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Jerusalem!

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25 Jahre später – Ende September 1187

„Margret, hier herüber!“, rief Ida, die Kölner Weberin, ein wenig schriller als notwendig. „Hier kommen wir leichter durch.“

Die beiden Frauen schleppten bis zum Rand gefüllte hölzerne Wassereimer über Stiegen und Leitern nach oben auf die Mauern in der nordöstlichen Ecke Jerusalems, wo sie von den wenigen erschöpften Kämpfern schon sehnsüchtig erwartet wurden. Die Hauptaufgabe der in der Stadt verbliebenen Frauen bei der nunmehr schon fast zwei Wochen andauernden Belagerung war es, die kämpfenden Männer mit Nachschub zu versorgen. Trinkwasser war dabei das Wichtigste, manchmal trugen sie jedoch auch Steine für die Schleudergeschosse auf die Mauern, sammelten verschossene Pfeile ein oder brachten Verbandsmaterial.

Da sie sich damit in Reichweite der feindlichen Schützen bewegten, hatten sie sich so gut es eben ging gewappnet. Margret etwa hatte sich zum Schutz vor sarazenischen Pfeilen einen halbwegs passenden Kochtopf, den sie mit ihrem zweiten Leinenhemd gepolstert hatte, wie einen Helm auf den Kopf gesetzt und behelfsmäßig mit einer breiten Lederschnur festgebunden. Außerdem hatte ihr eine alte Frau ein halblanges Kettenhemd geschenkt, das ihrem einzigen Sohn gehört hatte, der im Kampf gegen die Sarazenen gefallen war – ein unbezahlbarer Schatz im Jerusalem dieser Tage.

Nach langer Überredung hatte sie auch Ida, die sich davor fürchtete, die Kleidung eines Toten zu tragen, überzeugen können, den wattierten Gambeson eines Gefallenen überzustreifen, der wenigstens den einfachsten Schutz bot. Die meisten Frauen trugen allerdings nur ihre verschwitzte, zerschlissene Alltagskleidung und versuchten, ihre Körper wenigstens notdürftig durch eine lederne Weste, einen Pilgerhut oder einen dicken Filzumhang, den die Myriaden von Pfeilen nicht so einfach durchdringen konnten, zu schützen.

Es war der Tag nach dem Fest des Heiligen Michael, und selbst die fanatischsten Verteidiger mussten zugeben, dass sich die Stadt nicht mehr lange würde halten lassen.

Anders als viele der Stadtbewohner war Margret vergleichbare Ausnahmesituationen durchaus gewohnt, auch wenn sie natürlich noch nie einem ganzen sarazenischen Heer gegenübergestanden hatte. Aber auf ihren bisherigen Pilgerreisen hatte sie einiges erlebt, zumal als allein reisende Frau. Sie kannte den groben Tonfall der Schiffer und Soldaten und wusste, dass man in manchen Situationen einfach nur zupacken statt reden und jammern musste. Eine patente Frau war sie von Haus aus, und manches Mal ertappte sie sich sogar dabei, die geschäftigen Verteidigungsversuche geradezu spannend und anregend zu finden – trotz der über allem schwebenden Todesangst, vor der auch sie nicht gefeit war. Der pechschwarze Drache mit Namen Furcht überfiel sie mit Vorliebe des Nachts oder in dunklen Ecken wie ein höllischer Dämon. Tagsüber war sie viel zu beschäftigt, um Angst zu empfinden, und wenn einer der Verteidiger, mutlos geworden, anfing zu klagen und zu verzagen, war sie schnell mit aufmunternden, aber auch ermahnenden Worten bei der Hand.

Gut 30 Jahre war sie jetzt alt, schlank und temperamentvoll, mit lebhaften grünen Augen und glänzenden rotbraunen Haaren – und in den Augen ihrer ehemaligen Nachbarn im kleinen Örtchen Beverley eine verschrobene alte Jungfer. Aber so fühlte sie sich noch lange nicht, gab es doch hinter jeder Ecke etwas Neues zu entdecken und zu erforschen. Sollten die Krämerseelen ruhig in ihrem nebligen Nest hocken bleiben, sie wollte sich die Welt ansehen, und hier im Orient hatte niemand etwas dagegen, wenn sie neugierig auf alles war.

Fast drei Wochen war es jetzt her, dass Margret in Jerusalem angekommen war. Hier im Zentrum der Christenheit, das allen Christen als der Nabel der Welt und wichtigstes Heiligtum galt, konzentrierten sich nicht nur diejenigen Stätten, die für die Passion Christi von Bedeutung waren, sondern auch solche aus alttestamentlicher Zeit. Nicht umsonst wurde Jerusalem auch die „Stadt Davids“ genannt und war seit jeher auch heiligstes Zentrum der Juden, die Jahr um Jahr an den Ort des nun zerstörten jüdischen Tempels pilgerten. War Jerusalem für diese beiden Religionen die bedeutendste Stadt, so war es für alle Muslime doch immerhin die drittheiligste nach Mekka und Medina: Von Jerusalem aus hatte dem Koran zufolge der Prophet Mohammed seine Reise in den Himmel angetreten, und hier befanden sich mit dem Felsendom und der Aksa-Moschee zwei überaus wichtige Heiligtümer.

Diese bedeutende Stadt war vor nunmehr 88 Jahren von zahllosen christlichen Kreuzrittern und Abenteurern, die dem Aufruf Papst Urbans II. gefolgt waren, für die Christen mit brutaler Waffengewalt von den Muslimen zurückerobert worden. In diesen knapp 90 Jahren hatten nicht nur zahllose fromme Kreuzfahrer und Pilger an den Orten der Verehrung Jesu gebetet, sondern es hatte sich zudem ein Königshaus in dem neuen Lateinischen Königreich etabliert, das zunächst über äußerst fähige Herrscher und vorausschauende Politiker verfügt hatte. Doch mit den letzten beiden Königen vor dem nun regierenden war der Glanz etwas verblasst und die Situation der Lateiner schwieriger geworden – der vierte König mit dem Namen Balduin war noch als junger Mann an Lepra verstorben und sein gleichnamiger Neffe war ihm schon ein Jahr später, noch als Knabe, ins Jenseits gefolgt.

Beide Herrscher hatten unter dem Einfluss mächtiger politischer Fraktionen gestanden, von denen die eine, bestehend aus Anhängern des lateinischen Adels, traditionelle Werte verfolgte, während die andere, zu der Neuankömmlinge und Glücksritter aus dem Westen gehörten, vor allem ihr persönliches Vorankommen im Auge gehabt hatte. Die Schwester des unglücklichen vierten Balduin, Sibylla, war schließlich gegen den Widerstand einiger Barone zur Königin gekrönt worden und hatte ihrerseits ihren zweiten Gatten, den Emporkömmling Guy von Lusignan, zu ihrem König erwählt, denn als Frau allein zu regieren, wäre undenkbar gewesen, auch wenn die Königin eine sehr fähige Herrscherin war.

Diese angespannte Situation wurde nun noch durch das Auftauchen des großen Sultans Saladin vor den Mauern der Stadt verstärkt. Nach einer langen Phase des Waffenstillstandes hatte der Sultan den Kampf gegen die Christen wieder aufgenommen, nachdem der französische Glücksritter Reynald von Châtillon, der Herr von Kerak, eine muslimische Karawane entführt hatte, mit der Saladins Schwester gereist war. Reynald hatte schon mehrfach die Vereinbarungen gebrochen, und der Sultan hatte erwartet, dass König Guy ihn bestrafen würde. Als dieser sich aus Angst vor dem Ritter geweigert hatte, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, war Saladin selbst zur Tat geschritten. Zehn Wochen waren vergangen, seit er das Heer der Kreuzfahrer bei den Hörnern von Hattin in Galiläa in eine Falle gelockt, vom rettenden Trinkwasser abgeschnitten und schließlich vernichtend geschlagen hatte.

Bei dieser Schlacht war selbst das Wahre Kreuz verloren gegangen, jene heilkräftige Reliquie, die der größte Schatz der Christenheit war, seit Kaiser Konstantins Mutter Helena sie vor über 850 Jahren auf wundersame Weise wiedergefunden hatte. Und so konnte dieses heilige Kreuz, das dem königlichen Heer schon viele Male zuvor beigestanden und zum Sieg verholfen hatte, diesmal nichts ausrichten – so wie es nichts gegen die Unfähigkeit König Guys hatte ausrichten können, der den falschen Beratern unter Châtillon und dem Templergroßmeister Gerhard von Ridefort Glauben geschenkt, nicht aber dem erfahrenen Grafen von Tripolis, und so mit der Schlacht von Hattin das Ende des Reiches besiegelt hatte, ohne es zu bemerken.

