seinem Verständnis als Chefsekretärin ihrem Posten gemäß zu erbringen hatte. Er hatte einfach keine Lust mehr auf weitere schlaflose Nächte.

Er benötigte Aufstellungen über die Besitztümer der Firma, sämtliche Verträge zur Durchsicht und exakte Informationen, an welchen Projekten aktuell gearbeitet wurde sowie den jeweiligen Sachstand. Außerdem Kontoauszüge, Personalunterlagen, Inventarund Fuhrparklisten, sowie …!«

»Herr Mühlenstein, darf ich Sie einen Moment stören?« Schüchtern steckte eine Angestellte ihren Kopf durch den Türspalt. Diese graue Maus kannte Volker Mühlenstein nicht, also konnte sie keine wirklich wichtige Position im Unternehmen bekleiden. Der Angesprochene fuhr genervt aus seinen Überlegungen hoch, fixierte die Unglückliche mit einem vernichtenden Blick. »Nein! Sie sehen doch, ich habe zu tun und möchte nicht gestört werden! Das habe ich dieser Hugler vorhin schon überdeutlich erklärt. Wo ist sie eigentlich und was genau tun SIE hier?«

Die Angestellte trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und wäre vor Verlegenheit am liebsten im Teppichboden versunken.

»Frau Hugler ist … unpässlich und kann jetzt gerade nicht, Entschuldigung«, quetschte sie leise hervor. »Es tut mir leid, sie

…« Weiter kam sie nicht, denn Mühlenstein fiel ihr unwirsch ins Wort. »Das ist mir so was von egal! Die soll machen, dass sie hier wieder auftaucht, sonst ist ihre eigene Kündigung das Erste, was sie morgen früh auf ihrem Schreibtisch vorfindet! Sagen Sie ihr das!« Damit war die Audienz beendet und Mühlenstein würdigte die unglückliche Frau hinter dem Türspalt keines Blickes mehr.

»Es muss an diesem großkotzigen Thronsaal liegen«, überlegte diese, als sie die Türe leise und behutsam wieder zuzog. »Da drin werden sie scheinbar alle in Windeseile größenwahnsinnig.« Sie holte tief Luft und machte sich auf den Weg zur Damentoilette, um sich wider Willen ein gerüttelt Maß an Zicken-Terror bei Annika abzuholen.

* * *

Kirstie McLaman hätte am liebsten einfach kommentarlos aufgelegt. Seit einer halben Stunde nervte diese Kati Kierstein am Telefon, was das Zeug hielt; dabei musste sie sich noch um so einiges kümmern, was sonst immer Thomas erledigt hatte. Rechnungen bezahlen, Steuerunterlagen zusammensuchen, Pool-Service bestellen und ähnlich unangenehmes Zeug. Schon morgen musste sie nach ihrer Auszeit, die sie wegen des unerwarteten Todes ihres Ehemannes genommen hatte, wieder am Arbeitsplatz erscheinen und ihr lief bereits ziemlich die Zeit davon.

»Mensch Kati, ich weiß es doch wirklich nicht! Er ist heute Morgen aus dem Haus gegangen, hat mir aber nicht verraten, wohin! Meine Güte, Stephen ist längst erwachsen. Da informiert er seine Mutter nicht mehr über jeden Schritt, den er tut. Er könnte überall sein: in der Firma, auf Jobsuche, Kaffee trinken, einkaufen

… ich habe nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung! Aber auch das sagte ich schon!«

Kati überlegte. »Wieso in der Firma? Ich dachte, sein Projekt bei der I-COMP GmbH sei vor ungefähr drei Wochen ausgelaufen? Ich habe in diversen Fachzeitschriften darüber gelesen, dass Stevie recht erfolgreich war. Und sorry, ich kann mir echt nicht vorstellen, dass er sich in der Firma seines Vaters aufhalten könnte. Wenn Sie wüssten, wie er da so manchen mir gegenüber tituliert hat!«, erklärte Kati besserwisserisch.

Kirstie verlor nun endgültig die Geduld. »Kati, ich lege jetzt auf! Es ist weder meine Schuld noch mein Problem, wenn eure Beziehung nicht funktioniert hat. Manchmal muss man eben einen Schluss-Strich akzeptieren, nicht wahr? Ruf mich bitte nicht mehr an. Entweder, du erreichst Stephen doch noch auf seinem Handy, oder er drückt deine Anrufe absichtlich weg. In diesem Fall hätte es ohnehin keinen Zweck, ihm weiter nachzulaufen, meinst du nicht auch?«

Kirstie hatte Kati nie gemocht und machte keinen Hehl dar aus. Sie hielt das Mädchen für ein Erfolgs-Groupie, das sich an ihren Sohn nur herangemacht hatte, weil er gut verdiente und großzügig alles bezahlte, sobald sie zusammen waren. Wobei sie ziemliche Ansprüche stellte, ihr dünkte kaum etwas gut genug. Neulich hatte sie glatt versucht, Stephen zur Buchung eines kostspieligen Urlaubs auf den Malediven zu bewegen; auf seine Kosten, versteht sich. Dabei waren die beiden nicht länger als vier Monate zusammen gewesen, wovon mindestens zwei nicht ganz harmonisch, eher wie eine stetige Achterbahnfahrt der Gefühle verlaufen waren.

Kirstie hatte Kati gleich beim ersten kurzen Aufeinandertreffen in die Augen gesehen und seither eine gehörige Antipathie entwickelt. Es hatte kalte, hinterlistige Augen, dieses Mädchen. Und so eine hatte bei Mama Kirstie von vorneherein verspielt.

Seufzend machte sich Kirstie daran, mühselig ihre begonnenen Arbeiten fortzusetzen. Aber wo befand sich eigentlich der Ordner mit den Gehaltsnachweisen ihres Mannes? Hatte sich den vielleicht Stephen mit aufs Zimmer genommen, etwa wegen seines plötzlich erwachten Interesses für die LAMANTEC, welche er neuerdings sogar zu leiten trachtete? Was dachte er sich nur dabei, ihr Sohn neigte doch sonst nicht dermaßen zur Selbstüberschätzung?

Natürlich, er hatte in seinen jungen Jahren bereits beachtliche Erfolge als Programmierer gefeiert, das war schon richtig. Aber es war eben etwas gänzlich anderes, den Dompteur in einer Aktiengesellschaft zu spielen, zwei Paar Stiefel waren das! Ihr verstorbener Thomas hatte nie richtig programmieren gelernt, dafür beschäftigte er seine Leute. Stattdessen verstand er viel vom Geschäft und den für Erfolg notwendigen Winkelzügen.

Vor der Tür zu Stephens Zimmer stutzte Kirstie. Sollte sie einfach hineingehen oder wäre dies ein Einbruch in die Privatsphäre ihres Sohnes? »Ach Quatsch!«, schalt sich die attraktive Rothaarige. »Bei dieser Gelegenheit kann ich das Bermuda-Dreieck auch gleich ein bisschen von dreckiger Wäsche und Müll befreien! Muss ja ab und zu sein, bevor einiges einen Pelz bekommt oder wieder zu leben anfängt«, schmunzelte sie.

Nanu? Kirstie traute ihren Augen kaum. Stephen hatte offensichtlich sein Zimmer picobello aufgeräumt; absolut nichts lag auf Boden oder Bett herum, wobei letzteres sogar ordentlich gemacht worden war. Seit dem Tod seines Vaters kam er ihr insgesamt verändert vor, irgendwie gereifter. So als müsse er nun endgültig seine Jugend und seinen Leichtsinn ablegen, und unmittelbar danach in Vaters Fußstapfen treten.

Vielleicht täuschte sie sich und man konnte ihm doch vertrauensvoll eine Chance in der Firma geben? Sie würde darüber nachdenken, ob sie ihre Bedenken beiseiteschieben und Stephen lieber in seinem Bestreben unterstützen sollte. Ihr widerstrebte der Gedanke, dass ansonsten jemand Fremdes künftig die totale Kontrolle über Thomas‘ Lebenswerk an sich reißen könnte. Wer konnte schon abschätzen, was in diesem Fall aus dem Unternehmen werden würde? Ein schwieriges Erbe, mit dem sie Thomas hier alleine gelassen hatte! Fast war sie ein wenig böse auf ihn.

Noch immer mochte Kirstie nicht bis in die letzte Gewissheit realisieren, dass ihr Ehemann tot war. Bei jedem Geräusch im Haus schreckte sie auf, als müsse er gleich mit seinem dynamischen Schritt um die Ecke biegen. Zu unwahrscheinlich schien es, dass sich ein Thomas McLaman einer höheren Macht hatte beugen müssen, denn dies war ihm zu Lebzeiten niemals geschehen. Und doch hatte ausgerechnet der Sensenmann diesen Kampf binnen weniger Minuten gewonnen.

Kirstie stand gedankenverloren mitten in Stephens Zimmer, bis sie sich selbst zur Ordnung rief und endlich zurück in die heutige Realität fand.

