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1 EINE WETTE

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EINES ABENDS IN TORONTO saßen die Götter Apollo und Hermes in der Wheat Sheaf Tavern. Apollo hatte sich einen Bart bis zum Schlüsselbein wachsen lassen. Hermes war glattrasiert, seine Kleidung war irdisch: schwarze Jeans, eine schwarze Lederjacke und ein blaues Hemd.

Sie hatten getrunken, aber es war nicht der Alkohol, der sie berauschte. Es war die Verehrung, die ihre Anwesenheit hervorrief. Das Wheat Sheaf kam ihnen wie ein Tempel vor, und die Götter waren höchst zufrieden. Auf der Herrentoilette ließ Apollo es zu, dass ein älterer Mann in einem Geschäftsanzug ihn berührte. Diese Freude, die intensiver war als alles, was der Mann erfahren hatte oder noch erfahren würde, kostete ihn acht Jahre seines Lebens.

In der Bar begannen die Götter eine zwanglose Unterhaltung über das Wesen der Menschheit. Zu ihrem Vergnügen sprachen sie Altgriechisch, und Apollo argumentierte, dass Menschen weder besser noch schlechter seien als irgendwelche anderen Lebewesen, nicht besser oder schlechter als etwa Flöhe oder Elefanten. Menschen, sagte Apollo, hätten kein besonderes Verdienst, auch wenn sie sich selbst für etwas Höheres hielten. Hermes vertrat die gegenteilige Meinung und meinte, dass zum Beispiel die menschliche Art und Weise, Symbole zu kreieren und zu benutzen, interessanter sei als etwa der komplexe Tanz, den Bienen vollführen.

Die Menschensprachen sind zu vage, sagte Apollo.

Mag sein, erwiderte Hermes, aber das macht Menschen amüsanter. Hör doch nur mal diesen Leuten hier zu. Man könnte schwören, sie würden einander verstehen, obwohl keiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung hat, was seine Worte den anderen tatsächlich bedeuten. Wie kann man so einer Farce widerstehen?

Ich sage ja nicht, dass sie nicht amüsant sind, antwortete Apollo. Aber Frösche und Fliegen sind auch komisch.

Wenn du Menschen mit Fliegen vergleichst, kommen wir nicht weiter. Und du weißt das.

In perfektem, wenn auch göttlich akzentuiertem Englisch – das heißt, in einem Englisch, das jeder Gast in der Bar verstand – sagte Apollo:

Wer wird für unsere Drinks bezahlen?

Ich, rief ein armer Student. Bitte, überlassen Sie mir das.

Apollo legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes.

Mein Bruder und ich danken dir, sagte er. Wir hatten jeder fünf Sleeman Bier. Für die nächsten zehn Jahre wirst du weder Hunger haben noch Mangel erleiden.

Der Student kniete nieder und küsste Apollos Hand, und als die Götter gegangen waren, fand er Hunderte von Dollars in seinen Taschen. Tatsächlich hatte er, solange er die Hose besaß, die er an jenem Abend trug, mehr Geld in seinen Taschen, als er ausgeben konnte, und es vergingen zehn Jahre seit jenem Moment, bevor sich die Cordhose auflöste.

Die Götter verließen die Bar und gingen die King Street Richtung Westen entlang.

Ich frage mich, sagte Hermes, wie es wäre, wenn Tiere menschliche Intelligenz hätten.

Ich frage mich, ob sie wohl so unglücklich wären wie die Menschen, antwortete Apollo.

Manche Menschen sind unglücklich, andere nicht. Ihre Intelligenz ist eine schwierige Gabe.

Ich wette gegen ein Jahr Dienstbarkeit, sagte Apollo, dass Tiere – ganz gleich, welches du wählst – sogar noch unglücklicher wären, wenn sie menschliche Intelligenz hätten.

Ein Erdjahr? Die Wette nehme ich an, sagte Hermes, und gewonnen habe ich, falls auch nur eines dieser Lebewesen am Ende seines Lebens glücklich ist.

Aber das ist eine Sache des Zufalls, sagte Apollo. Das beste Leben endet manchmal schlimm, und das schlimms­te manchmal gut.

Wohl wahr, erwiderte Hermes, aber man kann nie wissen, wie ein Leben war, bevor es vorbei ist.