Die Situation war verzweifelt – fast alle Kämpfer hatte das Königreich Jerusalem in der Schlacht verloren, kaum ein waffenfähiger Mann war noch in der Stadt. Die meisten waren damals, vor brennender Hitze und unerträglichem Durst zu keinem Kampf mehr in der Lage, gnadenlos niedergemacht worden. Nicht nur, dass fast alle Ritter dort am See von Tiberias gemeinsam mit vielen Templern und Johannitern den Tod gefunden hatten, nein, auch einfache Soldaten oder Knappen waren nur wenige zurückgekehrt.

Diejenigen Adeligen, die nicht in der Schlacht gefallen waren, befanden sich nun in muslimischer Gefangenschaft – mit Ausnahme Reynalds, der von Saladin persönlich getötet worden war.

Einer der wenigen Überlebenden von Hattin war Graf Balian von Ibelin, ein Landadeliger italienischer Abstammung, der nur deshalb während der Belagerung nach Jerusalem zurückgekommen war, um – mit ausdrücklicher Erlaubnis Saladins, der ihn seinen persönlichen Freund nannte – seine Frau Maria Komnena und die vier kleinen Kinder aus der Stadt herauszuholen. Damit ihm dies gestattet wurde, hatte er schwören müssen, nie wieder die Waffen gegen die Muslime zu erheben. Diesen Eid zu leisten, war ihm nicht schwergefallen, da er in den Sarazenen nie die von der Kirche propagierten Todfeinde gesehen hatte, sondern vielmehr überaus kultivierte Menschen, deren Lebensstil er während seines Lebens in Outremer durchaus zu schätzen gelernt hatte.

Doch einmal vor Ort war ihm angesichts der verzweifelten Einwohner und zahllosen Flüchtlinge sofort klar gewesen, dass ein solch ungeordneter Haufen kaum in der Lage sein würde, die Stadt wirksam zu verteidigen. So hatte er schließlich der Bitte, die Verteidigung der Stadt zu organisieren, nachgegeben. Zuvor hatte die Königin allein, mit der Hilfe des Patriarchen Heraclius, die Verteidigungsmaßnahmen geleitet. Balian aber hatte sich vom Patriarchen von seinem dem Sultan gegebenen Eid entbinden lassen, diesem in einem Brief seinen Wortbruch erklärt und auf sein Verständnis gehofft.

Anschließend hatte Balian von Ibelin alles mobilisiert, was laufen und eine Waffe überhaupt nur halten konnte, und Männer zu Rittern geschlagen, die sonst niemals auch nur in die Nähe dieser hohen Ehre gekommen wären. So waren fortan viele ganz alte und sehr junge Männer auf den Mauern zu sehen, manche finster entschlossen, andere ratlos und voller Angst vor dem Kommenden.

Auch die Frauen und Kinder machten sich – wie Margret und Ida – nach ihren Möglichkeiten nützlich: Sie schafften Nachschub aller Art heran und versorgten die Verteidiger unablässig mit dem, was in der brütenden Hitze am wichtigsten zum Überleben war – Wasser, Wasser, Wasser. Lange Reihen solcher Wasserträgerinnen liefen zwischen den Zisternen und den Verteidigungsanlagen hin und her und waren dennoch nie in der Lage, alle Durstigen ausreichend zu versorgen.

***

Schließlich mussten sie rasten, und während Ida ihre eigenen Wege ging und sich wohl einmal mehr auf die Suche nach einem menschlichen Wesen des anderen Geschlechts machte, ließ Margret sich erschöpft ein wenig abseits von der Mauer nieder.

Sie war gerade dabei ihren Behelfshelm abzubinden, als sie nur wenig entfernt eine Gestalt erblickte, die inmitten einiger Männer Nachschub verteilte und die ihr fast überirdisch schön vorkam. Fast glaubte Margret in ihrer Erschöpfung, dass sich nun auch himmlische Heerscharen an der Verteidigung der Heiligen Stadt beteiligten, doch dann schüttelte sie den Kopf und kniff die Augen zusammen. Der vermeintliche Engel stellte sich als ein halbwüchsiges Mädchen heraus, das am Fuße einer der zur Mauer hinaufführenden Treppen stand und Vorräte an diejenigen weiterreichte, die die Stufen ohne Unterlass hinauf- und hinunterliefen. Sie mochte vielleicht zwölf Jahre alt sein, war jedoch hochgewachsen für ihr Alter und von nur selten gesehener Anmut. Ihr Teint hatte einen schwach bronzefarbenen Schimmer, ihr Haar war fast schwarz und ihre Augen glichen schwarzglänzenden Glasperlen. Sie trug ein Gewand in orientalischem Stil, kupferfarben mit grünblauen, goldbestickten Borten, einen dünnen Gazeschleier und feine Lederstiefelchen an den Füßen.

„Marjam!“, rief in diesem Moment ein älterer, beleibter Mann mit schulterlangem Haar und graumeliertem Bart, der im Laufschritt eine der Gassen aus der Stadt entlangkam. „Marjam! Schau her, ich habe noch einige saubere Leinenbinden auftreiben können, auch wenn die ganze Stadt inzwischen ein einziger mit Bandagen versehener, verwundeter Körper zu sein scheint!“

„Das ist wunderbar, Großvater“, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln und nahm dem Alten das Päckchen mit den Binden aus der Hand. Der lehnte sich einen Augenblick schnaufend an die Mauer und schloss die Augen. Noch ehe er sie wieder geöffnet hatte, hatte seine Enkelin das kostbare Gut bereits auf den Weg zu den Kämpfern auf der Mauer geschickt.

Obwohl Margret wusste, dass es unhöflich war, jemanden über längere Zeit hinweg anzustarren, konnte sie ihre Augen nicht von dem Mädchen abwenden. So war es nur eine Frage der Zeit, bis Marjam sich dessen gewahr wurde und nun ihrerseits Margret ansah. Ihr Blick war von solch einer entwaffnenden Offenheit und Freundlichkeit, wie es Margret selten erlebt hatte. Sie verließ ihren Platz und kam zu ihr herüber.

„Seid gegrüßt, edle Dame! Ich bin Marjam des Moulins – meiner Familie gehört ein großes Landgut in der Nähe von Ibelin und wir sind Vasallen des Grafen Balian. Wir haben eine große Lieferung Früchte in die Stadt begleitet und hier verkauft.“

„Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Marjam des Moulins!“, erwiderte Margret verlegen. „Und ich bin keineswegs eine Edelfrau, sondern eine einfache Pilgerin, die aus dem Norden Britanniens endlich wieder den Weg in die Heilige Stadt gefunden hat – auch wenn ich mir genau genommen einen besseren Zeitpunkt dafür hätte aussuchen können. Mein Name ist Margret von Beverley.“

„Warum ‚endlich wieder‘?“, fragte Marjam interessiert. „Das klingt, als wäret Ihr schon einmal in Jerusalem gewesen.“

„Das war ich auch – ich bin hier im Johanniterspital geboren. Allerdings haben meine Eltern bald darauf ihre Pilgerfahrt vollendet und wir kehrten zusammen nach Beverley zurück. Es hat endlose Jahre gedauert, bis ich mich endlich noch einmal auf den Weg machen konnte.“

„Dann seid Ihr ja beinahe auch eine poulaine!“, rief Marjam begeistert aus. „Sieh nur, Großvater, wen ich getroffen habe! Dies ist die Dame Margret aus dem Lande Britannien, die aber hier im Spital geboren wurde und somit eigentlich eine Einheimische ist wie wir.“

Der alte Mann kam zu den beiden Frauen herüber und begrüßte Margret galant. „Ich bin Abo des Moulins. Und was meine Enkeltochter mit poulaine gemeint hat – ich bin mir nicht sicher, ob Ihr das wisst –, so nennen wir uns selbst, die wir zwar fränkische Vorfahren haben, aber hier im Heiligen Land geboren wurden. Mein Geschlecht stammt aus der Auvergne in Frankreich, doch bereits mein Großvater hat sich in der Gefolgschaft des ersten Königs Balduin hier niedergelassen.“

Bevor sie darauf antworten konnte, schlug nur wenig entfernt eine Granate mit naft, dem gefürchteten „Griechischen Feuer“, ein und sie mussten sich von der Mauer weg in Sicherheit bringen, bevor alles in Flammen aufging.

Sie zogen sich aus der Reichweite der sarazenischen Geschosse bis an die Mauern der kleinen St. Annen-Kirche, der Klosterkirche der Benediktinerinnen, zurück. Im Umkreis dieser schlichten dreischiffigen Basilika, die der Legende nach an der Stelle des Elternhauses der Gottesmutter Maria errichtet worden war, kauerten bereits so viele erschöpfte Menschen, dass Margret, Marjam und Abo nur mit Mühe einen Platz fanden.