Richtig, hier stand ja der gesuchte Akten-Ordner! Als Kirstie McLaman diesen an sich nehmen und das Zimmer verlassen wollte, fiel ihr Blick auf eine hübsche, recht kompliziert aufgebaute Zeichnung. Sie lag gleich neben dem Ordner offen zugänglich auf Stephens Schreibtisch.

Was war DAS denn?! Ein Baum … Kirstie konnte nicht anders, sie musste dieses seltsam verästelte Gewächs mit den vielen Symbolen und Textstellen darauf näher betrachten. Sie verließ das Zimmer erst 20 Minuten später und war nun fest davon überzeugt, dass mit Stephen etwas nicht stimmen konnte. Ganz und gar nicht.

* * *

Die ersten paar Meter waren so richtig peinlich gewesen. Stephen musste sich eingestehen, dass er das Motorradfahren einfach nicht mehr gewohnt war; wie bei einem blutigen Fahranfänger machte die Maschine erst einmal ein paar kleine Bocksprünge, bevor sie sich ungelenk in den Straßenverkehr einreihen konnte. Es fiel Stephen nach all den Jahren der Motorrad-Abstinenz unerwartet schwer, seine geliebte Harley zu beherrschen und sie sicher durch die Cuxhavener Innenstadt zu steuern.

Diesen Donnerstag wollte er intensiv nutzen, um zu recherchieren. Wenn man sich vor kurzem noch im Jahr 2029 befunden hatte, dann per Erschießung in den Himmel »aufgefahren« war und nach einer göttlichen Standpauke wieder im Jahr 2004 auf der Erde abgesetzt wurde, konnte man schon leicht die Orientierung verlieren. Es galt, immens wichtige Fragen abzuklären, wie zum Beispiel:

Hatte ich im Juni 2004 einen Job, bei dem ich mich sehen lassen müsste?

Bin ich jetzt noch mit Kati zusammen oder nicht? Sonstige Freunde oder Feinde?

Wie sieht mein Bankkonto aus und wie ist die Geheimzahl meiner EC-Karte? Im Jahr 2004 funktionieren Abhebungen noch nicht mit einem Retina-Scan!

Wo ist Lena und besteht auch dieses Mal Selbstmordgefahr? Lebt ihre Mutter in Prag?

Fragen über Fragen, die sich Stephen fein säuberlich auf einem Notizblock notiert hatte, bevor er losgefahren war. Er konnte überhaupt nicht sicher sein, dass alle Facetten seiner neuen Existenz denselben Stand von 2004 aus dem anderen Leben aufwiesen – schließlich hatte er gleich zu Anfang feststellen müssen, dass sein Vater bereits gestorben war; das war neu und traurig zugleich. Doch dies waren nur die elementarsten Dinge, die es abzuklären galt. Im Hinblick auf die Zukunft hatte er außerdem noch zu entscheiden, auf welchen Ästen Yggdrasils er durch dieses letzte Stück Leben surfen sollte, das man ihm gewährte.

Stephen parkte die Harley vor einem kleinen Bistro am Rande der Fußgängerzone Cuxhavens, in welchem er im ersten parallelen Leben manchmal mit Lena gesessen war und bestellte sich einen Latte Macchiato mit Amaretto-Sirup. Der schmeckte hier so lecker wie nirgendwo sonst, Steve erinnerte sich wehmütig; das war damals auch Lenas Ansicht gewesen.

Nachdem die Bedienung das hohe Glas mit der Kaffeespezialität vor ihm abgesetzt hatte, las er sich seine Liste noch einmal durch. Genau, diese schwierigen Fragen mussten zuallererst abgeklärt werden! Stephen hätte etwas darum gegeben, einfach seiner Mutter ein Loch in den Bauch fragen zu können; doch was würde sie dann denken? Im harmlosesten Fall würde sie ihn besorgt zum Arzt jagen, wegen des dringenden Verdachts auf Gedächtnisschwund oder Alzheimer. Stephen blätterte das bereits beschriebene Blatt seines Blocks nach hinten, fuhr sich nervös durch das Haar und kaute nachdenklich auf dem oberen Ende seines Kugelschreibers herum.

»Mal sehen. Jetzt wird es spannend. Fest steht nur, dass ich dieses Mal alles anders machen muss, ansonsten geht es wohl per Expresslieferung ab in den Hades«, dachte sich Stephen sarkastisch.

Nach und nach fielen ihm zu seinem eigenen Entsetzen tatsächlich so einige Entscheidungen ein, die er in allernächster Zukunft zu treffen hatte, damit sich bloß um Himmels Willen nichts in die falsche Richtung entwickelte. Er notierte:

Kann ich es wagen, wieder mit Lena und später auch mit Jessi in Kontakt zu treten, ohne irreparablen Schaden anzurichten? Soll ich in Vaters Firma arbeiten? Gelingt es mir überhaupt, ohne dass ich mit ihm zusammenarbeiten kann/muss?

Wie ignoriere ich den Weltuntergang, ohne etwas zu unternehmen? Darf ich jemanden vor den drohenden Naturkatastrophen in den Jahren davor warnen?

Sollte ich nach Prag fahren, um wenigstens herauszufinden, ob ich dieses Mal bei den 144.000 Auserwählten dabei bin?

Kann ich meine abartige Geschichte der drei Leben jemandem anvertrauen oder lande ich dann schnurstracks in der Psychiatrie? Was wollen die da oben denn genau von mir, was ich noch NICHT getan und ausprobiert hätte?

Beim Lesen seiner eigenen Liste beschlich Stephen das ungute Gefühl, dass er die Sache mit seinem Seelenheil ja im Grunde nur versieben konnte. Wenn er so gar nicht wusste, worum es den himmlischen Herrschaften überhaupt ging? Die Mutlosigkeit befiel ihn angesichts dieser Perspektive wie ein lähmender Kokon. Stephen winkte die Bedienung zu sich, um seine Zeche zu bezahlen. Er hatte beschlossen, die einfachste Frage zuerst abzuklären: diejenige nach seinem Kontostand. Die zu seiner Karte gehörende Geheimzahl hatte er zum Glück in verschlüsselter Form hinter dem Registereintrag »Kohle« auf seinem Handy gefunden, wenigstens ein Problem weniger! Da würde er gleichzeitig feststellen können, ob aktuell Gehaltszahlungen von irgendeinem Arbeitgeber auf seinem Konto eingingen oder nicht.

Als er nach Erhalt der Rechnung seine Brieftasche aus der anderen Jackentasche herausfischen wollte, ertastete er darin zu seiner Überraschung einen weiteren Gegenstand. Ja klar, Belindas Handy! Daran hatte er gar nicht mehr gedacht … Damit stand jetzt fest, wohin er gleich nach seinem Besuch auf der Bank fahren würde; Belinda hatte ihm neulich im Café ziemlich frustriert anvertraut, in welchem Salon sie arbeitete, was sich nun als Vorteil herausstellte.

* * *

»Zum Teufel noch mal, dann rufen Sie eben die Firma an, die diesen Safe hier installiert hat! Die sollen ihn aufschweißen, mit einem Dietrich bearbeiten, oder was sonst denen einfällt!« Volker K. Mühlenstein kochte vor Wut. Seit Tagen versuchte er, diese unfähige Vorzimmerschnepfe dazu zu bewegen, endlich seine Aufstellungen zu schreiben, welche er langsam ultradringend für die Vorstandssitzung benötigte. Und sie wollte sich gebetsmühlenartig damit herausreden, sie brauche dafür mehrere Unterlagen, die im Safe des Thronsaals lagerten. So langsam riss Mühlenstein auch der allerletzte Geduldsfaden.

»Herr Mühlenstein, das geht eben nicht! Diese Firma weigert sich, auch nur einen Finger krumm zu machen!« Annika Hugler hatte mittlerweile alles eingebüßt, was ihre oberflächliche Persönlichkeit normalerweise ausmachte. Ihre Bewegungen waren fahrig und nervös, einer der sonst perfekten Fingernägel abgekaut, und auf ihrem Gesicht bildeten sich vor Aufregung oder Hektik rote Flecken. Keine Spur mehr von der üblichen Professionalität, die sie zumindest vorzugaukeln verstand, auch nicht von der überheblichen Arroganz. Die Sekretärin war schlichtweg verzweifelt und holte tief Luft.

»Ich habe es schon versucht, doch da wurde offensichtlich ein Passwort vereinbart, ohne welches man sich dort nicht autorisieren kann. Keiner in der Firma weiß etwas darüber, ich habe alle befragt. Sogar in Spanien bei diesem Victor Gómez habe ich angerufen. Sie wissen schon, der Hotelbesitzer, mit dem Thomas McLaman eng befreundet war! Aber dem hat er Code oder Passwort auch nicht verraten – behauptet er wenigstens!«

Mutlos sank Annika Hugler in ihren ergonomisch geformten Sessel und wartete auf die Standpauke ihres Lebens. Oder auf die Kündigung, welche ihr seit Tagen bei jeder Gelegenheit angedroht wurde. Aber Volker K. Mühlenstein wirkte plötzlich, als habe ihm jemand oder etwas wieder Leben eingehaucht.

