Читать книгу Paradiese - Andrea Sailer - Страница 4
Paradiese
ОглавлениеEr war schon als Kind so gewesen. Hatte sich oft vorgestellt, jemand anderer zu sein. Oder etwas. Konnte sich nahtlos hineinversetzen in andere Körper, andere Leben, andere Welten. Im Geiste wechselte er die Identitäten mit Lichtgeschwindigkeit. Schlüpfte in fremde Häute, dachte fremde Gedanken, empfand mit allen Herzen, die um ihn herum schlugen.
Als der Polizist die Tür aufbrach und mit zwei Kollegen in den dunklen Vorraum trat, raubte ihm ein beißender Geruch schier den Atem. Die Kollegen schlugen sich instinktiv die Hände vors Gesicht. „Hat jemand Tigerbalsam dabei?“, fragte einer. „Oder irgendeine Mentholcreme? Schnupftabak? Der Gestank macht einen doch fertig!“ Sie gingen zurück ins Freie und ordneten die Bereitstellung von Mundschutz an sowie eine Verständigung der Seuchenpolizei.
Er hatte keine leichte Kindheit gehabt. Aber, andererseits, wer hatte die schon? Und dennoch. Er war nun einmal kein Kind wie alle anderen gewesen.
Wenn zwei seiner Mitschüler auf dem Nachhauseweg ein Tier quälten, belanglos, gleichsam nebenbei, dann musste er einschreiten. Konnte nicht tatenlos dabei zusehen, wie die anderen Kinder in ihrer ganz und gar nicht unschuldigen Kindlichkeit auf eine Spinne traten, einer mühevoll gefangenen Fliege Beine und Flügel ausrissen, eine Schnecke mit Salz bestreuten, einen Käfer anzündeten. Er übte sich damals schon in versuchsweiser Schadensbegrenzung und rettete, was eben noch zu retten war. Bei einer totgetrampelten Spinne war das nicht mehr möglich. Da konnte er bestenfalls noch den haarigen Matsch vom Asphalt schaben, mit seinen ungelenken Kinderfingern, und den verbliebenen Leichnam in der lockeren Erde eines Maulwurfshügels vergraben. Weil seiner Meinung nach auch eine Spinne wenigstens ansatzweise eine würdige letzte Ruhestätte verdient hatte.
Er hatte sich schon damals nicht erklären können, weshalb die Erwachsenen mit manchen Tieren durchaus großes Mitleid haben konnten, bei anderen aber nur Feindseligkeit und Abscheu empfanden. Es war doch kein Lebewesen auf der Erde in der Lage, sich seine Daseinsform aussuchen zu können. Es hatte doch kein einziges, noch so unscheinbares, unbedeutendes Etwas auch nur für Sekundenbruchteile eine Wahl! Es konnte doch keine Spinne etwas dafür, eine Spinne geworden zu sein. Keine Schnecke bekam vor ihrer Geburt einen Fragenkatalog vorgelegt, auf dem sie ankreuzen durfte, als was sie später ihr Leben verbringen wollte, ob als Haselstrauch, Flusskiesel, Hochschullehrer, Massaifrau, Tigerkatze oder Nacktschnecke. Und das war vielleicht auch gut so, denn jede mögliche Auswahl gipfelte letztlich doch nur in einer Wahl der Versäumnisse. Mit der Entscheidung für das eine entschied man sich automatisch gegen alles andere. Und überhaupt: Es musste doch alles geben auf der Welt! Fehlte auch nur ein Baustein, brach das Ökosystem zusammen. Das war ihm natürlich erst klar geworden, als er längst erwachsen geworden war, viele Bücher las, Fachzeitschriften, lehrreiche Dokumentationen im Fernsehen anschaute, wissbegierig alles in sich aufsog über die vielen fremden Leben und Welten, denen er sich aus unerklärlichen Gründen immer schon so nahe gefühlt hatte.
Als Kind wusste er noch nicht, dass das Blut der Insekten und Spinnen nicht rot, sondern farblos ist. Ein Nachteil, denn rotes Blut erregt ohne Zweifel mehr Mitleid bei den Menschen, weil es sie an sie selbst erinnert. Rotes Blut wirkt stets dramatisch, farbloses Blut hingegen sieht bestenfalls nach Schmutz aus, oder nach gar nichts.