Einige der Geflohenen sahen Marjam misstrauisch an, die sie allzu sehr an eine orientalische Schönheit aus den Geschichten von Tausend und einer Nacht erinnerte.

„Ihr braucht überhaupt nicht so zu glotzen und zu tratschen!“, fuhr Abo ein paar Frauen an, die besonders penetrant tuschelten. „Ich bin Abo des Moulins, ein Vasall Balians von Ibelin, und das ist meine Enkelin Marjam. Und ja, ihre wunderbare Mutter, die Gattin meines unglücklichen Sohnes, der in Hattin geblieben ist, ist eine Sarazenin. Wenn euch das nicht passt, könnt ihr euch gerne anderswo verstecken.“

Während die Frauen sich empört von ihnen abwandten, blickte ein etwa gleichaltriger Junge Marjam mit riesigen Augen bewundernd an.

„Ihr kennt den Grafen Balian?“, fragte er atemlos.

„Ja, sicher. Er ist ein edler Herr und unser Freund!“, antwortete Marjam unbekümmert.

„Ich wäre so gerne einer seiner Ritter geworden!“, seufzte der Junge, dem eine wirre Strähne schmutzigbraunen Haares in die Stirn hing, sehnsüchtig. „Aber alle sagen, ich sei zu jung dazu ...“

„Und ich hätte dich nicht gehen lassen!“, fiel ihm ein grobschlächtig wirkender Mann, der neben ihm hockte, barsch ins Wort. Seine blitzenden Augen ließen jedoch erkennen, dass er im Kern ein liebenswerter Mensch war. Er wandte sich den Neuankömmlingen zu und stellte sich vor. „Ich bin Meister Adam, oberster Steinmetz der Bauhütte an der Grabeskirche – und ich hoffe, dass die Sarazenen von meiner Arbeit der letzten Jahre noch etwas übrig lassen, wenn das hier alles vorbei ist.“

„Wir haben gerade im Auftrag der Königin Sibylla die Grabmäler des großen und des kleinen Königs Balduin fertiggestellt – Ihr müsst sie euch unbedingt ansehen, wenn ihr dazu Gelegenheit habt!“, platzte der Junge heraus.

„Ach ja, und dieser Naseweis ist Roque, mein Lehrbub. Ritter will er sein – dabei soll er erst mal ein anständiger Steinmetz werden!“, brummte Adam.

„Aber Ritter werden hier im Moment dringender gebraucht als Steinmetzen!“, konterte der Junge und duckte sich gleichzeitig, als Meister Adam ihm schmunzelnd einen Schlag androhte.

„Ich freue mich, dich kennenzulernen, Roque!“, lächelte Marjam. „Und Euch natürlich auch, Meister Adam.“

Dieser nickte stumm in ihre Richtung, während Roque nur verlegen grinste.

Bald darauf waren die Brände entlang der Mauer gelöscht, und sie kehrten gemeinsam an die Nordmauer Jerusalems zurück, um sich wieder ihren Verteidigungsaufgaben zuzuwenden.

„Margret, sieh nur!“, rief Marjam da plötzlich. „Dort drüben – die Königin!“

Alle unterbrachen, was immer sie gerade taten, und blickten in die angegebene Richtung. An der Mauer oberhalb der Kirche der Heiligen Maria Magdalena war eine erstaunliche Ansammlung von Rittern zu erblicken, in deren Mitte die schmale, in Reitkleidung und einen wallenden blauen Mantel gehüllte Gestalt Königin Sibyllas fast unterging. Sie inspizierte in Vertretung ihres Gatten König Guy, der sich seit Hattin in sarazenischer Gefangenschaft befand, den Zustand der Verteidigungsanlagen.

„Und da ist auch Graf Balian!“, ergänzte Marjam mit einem Blick auf Roque und deutete auf einen gut aussehenden, hochgewachsenen Mann mittleren Alters, der im Gegensatz zu den weiß gekleideten königlichen Rittern einen rot-goldenen Wappenrock über seinem Kettenhemd trug. Er hatte ein dem Tatzenkreuz der Templer ähnliches geschweiftes rotes Kreuz auf goldenem Grund als Wappenzeichen.

„Na los, Roque, wenn du schnell da hinüberrennst, kannst du ihn fragen, ob er dich doch noch zum Ritter schlägt!“, jubelte sie.

Roque sah sie nur verunsichert an und erwiderte nichts, während Meister Adam ihn mit einem freundschaftlichen Klaps auf den Kopf an seine eigentliche Aufgabe, das Schäften von frisch gegossenen Pfeilspitzen, erinnerte.

Zu Beginn der Belagerung hatten Saladins Truppen den westlichen Teil der Stadt berannt; dort hatte der König, nachdem er den Ordensrittern das Tempelareal zur Verfügung gestellt hatte, den Königspalast in der zuvor von den Templern genutzten Zitadelle einrichten lassen, unmittelbar an der Stadtmauer und dem Davidstor gelegen. In dem östlich daran anschließenden Stadtviertel befand sich der christliche Kern der Stadt, in dem neben den großen Pilgerzielen wie der Grabeskirche, zahllosen weiteren Kirchen und den Pilgerhospizen auch der Palast des lateinischen Patriarchen, die Läden der Geldwechsler und die verschiedensten Märkte zu finden waren.

Da die Muslime dort, im Herzen der Stadt, mit einer größeren Gegenwehr rechnen mussten als in der rein zivil besiedelten und weniger gesicherten Nordecke Jerusalems, versuchten sie nun, dort eine Bresche in die Mauer des syrischen Viertels zu schlagen und damit zugleich einen direkten Zugang zu dem von ihnen verehrten Tempelbereich zu erlangen. Dort hatten seit Jahren die Tempelritter ihr Hauptquartier, die ihren Kloster- und Werkstattbezirk immer weiter vergrößert hatten und deren unterirdisch für Tausende von Pferden angelegten Stallungen weithin berühmt waren. Als die Belagerung begonnen hatte, waren sie gerade mit dem Neubau einer eigenen Kirche beschäftigt gewesen, die wohl nun nicht mehr fertiggestellt werden würde. Auch der Friedhof der Tempelritter lag auf der Tempelplattform, und dies war es, was die Muslime am meisten erboste – ihre ärgsten Glaubensfeinde so nahe an ihren heiligsten Moscheen zur Ruhe gebettet zu wissen.

Bereits seit fünf Tagen feuerten die Sarazenen ohne Unterlass aus dieser zweiten Stellung, allerdings hatten die hölzernen Belagerungsmaschinen – insgesamt etwa vierzig an der Zahl –, die entweder Steinbrocken oder Brandbomben verschossen und die Mauern an verschiedenen Stellen beschädigt hatten, noch keine wirkliche Bresche schlagen können. Zudem versuchten sie, die Mauern an einigen Stellen mittels heimlich gegrabener Tunnel zu unterminieren und so zum Einsturz zu bringen. Schon am Tag zuvor hatten sich gepanzerte und gut geschützte Spezialtruppen unter dem Feuerschutz von Bogen- und Armbrustschützen bis an die Mauern vorgearbeitet und deren Fundamente abzutragen begonnen. Jetzt, am späten Nachmittag, stand die Sonne so, dass sie direkt in die Augen der Verteidiger schien und den Muslimen einen Vorteil verschaffte, den diese versuchten, durch das Entsenden von Sturmtruppen zu nutzen. Auch als langsam die Dämmerung nahte und die Sicht an den Mauern Jerusalems immer schlechter wurde, schossen die Sarazenen unbeirrt weiter.

Als der Pfeilregen endlich nachließ, vermuteten alle, dass sich die Muslime – wie die Lateiner auch – erst einmal auf die Suche nach verschossenen oder neuen Pfeilen machen mussten, bevor sie sie wieder in dicken Trauben über die Mauer schicken konnten. Doch noch während sie die schützenden Mauern verließen, hagelte es plötzlich kleinere und größere Steinbrocken und Margret schrie auf, als sie von einem scharfkantigen Gesteinssplitter am Arm unterhalb des Kettenhemdes erwischt wurde, der eine stark blutende, tiefe Wunde riss. Vor Schreck und Schmerz ging die Getroffene in die Knie und wurde sofort von Abo und Meister Adam untersucht.

„Da können wir hier nicht viel ausrichten“, sagte Abo mit düsterer Miene. „Sie muss ins Spital. Marjam, Roque, ihr begleitet sie hin und bleibt dort – das ist jetzt in der Nacht sowieso sicherer.“

Im Gegensatz zu Roque, der die Aussicht auf eine halbwegs ruhige Ecke im Spital durchaus zu schätzen schien, protestierte Marjam heftig.