Sprechen wir von glücklichen Wesen oder glücklichen Leben? Na egal. So oder so, ich nehme deine Bedingung an. Menschliche Intelligenz ist keine Gabe. Sie ist eine gelegentlich nützliche Plage. Welches Tier wählst du?

Zufällig befanden sich die beiden Götter nicht weit entfernt von der Tierklinik in Shaw. Unbemerkt betraten sie den Ort und fanden Hunde, zumeist Haustiere, die von ihren Besitzern aus dem unterschiedlichen Gründen über Nacht dort untergebracht worden waren. Hunde also.

Soll ich ihnen ihr Gedächtnis lassen?, fragte Apollo.

Ja, sagte Hermes.

Und da verlieh der Gott des Lichts den fünfzehn Hunden, die sich in dem Zwinger hinter der Klinik befanden, »menschliche Intelligenz«.

Irgendwann um Mitternacht hielt Rosie, eine Schäferhündin, die gerade ihre Vagina leckte, inne und fragte sich, wie lange sie wohl an diesem Ort bleiben müsse. Und dann fragte sie sich, was mit ihrem letzten Wurf geschehen war. Es erschien ihr äußerst unfair, mit so viel Mühsal Welpen zu bekommen und sie dann aus den Augen zu verlieren.

Rosie stand auf, um etwas Wasser zu trinken und an den harten Pellets zu schnüffeln, die man ihr zum Fressen gegeben hatte. Mit der Nase an dem Futter in dem flachen Napf herumstupsend, entdeckte sie zu ihrer Verblüffung, dass der Napf nicht wie gewöhnlich dunkel war, sondern vielmehr eine seltsame Färbung hatte. Sie ähnelte dem Pink von Kaugummi, aber da Rosie diese Farbe nie zuvor gesehen hatte, erschien sie ihr schön. Bis zum Ende ihres Lebens gefiel ihr keine Farbe besser.

In der Zelle nebenan träumte ein grauer Neapolitanischer Mastiff namens Atticus von einem weiten Feld, auf dem es zu seinem Entzücken von kleinen pelzigen Tieren wimmelte. Tausende von ihnen – Ratten, Katzen, Kaninchen und Eichhörnchen – bewegten sich über das Gras wie der Saum eines Kleides, das weggezogen wird, gerade außerhalb seiner Reichweite. Dies war Atticus’ Lieblingstraum, eine nicht nachlassende Freude, die immer damit endete, dass er glücklich ein zappelndes Lebewesen zurück zu seinem geliebten Herrchen brachte. Sein Herrchen nahm das Ding, schlug es gegen einen Stein, führte dann seine Hand über Atticus’ Nacken und sagte seinen Namen. Immer endete dieser Traum so, immer. Aber diesmal nicht. In dieser Nacht, als er in den Nacken einer dieser Kreaturen biss, kam es Atticus in den Sinn, dass das Lebewesen Schmerz verspüren musste. Der Gedanke – klar und unerhört – weckte ihn aus dem Schlaf.

Andere Hunde in dem Zwinger wachten auf, aufgeschreckt von seltsamen Träumen oder dem plötzlichen Bewusstsein einer unbestimmbaren Veränderung in ihrer Umgebung. Diejenigen, die nicht geschlafen hatten – es ist immer ungewohnt, weg von zu Hause zu schlafen –, erhoben sich und gingen leise zu der Tür ihrer Zelle, um zu sehen, wer den Ort betreten hatte. Zuerst nahm jeder von ihnen an, dass seine neuentdeckte Vorstellung einzigartig war. Nur allmählich wurde es ihnen klar, dass sie nun alle in dieser seltsamen Welt lebten.

Ein schwarzer Pudel namens Majnoun bellte leise. Er schaute nachdenklich auf Rosies Käfig, der seinem gegenüberlag. Und zufällig fiel sein Blick auf das Schloss: eine längliche Schlaufe, die an einem Riegel befestigt war. Sie lag zwischen zwei Stücken aus Metall und hielt den Riegel sicher an seinem Platz. Die Vorrichtung war einfach, elegant und effektiv. Doch um die Tür zu öffnen, musste man nur die Schlaufe anheben und den Riegel zurückschieben. Genau das tat Majnoun, indem er sich auf die Hinterbeine stellte und eine Pfote durch das Käfiggitter schob. Er brauchte einige Versuche, denn es war gar nicht so einfach, aber nach einer Weile war das Schloss entriegelt, und er stieß die Tür auf.