Solange man ein Kind ist, glaubt man an die absonderlichsten Dinge. Ohne schon ein Wort dafür zu haben, glaubt man an so etwas wie Gerechtigkeit, Güte, Liebe, Gott, den Himmel, das Paradies. Und stellt sich vor, wenn man den Käfer mit den ausgerissenen Beinen nur sachte an den Wegesrand legt und still davongeht, kommen bald darauf die Käfersanitäter und der Käfernotarzt und schienen die noch verbliebenen, zerquetschten Beine und nähen ihm später in einer hochkomplizierten Operation, die viele Stunden dauert und allergrößte Konzentration vom Käferchirurgen erfordert, dem die angespannten Fühler wachsam aus der grünen Operationshaube herauswippen, eventuell ein paar neue Spenderbeine an, oder gar künstliche Laufwerkzeuge aus dem Käferforschungslabor. Aber das war nicht wahr. In Wirklichkeit blieb der Käfer einfach am Wegesrand liegen und starb, um sogleich von anderen, kleineren Käfern, Ameisen und dergleichen mehr entsorgt zu werden.
„Es gibt eigene Entsorgungsfirmen“, bemerkte der Sachbearbeiter, während er sich in der Wohnung umblickte. Die Polizisten nickten verständnisvoll. „Ja, Entrümpelungsservice, sowas in der Art“, ergänzte einer von ihnen. „Das muss dann, wenn es leer ist, erst einmal gründlich desinfiziert werden. Dann neu gestrichen, neue Böden, von Grund auf alles saniert.“ „Die Seuchenpolizei ist bereits unterwegs“, rief eine Frauenstimme von draußen herein.
Was die Kindheit letzten Endes dann doch sehr schön machte, war diese unglaubliche Anhäufung von tröstlichem Nichtwissen, diese vollständige Abwesenheit aufwühlender Fakten und unumstößlicher Tatsachen. Es schmerzte ihn mehr als vieles andere, dass er einmal Gehörtes, Gelesenes, mitunter gar zufällig Aufgeschnapptes nie mehr aus seinem Gehirn tilgen konnte. Es gab keine Löschtaste darin, und für die Gnade des Vergessens war er schlichtweg noch zu jung.
Wie war diese Grausamkeit innerhalb des Tierreiches zu rechtfertigen? Er erinnerte sich noch genau daran, wie er damals nach der Lektüre dieses einen Artikels die ganze Nacht nicht hatte schlafen können. Es ging um Vorsorge für den Winter, Futtervorräte von Wildtieren. In einem beschaulichen Magazin, das die Lust am Landleben und die Schönheit der Natur bereits auf dem Titel pries. Die Reportage hatte auf den ersten Blick nichts Beunruhigendes gehabt, ganz im Gegenteil. Das Bildmaterial war sogar ausgesprochen entzückend. Ein beflissener Tannenhäher, der stolz eine große Haselnuss im Schnabel trägt. Ein geschäftiges Eichhörnchen, in den kleinen Pfoten einen erstaunlich massiven Kern. Ein Feldhamster inmitten eines Samenberges, eines regelrechten Körnergebirges. Alles äußerst reizend. Und dann in ein paar Zeilen das Unfassbare! Wie der Maulwurf über den Winter kam. Indem er Regenwürmer sammelte, denen er den Kopf abbiss, damit sie zwar nicht mehr fortkrochen, jedoch noch überlebten. Und da lag er nun schlaflos in seinem Bett und schlüpfte im Geiste, ohne es zu wollen, aber auch, ohne es verhindern zu können, in die glatte rosa Wurmhaut. Und litt. Nichts mehr sehen oder riechen, nur noch spüren, dass man lebt, dass es einen noch gibt! Warten müssen, bis man an die Reihe kommt. Zusammen mit anderen kopflosen Kreaturen dem sicheren Tode ausgeliefert. Wie schrecklich! Und wie lange mochte so ein Martyrium dauern? Konnte man ohne Kopf denn überhaupt noch Angst empfinden? Was ging im Restwurm vor?