»Sie haben ALLE gefragt, sagen Sie? Auch Thomas‘ Ehefrau und seinen Sohn?« Lauernd betrachtete er ihr Mienenspiel, das ihm augenblicklich verriet, dass sie eben dieses nicht getan hatte oder sogar mit Absicht verweigerte, aus welchen Gründen auch immer. Was für eine Enttäuschung, diese Hugler!

»Nein, die nicht!«, kam es kleinlaut aus dem Sessel. »Aber ich glaube nicht, dass ausgerechnet diese beiden …«

Mühlensteins Miene gefror, wurde zu einer eisigen Maske aus purer Verachtung. »Bemühen Sie sich nicht länger, Frau Hugler! Gehen Sie mir nur aus den Augen und zwar ein bisschen plötzlich. Ich kläre das selbst und erwarte, dass Sie Ihren Schreibtisch in spätestens einer Stunde geräumt haben. Hoffentlich bekommen Sie wenigstens DAS auf die Reihe! Die fristlose Kündigung wird dann per Post zugestellt, schon morgen deaktiviere ich Ihren Zugangscode zu diesen Räumen!«

Annika konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Was hatte sie in seinen Augen denn bloß verbrochen? Konnte Mühlenstein wissen, dass Stephen McLaman tatsächlich behauptete, im Besitz der Nummernfolge zu sein? Eigentlich nicht, woher auch? Ihr Stolz hatte es nämlich nicht zugelassen, dass sie bei Stephen zu Kreuze kroch und ihn um die Kombination anflehte; sie hatte hoch gepokert, indem sie diese Information gegenüber Mühlenstein absichtlich unterschlug. Und jetzt verlor sie deswegen, so wie es aussah, ihren Job.

Während ihr neuer Chef die Tür zum Thronsaal hinter sich zuknallte, suchte sie erst einmal die Toilette auf. Sie musste bei ihrem Abgang wenigstens Haltung bewahren, schon weil die anderen Weiber ganz schön feixen würden, wenn ihre »Prinzessin« die Fliege machen musste. Denen käme das gerade Recht, die ganze Zeit über war dieses nichtssagende Pack auf sie, Annika, neidisch gewesen.

Es sei denn … Annika kam eine bitterböse Idee. Sie war noch nicht geschlagen, noch nicht! Sie schminkte sich sorgfältig, beseitigte geschickt sämtliche Spuren ihres vor einigen Minuten noch desolaten seelischen Zustandes.

»Außerdem – wie will er eigentlich meine Berechtigung für die Geschäftsräume sperren, wenn er nicht einmal an die erforderlichen Zugangscodes für die Türsicherung gelangt? Die sind nämlich auch im Safe!«, murmelte Annika selbstzufrieden, als sie mit hoch erhobenem Kopf den Toilettentrakt verließ.

Die Kollegin, welche im Vorübergehen Annikas überstürzte Flucht Richtung Damen-Klo mitbekommen hatte, bekam ehrliches Mitleid. Es war dieselbe, welche vor einigen Tagen selbst in Ärger mit Mühlenstein geraten war. Klar, Annika war eine eingebildete Pute, doch eine solche Behandlung hatte selbst sie nicht verdient. Die kleine Angestellte Maier bekam ein bisschen Mitleid.

»Annika, ist alles in Ordnung, kann ich Dir irgendwie helfen?«, fragte sie mitfühlend.

Die kam gerade recht. Diese kleine, graue Maus, die sich neulich beim Mühlenstein einschleimen wollte. Ihm auch noch bereitwillig verriet, dass sie auf dem Klo Schwäche gezeigt hatte. Perfekt!

* * *

Vor dem breiten schmiedeeisernen Tor zur Einfahrt des McLamanAnwesens standen unschlüssig zwei Frauen auf dem Gehsteig; sie debattierten angeregt, ob sie hier klingeln sollten oder besser nicht. Die ältere von beiden trug ihre biederen Kleidungsstücke mindestens eine Nummer zu groß, sie hingen formlos an ihrem dürren Körper herab. Ihr bereits graues Haar trug sie zu einem Knoten gesteckt.

Die andere, fast noch ein Mädchen, sah ansprechend aus. Ihre großen, braunen Augen strahlten aus einem frischen, munteren Gesicht und sie sprühte sichtlich vor Tatendrang.

»Maria, bitte lass es uns doch wenigstens versuchen! Schau, ich bin dir heute extra zugeteilt worden, weil du viel Erfahrung hast und mich anleiten kannst. Ich möchte zu gerne ausprobieren, ob ich etwas erreichen kann«, bettelte die junge Frau.

Die Angesprochene sah skeptisch drein und rezitierte eine Bibelstelle. »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt!« Sie seufzte. »Du kannst es mir glauben, liebe Silvia – mit dieser Wahrheit wurde ich in all den Jahren oft genug konfrontiert.«

Silvia gab nicht auf. »Aber niemand hat gesagt, dass wir diese Leute bei unseren Bemühungen auslassen sollen, soviel ich weiß. Hat nicht jeder Mensch die gleiche Chance verdient?«

Maria gab sich geschlagen. »Na schön! Aber es wird hart, das ist dir doch hoffentlich bewusst? Falls sie uns überhaupt die Tür öffnen würden … « Sie drückte halbherzig auf die große Klingel-Taste unter der Überwachungskamera.

Kirstie McLaman trocknete gerade ihr frisch gewaschenes Haar mit einem Handtuch ab. Warum klingelte es eigentlich grundsätzlich dann an der Haustür, wenn man gerade nicht aufmachen konnte oder wollte?

»Stevie! Ich kann gerade nicht, würdest du bitte mal an die Tür gehen?«

»Klar!« Stephen schlenderte durch die Eingangshalle Richtung Tür, ohne zuerst den obligatorischen Blick auf das Display der Videoüberwachung zu werfen. Wozu auch? Er hatte sowieso keine Ahnung, wen seine Eltern im Jahr 2004 kannten und wen nicht. Eigentlich konnte er sich nicht einmal an jeden einzelnen erinnern, den ER in diesem Lebensabschnitt zu seinen Bekannten zählen sollte. Der Summ-Ton zeigte an, dass sich das Eingangstor elektrisch öffnete.

Nein, diese beiden Frauen, welche hier mit einem betonten Lächeln auf das Haus zukamen, kannte er definitiv nicht. Der Älteren klemmte irgendetwas unter dem linken Arm; vielleicht wollten sie für caritative Zwecke sammeln oder Abonnements für Zeitschriften werben?

»Ja, bitte?« Stephen sah von einer zur anderen.

Die Ältere straffte ihren Rücken, sah ihm direkt in die Augen. Mit sanfter Stimme stellte sie fest: »Wir sind gekommen, um dir Rettung anzubieten. Wir bringen dir die frohe Botschaft, dass Jesus dich heimholen wird – wenn du es nur zulässt!« Mit diesen Worten zog sie ein Buch unter ihrem Arm hervor. Es handelte sich um eine abgegriffene Ausgabe der Bibel.

Stephen musste lächeln. Ah, alles klar: die beiden kamen von einer gewissen Religionsgemeinschaft, welche sich auf diese Weise neue Schäfchen suchte. In seinem letzten Leben waren diese und ähnliche Gemeinschaften in der Endzeit erklärte Gegner seines Videospiels gewesen, welches sich auf Datensammlungen im Internet stützte. Immer mit dem Hinweis auf den Supercomputer

»TIER«, der das Ende der Welt einleiten werde, so wie es in der Bibel beschrieben sei.

Die jüngere Frau wertete sein Lächeln als Zustimmung, als Bereitschaft, sich aufklären und retten zu lassen. »Weißt du, alles, was für dein Seelenheil getan werden muss, steht hier drin.« Silvia zeigte auf die Bibel, ihre Wangen waren vor Begeisterung gerötet. »Du musst nur verstehen und glauben, uns allen bleibt nämlich nicht mehr viel Zeit, denn das Ende ist nah. Wir wollen dir dabei helfen.«

Stephen lächelte noch eine Spur breiter. Meine Güte, was wussten diese beiden schon? Er konnte ein Lied davon singen, wie es im Himmel zuging! Der Messias würde in wenigen Monaten als seine Tochter Jessi geboren werden und hatte während seinen beiden parallelen Existenzen bislang keinerlei Interesse gezeigt, ihn zu retten. Und er hätte den Damen auch verraten können, wann genau es mit der Erde zu Ende gehen würde. Jedenfalls mit dem Leben, wie man es heute kannte.

Die beiden Frauen traten näher an die Tür heran. »Dürfen wir kurz hereinkommen? Wir würden dir das gerne ausführlich erklären!«

Stephens Miene wurde wieder ernst. »Nein danke, kein Bedarf! Erstens weiß ich schon Bescheid – viel genauer, als Sie denken – und zweitens arbeite ich bereits selbst mit Hochdruck an meiner Rettung. Womit ich jetzt auch gerne gleich weitermachen würde. Also, tschüs dann – vielleicht sehen wir uns eines Tages in Prag!« Nach diesem Satz schloss Stephen die Tür direkt vor Silvias und Marias Nasen und ging kopfschüttelnd zurück ins Haus. Was wussten die schon!