Obwohl die meisten Hunde verstanden, wie Majnoun seine Zelle geöffnet hatte, waren nicht alle fähig, das Gleiche zu tun. Es gab verschiedene Gründe dafür. Frick und Frack, zwei einjährige Labradore, die am nächsten Tag kastriert werden sollten, waren zu jung und ungeduldig. Die kleineren Hunde – ein schokoladenfarbener Zwergpudel namens Athena, ein Schnauzer namens Dougie, ein Beagle namens Benjy – wussten, dass sie körperlich nicht in der Lage waren, den Riegel zu erreichen, und winselten frustriert, bis ihre Zellen für sie geöffnet wurden. Die älteren Hunde, insbesondere ein Labradoodle namens Agatha, waren zu müde und verwirrt, um klar zu denken, und zögerten, die Freiheit zu wählen, selbst nachdem die Türen ihrer Zellen offen standen.

Natürlich besaßen die Hunde bereits eine gemeinsame Sprache. Sie war auf das Wesentliche reduziert, eine Sprache, in der vor allem der soziale Status und physische Bedürfnisse von Bedeutung waren. Alle Hunde verstanden die entscheidenden Ausdrücke und Gedanken: »Vergib mir«, »Ich werde dich beißen«, »Ich bin hungrig«. Nun, da ihnen das Primatendenken auferlegt worden war, änderte sich auch die Sprache, in der die Hunde zueinander und zu sich selbst sprachen. Zum Beispiel kannten sie zuvor nicht das Wort »Tür«. Nun verstanden sie, dass »Tür« ein Ding war, das sich von dem Verlangen nach Freiheit unterschied, dass »Tür« unabhängig von Hunden existierte. Seltsamerweise stammte das Wort für »Tür« in der neuen Sprache der Hunde nicht von den Türen zu ihren Zellen, sondern vielmehr von der Hintertür zu der Tierklinik. Diese Tür, groß und grün, ließ sich öffnen, indem eine Metallstange in der Mitte zur Seite geschoben wurde. Diese Metallstange verursachte beim Öffnen einen starken, nachhallenden Knall. Seit jener Nacht kamen die Hunde überein, dass das Wort für »Tür« ein Klick (Zunge gegen Vordergaumen), gefolgt von einem Seufzer, sein sollte.

Zu sagen, die Hunde seien verwirrt gewesen, wäre eine Untertreibung. Wenn sie »verwirrt« waren, als die Bewusstseinsveränderung über sie kam, in welchem Zustand befanden sie sich, als sie die Klinik durch die Hintertür verließen und auf die Shaw Street sahen? Ein Chaos aus Lärm und Gerüchen überfiel sie, dessen Bedeutung nun eine Wichtigkeit für sie hatte wie nie zuvor. Plötzlich verstanden sie, dass sie frei und zugleich hilflos waren.

Wo waren sie? Wer sollte sie anführen?

Für drei der Hunde endete die seltsame Episode bereits an dieser Stelle. Agatha, die an ständigen schrecklichen Schmerzen litt und in der Klinik war, um eingeschläfert zu werden, hielt es für sinnlos, mit den anderen weiterzugehen. Sie hatte ein gutes Leben gelebt, drei Würfe gehabt und so all den Respekt bekommen, den sie von den Hündinnen erwartete, die sie auf Spaziergängen mit ihrem Frauchen traf. Sie wollte nicht Teil einer Welt sein, in der ihr Frauchen keine Rolle spielte. Sie legte sich vor der Tür der Klinik und ließ die anderen wissen, dass sie nicht weglaufen werde. Sie wusste nicht, dass diese Entscheidung ihren Tod bedeutete. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass ihr Frauchen sie verlassen hatte und sie dem Tod allein ins Auge sehen musste. Am schlimmsten war, dass die Klinikangestellten, die sie am nächsten Morgen zusammen mit den Mischlingen Ronaldinho und Lydia entdeckten, nicht freundlich waren. Sie ließen ihren Frust an Agatha aus und taten ihr weh, als sie zu dem Silbertisch gebracht wurde, wo sie eingeschläfert werden sollte. Einer der Männer schlug sie, als sie den Kopf hob, um ihn zu beißen. Sobald Agatha den Tisch sah, wusste sie, dass ihr Ende gekommen war, und ihre letzten Momente verbrachte sie mit der nutzlosen Anstrengung, ihren Wunsch mitzuteilen, dass sie ihr Frauchen sehen wollte. In ihrer Verwirrung bellte Agatha heiser wieder und wieder das Wort für »Hunger«, bis ihr Geist ihren Körper verlassen hatte.