„Ich lasse dich hier nicht allein, Großvater, du brauchst mich!“

„Deine neue Freundin Margret braucht dich aber mehr – ihr musst du helfen. Ich komme schon zurecht mit den paar Sarazenen!“

Meister Adam schärfte Roque ebenfalls ein, Margret schleunigst ins Spital zu bringen – und, bei allen Heiligen und Teufeln, dort auch zu bleiben.

***

Spital in Jerusalem, Nacht vom 30.9./1.10.

Die beiden Halbwüchsigen halfen Margret auf und führten sie vorsichtig die Treppen hinunter zur Straße. Der Weg zum Spital in der Nähe der Grabeskirche war zu weit, um dorthin zu gelangen, hätten sie zwei Drittel der überfüllten Stadt durchqueren müssen. So steuerten sie ein näher gelegenes Behelfshospital an, das im Innenhof und den Wandelgängen eines weitläufigen Palacium im ehemaligen jüdischen Viertel untergebracht war. Immer wieder wurden sie angerempelt oder weggestoßen, mussten eilig zu Pferde dahinpreschenden Rittern ausweichen – oder aber frei laufenden Schweinen, die es vorzogen, auch heute Abend nicht zum Opfer eines der städtischen Metzger zu werden. Je näher sie dem Hospital kamen, desto mehr Verletzte und Kranke strömten aus allen Richtungen zu dem Haus. Die meisten von ihnen waren bei den Kämpfen verletzt worden, allerdings begannen sich aufgrund der katastrophalen hygienischen Bedingungen auch bereits erste Seuchen auszubreiten.

Als es den dreien endlich gelungen war, in den Hof vorzudringen, ließ Marjam sich mit der erschöpften Margret in einer Ecke nieder, während Roque sich auf die Suche nach einem Medicus machte. Er fand erstaunlich schnell einen, der Zeit hatte und mit ihm kam. Dieser Arzt, ein mürrischer älterer Armenier, reinigte den Riss an Margrets Arm mit Essigwasser und verband ihn sorgfältig, bevor er ohne große Worte zum nächsten Notfall davoneilte. Margret lehnte den Kopf an die Mauer und schloss die Augen – ihr Arm schmerzte nach der Behandlung beinahe mehr als vorher, das Kettenhemd war schwerer als je zuvor und sie begann, sich schwindlig zu fühlen.

Marjam blieb bei ihr, als Roque abermals aufbrach, um sich in dem Haus, das sich anfühlte wie ein riesiger Ameisenhaufen, auf die Suche nach etwas Essbaren zu begeben. Überall hockten oder lagen Verletzte, manche umsorgt von Freunden oder Angehörigen, viele aber allein und verzweifelt, und einigen war von Weitem anzusehen, dass sie nie wieder aufstehen würden. Obwohl das offene Gebäude luftig und weiträumig war, roch es nach verschwitztem und verwundetem Mensch, nach Blut, Tod und Exkrementen. Gebrauchte Verbände lagen herum, die nicht nur einmal aufgesammelt, selten ausgewaschen und wiederverwendet wurden.

Roque schauderte, obwohl es noch immer unerträglich warm war, und lief weiter, ohne allzu genau in die Ecken und Ritzen zu spähen – sicher gab es hier auch Ratten und anderes Ungeziefer. Eine alte Frau, die sich hinkend durch die Menschenmenge drängte, verteilte aus einem Korb heraus frische, noch warme Fladenbrote, und er konnte zwei davon ergattern. Schließlich fand er noch einen vergessenen leeren Wasserschlauch an einer Zisterne, füllte ihn und kehrte mit seiner Ausbeute zu seinen beiden Gefährtinnen in der Mauerecke nahe dem Tor zurück.

Alle drei tranken durstig, auch wenn sie schon besseres und frischeres Wasser getrunken hatten und Marjam sich insgeheim fragte, ob sie davon nicht erst recht krank werden würden. Anschließend teilten sie das Brot unter sich auf, von dem Margret allerdings kaum etwas aß – sie war nicht mehr völlig klar im Kopf, alles drehte sich und als sie einmal zu Marjam hinübersah, meinte sie, wie in einer Vision die Gottesmutter Maria zu sehen, die sich fürsorglich um ihr Kind kümmerte – dabei verbarg das Mädchen nur gerade den Brotrest in ihrer Tasche.

Da schlug plötzlich mit lautem Getöse nur wenig entfernt ein sarazenisches Schleudergeschoss ein und ließ die Wände des Hofhauses erzittern.

Margret öffnete mit Mühe die Augen und blickte Marjam an, die sich erhoben hatte und halblaut in Richtung des Tores, durch das nun roter Feuerschein zu sehen war, Gebete murmelte.

„Oh Gott im Himmel, Weltenherr, oh Allah, Du Erbarmer, Du Barmherziger, schütze meinen Großvater und alle anderen tapferen Männer und Frauen auf den Mauern. Lass die himmlischen Heerscharen zu Hilfe kommen und endlich Frieden bringen. Gib Einsicht und Verständnis dem Grafen Balian und dem Sultan Saladin ...“

„Du betest zu zwei Göttern? Geht das denn überhaupt?“, fragte Margret, nicht sicher, ob ihr schmerzender Schädel ihr einen Streich gespielt hatte.

Marjam schaute sie sehr ernst an. „Aber nein, Margret“, antwortete sie, „es ist doch ein- und derselbe Gott! Die Menschen nennen ihn nur anders, je nachdem ob sie sich als Christen oder Muslime bezeichnen. Wir alle wurden schließlich von der höchsten Macht im Himmel erschaffen, wie immer wir sie auch benennen wollen. Ich glaube, niemand kann das wirklich mit Sicherheit tun – und das ist auch richtig so, denn der Schöpfer ist mächtiger als alles auf der Welt, und der Mensch sollte nicht versuchen, ihn in irgendwelche Namen einzusperren.“

Margret wollte darauf etwas antworten, war aber zu müde, um einen sinnvollen Satz zu formulieren, und schloss wieder die Augen.

Kurz darauf fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte, lebhaft wie nur selten zuvor, von ihren ersten Eindrücken in der Heiligen Stadt, von ihrem Staunen und ihrer Begeisterung, endlich am Ziel ihrer lebenslangen Sehnsucht zu sein. Erst knapp zwanzig Tage war es her, seit sie mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Pilgern Jerusalem durch das Davidstor betreten hatte. Andächtig hatten sie zuvor auf dem Mons Gaudii gestanden, dem Berg der Freude, der den müden Reisenden einen ersten Blick auf die nur noch wenig entfernte Heilige Stadt erlaubt und ihnen so deutlich gemacht hatte, dass sie das Ziel ihrer Pilgerfahrt nun endlich erreicht hatten.

Margret hatte sich als Allererstes ihren Weg in die Grabeskirche gebahnt und dort am Grab des Herrn gebetet. Weitaus faszinierender als dieses spirituelle Ereignis war für sie jedoch die Stimmung, die in dem verwinkelten Gotteshaus geherrscht hatte, gewesen. Sie hatte laute Gesänge und Gebetslitaneien in den unterschiedlichsten Sprachen wahrgenommen – Griechisch, Lateinisch, Armenisch und hundert weitere, die es unmöglich war, genau zu bestimmen. Die unzähligen betenden oder flehenden Menschen, in lange Reihen gelenkt durch Mönche unterschiedlicher Orden und Nationalitäten, schoben sie sich in dichten Trauben durch die Kirche und ihre Seitenkapellen. Alles wurde von den Lichtern abertausender Kerzen erleuchtet, die die Räume in ihren flackernden Schein tauchten und von den gläsernen Tesserae der Wandmosaiken tausendfach reflektiert wurden. Selbst von der Decke hingen zahllose gläserne oder metallene Lampen, während gefährliche Stellen an Treppenabgängen oder abgetretenen Schwellen von Kohlebecken beleuchtet wurden. Der Geruch all dieser Flammen vermischte sich mit dem des Weihrauchs, der beständig in dicken, schweren Schwaden durch die Gänge wehte und wie ein seltsames Fabeltier die Kuppeln emporkroch.