Draußen vor dem Tor hielten die beiden Frauen die nächste Lagebesprechung. »Siehst du?« Maria lächelte milde, strich Silvia über das Haar. »Ich habe es dir ja gesagt. An reiche Leute kommt man so gut wie gar nicht heran. Die wollen einfach so weiterleben, als könnten sie sich mit ihrem ganzen irdischen Reichtum selbst vom jüngsten Gericht freikaufen.«

Doch Silvia war gar nicht enttäuscht. »Nein, Maria, das glaube ich nicht! Hast du nicht in seine Augen gesehen? Dieser Junge weiß etwas, glaubt an etwas. Was meinte er eigentlich mit »wir sehen uns vielleicht in Prag«?«

Die Ältere wurde ungeduldig. Manchmal gingen ihr die Unbekümmertheit und der traumtänzerische Leichtsinn der jüngeren Mitglieder ziemlich auf die Nerven. Vielleicht beneidete sie diese aber auch nur um ihren noch ungetrübten Enthusiasmus.

»Silvia, du brauchst nichts hineininterpretieren, um deine Enttäuschung zu verbergen. Wir können hier nichts ausrichten, das musst du akzeptieren lernen! Man soll eben keine Perlen vor die Säue werfen«, schalte sie. »Komm, wir gehen weiter, andere sind hoffentlich empfänglicher für unsere Botschaft.«

Silvia warf über ihre Schulter einen letzten verstohlenen Blick zurück auf die Villa. Und sie hatte DOCH richtig gesehen, da war sie sich ganz sicher! Der Junge wusste etwas … und überdies gefiel er ihr ausnehmend gut.

* * *

»Ach, Annika – klar helfe ich dir! Du kannst dich auf mich verlassen, ich gehe jetzt gleich hinein zu ihm. Man kann ja wirklich einmal etwas vergessen, ist doch kein Beinbruch! Unser neuer Chef ist halt nervös und reagiert ein bisschen über zurzeit! Nimm dir das bitte nicht so zu Herzen. Wir sind doch ein Team, oder?« Annika schluckte die nun überflüssig gewordenen KrokodilsTränen hinunter. »Ja, danke, aber du darfst Mühlenstein unter keinen Umständen verraten, dass du die Info von MIR hast, versprochen? Das ist ganz wichtig, schwöre es mir!«

Elisabeth Maier kam der Aufforderung aufgeregt nach; dass ausgerechnet SIE die Vertraute der Chefsekretärin werden sollte, das war schon was! Bisher hatte Annika Hugler sie nicht einmal wahrgenommen, nicht einmal dann, wenn sie deren Arbeit erledigte. Ohne vom Computerbildschirm aufzusehen, murmelte sie in solchen Fällen ein unwirsches »danke«, wenn sie ihr die fertigen Schriftstücke sorgsam auf den Tisch legte. Vermutlich gab sie die Arbeit danach regelmäßig als ihre eigene aus und schmückte sich mit fremden Federn.

Und nun das – vielleicht hatte sie Annika die ganze Zeit Unrecht getan, am Ende war sie doch nicht ganz so übel, wie Elisabeth geglaubt hatte.

Während die Maier zielstrebig zu Mühlensteins Thronsaal eilte, um ihr Versprechen auf der Stelle einzulösen, trat Annika Hugler ans Fenster neben ihrem Schreibtisch, sah hinunter auf die Straße. Ha, nun würde es nicht mehr lange dauern, und sie wäre rehabilitiert. Der Zweck heiligte die Mittel, und Bauernopfer waren durchaus üblich auf dieser Welt; ein legales Mittel, um seine Ziele zu erreichen.

Annika verzog ihren schönen Mund zu einem hämischen Grinsen, während sich ihre Augen zu geradezu dämonischen Schlitzen verengten. Hurra – es ging los! Mühlenstein wurde dort drin bereits laut.

Wenige Augenblicke später flog die Tür zum Chefbüro auf und Volker K. Mühlenstein stürmte heraus, gefolgt von einer todunglücklichen, kreidebleichen Elisabeth Maier, welche Annika hilfesuchend mit einem eindringlichen Blick fixierte, weil sie immer noch der törichten Hoffnung unterlag, dass diese das Missverständnis doch nun aufklären müsse, um Elisabeth nicht ans Messer zu liefern. Aber zu Ihrem blanken Entsetzen las sie in deren Miene nur abgrundtiefe Verachtung; sie hatte ihr kältestes Lächeln aufgesetzt, als sie Mühlensteins Entschuldigung huldvoll entgegennahm.

»Aber ja, Herr Mühlenstein, selbstverständlich!«, flötete die Hugler. »Ich hatte diese Maier schon länger im Verdacht, dass sie der Firma schaden will. Wenn Sie wüssten, wie oft ich in der Vergangenheit ihre Fehler ausmerzen musste! Letzten Freitag habe ich sie noch ausdrücklich gefragt, nach dem Code oder ob sie eventuell jemanden wüsste, der ihn kennt. Voll ins Gesicht gelogen hat die mir! Sie wollte sich bei Ihnen heute nur lieb Kind machen, aber das kennt man ja. Das wäre nicht die Erste, die auf meinen Posten scharf ist. Womöglich spioniert sie sogar für die Konkurrenz? Spaziert heute einfach ohne vorherige Anmeldung bei mir hinein zu Ihnen und erzählt, dass Stephen McLaman den Code kennt. Eine Frechheit ist das! Nein, die müssen wir schnellstens loswerden, meinen Sie nicht auch?«

Sie zog mit gespielter Entrüstung die Augenbrauen in ihre höchstmögliche Position und setzte noch einen drauf. »Wer weiß, warum sie das mit dem Code überhaupt mitbekommen hat – am Ende lief gar ein Verhältnis zwischen ihr und Thomas?«, schien sie mit angeekeltem Seitenblick auf Elisabeth laut nachzudenken.

Im Anschluss an dieses Gespräch, sofort nachdem Elisabeth Maier nach ein paar vergeblich gestammelten Erklärungsversuchen wie ein geprügelter Hund aus dem Zimmer getrottet war, um weisungsgemäß schleunigst ihren Schreibtisch auszuräumen, wurde Annika Hugler ungewohnt fleißig. Sie tippte mit Hochdruck fröhlich deren Kündigung.

Jetzt konnte sie nur hoffen, dass Stephen McLaman nicht geblufft hatte; und, noch wichtiger: er durfte Mühlenstein keinesfalls stecken, dass er in Wirklichkeit IHR verraten hatte, im Besitz der Kombination zu sein. Sonst würde es doch noch eng für sie werden.

* * *

Stephen hatte es geschafft, hinter die ersten Fragen seiner Liste einen Haken zu setzen. Beruhigt stellte er auf der Bank fest, dass sein Konto dank des Programmierjobs bei der I-COMP GmbH momentan recht gut bestückt war; die jüngste Gehaltszahlung wurde erst vor zwei Wochen verbucht, daher musste er logischerweise wohl noch dort beschäftigt sein. Es wäre wirklich etwas zu viel verlangt gewesen, wenn er sich noch an den genauen Tag des Projektendes hätte erinnern sollen.

»Wenigstens keine Geldsorgen, das ist prima! Ein Guthaben von 11.659,17 Euro sollte eine Zeit lang ausreichen.« Feierlich setzte er jeweils ein Häkchen hinter die Frage nach dem Kontostand und der Frage nach seinem Arbeitsverhältnis.

Stephen schwang behände sein rechtes Bein über die Sitzbank der Harley. Wie leicht diese Bewegung mit 24 Jahren doch wieder fiel! Im Jahr 2029 war sein Körper wohl schon etwas eingerostet gewesen, das war ihm jedoch gar nicht bewusst aufgefallen. Nun ja, er hatte kurz vor seinem Tod einen Mercedes Benz besessen. Ein Motorrad konnte er sich aus Prestigegründen damals nicht mehr erlauben, seit er zusammen mit seinem Vater die LAMANTEC AG geleitet hatte.

Er als Big Boss im Designeranzug! Stephen verachtete sich mittlerweile selbst für diese Entgleisung bei der Kleiderwahl, da er die Angelegenheit nun aus dem jugendlichen Blickwinkel von 2004 betrachtete.

»Jetzt erst mal zu Schwesterchen Belinda, das Handy abgeben. Dieser Salon voller ätzender Weiber muss gleich hier um die Ecke sein!« Grinsend wiederholte Stephen in Gedanken die Formulierungen Belindas, welche diese zur wenig schmeichelhaften Beschreibung ihres Arbeitsplatzes verwendet hatte.