Wenn Ronaldinho und Lydia auch länger lebten als Agatha, war ihr Ende fast genauso unglücklich. Beide waren in der Tierklinik wegen leichter Beschwerden. Beide wurden heimgeschickt zu dankbaren Besitzern. Und in beiden Fällen vergiftete ihre neue Denkweise, was (zumindest in ihrer Erinnerung) ein idyllisch und relativ langes Leben gewesen war. Ronaldinho lebte bei einer Familie, die ihn liebte, aber nach seiner Rückkehr aus der Klinik begann er zu bemerken, wie herablassend sie ihm gegenüber war. Trotz des spürbaren Beweises, dass Ronaldinho sich verändert hatte, behandelte die Familie ihn immer nur wie ein Spielzeug. Er lernte ihre Sprache. Er saß, stand, stellte sich tot, rollte herum oder bettelte, bevor die Befehle auch nur ausgesprochen waren. Er schaffte es, den Herd abzustellen, wenn der Kessel pfiff. Und einmal, als in seiner Gegenwart behauptet wurde, dass Hunde nicht bis zwanzig zählen könnten, starrte er die Person an, die das gesagt hatte, und bellte – ironisch, verbittert – zwanzig Mal. Niemand nahm es wahr oder zeigte Interesse. Schlimmer noch: Vielleicht weil die Familie vermutete, Ronaldinho sei »nicht mehr der Alte«, mied sie ihn eher, streichelte ihm flüchtig den Rücken oder Kopf, gewissermaßen in Erinnerung an den Hund, der er einmal gewesen war. Er starb desillusioniert und verbittert.

Lydia erging es schlechter. Eine Kreuzung zwischen einem Whippet (ihre Mutter) und einem Weimaraner, war sie immer schon ein nervöses Wesen. Die Gabe der menschlichen Intelligenz machte sie noch nervöser. Auch sie lernte die Sprache ihrer Besitzer, tat oder antizipierte genau, was immer von ihr gewollt wurde. Die Herablassung der Menschen machte ihr nichts aus. Ihr missfiel, dass sie unaufmerksam und nachlässig waren, denn mit dem »Primatenverstand« bildete sich ein scharfes Zeitbewusstsein heraus. Das Vergehen der Zeit – jeder Moment war wie eine Krätzmilbe, die ihr unter die Haut kroch – erwies sich als eine unerträgliche Plage. Diese Qual wurde nur durch die Nähe ihrer Besitzer, durch ihre Gesellschaft gelindert. Da ihre Besitzer, ein berufstätiges Paar, das nach Flieder und Zitruspflanzen roch, jedoch oft acht Stunden ununterbrochen weg waren, litt Lydia furchtbar. Sie bellte, heulte und flehte stundenlang. Als sie schließlich die wiederholte Qual nicht länger ertragen konnte, verfiel sie auf einen typisch menschlichen Schutz vor Leid: Katatonie. Eines Tages fanden ihre Besitzer sie im Wohnzimmer, die Beine steif, die Augen weit geöffnet. Sie brachten Lydia zu der Klinik in Shaw, und als der Tierarzt ihnen mitteilte, dass er nichts mehr tun könne, ließen sie sie einschläfern. Sie waren keine fürsorglichen Besitzer gewesen, aber sie waren sentimental. Sie begruben Lydia in dem Garten hinter ihrem Haus und pflanzten ihr zu Ehren einen Teppich gelber Blumen (Genista lydia) auf dem Erdhügel, ihrer letzten Ruhestätte.

Die Zwölf, die von Shaw aus aufbrachen, wurden von Verwirrung und Neugier getrieben. Die Welt erschien neu und wunderbar und doch vertraut und banal. Nichts hätte sie überraschen sollen, doch das Gegenteil war der Fall. Das Rudel bewegte sich vorsichtig auf der Strachan Avenue Richtung Süden: über die Brücke zum See.