Doch über all diese Heiligkeit und Andacht hatte sich noch etwas anderes gelegt – nackte Furcht. Die Menschen in Jerusalem, sowohl die Einwohner als auch die zahlreichen Pilger und Flüchtlinge aus den umliegenden Gebieten, hatten tagtäglich erwartet, von Saladins Truppen eingeschlossen und belagert zu werden. Der Sultan hatte nach seinem spektakulären Sieg bei Hattin Burg um Burg, Stadt um Stadt eingenommen und stand nun vor der Stadt aller Städte, Jerusalem, um auch diesen Ort wieder für den Islam einzufordern. Die Belagerung hatte noch nicht begonnen, aber allen Menschen war klar gewesen, dass sie nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Und nicht wenige hatten sich davor gefürchtet, dass die Sarazenen, einmal siegreich, mit den Einwohnern genau das tun würden, was die ersten Kreuzfahrer im Jahre 1099 in vollstem Vertrauen auf Gottes Willen mit den damaligen Bewohnern, Muslimen und Juden, aber auch zahllosen orientalischen Christen getan hatten: Sie hatten unter ihnen ein solch entsetzliches Blutbad angerichtet, dass die fränkischen Ritter nach Augenzeugenberichten bis zu den Knöcheln im Blut der Hingeschlachteten gewatet waren.

Eine Sonnenfinsternis hatte weiter zum Erschrecken der Menschen beigetragen, da sie vielen als eindeutiges Vorzeichen des unmittelbar bevorstehenden Desasters galt. Deus lo vult – Gott will es? Der Kampfruf der ersten Kreuzritter, einstmals weitgehend unwidersprochen, rief nun nicht mehr überall Zustimmung hervor und selbst viele Lateiner und poulains wünschten sich Verständigung statt Krieg.

Trotzdem mussten die Alltagsgeschäfte weitergehen, und überall auf den Gassen und Plätzen hatte ein reges Treiben geherrscht. Margret war staunend umhergewandert und hatte schließlich eine überwölbte Marktstraße für Esswaren gefunden, die vor nicht ganz einem halben Jahrhundert im Auftrag der Königin Melisende errichtet worden war. Noch hatten die Händler hier lautstark ihre Waren angepriesen, hatten doch gerade erst neue christliche Requirierungszüge im Umland die Vorratslager gefüllt – doch schon wenige Tage später sollten das Angebot ausdünnen und die Preise in die Höhe schießen. Auf dem Malcuissinat, der „Straße der schlechten Köche“, wie ihr ein Einheimischer grinsend und durchaus schadenfroh übersetzt hatte, hatte sich Margret mit einem Imbiss auf eine Treppe gesetzt, um von dort aus in Ruhe das bunte Treiben beobachten zu können, während sie sich stärkte.

Doch nach und nach verschwanden die reinen Erinnerungsfetzen aus ihrem Traum, und das, was sie nun vor Augen sah, wurde zunehmend irrealer. Immer wieder fassten fremde Menschen sie am Arm, hielten sie gegen ihren Willen fest und baten verzweifelt um ihre Hilfe.

„Rettet uns vor dem Sultan, edle Dame, helft uns, damit wir nicht abgeschlachtet werden wie Vieh!“ – „Bete für uns, damit Gott der Herr Gnade walten lässt und uns verschont!“ – „Erbarmt Euch unserer armen Seelen, edle Dame!“

Verzweifelt versuchte Margret, ihnen klarzumachen, dass sie, als einfache Pilgerin ohne Verbindungen und mit nur wenig Geld in der Tasche, dazu keinesfalls in der Lage wäre. Immer größer wurden die Menschentrauben, die sie zu bedrängen schienen, so dass sie irgendwann die Flucht ergriff und sich davonstürzen sah. Auf einmal war sie nicht mehr in den engen Gassen der Stadt, sondern vor deren Toren im Bereich des großen Friedhofes im Süden Jerusalems. Die Menschen, es mussten inzwischen Tausende sein, verfolgten sie laut flehend, und ihre Schar wurde noch durch die Toten verstärkt, die – gleich wie am Jüngsten Tag – rundum aus ihren Gräbern hervorkrochen und Margret mit hoch erhobenen Knochenhänden anbettelten und zu ergreifen versuchten. Immer wieder meinte sie, grob an ihrem verletzten Arm gepackt zu werden. Schließlich wurde die Bedrohung für sie so real, dass sie mit einem Schrei aus ihrem Traum erwachte und sich – zu ihrer Verwirrung – noch immer in der Ecke des Spitalhofs sitzend wiederfand, zusammen mit Marjam und Roque, die sich zu ihren beiden Seiten eingerollt hatten und friedlich schliefen.

***

Am nächsten Morgen hatte Margret sich so weit erholt, dass die drei an ihren Mauerabschnitt zurückkehren konnten. Ihr war noch ein wenig flau im Magen und ihr Arm schmerzte mehr als sie sich eingestehen wollte, aber immerhin war das Fieber gesunken, so dass sie wieder klar denken konnte.

Marjam war überglücklich, Abo unverletzt in die Arme schließen zu können, bemerkte dann jedoch betroffen, dass Meister Adam weniger Glück gehabt hatte. Ein Pfeil hatte seine Stirn gestreift und eine tiefe blutige Schramme hinterlassen.

„Hätte schlimmer kommen können“, wiegelte der ab. „Was sollte schließlich ein Steinmetz mit nur einem Auge anfangen?“

Auch Ida war wieder aufgetaucht, und an ihrem beseelten Lächeln konnte Margret unschwer erkennen, dass sie sich in der letzten Nacht weniger mit dem Verteidigen als vielmehr mit dem Hingeben beschäftigt hatte – offenbar war irgendeinem der Männer das gelungen, was Saladins Armee seit Tagen vergeblich versuchte: eine Bresche zu schlagen und eine Eroberung zu machen.

„Und was tut sie, wenn sie nun ein Kind bekommt?“, dachte Margret bei sich. Sie war sicherlich nicht prüde, hatte doch Gott nur deshalb Frauen und Männer als zwei getrennte Geschöpfe geschaffen, damit sie sich von Zeit zu Zeit vereinten. Aber hier und jetzt? Das war sicherlich ebenso der falsche Zeitpunkt wie der, an dem sie selbst das Ziel ihrer Pilgerreise erreicht hatte.

Nachdem der Tag relativ ruhig begonnen hatte, versuchte auf einmal eine Schwadron Sarazenen, mit Sturmleitern in die Stadt zu gelangen. Zwar wurden sie aufs Heftigste bekämpft und nicht wenige samt ihrer Leitern wieder in die Tiefe gestürzt, doch einigen gelang es, die Verteidiger auf der Mauerkrone in Kämpfe Mann gegen Mann zu zwingen. Auch hier schien der Ausgang unentschieden, einmal gelang es den Sarazenen, für kurze Zeit die Oberhand zu gewinnen, dann wieder den Verteidigern, ihre Gegner zurückzuschlagen oder zu töten.

Auf einmal drang ein Sarazene mit hoch erhobenem Schwert auf Abo ein, der sich wegduckte und so aus der Linie brachte. Als der Angreifer erneut versuchte, den Alten niederzumachen, bewarfen Adam und Roque ihn und weitere nachdrängende Muslime mit Steinen, während Marjam sich Hilfe suchend nach Rettung umsah. Da erblickte sie hinter sich einen gefallenen sarazenischen Bogenschützen. Ohne lange zu überlegen, wand sie ihm den Reflexbogen aus der erstarrenden Hand, ergriff einen herumliegenden Pfeil und legte auf den Angreifer an. Der befand sich inzwischen mit Abo im Ringkampf und drehte Marjam den Rücken zu. Sie zielte, obwohl sie noch nie selbst einen Bogen gespannt hatte, und ließ den Pfeil fliegen. Er traf den Sarazenen zwischen die Schulterblätter. Der Mann schrie erstickt auf und ließ sein Opfer los, um gleich darauf mit weit ausgebreiteten Armen nach vorn zu kippen. Seine Kampfgefährten hielten abrupt inne und blickten Marjam, die verblüfft mit dem Bogen dastand, entgeistert an – damit, dass sich auch halbwüchsige Mädchen mit Waffengewalt verteidigten, hatten sie ebenso wenig gerechnet wie mit dem schnellen Tod ihres Anführers. Von unten erschollen arabische Befehle, und die wenigen verbliebenen Angreifer zogen sich unverzüglich über ihre Sturmleitern zu ihren Truppen zurück.

Abo hatte sich inzwischen der Leiche des Sarazenen, der im Sterben auf ihn gekippt war, entledigt, schüttelte sich und rekapitulierte kurz, was überhaupt geschehen war. Marjam stand noch immer unbewegt an der Stelle, von der aus sie geschossen hatte, und Abo kletterte über weitere Gefallene zu ihr hinüber und nahm sie in die Arme. Margret und die anderen waren sprachlos über so viel Kampfglück und dankten Gott für ihre und des Alten Rettung.

***

Am folgenden Tag machte sich Graf Balian erneut zum auf dem Ölberg gelegenen muslimischen Lager auf, um Saladin um Übergabeverhandlungen zu bitten. Gestern war ihm schon zweimal eine Audienz verweigert worden, diesmal wurde er jedoch vorgelassen. Saladin hatte lange mit seinen engsten Beratern und Amiren konferiert und zeigte sich Balian gegenüber zunächst unversöhnlich. Er drohte an, jeden fränkischen Christen als Vergeltung für das Blutbad des Jahres 1099 nach Erstürmung der Stadt ohne Gnade umzubringen.