Kurz darauf sprangen ihm ihre Gründe dafür förmlich ins Auge. Zumindest einer davon. In aufdringlichem Neon-Pink prangte ein schrecklich geschmackloses Schild über der Eingangstüre, welches verriet, dass hier der Salon »Beauty Queen« residierte. Übersehen konnte man den Laden auf gar keinen Fall, so viel war sicher. Herrje, arme Belinda … sie musste ja schon jeden Morgen beim Arbeitsantritt Augenkrebs bekommen!

Jene »arme Belinda« im rosa Berufskittel stieß einen schrillen Freudenjauchzer aus, als sie Stephen hereinkommen sah. Im nächsten Moment ließ sie ihre vollschlanke Kundin einfach mit Watte-Pads auf den Augen liegen und hing ihm um den Hals. »Du bist ein Schatz, bringst mir bestimmt mein Handy zurück, oder?«

»Aha, das scheint dir wohl öfters zu passieren, nicht wahr? Aber woher wusstest du, dass es im Café lag und ich es mitgenommen habe?«, fragte Stephen scherzhaft.

Erwischt. Belinda schlug dekorativ die Augen nieder und murmelte etwas Unverständliches. Stephen drängte sich unwillkürlich der Gedanke auf, sie habe es absichtlich liegen lassen, um ihn wiedersehen zu können. Nur warum? Sie hätte doch einfach bloß zu fragen brauchen. Er befreite sie aus dieser peinlichen Situation und meinte: »Ach, ist total egal. Es gibt eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als ein Mensch je erklären könnte!«

Belinda hob den Blick und strahlte. »Genau das sage ich auch immer! Ich habe nämlich einen Hang zum Mystischen, musst du wissen! Die ganzen alten Geschichten, von Legenden über die Insel Avalon bis hin zu archaischen Ritualen – da stehe ich total drauf!«, verkündete sie stolz.

Stephen musterte Belinda von oben bis unten. Kein Zweifel, unter diesem Kittel trug sie ausnahmslos Schwarz. »Na, wer wäre denn auf so etwas von selbst gekommen?«, lachte er.

Die Chefin Belindas, eine stark geschminkte Mittdreißigerin, sah bereits missbilligend in ihre Richtung; Belinda schien es gar nicht zu registrieren, doch Stephen wollte nicht zum Grund für Ungemach werden. »Ich muss weiter, Belinda. Du besitzt jetzt schließlich wieder ein Handy, kannst dich gerne demnächst mal bei mir melden, wenn du magst.« Schon war er durch die Tür verschwunden und stieg draußen auf sein Motorrad.

»Darauf kannst du dich allerdings verlassen«, dachte Belinda vergnügt, als sie Frau Scheunenhauers Gesicht weiter bearbeitete und gleichzeitig aus dem Augenwinkel heraus beobachtete, wie Stephen mit seiner heißen Maschine aus ihrem Sichtfeld entschwand.

Die Inhaberin des Salons guckte noch immer reichlich argwöhnisch aus der Wäsche. Belinda bemerkte es und zuckte mit den Schultern. »WAS denn?«, fragte sie eine Spur zu trotzig. »Das eben war mein Bruder!«

* * *

Kirstie erwartete Stephen am späten Nachmittag bereits ungeduldig im Vorgarten. »Da bist du ja endlich! Warum konnte ich dich denn nicht auf deinem Handy erreichen?«

Stephen schüttelte den Kopf. »Während ich Motorrad fahre? Na ja, ich habe keine Lust, frontal gegen einen Möbel-Laster zu prallen. Oder gegen etwas anderes«, fügte er hinzu. Seine Mutter würde den makabren Joke mit Verweis auf die Vorkommnisse in seinem parallelen Leben schließlich nicht verstehen können; was ein Glück für ihn war, denn sonst hätte er das Motorrad vermutlich nie wieder berühren dürfen.

»Ach so, alles klar. Es ist ja nur … die haben es so dringend gemacht. Aber von vorne! Die LAMANTEC hat mich angerufen, man erwarte uns »gestern« in der Firma, wie diese Hugler meinte. Volker Mühlenstein sei auf 180, so wörtlich, weil er unbedingt Sachen aus dem Safe in Vaters Büro benötige. Die sind dort einvernehmlich der irrigen Ansicht, DU wärst im Besitz der ZahlenKombination, die sie brauchen, um das Ding aufzubekommen.« Stephen musste herzhaft lachen. Aha, er hatte Recht behalten. Der Hugler war inzwischen vermutlich das Lachen doch vergangen, genau wie er es vorhergesehen hatte. Sie hatte offensichtlich bei Mühlenstein zu Kreuze kriechen müssen.

Kirstie nickte und lachte ebenfalls. »Ja, ich habe mich auch köstlich amüsiert! Als ob Vater so etwas Wichtiges ausgerechnet uns auf die Nase gebunden hätte. Aber weißt du was? Das ist DIE Gelegenheit für mich, endlich dieser Hugler eine kleine Abreibung zu verpassen. Wir können das Missverständnis ja dann später immer noch aufklären, findest du nicht? Auf diese Weise lassen sie uns wenigstens anstandslos hinein.«

So gefiel Stephen seine Mutter schon wieder viel besser. Mit ihrem verschmitzten, hintergründigen Lächeln und den hellwachen grünen Augen sah sie fast wieder aus wie die schöne Frau, die sie vor Vaters Tod gewesen war.

»Logisch! Von mir aus können wir gleich los. Was ist, hast du Lust?« Stephen tätschelte mit der flachen Hand die Rückbank der Harley und vollführte eine auffordernde Bewegung mit dem Kinn in Richtung seiner Mutter.

»Au ja, das haben wir schon ewig nicht mehr gemacht! Warte, ich hole nur schnell Helm und Lederjacke!« Kirstie war augenblicklich Feuer und Flamme. Mit wehender Mähne verschwand sie im Haus.

Stephen empfand glühenden Besitzerstolz. Seine Mutter! Das Geburtsdatum auf ihrem Ausweis stimmte so gar nicht mit ihrem gefühlten Alter überein. Sie war trotz ihrer eher problematischen Ehe eine spontane, lebendige Persönlichkeit geblieben, auch wenn Vater das immer missfallen hatte. Seiner Ansicht nach hätte sie sich vermutlich wie diese dumme Zicke Hugler verhalten sollen, um an der Seite des erfolgreichen Geschäftsmannes lediglich die perfekte Verzierung zu spielen. Aber er hatte mit der Zeit lernen müssen, dass man mit solch einem Ansinnen speziell bei Kirstie auf Granit biss. Auf besonders harten Granit.

Kurze Zeit später trafen Mutter und Sohn auf dem Parkplatz der LAMANTEC AG ein; mit den Helmen unter die Arme geklemmt strebten sie zielstrebig auf das Bürogebäude zu, welches unter anderem das international tätige Software-Unternehmen beherbergte. »Auf in den Kampf!«, forderte Kirstie mit einem vielsagenden Seitenblick ihren Sohn auf, in den Fahrstuhl zu steigen. Während sich der Aufzug nahezu lautlos nach oben bewegte, sprachen Stephen und Kirstie kein Wort. Jeder überlegte für sich selbst, wie es mit der Firma nun wohl weitergehen würde. Stephen wusste aufgrund seiner Bankrecherchen, dass er anscheinend noch für die I-COMP GmbH tätig war; somit erübrigte sich derzeit eigentlich die Idee, für die LAMANTEC arbeiten zu wollen.

Kirstie hingegen musste erstens ihren aufgestauten Frust bei Annika Hugler loswerden und zweitens ihren Sohn daran hindern, dort drinnen unbedachte Äußerungen wegen einer Übertragung der Firmenleitung auf sich selbst bei den falschen Leuten von sich zu geben. Alles nicht so einfach.

Schließlich standen sie beide sinnierend vor dem großzügigen Eingangsportal zu den Firmenräumen; Thomas hatte die Notwendigkeit von dessen eindrucksvoller Größe damals vor dem Aufsichtsrat damit begründet, dass ja schließlich technische Anlagen durch diese Tür befördert werden müssten und somit die immensen Kosten gerechtfertigt seien. Er hatte eigentlich immer seine oft egoistischen Pläne durchsetzen können.

»Alles nur eine Frage der einleuchtenden Begründung und deren klarem Vortrag!«, hatte eines seiner Lieblings-Credos gelautet. Diese Fähigkeit kultivierte Thomas im Laufe seines Geschäftslebens wahrlich bis zur Perfektion; seiner Familie allerdings war er mit dieser unbeirrbaren Hartnäckigkeit nicht selten tierisch auf den Geist gegangen.

Er betonte in solchen Fällen gerne seine schottische Ahnenlinie, in welcher sich angeblich so mancher edle Clanführer befunden hatte. Es war unübersehbar, dass sich auch Thomas McLaman aus der Tradition heraus einen solchen Status zurechnete, wenn auch in leicht modernisierter Form. Thomas ersetzte einfach den traditionellen Schotten-Kilt mit einem Designeranzug von Armani. Kirstie allerdings hatte seine ehrgeizigen Führerambitionen oft reichlich respektlos »schottischer Dickschädel« genannt.

