Читать книгу Mensch sein - Andrea Ylä-Outinen - Страница 4
Оглавление1. Kapitel
Ich packe unseren Koffer aus und fluche leise vor mich hin. Denn ich habe meine Tabletten vergessen. Ich bin auf die tägliche Einnahme angewiesen, habe daher jetzt ein Problem. Auf das ich gar keine Lust habe. Genervt rufe ich meinen Papa an und bitte ihn, mir die Tabletten zuzuschicken. Dabei suche ich hektisch unsere momentane Adresse aus den Reiseunterlagen heraus, denn ich befinde mich mit meinen beiden Kindern im Sommerurlaub. Auf einer kleinen idyllischen Insel, die nur mit der Fähre zu erreichen ist. Wir haben uns ein kleines Ferienhäuschen mit Reetdach gemietet, in einer Ferienanlage mitten in einem Waldstück. Mit großem Spielplatz und direktem Strandanschluss. Natur pur. Unsere gemieteten Fahrräder stehen vor der Tür und warten auf neue Abenteuer. Sogar wenn es draußen seit Stunden regnet.
Mein Papa verspricht mir, den Brief noch heute loszuschicken. Denn es ist Freitag. Mittlerweile später Nachmittag. Das kann also dauern mit der Post. Ich berichte ihm noch kurz von unserer problemlosen Anreise und wie spannend die Überfahrt mit der Fähre für meinen zweijährigen Sohn war. Und beobachte dabei, wie Junior gerade unser Feriendomizil in Beschlag nimmt: er sortiert die Kissen und Rückenlehnen vom Sofa herunter, verteilt sie auf dem Boden, baut darauf einen imaginären Stau mit seinen Autos, reißt dabei mit seinem Popo die Zierdecke vom Couchtisch, stolpert über seine Hausschuhe die er immer noch nicht angezogen hat und mimt dabei einen schwer verletzten Fußballer, auf dem Boden liegend.
Ich beende das Telefonat mit meinem Vater und suche sofort die Regensachen heraus, damit der Kleine draußen spielen kann. Seine große Schwester zieht ein langes Gesicht. Weil es draußen regnet. Regensachen hin oder her.
Mein Sohn setzt noch einen drauf:
„Mama, wieso wohnen wir hier in diesem komischen Haus?“
„Na, irgendwo müssen wir doch schlafen.“
„Und warum? Wir können doch spielen!“
„Tut mir leid, ich habe jetzt keine Zeit zu spielen. Ich muss jetzt erst mal den Koffer auspacken.“
Damit bin ich schnell fertig. Ich sortiere unsere Sachen in den einzig vorhandenen sehr winzigen Schrank ein und unser Ferienhaus nach der Attacke durch einen kleinen Menschen wieder auf. Währenddessen hat es aufgehört zu regnen – unser Urlaub kann nun endlich beginnen.
Wir schwingen uns voller Elan auf unsere Fahrräder, um die Insel zu erkunden. Obwohl ich hier schon einmal vor Jahren war, fühlt es sich wieder neu und aufregend an. Die Insel ist sehr klein. Man kann sie problemlos an einem Tag mit dem Fahrrad umrunden.
Wir fahren, ohne vielen Menschen unterwegs zu begegnen. Was für eine herrliche Abwechslung zu der Großstadt, aus der wir kommen. Wunderschön friedlich und ruhig ist es an diesem Ort. Eine autofreie Zone mitten in Europa, hier dominieren Fahrräder und Pferde. Erwachsene Menschen, die mit einem Stock bewaffnet und teurer Sportkleidung ausgerüstet, fröhlich pfeifend ein imaginäres Ziel an-walken, laufen einem hier nicht über den Weg. Und egal in welche Richtung ich schaue, ich kann stets auf das Wasser blicken. Entweder auf die See oder auf den Bodden.
Trotz des verregneten Wetters leuchten die Wiesen in apfelgrün und die Wolken sehen aus wie kleine Schafe, die gerade ein Wettrennen durchführen. Die salzige Seeluft wirbelt um unsere Ohren und fordert uns heraus, ihrer Kraft zu trotzen – in Form von starkem Gegenwind. Ein Gefühl der Freiheit umgibt mich. Keine Autos, keine Hektik, kein Lärm. Einatmen, loslassen, genießen.
Die Gedankengänge meines Sohnes holen mich abrupt zurück:
„Mama, warum liegt hier Kacka auf der Straße?“
Ich konzentriere mich auf das Fahrrad fahren, darauf, um das gerade Erwähnte drum herum zu steuern.
„Na, weil die Pferde da hingemacht haben“.
„Und warum?“
„Die Pferde mussten halt mal.“
„Aber warum?“
„Na, weil die hier hergelaufen sind und grade mal mussten.“
„Und warum?“
„Na, du musst doch auch manchmal A-a machen...“
Und bevor ich aufs Neue an der „WARUM“ Phase dieses herrlichen Alters verzweifle, kommt mir seine entwaffnende Schlussfolgerung zuvor:
„Aber doch nicht mitten auf die Straße!“
Meine Tochter und ich kugeln uns vor lachen, wir fallen fast vom Fahrrad und müssen anhalten. Uns hört man bestimmt meilenweit und ich vergesse all den Ärger wegen der blöden Tabletten und bin dankbar. Für diese kleine Oase des Lachens und Freude.
Doch die Wolken meinen es heute zu gut mit uns. Mitten auf einer Landstraße fängt es schlagartig an zu regnen und wir werden trotz Regenjacke sehr schnell nass. Ein lautes Stöhnen ertönt von hinten aus dem Kindersitz und von meiner Tochter links neben mir auf dem Fahrrad. Wir kapitulieren vor dem Regen und fahren zurück. Um dabei zuzusehen, wie mein ausgelassener Sohn unser Ferienhaus komplett umräumt.
Ich schalte die Heizung an und es ist mir völlig gleich, in welcher Jahreszeit wir uns befinden. Denn die Sachen müssen irgendwie bis morgen trocken werden, für den nächsten Ausflug mit dem Fahrrad, der uns zu einem anderen Landstrich dieser Insel führen wird.
Wir machen es uns mit Tee auf dem Sofa gemütlich, hören uns zum gefühlten 1.287 Mal die „Oh wie schön ist Panama“ CD an. Dieses Hörspiel lieben wir alle drei sehr, es hat uns voll im Griff und wir sprechen teilweise ganze Dialoge mit. Ich warte auf die Stelle, an der wir zusammen den Panama-Song singen können und schaue dem Regen bei seiner Arbeit zu. Meine Tochter liest. Der Kleine spielt mit seinen Autos.
„Mama! Hier ist so ein komischer Käfer!“ ruft er plötzlich empört.
Ich schaue in seine Blickrichtung. Auf den Ohrenkneifer, der gerade über einen Ferrari krabbelt. Von dem Käfer habe ich heute bereits ein paar seiner Kumpels gesehen, die ebenfalls im Haus herumliefen.
Und denke: Wieso heißt ein Käfer eigentlich Ohrenkneifer, wenn er doch in gar keine Ohren kneift?
Er muss ein zutiefst missverstandenes Wesen sein.