Dass auch andere Tiere grausam waren, freilich, ohne darüber nachzudenken, machte das Leiden jedes einzelnen Geschöpfes nicht geringer. Er brauchte nur an die infame Kaltblütigkeit der Weg- und Dolchwespen zu denken, die nicht umsonst zu den Spinnentötern gezählt wurden, schon brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Was man einerseits als durchaus liebevolle Brutpflege bezeichnen könnte, war andererseits an Bestialität kaum zu übertreffen. Wegwespen, äußerlich um nichts unscheinbarer als herkömmliche Fliegen, fingen unschuldig dösende Spinnen und machten sie mit einem giftigen Stich bewegungsunfähig. Dann schleppten sie die gelähmte Spinne in ihr Nest und legten in ihr die Eier ab, die sich als heranwachsende Larven von der immer noch lebenden Spinne ernährten. Das Spinnenherz hörte erst auf zu schlagen, wenn die letzten Larven erwachsen waren. Die Dolchwespen verfuhren mit den Larven der Blatthornkäfer ebenso. Und hielten dabei sogar noch strenge Regeln ein. Die Wespenkinder verzehrten das Käferkind in einer ganz akkuraten Reihenfolge, zuerst das Fettgewebe, dann das Nerven-, zuletzt das Atemsystem, damit der lebende Futterspender nicht zu früh verstarb.
Schrecklich, einfach schrecklich, alles. Und da war keiner, der ihn verstand. Wenn er mit anderen über diese furchtbaren Dinge sprechen wollte, bei der Arbeit, in einer Pause, oder in der Freizeit, privat, dann sah er sich stets nur mit genau zwei Reaktionen konfrontiert. Entweder starrte man ihn ungläubig, ja fassungslos an, außerstande zu begreifen, weshalb ein Mensch sich über derlei Tatsachen auch nur einen Augenblick lang den Kopf zerbrechen konnte, gerade so, als wäre er ein Marsmensch, oder hätte wenigstens zugegeben, an dergleichen zu glauben. Oder man beschwichtigte ihn mit erbärmlichem Floskelgeschwätz. Das begann schon in der Kantine, wo er mit schöner Regelmäßigkeit um eine vegetarische Mahlzeit bat. Was hatte er sich da sein ganzes Berufsleben lang alles anhören müssen! Von der fast rührenden, zum Gotterbarmen naiven Mitteilung, die Tiere würden genauso geschlachtet werden, auch wenn er auf ihr Fleisch verzichtete, bis zum nahezu brüsken Vorwurf, er sei mitverantwortlich für das Bauernsterben und denke wohl kein bisschen an die vielen Arbeitsplätze in der fleischverarbeitenden Industrie. Er ließ all den Spott, die Wut und das Unverständnis über sich ergehen, saß bald weit abseits von den Kollegen allein an einem Tisch, nahm später nur noch von daheim Jause mit und vermied alle unangenehmen Gelegenheiten, in denen über das Thema Tierschutz hätte gesprochen werden können. Aber nie war ihm der Bericht in der Tageszeitung aus dem Kopf gegangen, in dem von einem entlaufenen Stier die Rede war. Einem Stier, der vor Angst aus dem Schlachthof geflohen war und sich daraufhin im Wald versteckte. Diese Angst in den Tieraugen! Diese Hilflosigkeit trotz der enormen Kraft und Größe. In den Händen eines Menschen war doch das stärkste Tier wehrlos wie eine Mücke. Und dass Säugetiere sehr ähnlich empfanden wie Menschen, gerade was Gefühle wie Schmerz, Furcht, Aufregung oder Einsamkeit betraf, das hatte die Forschung doch längst schon herausgefunden, das war doch eindeutig bewiesen. Aber den Menschen schien das vollkommen gleichgültig zu sein. Sie zerschnitten ungerührt das köstlichste Stück Fleisch auf ihrem Teller, tunkten es genüsslich in die Pfeffersauce oder in die Preiselbeeren, und verschwendeten keinen Gedanken daran, dass dieses Stück Fleisch einmal gelebt hatte, eine Mutter hatte oder selbst war, dass es auch nur eine Möglichkeit hatte von Anfang an, nur ein Leben, dieses, ohne Versprechen auf Entschädigung, Vergeltung, ein Paradies.