»Willst du oder soll ich?«, riss Kirstie ihren Sohn aus seinen Gedanken.

»ICH melde mich an«, erwiderte dieser selbstbewusst. »Schließlich wollen die von MIR den Code haben!« Er drückte den Klingeltaster und war echt erstaunt, wie schnell die Hugler ihm dieses Mal Einlass gewährte. Nicht nur das, sie kam sogar persönlich zur Tür, um ihn wie einen Ehrengast zuvorkommend hinein zu geleiten. Kirstie hingegen ignorierte sie einfach.

»Stephen, wie schön, Sie zu sehen! Bitte gehen Sie doch gleich hinein, Herr Mühlenstein hat mich angewiesen, Sie jederzeit sofort zu ihm vorzulassen. Er weiß schon Bescheid, dass Sie die richtige Zahlenkombination kennen! Bitte öffnen Sie uns dieses stählerne Ungeheuer, wir müssen dringend an die Unterlagen heran!«

Wenn Steve eines hasste, dann war es derartig freche Heuchelei. Diese blöde Kuh! Dachte sie denn allen Ernstes, er habe ihren dämlichen Auftritt von neulich schon vergessen? Na ja, die würde es jetzt erst einmal mit Mutter zu tun bekommen, dachte er mit Genugtuung, als er den Thronsaal ansteuerte.

Volker K. Mühlenstein verhielt sich ebenfalls völlig atypisch.

»Denen muss ja wirklich der Kittel lichterloh brennen«, freute sich Stephen in Gedanken, als Mühlenstein ihn übertrieben höflich bat, Platz zu nehmen. Sogar den Stuhl rückte er ihm höchstpersönlich zurecht. Stephen zementierte seinerseits achtlos seinen Motorradhelm mit einem dumpfen Geräusch auf die polierte Tischplatte.

»Sososo, Herr McLaman. Sie sind also Thomas‘ Sohn. Ich freue mich sehr, Sie endlich persönlich kennen zu lernen. Sie sind Programmierer, wie ich hörte?« Während er sprach, hielt dieser Schleimscheißer ununterbrochen die Mundwinkel krampfhaft nach oben verbogen, während seine Augen jedoch absolut unbeteiligt wirkten. Stephen hoffte insgeheim, dass er sich im letzten Leben, als er selbst der Geschäftsleitung angehörte, nicht ebenfalls derart bescheuert benommen hatte. Die Antwort auf Mühlensteins Frage ersparte er sich, denn bei derartig oberflächlichem Small-Talk wäre sie ohnehin nicht erwünscht gewesen.

Mühlenstein schleimte munter weiter, während er selbstgefällig seine Krawatte glatt strich. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Wollen Sie die Kombination direkt eingeben, während ich Ihnen über die Schulter blicke, oder möchten Sie diese lieber gleich für uns aufschreiben?« Schon lag ein eleganter Schreibblock aus handgeschöpftem Papier vor Stephen, auf welchem ein luxuriöser Waterman-Füllfederhalter prangte. Bestimmt stammte dieser noch aus dem Fundus seines Vaters, der stets größten Wert auf Statussymbole aller Art gelegt hatte.

Stephen holte Luft. »Nun mal nicht so schnell! Aufschreiben werde ich überhaupt nichts, denn ich bin bei dieser Firma nicht beschäftigt; somit habe ich rechtlich auch keinerlei Verpflichtungen ihr gegenüber. Alles, was ich tun oder auch nicht tun werde, erfolgt aus freien Stücken. Soviel ich weiß, sind Sie derzeit sowieso nur kommissarisch eingesetzt, richtig?«

Mühlensteins Miene hatte sich deutlich verfinstert. Verschwunden war nun das krampfhafte Lächeln; das Gesicht, welches er jetzt zur Schau stellte, spiegelte jedoch wenigstens seine ehrlichen Empfindungen wider – seine Mimik ließ keinen Zweifel daran entstehen, dass er seinen jungen Gesprächspartner geradewegs zum Teufel wünschte. Dennoch behielt er seine Reaktionen weitgehend im Griff, zwang sich weiterhin zu einem relativ freundlichen Tonfall.

»Herr McLaman, lassen wir doch bitte diese albernen Spielchen! Wir sind hier schließlich nicht im Kindergarten und Sie sollten das Andenken Ihres Vaters ehren, meinen Sie nicht? Die Firma muss reibungslos weiterlaufen, gerade auch im finanziellen Interesse Ihrer Mutter, nicht wahr? Sie wissen ja sicherlich, wie viele Aktien Ihre Familie hält! Man wird mich aller Wahrscheinlichkeit nach auf meinem Posten bestätigen, das ist im Grunde nur noch eine Formsache. Es wäre nicht sehr klug von Ihnen, mir mit voller Absicht Steine in den Weg zu legen!«

Volker K. Mühlenstein saß nun nicht mehr in betont lässiger Haltung hinter dem »Kommandostand«, wie Vaters riesiger Schreibtisch hinter vorgehaltener Hand von den Bediensteten allzu gerne genannt wurde. Vielmehr tigerte er angespannt hin und her, behielt Stephen dabei im Blick, als handele es sich um ein gefährliches Raubtier.

Stephen freute sich diebisch, dass es ihm augenscheinlich gelungen war, diesen Möchtegern-Chef ziemlich aus der Fassung zu bringen. »Nein, es liegt mir selbstverständlich fern, unserem einstigen Familienunternehmen Schaden zuzufügen. Genau deshalb würde ich das weitere Schicksal der Firma gerne weiterhin aus der Nähe beobachten und in guten Händen wissen. Wie Sie schon sagten – auch und nicht zuletzt im Interesse meiner Mutter.«

Mühlenstein rang sichtbar um Fassung, lockerte nervös seinen Krawattenknoten. »Was soll das, Stephen? Wollen Sie mich um einen Job ersuchen, mich erpressen, oder was sonst genau führen Sie im Schilde? Ich sage Ihnen gleich, dass …!«

Stephen fiel ihm ins Wort. »Moment mal! Erstens wollen aktuell SIE etwas von MIR, schon vergessen? Da werde ich doch wohl über eine kleine Gegenleistung nachdenken dürfen. Zweitens kommen Sie um mich sowieso nicht herum. Mein Vater hatte kurz vor seinem Tod die Absicht, mich einzustellen, und Sie als sein Stellvertreter dürften hierüber informiert sein. Nur für den Fall meiner Absage wäre Simon Jansen für die offene Stelle infrage gekommen.« Er lehnte sich zufrieden zurück und wartete auf den emotionalen Vulkanausbruch.

Draußen schien ein solcher soeben bereits stattgefunden zu haben; es war deutlich die hysterisch hohe Stimme Annika Huglers zu vernehmen. »Super«, dachte Steve anerkennend. »Gutes Timing, Mama.« Er wartete deshalb nicht ab, bis Mühlenstein zu einer Erwiderung fähig war und legte sofort nach:

»Bevor Sie etwas dazu äußern – das war noch nicht alles an Bedingungen, die ich an die heutige Öffnung des Safes knüpfe! Also: Sie stellen mich als Projektleiter für die Programmierabteilung ein, sobald mein Vertrag mit der I-COMP GmbH ausgelaufen sein wird. Die Papiere hierzu unterzeichnen wir noch heute. Was die persönlichen Besitztümer meines Vaters aus diesem Büro angeht

– die können Sie praktischerweise gleich in MEIN Büro schaffen lassen. Einschließlich dieses Fotos dort hinten.«

Stephen zeigte auf die gerahmte Fotografie, welche die Firmenbelegschaft der LAMANTEC zur Zeit des Börsengangs des Unternehmens abbildete; auf diesem Foto war auch Mirjam Krahler, Thomas‘ einstige Sekretärin, zu sehen, die gleichzeitig Lenas Mutter war. Jetzt, im Jahre 2004, galt sie noch für jedermann als verschollen, war nach ihrem plötzlichen Verschwinden schließlich mangels anderer Erkenntnisse für tot erklärt worden. Einzig Stephen wusste dank seiner parallelen Existenzen, dass sie putzmunter mit falschem Pass in der tschechischen Hauptstadt lebte.

Stephen nahm seinen Blick von der Fotografie, fixierte wieder Volker Mühlenstein und fuhr fort. »So ehren wir dann gleichzeitig das Andenken meines Vaters, woran Ihnen ja dankenswerterweise anscheinend viel zu liegen scheint. Simon Jansen wird trotzdem zusätzlich als Programmierer eingestellt, denn mit ihm kann ich mir eine sehr gute Zusammenarbeit vorstellen; er wird gleichzeitig mein Stellvertreter. Wir haben viel vor, daher kann ich von Anfang an eine Verstärkung meines Teams gut gebrauchen.«

Die Frauenstimme aus dem Vorzimmer referierte noch lauter und Volker Mühlenstein blickte bereits missbilligend in Richtung der Türe. Stephen bemerkte das mit unverhohlener Freude.