Fast instinktiv zog es sie zum Seeufer. Die zahlreichen Gerüche waren für die Hunde so betörend, wie es der Duft einer Bäckerei am frühen Morgen für Menschen ist. Erst einmal war da der See selbst: sauer, pflanzlich, fischig. Dann gab es den Geruch von Gänsen, Enten und anderen Vögeln. Noch verführerischer roch die Vogelscheiße, die Gemüse, gedünstet in Gänseschmalz, ähnelte. Und dazu kamen flüchtigere Duftwolken: gekochtes Schweinefleisch, Tomaten, Kuhfett, Mais, Brot, Süßigkeiten und Milch. Keiner von ihnen konnte dem widerstehen, obwohl es kaum Schutz an dem See gab, nur wenige Plätze, um sich zu verstecken, sollten ihre Besitzer hinter ihnen her sein.

Keiner konnte dem See widerstehen, nur Majnoun dachte, sie sollten es. Ihm kam in den Sinn, dass die Stadt für sie der schlimmste Ort war, da es vor Leuten wimmelte, die Angst vor fremden umherstreunenden Hunden hatten. Was sie brauchten, sagte er sich, war ein Ort, wo sie sicher wären, bis sie entschieden hätten, was gut für sie alle war. Er dachte auch, dass Atticus, der der Kopf des Rudels war, nicht notwendigerweise der Chef sein sollte. Es war nicht so, dass Majnoun selbst Anspruch darauf erhob. Auch wenn er sich von dem Abenteuer hatte mitreißen lassen und gerne mit den anderen zusammen war, fühlte er sich wohler unter Menschen. Er traute anderen Hunden nicht. Und dies machte für ihn den Gedanken an Führerschaft unangenehm. Die wichtigen Dinge – Futter, Unterkunft, Wasser – mussten gemeinsam geklärt werden, aber wer würde sie anführen und wem wäre er bereit zu folgen?

Es war dunkel, nur hin und wieder fiel Mondlicht durch ein Loch in der Wolkendecke. Um vier Uhr morgens war die Welt voller Schatten. Die Tore zur Canadian National Exhibition tauchten drohend auf, und es schien, als ob sie schwankten und alles unter sich begraben würden. Noch fuhren nicht viele Autos, aber Majnoun wartete am Straßenrand auf das grüne Licht. Die Hälfte des Rudels – Rosie, Athena, Benjy, ein albertinischer Mischling namens Prince und ein Duck Toller, der auf den Namen Bobbie hörte – wartete mit ihm. Die andere Hälfte – Frick, Frack, Dougie, Bella, die Dogge und ein Mischling namens Max – überquerte unbekümmert mit Atticus den Boulevard.

Auf der anderen Seite lag der dunkle und stille See, während längs der Promenade verschiedene Arten von Kot, Nahrungsreste und andere Dinge zum Schnüffeln verlockten. Atticus, ein Hund mit Knautschgesicht, dessen Instinkt ganz auf die Jagd gerichtet war, konnte auch die Anwesenheit von kleinen Tieren spüren, Ratten und Mäuse höchstwahrscheinlich, und er wollte ihnen nachstellen. Er forderte die anderen auf, mit ihm zu jagen.

Warum?, fragte Majnoun.

Diese Frage – eine Neuheit in der gemeinsamen Hundesprache – war verblüffend. Atticus hatte nie darüber nachgedacht, dass es vernünftig sein könnte, sich von Ratten, Vögeln oder Fressen überhaupt zurückzuhalten. Er erwog das »Warum?« und leckte dabei zerstreut seine Schnauze. Schließlich sagte er, selbst etwas Neues in ihrer Sprache erfindend:

Warum nicht?

Frick und Frack stimmten sofort entzückt zu.

Warum nicht?, wiederholten sie. Warum nicht?

Wo verstecken wir uns, wenn ein Besitzer kommt?, gab Majnoun stattdessen zur Antwort.