Dabei gab es doch nicht nur die Rinder und Schweine, die kotstarr, blutverschmiert und mit angstgeweiteten Augen durch die Gitterstäbe der Tiertransporter ihrem Tod entgegenblickten, und zugleich das erste Mal ins Freie, in die Sonne, das Tageslicht. Es gab nicht nur die Hunde, Katzen und Affen in den asiatischen Ländern, die dort gefoltert wurden, um hernach als Delikatesse serviert zu werden. Es gab auch Tiere, die so ganz anders waren, von deren Empfindungen und Bewusstsein den Menschen kaum etwas bekannt war. Wie lange lebten die Fliegen, die auf dem Leimpapier festklebten, ehe sie darauf zugrunde gingen? Wie viel bekamen sie von ihrem grausamen Schicksal mit? Was hatten sich die tausend und abertausend Nacktschnecken zuschulden kommen lassen, als dass sie eben Nacktschnecken waren, nichts anderes hätten werden können, nie eine Wahl hatten, nur jetzt die Qual? Er versetzte sich beim Anblick jedes gepflegten Gartens unwillkürlich in den Kopf einer roten Wegschnecke, er konnte nicht anders, es war in ihm veranlagt, auch er hatte keine Wahl. Er spürte sich deutlich über die Erde gleiten, eine glänzende Spur aus Schleim hinter sich herziehend. Kein Mensch hinterlässt so viele Spuren wie eine Wegschnecke, aber was nützt es ihr, was bleibt? Nichts! Nicht eine einzige Schnecke wurde persönlich von jemandem gekannt. Spuren waren auch nur Verschmutzungen auf der Welt, wie farbloses Insektenblut.
Er glitt im Schneckenkörper die Beete entlang und wusste, dass es sich hierbei um nichts anderes als das Paradies handeln konnte. Wie von Zauberhand hatte da jemand oder etwas ihm sein ganz privates Stück Himmel bestellt. Die köstlichsten jungen Pflänzchen, die schmackhaftesten neuen Triebe, das allerzarteste Blattwerk schien nur auf ihn zu warten. Und er war nicht allein! Viele Artgenossen gesellten sich zu ihm, alle verblüfft über diesen wunderbaren Zauberort, den nun noch ein leichter Regen erfrischte. Es war der Inbegriff des Glücks. Dann kam die gute Gärtnerin und schnitt ihn entzwei. Einfach so. Mitten im Paradies konnte das passieren. Denn es war gar nicht das Paradies, sondern die Hölle. Rings um ihn nichts als entzweigeschnittene Schnecken. Die Hälften trockneten in der wieder zögerlich hinter den Wolken hervorscheinenden Sonne. In ihrer Verzweiflung begannen einige Schnecken, die noch ganz waren, ihre verstorbenen Verwandten aufzuessen. Eine andere Möglichkeit der halbwegs würdigen Bestattung schien ihnen nicht durchführbar. Im Garten nebenan, der nächsten Hölle, stürzten die Artgenossen in einen Bottich voll siedenden Wassers, wo sie sich langsam, sehr langsam, zu einem rötlichbraunen Brei auflösten. In wieder einer anderen Hölle salzte ein Blumenfreund im Blaumann die Tiere an wie eine zukünftige Mahlzeit, um sie dann achtlos ihrem Leiden zu überlassen. Sie seufzten und wimmerten noch mehrere Stunden und krochen noch etliche Zentimeter weit, aber niemand nahm davon Notiz. Niemand, außer ihm. Aber wie hatte eine Kollegin ihm einst gesagt? „Du allein kannst die Welt nicht retten!“ Wer hatte denn was von allein gesagt? Oder von der ganzen Welt? Aber Tiere retten war noch einfacher als Menschen retten. Denn dass die Menschen anstelle eines Paradieses auch nur eine Hölle zur Verfügung gestellt bekommen hatten, stand für ihn ebenso außer Zweifel.
Der Holocaust. Dieses sinnlose Morden von Menschen, die auch keine Wahl gehabt hatten. Als ein Philosoph in einer Zeitschrift einmal die Tiertransporte und die Schlachthöfe mit einem Konzentrationslager verglichen hatte, ging ein Aufschrei durch die Gesellschaft. Das Volk war empört über diesen scheinbar pietätlosen Gedanken. Warum? Er wusste es nicht mehr. Weil es da um Menschen und dort um Tiere ging? „Nur“ um Tiere? Im Dritten Reich dachte man doch genauso. Da gab es hier die Menschen und „dort“ die Juden. Oder eben andere unerwünschte Minderheiten. Zigeuner, Schwule, Arbeitsunfähige, sogenannte „Schädlinge“. Oft saß er lange Zeit nur reglos da. Oder erstarrte innerlich, während er äußerlich wie gewohnt seiner Arbeit nachging. Und versetzte sich in all diese Opfer hinein. Die Menschen, die von heute auf morgen vertrieben wurden, abtransportiert in Viehwägen, zu irgendwelchen Lagern. Diese Angst. Diese Ungewissheit in jeder Minute, jedem Atemzug. Die stetig nagende Frage, was aus den Angehörigen geworden sein mag. Lebte die Mutter noch? Hatte sie Angst, Schmerzen? Was war aus dem Vater geworden? Wo hatte man die Kinder hingebracht?