Balian konterte, dass er und seine Männer in diesem Fall zuvor selbst alle Einwohner Jerusalems bis hin zum letzten Kind töten würden – einschließlich der gut 5000 muslimischen Gefangenen, die sich noch in ihren Händen befanden. Anschließend, so versicherte er dem Sultan, würden sie die gesamte Stadt niederbrennen und alle Heiligtümer, ob nun christliche oder muslimische, dem Erdboden gleichmachen. Alles Vieh würden sie töten, alle Schätze vernichten – zurück würden sie nur verbrannte Erde lassen. Zuletzt würden er und seine Kämpfer schließlich einen mörderischen Ausfall unternehmen, um als Märtyrer im Kampf gegen die Sarazenen einen glorreichen Tod zu sterben.

Wiederum überlegte Saladin lange, schließlich lenkte er ein und verzieh dem Christen auch seinen Wortbruch. Er sicherte allen Menschen in Jerusalem freien Abzug unter der Bedingung zu, dass sie binnen vierzig Tagen ein Kopfgeld von zehn Dinar pro Mann, fünf pro Frau und einem pro Kind bezahlten. Sogar seinen tragbaren Besitz durfte mitnehmen, wer das wollte, während jeglicher Grundbesitz ohne Entschädigung als verloren gelten musste. Wer allerdings zum Bezahlen nicht in der Lage war, sollte von den Siegern ohne Gnade in die Sklaverei verkauft werden. Nur wenige durften bleiben: einheimische Christen, aber auch eine geringe Anzahl an Johannitern, die für die Dauer eines Jahres die Versorgung der Kranken und Verletzten in ihrem Spital sicherstellen sollten. Auch zwei christlichen, fast hundertjährigen Greisen erlaubte Saladin zu bleiben, denn sie aus der Stadt zu weisen, wäre einem Todesurteil gleichgekommen.

Graf Balian löste 18.000 mittellose Menschen auf eigene Kosten aus, und um ihm in Mildtätigkeit nicht nachzustehen, übernahm Saladin selbst aus seiner Privatschatulle das Lösegeld für zahlreiche weitere – trotzdem gerieten schließlich fast noch einmal so viele Franken in Sklaverei.

Es war der 2. Oktober des Jahres 1187, nach muslimischer Zeitrechnung der 27. Rajab 583, als erstmals die Fahnen Saladins und des Kalifen in Bagdad über Jerusalem wehten und die Tore von muslimischen Wachen besetzt wurden.

Die Stadt befand sich nun, da das Ende der Kämpfe beschlossen war, noch mehr in Aufregung als zuvor. Jeder Reiche raffte so viel von seinem Besitz zusammen, wie er transportieren konnte, während die Ärmeren ihre Barschaft zählten und überlegten, wie sie das Kopfgeld für ihre Familien aufbringen sollten – entsprachen doch zehn Dinar zwei durchschnittlichen Monatslöhnen eines Arbeiters. Lange Reihen an Besiegten wanderten an den muslimischen Posten vorbei, deren Kassen sich von Stunde zu Stunde weiter füllten. Auch die Königin wurde ehrenvoll aus der Stadt eskortiert und durfte zu ihrem Gatten Guy reisen, der sich in Nablus in muslimischer Gefangenschaft befand.

Saladin, umgeben von seinen engsten Beratern, saß etwas abseits auf seinem reich geschmückten Pferd und beobachtete den schmachvollen Auszug der Christen aus der Heiligen Stadt ohne erkennbaren Triumph. Obwohl nicht von körperlich großem Wuchs, so war der Sultan dennoch eine eindrucksvolle Erscheinung, angetan mit kostbar bestickten Gewändern und einem ledernen, vergoldeten Schuppenpanzer. Auf dem Kopf trug er einen nach oben hin spitz zulaufenden, ebenfalls vergoldeten Helm, dessen Nackenpartie durch ein Kettengeflecht geschützt war, und darüber einen hellen Turban. Seine Haare waren nicht zu erkennen, doch ließen sich in seinem dünnen Bart schon einige grauweiße Strähnen erkennen, die davon zeugten, dass der Herrscher kein ganz junger Mann mehr war. Am hervorstechendsten waren seine Augen, die sich mit brennender Intensität auf sein Gegenüber richten konnten – oder aber mit der gütigen Milde eines nachsichtigen Herren.

Als der Patriarch Heraclius mit seiner aufgedonnerten Mätresse im Schlepptau ganze Wagenladungen an Schätzen aus der Stadt bringen wollte, aber ebenfalls nur die 15 Dinar für sich und die „patriarchesse“ bezahlte, kam unter den Muslimen großer Unmut auf. Saladin aber weigerte sich, sein einmal gegebenes Wort zu brechen und ihm die Wertgegenstände abzunehmen, auch wenn ihm einige seiner Amire dazu rieten. Auch viele Christen schimpften auf diesen in ihren Augen so gar nicht christlich erscheinenden Kirchenfürsten, der sich nicht erst mit seiner Weigerung, mit in die Schlacht von Hattin zu ziehen, beim Volk unbeliebt gemacht hatte – zumal sein gezwungenermaßen dorthin geschickter Stellvertreter, der Bischof Rufinus von Akko, getötet worden und das Wahre Kreuz in muslimische Hand geraten war. Viele konnten nicht verstehen, dass er die kirchlichen Schätze nicht ebenfalls dazu hergab, seine Glaubensbrüder und -schwestern vor der Sklaverei zu bewahren – selbst wenn er das Lösegeld für eine ganze Reihe von ihnen aus eigener Kasse bezahlt hatte.

Als Heraclius an Abo vorbeikam, warf er diesem einen solch vernichtenden Blick zu, dass diejenigen, denen es auffiel, sich überrascht ansahen.

Abo ließ sich nichts anmerken, trotzdem fragte Marjam sofort nach.

„Was hatte das denn zu bedeuten? Kennt der Patriarch dich? Und warum ist er so wütend?“

„Nun“, begann Abo, „man könnte fast sagen, ich bin sein Lieblingsfeind. Der Streit, der daran schuld ist, liegt schon ein gutes Jahr zurück – damals lebte mein Bruder Roger noch, der, wie du weißt, Großmeister bei den Johannitern war. Es ging um die Krönung der Königin und ihres geschniegelten Emporkömmlings. Während wir echten Lateiner einen der Unseren zum neuen Herrscher krönen wollten, hatte die Hofpartei andere Pläne und verstand, diese auch durchzusetzen.“

„Aber warum ist er noch immer böse, wenn doch der Streit schon längst beigelegt ist?“, fragte Marjam.

„Nun, er kann mir wohl nicht verzeihen, dass ich an die Öffentlichkeit gebracht habe, wie er überhaupt auf seinen Patriarchenposten gekommen ist – er hat sich nämlich bei der Edlen Agnes von Courtenay, der Königinwitwe und Mutter der jetzigen Königin, so angedienert, dass sie ihm diese Position zugeschanzt hat. Seitdem kursieren im gesamten Königreich Gerüchte, welcher Art denn nun seine Liebesdienste für die Dame gewesen sein könnten“, schmunzelte Abo, offensichtlich noch immer amüsiert über die für den Patriarchen höchst peinliche Situation.

Margret und ihre Begleiter gehörten zu denen, die das Lösegeld gerade noch aufbringen konnten. Sie, Ida, Adam und Roque bezahlten, wobei es noch zu Streitigkeiten kam, ob der Lehrbub nun noch als Kind oder schon als Erwachsener zu gelten habe. Schließlich wurde Meister Adam dies zu dumm, und er bezahlte für sie beide die je zehn Dinar für erwachsene Männer, was Roque vor Stolz fast ein Stück wachsen ließ. Danach waren Abo und Marjam an der Reihe, doch da erkannte der Sultan von seinem Aussichtsposten aus den Alten, den er schon früher mehrfach getroffen und – wie auch Balian von Ibelin – als seinen persönlichen Freund bezeichnete. Sofort schickte er einen seiner Offiziere aus, um Abo zu ihm zu führen. Auch Margret und die anderen näherten sich, allerdings in respektvollem Abstand.

Abo begrüßte den Sultan ehrfurchtsvoll auf Arabisch, was dieser mit einer würdigen Geste erwiderte.