Eine scharfsinnigere Frage hätte kein Hund stellen können. Die Annahmen dahinter fühlten sich richtig an und doch merkwürdig falsch. Auch wenn Majnoun sein eigenes Herrchen respektierte, nahm er an, dass sich die Hunde alle vor ihren Besitzern verstecken wollten. Freiheit, dachte Majnoun, kommt vor Respekt. Aber das Wort Besitzer rief in ihnen widersprüchliche Gefühle hervor. Für einige war die Vorstellung von einem Besitzer tröstlich. Prince, der seit seiner Ankunft in der Stadt von Kim, seinem Herrchen, getrennt war, hätte alles getan, um ihn zu finden. Athena mit ihren dreieinhalb Pfund Gewicht war daran gewöhnt, getragen zu werden, wohin auch immer sie ging. Sie war bereits erschöpft, nachdem sie so lange mit dem Rudel Schritt gehalten hatte. Angesichts des weiten Weges, den sie noch zu gehen hatten, angesichts der Ungewissheit, hätte sie sich gerne jemandem ergeben, der sie fütterte und herumtrug. Da jedoch den größeren Hunden wie den meisten anderen die Vorstellung von Unterwerfung offensichtlich missfiel, gab Athena vor, dass auch sie nichts davon halte.

Selbst Majnouns Standpunkt war nicht ohne Subtilität oder Ambivalenz. Er war immer stolz auf seine Fähigkeit gewesen zu tun, was sein Besitzer von ihm verlangte. Er hatte sich die Kekse und Leckereien, die ihm zuteilwurden, verdient, aber er hatte das Ritual auch gehasst. Nicht selten musste er das Verlangen unterdrücken, die Flucht zu ergreifen. Tatsächlich wäre er seinem Besitzer entlaufen, wäre er in der Lage gewesen, die Leckereien mitzunehmen – und nicht nur die Leckereien, sondern das ganze Gefühl der Verwöhnung, getätschelt und so angesprochen zu werden, wie es sein Herrchen tat, wenn er gute Laune hatte. Jetzt, da er frei war, war es natürlich sinnlos, an so etwas auch nur zu denken.

Frick und Frack, beide noch zu jung, um ganz die Freuden der Unterwürfigkeit verstanden oder erfahren zu haben, waren die einzigen, die Majnouns Vorschlag völlig zustimmten, dass sie ein Versteck benötigten, sobald ein Besitzer auftauchte.

Atticus, dessen Gefühle so nuanciert waren wie die Majnouns, sagte trotzdem:

Warum verstecken? Haben wir keine Zähne?

Er fletschte seine Zähne, und alle verstanden die furchtbare Andeutung.

Ich könnte mein Frauchen nicht beißen, sagte Athena. Sie wäre nicht erfreut.

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, sagte Atticus.

Die kleine Hündin hat nicht Unrecht, sagte Majnoun. Wenn wir unsere Besitzer beißen, bemerken das andere Besitzer und ärgern sich über unsere Freiheit. Ich habe gesehen, wie viele freie Hunde geschlagen wurden. Wir sollten nicht beißen, außer wenn wir angegriffen werden. Und wir sollten eine Unterkunft finden.

Das ist alles Gerede, sagte Atticus. Es ist nicht typisch für Hunde, so viel zu reden. Wir werden Nahrung finden. Dann kümmern wir uns um eine Unterkunft.

Sie gingen jagen. Das heißt, einige machten sich auf die Suche nach dem, was sie als Futter kannten, und andere verfolgten die Tiere, die sie atavistisch mit Nahrung assoziierten. Sie waren äußerst erfolgreich. Ihr Instinkt führte sie unfehlbar zu den kleinen Tieren – vier Ratten, fünf Eichhörnchen –, die sie mit effizienter Geschicklichkeit töteten. Nach zwei Stunden, als die Morgensonne das Land beschien und den See bläulich grün färbte, hatten sie Ratten, Eichhörnchen, Hot Dog Brötchen, Bro­cken von Hamburgern, jede Menge Fritten, halbgegessene Äpfel und Konfekt angehäuft, aber alles war so mit Dreck bedeckt, dass man kaum noch etwas davon erkennen konnte. Die einzig wirkliche Enttäuschung war, dass sie es nicht geschafft hatten, auch nur eine Gans zu fangen. Die meisten Hunde mieden die kleinen Tiere und machten sich über die Essensabfälle her. Sie ließen die kopflosen, halbgekauten Reste der Ratten und Eichhörnchen in einer geraden Reihe auf dem Hügel neben dem Boulevard Club liegen.