„Für manche Menschen ist das tatsächlich eine Art Kinderersatz“, erläuterte die Psychologin. „Es überträgt ihnen Verantwortung, sie glauben irrtümlicherweise, dass es Liebe sei, wenn ein Tier aus einem hingestellten Napf frisst. Es sind bestimmt arme Personen. Aber wenn Arme anderen Armen helfen möchten, kommt eben meistens nichts Gutes dabei heraus.“ Der Polizist nickte eifrig, als hätte sie soeben eine unumstößliche Wahrheit ausgesprochen, die demnächst als allgemein gültiges Gesetz in die Bundesverfassung aufgenommen werden sollte. Die Seuchenpolizei legte inzwischen ihre Schutzanzüge an.
Sich mit Geschichte zu beschäftigen, war ihm bald schon unerträglich geworden. Die ganzen Kriege, die Folteropfer, die Hexenverbrennungen, der Schrecken der Inquisition. Nichts als Leid. Bis heute. Alles beim Alten. Kinderarbeit, Kindersoldaten, Kinderpornografie. Ausbeutung Rechtloser. Der Hunger auf der Welt. Die Armut. Naturkatastrophen. Flugzeugabstürze. Schiffsunglücke. Flüchtlingselend. Diskriminierung. Krankheiten. Schicksalsschläge, Martyrien. Elend. Not.
Ein junger Mann trug riesige Stapel von Zeitungen ins Freie. Tageszeitungen, Wochenmagazine, Monatsausgaben, Sonderhefte. In Kartons lagerten Ausschnitte aus diversen Printmedien. „Nichts als Unglück“, bemerkte ein Seuchenfachmann im Vorbeigehen, als sein Blick auf einem verrutschenden Papierstoß kurz verharrte. „Er muss sich geweidet haben an Katastrophenmeldungen, Verbrechen, Massakern aller Art“, nickte der junge Mann im Weitersortieren des ohnehin zum Vernichten bestimmten Papiergebirges.
Manche Schrecklichkeiten blieben selbst ihm sonderbarerweise länger im Gedächtnis als andere. Die Bergleute, die in der südamerikanischen Mine so lange verschüttet gewesen waren. Dieses ungewisse Ausharrenmüssen in der Tiefe, in der Dunkelheit. Das gesunkene U-Boot in der Barentssee. Er hatte die Seiten mit den Fotos der ertrunkenen Mannschaft aus der Zeitung geschnitten und aufbewahrt. Die jungen russischen Männergesichter voller nicht zu Ende erzählter Geschichten. Die Panik in der beklemmenden Enge. Das sichere Erwarten des eigenen Todes. Später einmal wollte er die Ausschnitte einordnen. Nach Themen sortieren. In Ordnern abheften. Um alles griffbereit zu haben. Das Unglück der anderen, das das eigene plötzlich klein und nichtig erscheinen ließ. Die fremden Katastrophen, die den Blick zurechtrückten, ein nützliches Korrektiv darstellten zur eigenen weinerlichen Wehleidigkeit. Manche Tierbilder waren auch liebgewordene Erinnerungen. Zu wenige natürlich. Es hätten mehr sein können. „Ich hätte noch ein paar mehr retten können!“, ruft Oskar Schindler gegen Ende des Spielberg-Films verzweifelt aus. Das Gefühl war ihm mehr als bekannt.