„Es ist mir eine große Ehre, Euch wiederzutreffen, wenn auch unter solch unglücklichen Umständen“, sagte Abo und winkte Marjam zu sich heran, die zögerlich näherkam. „Darf ich Euch meine Enkelin Marjam vorstellen – ihre Mutter gehört Eurem Volke an. Marjam ist ein tapferes junges Mädchen. Sie hat gestern Morgen mein Leben gerettet, indem sie einen Eurer Soldaten, ich muss es gestehen, mit einem Pfeilschuss tötete. Dabei hatte sie nie zuvor einen Bogen abgefeuert.“

Marjam verbeugte sich tief vor Saladin, den sie schon so lange sie denken konnte als vorbildlichen Herrscher verehrte, aber noch nie persönlich getroffen hatte.

„Edler Sultan“, begann Marjam, wobei ihre Stimme kaum merklich zitterte, nun ebenfalls auf Arabisch, „edler Sultan, es tut mir sehr leid, dass ich einen der Euren getötet habe – und dennoch, ich musste das Leben meines Großvaters schützen. Bitte vergebt mir meine Tat!“

Saladin sah sie lange unverwandt an und Marjam hielt seinem Blick stand – schließlich neigte der Sultan den Kopf, sprach leise mit seinen Beratern und wandte sich dann an das Mädchen.

„Ich nehme Eure Entschuldigung an, Marjam des Moulins. Selbstverständlich musstet Ihr Eurem Großvater, der ein edler, gerechter Mann und ein Freund der Muslime ist, helfen. Wie sagte schon der Prophet: ‚Gott liebt Mut, und wenn es beim Töten einer Schlange ist‘. Ihr wart sehr mutig, den Pfeil abzuschießen, und noch mutiger, mich deshalb um Verzeihung zu bitten. Geht nun, Abo und Marjam – ich gestatte Euch, auf Euer Landgut zurückzukehren. Das erlaube ich sonst keinem einzigen Lateiner in dem ganzen von mir eroberten Gebiet. Doch da Ihr mit Menschen meiner Religion versippt seid, soll es Euch gestattet sein, weiterhin hier zu wohnen und Eure Felder zu bestellen. Ich wünsche Euch und uns eine friedliche Zukunft.“

Abrupt wendete er sein Pferd und ritt mit seiner Eskorte zurück ins muslimische Lager, um seinen würdigen Einzug in Jerusalem und die rituelle Entsühnung der muslimischen Heiligtümer vorzubereiten.

Abo, Marjam und die anderen aber machten sich, wie so viele weitere Menschen an diesem Tag, auf den Weg in Richtung Westen.

***

In langen Reihen bewegten sich die aus Jerusalem Vertriebenen in Richtung Küste – der einzigen Region im zerfallenden Lateinischen Königreich, in der die Franken noch geduldet waren. Nur wenige Orte im Norden wie Tyrus hatten der muslimischen Bedrohung widerstanden und waren nun Ziel all derer, die trotz allem weiterhin im Heiligen Land bleiben wollten. Doch auch diejenigen, die sich entschlossen hatten, das nächstbeste Schiff in Richtung Westen, das sie an Bord nehmen würde, zu besteigen, um ins Frankenreich zurückzukehren, mussten dort hinziehen. Andere wollten Unterschlupf bei Freunden oder Verwandten suchen oder sich sonst wie durchschlagen.

Margret, Ida, Adam und Roque wollten Abo und Marjam nach Casal Moulins begleiten, um dort in Ruhe zu überlegen, was nun werden sollte. Margret wollte keinesfalls nach England zurückkehren und lieber weiter im Orient herumreisen, ganz im Gegensatz zu Ida, die sich sehr nach Köln und dem Rheinland sehnte und wohl in Bälde eine Schiffspassage buchen würde. Meister Adam war der Ansicht, dass solange es noch einige Städte unter fränkischer Kontrolle gab, dort auch talentierte Steinmetzen gebraucht würden, und dort würden er und sein Lehrling sicher Arbeit finden. Alle waren mehr oder weniger der Meinung, nun, nachdem sie in Jerusalem das Kopfgeld an die Muslime bezahlt hatten, wären sie vor deren Nachstellungen sicher.

Plötzlich erschien eine Gruppe vermummter Beduinen auf einem Hügel, und während sich viele der Flüchtlinge noch in Sicherheit wiegten und in normalem Tempo weitergingen, beschleunigten manche schon voller Angst ihren Schritt, obwohl sie genau wissen mussten, dass auch das sie nicht vor einer Schar Berittener in Sicherheit bringen würde.

Im nächsten Augenblick schwärmten die Beduinenreiter aus, um einen Kreis um ihre Beute zu legen. Nun brach endgültig Panik aus, und die Menschen versuchten in alle Richtungen zu entkommen. Abo, Adam und die beiden Jugendlichen schafften es, noch bevor der Ring aus Pferden geschlossen wurde, sich in Richtung einiger Felsen zu retten.

„Margret! Ida! Bleibt bei uns – hier herüber!“, rief Abo, doch die beiden Frauen waren schon zu weit zurückgefallen. Ida war gestürzt und konnte nicht sofort wieder aufstehen, und Margret ließ ihre Freundin natürlich nicht allein.

So kam es, dass beide zusammen mit zahlreichen anderen von den Beduinen eingekreist und gefangen genommen wurden. Sie wurden mit Stricken aneinandergebunden und in Reihen zwischen den Pferden der Beduinen nach Süden geführt.

Abo und die anderen konnten nur hilflos zusehen. Marjam, die den Frauen verzweifelt folgen wollte, musste von dem Alten mit Gewalt festgehalten werden.

„Sei vernünftig, Mädchen“, sagte er. „Du kannst ihnen nicht helfen – oder willst Du auch mit verschleppt werden?“

Marjam weinte, und auch die Männer waren sehr unglücklich über die gewaltsame Trennung, die sie so kurz nach dem doch hoffnungsvollen Ende der Belagerung Jerusalems ereilt hatte. Sie konnten nichts anderes tun, als ihren Weg nach Casal Moulins fortzusetzen, wo Hamza, Marjams Mutter, schon sehnsüchtig ihre Rückkehr erwartete.

***

Bis zur Nacht und den ganzen folgenden Tag mussten die Gefangenen – es waren gut zwei Dutzend Frauen und einige wenige Männer – gefesselt zwischen den Beduinen einhergehen. Immerhin bekamen sie von ihnen in halbwegs regelmäßigen Abständen Wasser zu trinken, zu essen gab man ihnen allerdings nur am Abend ein wenig, als sie an einer kleinen, staubigen Oase rasteten.

Die Menschen waren verzweifelt – gerade noch waren sie den Muslimen in Jerusalem entkommen, und dann gerieten sie so unvermittelt in einen neuen Hinterhalt. Keiner wusste, wohin man sie brachte, denn keiner von ihnen sprach oder verstand Arabisch.

Margret versuchte trotzdem, sie alle aufzuheitern. „Verliert nicht die Hoffnung. Sie werden uns nicht töten – das hätten sie gleich an der Straße tun können. Nein, ich bin sicher, sie wollen uns an den Meistbietenden verkaufen.“

„Und das nennst du Hoffnung?“, jammerte Ida, deren Fuß inzwischen schmerzhaft angeschwollen war, so dass Margret sie während des Laufens hatte stützen müssen. „Ich kann nicht sehen, warum das jetzt besser sein soll als ein schneller Tod auf der Straße.“

„Bist du nicht mehr bei Sinnen, Ida?“, entsetzte sich Margret. „Du bist noch am Leben! Natürlich ist das besser! Bestimmt wird es nicht einfach werden – aber wenn Gott der Herr es will, wird diese Fron auch einmal wieder vorüber sein. Daran musst du einfach glauben, Ida, komme, was da wolle!“

„Da hast du aber gut reden!“, schmollte Ida und rollte sich wie eine Schnecke im Wüstensand zusammen.

Am nächsten Morgen trieben die Beduinen ihre menschliche Beute sofort zum Weitermarschieren nach Süden an. Nach wenigen Stunden trafen sie auf eine weitere Gruppe Araber, die eindeutig nicht zum Stamm der Beduinen gehörten und auch anders aussahen als die Soldaten Saladins, die die Franken in Jerusalem kennengelernt hatten. Der Anführer der Beduinen verhandelte eine kurze Weile mit dem Kommandeur der anderen Truppe, ein kleiner, aber prall gefüllter Geldbeutel wechselte den Besitzer, und die fränkischen Gefangenen hatten neue Herren, die nicht unbedingt besser zu sein schienen als die alten. Sie trieben sie in eine nahe gelegene Hügelkette hinein, und bald darauf kam die Gruppe bei einer riesigen Höhle an, vor der einige hastig errichtete Holzhütten standen. Den Gefangenen wurde bedeutet, in diese hineinzugehen und dort unter Bewachung zu warten.