»Und außerdem werden Sie eine neue Chefsekretärin benötigen, diese Hugler können Sie vergessen. Die arbeitet sowieso nicht effektiv, außer beim Spinnen von Intrigen. Ihre Nachfolgerin habe ich heute gleich mitgebracht; es handelt sich um meine Mutter Kirstie McLaman, die vor Jahren diesen Posten schon einmal innehatte. Auch ihre Verträge werden gleich im Anschluss unterzeichnet, wobei sie selbst entscheiden kann, wann sie zu uns wechseln möchte.«

Steve schlug lässig die Beine übereinander und schickte ein verschwörerisches Augenzwinkern in Richtung des hypernervösen Volker K. Mühlenstein. »Nach alledem können wir meinetwegen diesen Safe öffnen und Ihre angeschlagenen Nerven beruhigen. Dann haben Sie als Gegenleistung wenigstens die reelle Chance auf den Posten als Vorstandsvorsitzender und General Manager.«

Mühlenstein explodierte nicht. Er fräste lediglich mit stahlhartem Blick ein imaginäres Loch in die dezent grau gestrichene Wand hinter dem »Kommandostand«. Anscheinend zeigten die vielen Seminare für Führungspersonen, die ihm die LAMANTEC AG hatte angedeihen lassen, eine sehr gute Wirkung. Vielleicht fehlte ihm auch nur das schottisch-irische Temperament, welches bei Mitgliedern der Familie McLaman hin und wieder zu ungewollt emotionalen Ausbrüchen führte, überlegte Stephen.

»Sie meinen also, dies sei eine Sache auf Gegenseitigkeit, ja?«

»Genau das meine ich. Eine Win-Win-Situation für Sie, meine Mutter und auch für mich. Vor allem aber für die LAMANTEC AG, deren Überleben mir mehr am Herzen liegt, als mein Vater jemals ahnte.« Stephen lächelte und fügte in Gedanken hinzu:

»Jedenfalls nicht in diesem Leben und nicht im Jahre 2004.« Volker K. Mühlenstein seufzte und strich eine seiner mit Gel behandelten Haarsträhnen zurück an ihren Platz. »Ich muss Ihr

… na, sagen wir: Angebot … kurz überdenken. Bitte warten Sie einen Moment draußen, Annika soll Ihnen und Ihrer Mutter einstweilen eine Tasse Kaffee machen.«

Als er den Raum nach einer genickten Zustimmung verließ, wusste Stephen McLaman bereits, dass er dieses Duell gewonnen hatte. Es war ihm gelungen, seine Erpressung so aussehen zu lassen, als handele es sich um einen notwendigen Deal. Natürlich war Mühlenstein nicht von gestern, er hatte diese Finte sehr wohl bemerkt. Dennoch blieb ihm unglücklicherweise keine andere Wahl, sofern er an seinem neuen Posten hing und auf der bevorstehenden Aufsichtsratssitzung nicht wie ein desinformierter Idiot dastehen wollte. Stephen hatte ihm diese unangenehme Tatsache auf eine äußerst intelligente Weise untergeschoben, welche ihm nun kaum eine alternative Möglichkeit des Handelns übrig ließ; der Vorschlag gab Mühlenstein allerdings fairerweise gleichzeitig die Chance, dem vorgeschlagenen Kuhhandel zuzustimmen, ohne dabei komplett sein Gesicht zu verlieren.

Die Lebenserfahrung aus zwei verschiedenen Vorleben schien sich eben doch manchmal auszuzahlen, musste Stephen vor sich selbst widerstrebend zugeben. »Schlimmer noch«, überlegte Stephen grimmig, »ein paar von Vaters berüchtigten Clanführergenen haben sich offensichtlich in seinem Sohn verewigt.«

* * *

Die junge Frau rutschte schwitzend auf ihrem Autositz hin und her. Hätte sie vorhin nur Hosen oder einen längeren Rock angezogen! Es gab wenig Unangenehmeres, als an einem heißen Tag im Minirock auf einem Ledersitz auszuharren und zu warten, während man auf einem schmierigen Feuchtigkeitsfilm saß. Wäre sie nicht derart sauer gewesen, sie wäre nach Hause gefahren und hätte sich unter die erfrischende Dusche gestellt.

Die Frau wollte ihre halblangen Haare zurückwerfen, um wenigstens ein wenig das Gefühl von Kühle in ihrem Nacken zu erzeugen, doch die Strähnen klebten ihr längst zäh auf dem nassen Hals fest. Wenn er jetzt nicht bald auftauchte, würde sie für heute aufgeben müssen. Verdammt!

* * *

»Stephen, was geht hier eigentlich vor?!« Kirstie verschränkte energisch die Arme vor der Brust und funkelte ihren Sohn mit schief gelegtem Kopf wütend an; ihre grünen Augen verschossen gefährliche Blitze. »Du bist mir gleich mehrere Erklärungen schuldig!«

Ihr Gegenüber stöhnte und zeigte auf die Harley. »Ich weiß! Komm, wir fahren erst einmal nach Hause. Dort bestellen wir uns eine schöne, große Pizza mit allem drauf, was du magst – ich zahle! Und dann erkläre ich dir alles, versprochen!«

Kirstie McLaman stand noch immer mit in die Hüften gestemmten Armen auf dem Parkplatz. »Eine lausige Pizza? Das reicht nicht! Ein Tiramisu kannst du hinterher auch noch ausgeben, wenn du schon ungefragt über das Leben deiner Mutter bestimmst! Das ist das Mindeste!«

Jetzt musste Stephen lachen. Man hätte dem äußeren Anschein nach wieder einmal wirklich nicht entscheiden können, ob Kirstie tatsächlich sauer war, oder ob sie nur auf seine Kosten ein Abendessen herausschinden wollte.

»Schön, meine eigene Mutter will mich in den Ruin treiben. Also auch eine Tiramisu; sehr wohl, die Dame!« Stephen verdrehte theatralisch die Augen.

Kirstie rührte sich noch immer nicht vom Fleck, sah nachdenklich aus. »Was nun noch?«, fragte Steve. »Fehlt etwa die passende Vorspeise unseres opulenten Mahls?«

»Quatsch! Nein, im Ernst, Stephen – ich verstehe das alles nicht. Wieso konntest du dich vorhin nicht mehr daran erinnern, dass dein Projekt bei der I-COMP GmbH längst ausgelaufen ist? Du warst erst vor zwei Wochen dort auf der Abschiedsparty, bist wie ein Held gefeiert worden. Dank deines Erfolges hat diese Firma lauter positive Kommentare aus der Fachwelt für sich verbuchen können. Es KANN doch gar nicht sein, dass dir all das entfallen ist! Und woher rührt bitteschön dein plötzliches Interesse an der LAMANTEC? Vater hat mir erst neulich erzählt, du hättest üble Kraftausdrücke gebraucht, um die Firma und deren »geldgeile Schergen« zu beschreiben; ihn selbst eingeschlossen. Weshalb dieser extreme Sinneswandel? Seit wann verstehst du etwas von Verhandlungstaktik und, vor allen Dingen – wer hat dir den verdammten Code des Safes verraten? Vater doch bestimmt nicht!« Stephen konnte und wollte seiner Mutter diese Fragen nicht sofort beantworten. Schließlich durfte er zu seinem Leidwesen nicht vollkommen ehrlich sein, sonst hätte er ihr ungeschminkt die volle Wahrheit seiner drei Existenzen präsentieren müssen. Das erschien ihm aber nicht möglich, jedenfalls nicht ohne umgehend in den Verdacht einer schlimmen Geisteskrankheit zu geraten. Er musste sich unbedingt erst eine halbwegs plausible Geschichte bereitlegen, die zwar nicht vollständig gelogen sein durfte, jedoch auch nicht zur Gänze der furchtbar komplizierten Wahrheit entsprechen konnte. Vor allem jedoch musste sie Kirsties sprichwörtlicher Spürnase für Ungereimtheiten standhalten.

Als Mutter und Sohn eine Stunde später vor riesigen aufgeklappten Pizza-Schachteln saßen und Pizza »Quattro Stagioni« futterten, konnte Stephen langsam aufatmen. Kirstie hatte die Darstellung geschluckt, dass er in Mühlensteins Gegenwart nur geblufft hatte, als er sein angeblich noch bestehendes Arbeitsverhältnis bei der I-COMP GmbH erwähnte; es komme auf diese Weise einfach besser herüber, als im Status eines Arbeitslosen über einen lukrativen Vertrag zu verhandeln.

Den Code für den Safe wollte Vater ihm selbstverständlich nicht freiwillig verraten, erzählte Steve grinsend. Der selbsternannte Clanführer habe versehentlich nicht aufgepasst, als er diesen in Stephens Gegenwart vor einigen Wochen eingegeben habe; vermutlich sei er durch das gleichzeitig stattfindende Streitgespräch abgelenkt gewesen.

Im Übrigen stecke in ihm, Stephen, erheblich mehr, als Vater und sie, Kirstie, jemals wahrgenommen hätten, verkündete er stolz. Solche Dinge wie Verantwortungsbewusstsein und Verhandlungsgeschick eben – Vater habe einfach nur zu wenige Möglichkeiten seiner Entfaltung zugelassen, hauptsächlich um seine eigene allwissende Machtposition nicht zu gefährden. Schon gar nicht durch den eigenen Sohn.