Er hätte nur ein wenig mehr Zeit gebraucht. Irgendwann wollte er schließlich Ordnung in das alles bringen. In Wahrheit hatte er doch nie etwas aufgehoben, das es nicht auch wert gewesen wäre, aufgehoben zu werden. Ein Außenstehender mochte das möglicherweise nicht verstehen, denn es konnte ja keiner hineinsehen in seinen Kopf, wo schon alles aufgeräumt war, wo er schon deutlich alles in schönster Ordnung archiviert und griffbereit verstaut wusste. Ganz genau konnte er sein zukünftiges Leben bereits vor sich sehen. Die Zeitungsstapel würden zwar nicht alle verschwinden, aber nach sorgfältiger Durchsicht doch erheblich geschrumpft sein. Es stand schließlich so viel Nützliches, Wissenswertes und Hochinteressantes in all den Zeitschriften, Broschüren und Magazinen. Einige davon lagen sogar gratis irgendwo in der Öffentlichkeit auf. Da musste man doch zugreifen. Psychologische Beratung. Vorsorge und Hilfe im Trauerfall. Früherkennung von Darmkrebs. Die besten Lebensmittel für gesteigerte Leistung und mehr Aktivität. Bus-, Flug- und Schiffsreisen für Singles, Gruppen und Familien. Homöopathie für Haustiere. Die wichtigsten Rechtsbeistände und Steuerberater im handlichen Folder. Honig – ein kostbares Gut. Klassische Klavierkonzerte unter freiem Himmel. Die besten Neuerscheinungen am Büchermarkt. Sommerliche Gemüserezepte für Gäste. Das alles konnte man doch gut gebrauchen. Und wenn nicht jetzt, dann später einmal.
Die vielen praktischen Tipps mussten natürlich erst einmal ausgeschnitten und sortiert werden. Dann konnte er sie in Hefte kleben. Die vielen Berichte und Reportagen über ferne Länder, interessante Völker, spektakuläre wissenschaftliche Entdeckungen und erstaunliche Naturphänomene würden eigene Ordner füllen. Wie auch die vielen, überaus lesenswerten Portraits faszinierender Persönlichkeiten, von denen man viel lernen konnte. Über die Kunst und das Leben.
Letztlich war es um sehr, sehr viele Dinge schade. Er wusste, andere Leute warfen alles Mögliche weg, ohne darüber nachzudenken, es war nicht umsonst eine Wegwerfgesellschaft, in der er lebte. Doch ihm wollte dieses Wegwerfen nicht gelingen. Und warum sollte es auch? Was man wegwarf, war schließlich nicht wirklich „weg“, sondern nur woanders. „Weg“ gab es gar nicht. Also konnte er die Sachen doch gleich behalten. Es steckte letzten Endes selbst in den unscheinbarsten Dingen so etwas wie ein Wert. Material. Arbeit. Zeit und Geld. Irgend jemand hatte doch auch die ganzen Gewinne und Gratisüberraschungen der Versandhäuser erfunden und herstellen lassen, verpacken, versenden. Jeder Karton konnte später einmal noch zu etwas nütze sein. Er selber verwendete viele davon zum Zwischenlagern der zukünftigen Ordnungshelfer. Klarsichthüllen, Stell- und Ringordner, Flügelmappen, leere Hefte in allen Formaten, Alben, Klebstoff, Karteikästen, Index- und Trennblätter, Locher, Schmucketiketten warteten nur mehr darauf, endlich ihre Regale und Kästen zu bekommen, in denen sie eines Tages ihre vorbildliche archivarische Büroordnung verströmen durften. Die Videos mussten noch alle genau beschriftet und katalogisiert werden, solange es noch Videogeräte zum Abspielen gab. Es liefen doch im Fernsehen immer wieder wissenswerte und lehrreiche Dokumentationen, oder auch schöne Filme. Jedes Käsepapier konnte man später eventuell noch einmal gebrauchen, und sei es nur als Unterlage für eine Stelle, die tropft.