Schließlich kam eine Art Vorarbeiter zu ihnen, ein halbverhungerter Franke, der etwas Arabisch sprach und schon über ein Jahr für die Sarazenen arbeiten musste. Der Mann stellte sich nicht namentlich vor – er meinte, sie würden bald sowieso ihren eigenen, geschweige denn fremde Namen vergessen. Er erklärte ihnen kurz und knapp, was sie wann zu tun hatten, und setzte sie darüber in Kenntnis, dass ihre neuen Herren tatsächlich keine Soldaten Saladins waren, sondern Angehörige eines ägyptischen Stammes, der hier nördlich des Sinai ein Bergwerk betrieb und dafür alle christlichen Zwangsarbeiter einsetzte, derer er habhaft werden konnte. Das wiederum war für die kriegerischen Beduinen zu einer willkommenen Einnahmequelle geworden. An Flucht war offenbar nicht zu denken, denn alle, die das bislang versucht hatten, waren nach kurzer Zeit eingefangen und getötet worden.

„Das sind ja tolle Aussichten – bist du dir noch immer sicher, dass es besser ist, zu leben, Margret?“, wollte Ida zornig wissen.

Margret reagierte nicht auf die Frage, auch wenn sie sie für sich eindeutig mit Ja beantwortete.

***

Das Landgut von Casal Moulins lag auf einem sanft ansteigenden Hügel in Sichtweite der viertürmigen Burg Ibelin, die bis vor einem halben Jahr noch von den Familienangehörigen des Grafen Balian bewohnt worden war. Doch seit Saladins Sieg bei Hattin saß dort eine muslimische Garnison.

Seit mehreren Generationen bebaute die Familie des Moulins das Land, das ihr von der Familie Ibelin zum Lehen übergeben worden war, und jedes Jahr erzielte sie reiche Erträge an Weintrauben, Datteln, Feigen und was sonst noch auf den Tafeln begüterter Lateiner oder Muslime begehrt war. Vor einigen Jahren hatte Abo außerdem eine Zuckerrohrplantage dazugekauft, die jetzt den meisten Gewinn von allen Produkten des Gutes erwirtschaftete.

Das große, mehrstöckige Haupthaus des Landgutes lag an zentraler Stelle eines weiträumigen, ummauerten Hofes, der außerdem noch verschiedene Wirtschaftsbauten wie Ställe und Lagerhäuser einschloss. Gleich neben dem Haus befand sich ein großer Küchengarten, in dem alles angebaut wurde, was der große Haushalt der familia des Moulins samt aller Mägde und Knechte benötigte. Außerdem gab es Koppeln für die Pferde und einige Brunnen sowie Zisternen. Die auf das Gut zuführende Straße passierte dort, wo sie den Mauerring durchschnitt, einen imposanten gemauerten Bogen, der mit massiven Torflügeln verschlossen werden konnte. Im Scheitelpunkt dieses Bogens war das Wappen der Familie angebracht, eine stilisierte Windmühle mit vier Flügeln, denn „Moulins“ bedeutete nichts anderes als „Mühlen“ und bezog sich auf die ursprüngliche Einnahmequelle der Familie in Frankreich.

Abo und Marjam waren die einzigen Franken weit und breit, denen es erlaubt war, nach Hause zurückzukehren. Sie taten es voller Trauer und Sorge. Adam und Roque verließen sie gleich am Morgen nach ihrer Ankunft aus Jerusalem und brachen nach Norden auf, denn Adam wollte versuchen, in einer Bauhütte in Tyrus oder Sidon, notfalls sogar im weiter entfernten Antiochia, Arbeit für sich und seinen Lehrling zu finden.

Marjam war nach ihrer Rückkehr aus Jerusalem verändert – das strahlende Lächeln war einem melancholischen Zug gewichen, immer wieder musste sie daran denken, dass Margret und Ida jetzt irgendwo in der Wüste in sarazenischer Gefangenschaft waren und dass sie selbst auf den Mauern Jerusalems einen Menschen getötet hatte.

Eines Abends wandte sie sich unvermittelt an Abo. „Großvater, hast du schon einmal einen Menschen getötet?“

„Im Kampf, ja, allerdings. Aber es ist mir nicht leichtgefallen“, antwortete er.

„Es war ja im Kampf“, meinte Marjam verzweifelt, „ich musste versuchen, dir zu helfen – und trotzdem kann ich nicht vergessen, wie ich den Mann getroffen habe und er vornübergekippt ist. Selbst Saladin hat mir verziehen, warum kann ich selbst es dann nicht?“

„Einen anderen Menschen umzubringen ist für jeden eine schreckliche Erfahrung“, erwiderte Abo ernst. „Oder sollte es zumindest sein, und beim ersten Mal ist es sicher bei den meisten auch so. Es gibt leider Situationen, in denen man nichts anderes tun kann, aber man muss sich immer dessen bewusst sein, was man tut – man löscht ein Leben aus, und das kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Es ist kein Spiel und kein Abenteuer, und dafür halten es viele der jungen Franken, die als Kreuzritter hierher nach Outremer kommen und das Töten meiner Meinung nach etwas zu leichtnehmen. Du aber musst dir keine Vorwürfe machen – auch wenn du es nie wirklich wirst vergessen können, solange du lebst. Und du hast ihn glücklicherweise nur von hinten getroffen – das Schlimmste beim Töten ist, seinem Opfer in die Augen sehen zu müssen. Das immerhin ist dir erspart geblieben.“

„Aber du hast dafür seine Augen gesehen.“

„Ja, allerdings. Aber ich werde dir nicht davon erzählen.“

„Ich habe aber auch so das Gefühl, nicht mehr dieselbe zu sein wie zuvor!“

„Das ist auch so, du bist nicht mehr dieselbe. Durch die Entscheidung, die du in diesem Moment getroffen hast, hast du dein gesamtes Leben mit einem Schlag verändert. Nun kannst du dir die Frage stellen, ob es anders wäre, hättest du es nicht getan. Aber das ist müßig, denn du hast es getan und musst nun damit zurechtkommen. So einfach und zugleich so schwer ist das nun mal.“

„Dann werde ich damit zurechtkommen, irgendwie.“

Sie schwieg und blickte hinüber nach Ibelin, ihre Augen aber waren in viel weitere Entfernung gerichtet.

Einige Zeit nach ihrer Rückkehr ritt eine Abordnung von drei Soldaten Saladins in den Hof des Gutes ein. Abo begrüßte sie und fragte auf Arabisch: „Was führt Euch hierher, edle Herren?“

„Wir bringen ein Geschenk für die Dame Marjam, die die Tapferkeit einer Löwin hat. Wo können wir sie finden?“

Abo rief seine Enkelin, die mit schmutzigen Händen und staubiger Kleidung aus dem Garten auftauchte. Sie versuchte verlegen, ihre Hände notdürftig an ihrem Oberkleid abzuwischen und trat den Boten entgegen.

„Edle Jungfrau Marjam, dies hier schickt Euch ein großer Verehrer Eures Mutes und Eurer Entschlusskraft!“, sagte der Anführer der drei und reichte Marjam einen kostbaren, aus verschiedenen Holzarten zusammengesetzten Bogen sowie einen ledernen, ebenfalls verzierten Köcher, in dem mindestens zwei Dutzend Pfeile mit bunter Fiederung steckten. Die Lederwicklung des Bogens und die Arabesken auf dem Köcher waren reich vergoldet. Marjam wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, nahm dem Boten aber das Geschenk des Sultans aus der Hand, verbeugte sich und bedankte sich leise.

Die drei Abgesandten verbeugten sich ebenfalls und hatten im nächsten Augenblick den Hof von Casal Moulins auch schon wieder verlassen.

Abo trat zu seiner Enkelin und betrachtete das kostbare Geschenk, das diese noch immer unbewegt in Händen hielt.

„Das sieht Saladin ähnlich!“, meinte er lächelnd. „Der Sultan ist bekannt dafür, Menschen, die er schätzt, mit reichen Geschenken zu bedenken. Ich glaube, Marjam, er will dir damit sagen, dass du das Bogenschießen jetzt richtig lernen sollst.“

Marjam sah ihn stumm an und hatte Tränen in den Augen.

Doch schon bald darauf erprobte sie den Bogen, und von da ab verbrachte sie jeden Morgen lange Zeit damit, Schießen zu üben. Abo ließ ihr eine Zielscheibe bauen, und es dauerte nicht lange, bis Marjam zu einer hervorragenden Bogenschützin geworden war, die nirgends ohne ihren Bogen hinging. Dabei hatte sie insgeheim nur den einen Wunsch, mit ihrem Können irgendwann Margret und Ida aus muslimischer Hand befreien zu können.

Die Frau im grünen Mantel

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