Schließlich hatte Kirstie verständnisvoll genickt und sämtliche Erklärungen mehr oder weniger bereitwillig akzeptiert. »Na gut! Aber ein Hühnchen habe ich mit dir dennoch zu rupfen«, mahnte Kirstie und klappte mit Schwung ihre leere Pizzaschachtel zu.

»Du weißt, dass ich meinen derzeitigen Job sehr schätze, ich bin jetzt schon seit vielen Jahren bei dieser Firma beschäftigt. Wie kannst du einfach über meinen Kopf hinweg behaupten, ich wolle wieder bei der LAMANTEC anfangen?« In dieser Frage schwang ein deutlicher Vorwurf an Stephens Adresse mit.

»Ach Mama, es tut mir leid, wenn ich mir da etwas angemaßt haben sollte. Aber schau mal, du hast diese Firma doch von Grund auf mit aufgebaut. Gegangen bist du damals nur, weil Vater dich im Vorzimmer dauernd schikaniert hat, so wie er es mit allen Bediensteten tat. Und das war richtig so, er hat dadurch lernen müssen, dass er bei dir damit an Grenzen stößt. Auf diese Weise hast du dir wenigstens ein bisschen Respekt gesichert. Aber jetzt liegen die Dinge doch ganz anders. Vater ist nicht mehr da und wir müssen sehen, dass die Firma reibungslos weiter läuft. Du selbst hast mir vor einigen Tagen deine Ängste geschildert, wegen der unsicheren finanziellen Zukunft und unserer mangelhaften Möglichkeit der Einflussnahme auf das Unternehmen. Und jetzt? Wir sind beide drin, direkt am Puls des Geschehens. Man kann uns nicht mehr so leicht übergehen; außerdem haben wir für einen würdigen Abgang dieser Hugler gesorgt, findest du nicht?« Jetzt lächelte Kirstie, zwirbelte versonnen eine dicke Haarsträhne um ihren linken Zeigefinger. »Na ja, du hast natürlich Recht. Gleich morgen werde ich in den sauren Apfel beißen und meinem Chef die Kündigung schonend beibringen müssen. Ich hoffe, er wird meine Gründe verstehen können – Dieter hat ohnehin schon immer befürchtet, dass ich eines Tages reumütig in die LAMANTEC zurückkehren müsste. Tja – ich habe ihn jedes Mal, wenn die Sprache hierauf kam herzhaft ausgelacht und gemeint, eher gefriere wohl die Hölle zu … wie es jetzt aussieht, erlebt der Teufel demnächst also tatsächlich einen unvorhergesehenen Kälteeinbruch«, witzelte Kirstie süß-sauer.

Stephen riss voller Vorfreude die Plastikverpackung seiner Tiramisu-Portion auf und genoss sichtlich den leicht alkoholischen Duft, der ihm sogleich aus dem Behältnis entgegenschlug.

»Hmmm … ich denke, das mit dieser Nachspeise war eine Spitzenidee von dir«, murmelte er anerkennend in Richtung seiner Mutter, schon um endlich das Thema wechseln zu können.

Doch Kirsties steile Falte zwischen den schön geschwungenen Augenbrauen, welche stets unangenehme Denkprozesse signalisierte, war noch immer nicht vollständig verschwunden. »Stephen? Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Baum, dessen Zeichnung auf deinem Schreibtisch liegt?«

Herrjeh … Stephens Appetit auf Tiramisu sank augenblicklich gen Nullpunkt.

* * *

Eine Kundin noch! Nur eine, versuchte Belinda McLaman sich selbst zu beruhigen. Sie verachtete ihre Chefin dafür, dass sie ihr regelmäßig noch in letzter Minute Kosmetikbehandlungen am späten Nachmittag hineindrückte und selbst indessen gut gelaunt schon mal nach Hause ging. Dabei hätte sie die Anruferin auch locker auf den nächsten Tag vertrösten können, fand Belinda. Denn diese war noch nicht einmal in der Kundenkartei zu finden, somit konnte es sich lediglich um Laufkundschaft handeln. Einzig damit diese Eintagsfliege von Kundin mit frisch gefärbten Wimpern herumlaufen konnte, durfte Belinda nachher wieder im gefühlten Tiefflug zum Kindergarten fahren und sich auch noch für ihr verspätetes Auftauchen entschuldigen, während Dennis sie vorwurfsvoll mit seinen großen, braunen Kinderaugen mustern würde. Vermutlich heftete auch längst ein schöner, teurer Strafzettel an der Windschutzscheibe ihres Peugeot, denn der Parkschein war schon vor einer Stunde abgelaufen. Wenn sie nur eine Alternative zu diesem Ausbeuter-Job gesehen hätte …

Gerade als Belinda sich trotzig einen Verzweiflungskaffee mit der verbotenen weil teuren Kaffeemischung der Chefin aufbrühen wollte, welchen diese ab und zu von ihren dekadenten ItalienWochenenden mitbrachte, kündigte die Türklingel des Ladens auch schon die Ankunft der eingeschobenen Kundin an. Auch noch zu früh! Ein schneller Blick aus der Küche verriet der genervten Kosmetikerin, dass es sich wenigstens um eine relativ junge Kundin handelte. Die redeten normalerweise nicht so viel, machten keine zusätzlichen Umstände.

»Hallo, guten Abend! Bitte nehmen Sie schon einmal dort drüben Platz, ich bin gleich bei Ihnen!« Auch wenn Belinda demotiviert war, hinderte ihre Professionalität sie stets daran, sich ihren Gemütszustand in irgendeiner Form anmerken zu lassen.

An Tagen wie diesen fiel das gar nicht leicht. »Sagen Sie mal, weshalb wollen Sie denn färben lassen? Das wurde doch offenbar erst gemacht?« Belindas fachkundige Musterung hatte ergeben, dass die letzte derartige Behandlung allerhöchstens zwei Wochen zurückliegen konnte; die Wimpern der Kundin bildeten samtig glänzend tiefschwarze Bögen über ihren graublauen Augen. Was also sollte das Ganze?

»Ach, wenn Sie meinen, dann können wir gerne auch etwas anderes machen«, verkündete die junge Kundin leichthin. »Die Augenbrauen zupfen vielleicht, oder eine Gesichtsmassage?« Die Kundin zuckte mit den Schultern und taxierte Belinda interessiert, lächelte dabei verbindlich. Was wollte die? War sie vielleicht lesbisch und wollte auf diese Weise mit ihr in Kontakt kommen? Jedenfalls ärgerte sich Belinda zunehmend über die unentschlossene Nervensäge, welche ihr diesen späten Zusatztermin ohne jeden ersichtlichen Grund aufgebrummt hatte.

»Wenn es Ihnen wirklich egal ist, welche Form der Behandlung ich Ihnen angedeihen lasse … wie wäre es dann mit einem Make-Up in den neuen Farben?« Belinda wählte mit Bedacht etwas aus, das recht schnell gehen würde und die Kundin war es seltsamerweise ohne Diskussion zufrieden, fragte nicht einmal nach dem Preis. Kaum auf der Liege platziert, ging es los; Belinda bekam echte Schwierigkeiten, diese Frau zu schminken, denn sie hielt nicht für einen Moment ihren Mund, blieb nur selten still liegen. Die Kosmetikerin war durchaus einiges an Smalltalk und persönlichen Peinlichkeiten gewohnt, aber so etwas hatte sie noch nie erlebt.

Die Konversation glich einer einseitigen Befragung, fast schon einem Verhör. Belinda grübelte angestrengt. Weshalb, verflixt nochmal, wollte diese fremde Kundin alles über ihr reichlich verkorkstes Leben wissen? Ganz besonders brennend schien sie die Frage zu interessieren, ob Belinda einen Freund hatte, oder vielleicht nette männliche Bekannte; wie, mit wem und wo sie ihre Abende verbrachte. Ob ihr dichtes Blondhaar echt oder gefärbt sei. In welchem Stadtteil sie denn wohne?

Nach einer gefühlten Ewigkeit zog die mysteriöse Kundin mit einem triumphierenden Lächeln ab, gab sogar ein großzügiges Trinkgeld. Belinda blieb keine Zeit, allzu lange über die merkwürdige Situation nachzudenken; sie hatte schließlich ein dringendes Date mit einem sehr jungen Mann, der gerne aus dem Kindergarten befreit werden wollte.

* * *

Das mulmige Gefühl, einen schweren Fehler begangen zu haben, wollte einfach nicht aus Stephens Gedankenwelt weichen. Oberflächlich betrachtet war es ihm gelungen, einen sicheren und obendrein gut bezahlten Job an Land zu ziehen, hierbei auch noch die Existenz seiner Mutter zu sichern; andererseits aber verursachte ihm die berufliche Zwangsjacke, die er sich

Himmel (jetzt reicht's aber)

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