Natürlich, manches hätte er beiseite räumen müssen. Die verdorbenen Lebensmittel im Kühlschrank, das verschimmelte Obst in den Laden, das schmutzige Geschirr, den tatsächlichen Müll. Aber dafür würde er Ruhe brauchen. Ruhe und viel Zeit. Denn wenn, dann wollte er alles gründlich machen. Die entlegensten Winkel sauberschrubben. Alle leeren Behältnisse reinigen und nach Größe und Gebrauchszweck lagern. Die zahllosen Säcke, Taschen, Kisten und Körbe ausräumen. Jeden einzelnen Gegenstand darin in die Hand nehmen und genau prüfen, wofür er noch Verwendung finden konnte. Die Elektrogeräte auf ihre Funktionstüchtigkeit untersuchen. Alles mit Batterien kontrollieren und, wenn nötig, die entsprechenden Batterien ersetzen. Die Fotos einkleben. Die Bücher nach einem ganz bestimmten System in eine längst fällige Bücherregalwand einsortieren. Die Lebensmittel nach ihrem Ablaufdatum kontrollieren. „Neu“ stand schließlich auch auf alten Produkten. Manches war aber auch lange noch dem Verfallsdatum noch genießbar, das musste man eben weiter vorne einschlichten.
Die Kleidung dann. Er würde etwas spenden davon. Bevor allerdings niemand etwas davon trug und alles stattdessen zerschnitten und verbrannt wurde, war es doch schade. Vor allem um einige wirklich schöne Stücke. In einem erstklassigen Herrenanzug von feinster Qualität steckte eine Menge Arbeit. Sowas gab man doch nicht einfach weg, nur weil es aus der Mode kam. Und das Meiste ließ sich immerhin noch bequem zuhause auftragen. Ausgeleierte Pullover, verwaschene Hemden, abgetragene Hosen konnten als Arbeits- oder Freizeitbekleidung noch gute Dienste leisten. Und zerschlissene Unterwäsche gab hervorragende Putzlappen ab. Und zu putzen würde dann, nachdem die Ordnung Einzug gehalten hatte, genügend bleiben. Die Putzmittel standen schon bereit wie die königliche Garde. Die alten Zahnbürsten harrten schon der schmutzigen Fugen. Die Senf- und Farbeimer mussten nur noch ausgewaschen werden, schon konnten sie ihren zweiten Bildungsweg als Putzkübel starten. Die zahllosen Plastiksackerln würden dankbar sein für jeden Unrat, den man ihnen anvertraute.
Paradiesische Zustände würden das dann sein, wenn endlich alles geordnet, aufgeräumt und sauber war. Da konnten die langen, gemütlichen Herbst- und Winterabende schon kommen. Lesestoff gab es schließlich genug. Und das wusste er, dass er mit den Zeitungen beginnen würde. Das waren die allerhöchsten Türme.
Wem beim Anblick der Tierseite in der Tageszeitung das Herz nicht weich wurde oder fast brach, der hatte keins. Diese erschütternden Schicksale der Tierheimbewohner, die um ein neues Zuhause flehten, konnten niemanden kalt lassen. Die Fotos waren schon schlimm genug. Aber erst die kurzen Texte zu den Bildern hatten ihm regelmäßig den Rest gegeben.
„Wegen einer Allergie ihres Frauerls hat die arme Judy einfach alles verloren – wie traurig und verzweifelt muss das kastrierte Pupperl nun sein!“ (Bild: schneeweißer Mischlingshund, halbhoch) / „Bitte schenken Sie Ihr Herz der armen, etwas älteren Cindy, die so furchtbar leidet!“ (Bild: graue, struppige Promenadenmischung, eher klein gewachsen) / „Ihre Welt ist zusammengebrochen, als man die arme Riesenschnauzerdame Anja mit sieben Jahren ins Tierheim gab, wo sie sich unendlich kränkt!“ (Bild: Portrait schwarzer Riesenschnauzer) / „11 Jahre lang war er Frauerls Liebling – dieses ist nun krank und kann ihren treuen Maxi nicht länger umsorgen.“ (Bild: kurzhaariger schwarz-weiß-gefleckter Mischling, sehr trauriger Blick) / „Nur mehr ein Augerl hat der verschmuste Kater Burli, um den sich plötzlich niemand mehr kümmern möchte.“ (Bild: rot-weiß-gescheckte, einäugige Katze) / „Herbert heißt dieses entzückende Meerschweinböckchen, das herzlose Menschen einfach im Wald ausgesetzt haben. Wer nimmt den herzigen Nager bei sich und einigen Artgenossen auf und schenkt ihm all die Liebe, nach der er sich so sehnt?“ (Bild: dreifarbiges Rosettenmeerschweinchen mit pfiffigem Blick in die Kamera)
Er hatte jeder einzelnen verlassenen, ausgestoßenen, verwahrlosten, ungewollten, lästig gewordenen Kreatur ein Paradies bereiten wollen. Wenn sich das für ihn selbst schon nicht mehr ausging, oder für eine Handvoll anderer Menschen, dann eben für diese Tiere. Er wusste, er konnte nicht alle retten, nicht allen helfen, aber doch einigen. Wie es sein Verdienst eben zuließ. Der sich mit ein paar Überstunden noch ab und an ein wenig vermehrte. Aber zu viele Überstunden durften es dann auch wieder nicht sein, sonst blieb für zuhause gar keine Zeit mehr. Und Tiere brauchten doch auch Zeit. Es genügte nicht, sie zu füttern und ihnen ausreichend Spiel- und Schlafplätze zur Verfügung zu stellen. Man musste sich doch auch um sie persönlich kümmern. Um jedes einzelne Tier. Persönlich. Mit den Hunden spazieren gehen. Die Katzen streicheln und auf den Schoß nehmen. Die Nager gewissenhaft beobachten. Ob der Kot in Ordnung war, die Zähne nicht zu lang oder schief vor sich hinwuchsen, die gesamte Nagerperson einen munteren und gesunden Eindruck machte. Die Hasenohren nach etwaigem Milbenbefall absuchen. Auch die Käfige mussten gereinigt werden. Gerade im Sommer drohte allerorten, in der Tonne mit den leeren Futterdosen, im Restmüll beim entsorgten Katzenkot, in den Meerschweinchen- und Kaninchengehegen, besonders in den urindurchtränkten hinteren Winkeln der Schlafhäuschen, Madenbefall. Andererseits. Hatte nicht auch eine Made nie eine Wahl gehabt? Was konnte die Fliege eigentlich dafür, dass sie in ihrem ohnedies so unverschämt kurzen Leben nicht wenigstens noch Nachwuchs in die Welt setzen wollte? Wer weiß, vielleicht wollte auch die weibliche Fliege gern einmal im Leben Mutti sein? Und der viele Unrat, dem regelmäßig und rechtzeitig Herr zu werden ihm ja doch nie gelingen wollte, war letztlich für die Maden auch nichts anderes als – ein Paradies.
„Warum ist die Behörde da nicht schon viel früher eingeschritten?“, fragte der zuständige Sachbearbeiter. „Das muss man doch in der ganzen Gegend gerochen haben! Was ist das denn für ein unsagbar kranker Wahnsinn?“ – „Animal Hoarding lautet der Fachbegriff dafür“, erläuterte die Psychologin in bewusst sachlich gehaltenem Tonfall. „Sei können das durchaus auch so in der Zeitung schreiben“, sagte sie in Richtung des sich soeben einfindenden Reporters einer Lokalgazette. Er schaute sie fragend an. Sie holte tief Atem, während sie das Gesicht zu einer säuerlich-angeekelten Grimasse verzog. „Ja, schreiben Sie das ruhig genau so hinein! Schreiben Sie: ‚Verwahrloste Tiere aus Messi-Haushalt befreit. Elf Hunde, einunddreißig Katzen, zweiundzwanzig Meerschweinchen und siebzehn Hasen konnten gerettet und in die Obhut des örtlichen Tierschutzhauses verbracht werden. Es besteht dringender Seuchenalarm und höchste Verschmutzung! Der verantwortungslose Tierhalter muss aufgrund der katastrophalen Hygienebedingungen zwangsdelogiert werden. Der Mann, der einen geistig verwirrten Eindruck macht, hat lebenslanges Tierhalteverbot und wird vorerst in einer seinem Zustand adäquaten Einrichtung untergebracht. Für die vielen herrenlosen Tiere wird nun ein neues Zuhause gesucht, wo sie endlich artgerecht leben dürfen nach dieser zum Teil jahrelangen Hölle.“
Der Reporter hatte alles, soweit es ihm möglich war, mitgeschrieben. „So, Hölle. – Ich hab’s. Dann drucken wir das.“ „Tun Sie das!“, entgegnete ihm die Psychologin mit einem zufriedenen Kopfnicken, während sie ein zu ihren Füßen sitzendes Kaninchen mit ihren Fingerspitzen berührte, als handle es sich dabei um eine sehr seltene Krankheit, eine ganz und gar fremde Welt. Der Hase machte einen erschrockenen Satz und hoppelte zwischen den Beinen des Reporters hindurch ins Freie.