In den Tagen, die folgten, gab es viele Anzeichen – subtil und eindeutig zugleich –, dass ihre neu erworbene Nachdenklichkeit zu einer kollektiven Veränderung geführt hatte. Zunächst blühte eine neue Sprache unter ihnen auf und änderte die Art und Weise, wie sie sich miteinander verständigten. Diese Veränderung zeigte sich besonders bei Prince. Er fand unaufhörlich Wörter in seinem Kopf, Wörter, die er mit den anderen teilte. Es war Prince, der sich das Wort für »Mensch« einfallen ließ (ungefähr: grrr- ahhi, der Knurrlaut, gefolgt von einem für Menschen typischen Geräusch). Dies war eine bedeutsame Fähigkeit, da die Hunde nun über die Primaten ohne Erwähnung ihrer Herrschaft sprechen konnten. Es war auch Prince, der ersann, was das erste Wortspiel der Hunde genannt werden könnte: das Wort für »bone« in der neuen Sprache (ungefähr: rrr- eye) und das Wort für »stone« (ungefähr: rrr- eeye) ähnelten sich sehr. Als Prince eines Abends gefragt wurde, was er aß, antwortete er »stone« und zeigte auf einen Knochen. Einige Hunde fanden das amüsant, aber auch zutreffend, denn die besagten Knochen waren schwer zu kauen.

Sie wurden auch geschickte Jäger und anspruchsvolle Abfallsucher, als ihnen ihr Territorium vertrauter wurde: Parkdale und High Park, von der Bloor Street bis zum See, von Windemere bis Strachan. Alle lernten schnell die Orte, wo sie zusammenkommen konnten, ohne allzu viel Aufmerksamkeit von Menschen oder Hunden auf sich zu ziehen. Außerdem lernten sie, angespornt durch die Beobachtungen des Sonnenlichts und der Schatten, die Prince anstellte, den Tag in nützliche Einheiten aufzuteilen. Das heißt, gemeinsam entdeckten sie die Zeit, die das quälende Bewusstsein ihres Vergehens milderte. (Der Tag, von Sonnenaufgang bis zum ersten Moment ihres Untergangs, wurde in acht ungleiche Einheiten geteilt, von denen jede einen Namen bekam. Die Nacht, wenn die Welt still zu werden begann, bis zum ersten Vogellärm, wurde in elf Einheiten geteilt. So bestand für die Hunde ihr Tag statt aus vierundzwanzig aus neunzehn Einheiten.)

Es war zum Teil diese neue Beziehung zu Zeit und Ort, die die Einrichtung ihres Verstecks beeinflusste. Atticus, praktisch und überzeugend (obwohl er der neuen Sprache misstraute) schlug vor, sich in ein Stück Wald im High Park zurückzuziehen, eine Lichtung unter einer Anhäufung immergrüner Bäume. Dorthin brachten sie Tennisbälle, Laufschuhe, Kleidung, Decken, Quietsch­spielzeug … alles, was sie finden oder stehlen konnten, um den Ort behaglicher zu machen. Sie hatten nicht vor, für immer in diesem Waldstück zu bleiben. Es sei, sagte Atticus, behelfsmäßig und vorläufig, ein Ort, um sich nach Einbruch der Dunkelheit zu treffen, aber bald hatten sie das Gefühl, als wäre dort ihr Zuhause. Es roch nach Kiefernharz, Hund und Urin.

Doch das wohl auffälligste Indiz, dass das »Primatendenken« nützlich war, zeigte sich in der Beziehung zwischen Bella und Athena. Die zwei waren völlig unterschiedlich, was Gewicht und Höhe betraf. Sie hatten das gleiche Alter – drei Jahre –, aber Athena brachte kaum vier Pfund auf die Waage, und ihre Beine waren kurz. Sie konnte nicht mithalten, wenn das Rudel losrannte. Bella war über einen Meter groß und wog etwa zweihundert Pfund. Sie lief nicht viel. Vielmehr bewegte sich Bella, auch wenn sie nicht die nachdenklichste war, majestätisch, mit Bedacht. Als sie sah, dass Athena nicht mit den anderen mithalten konnte, und sie sich daran erinnerte, wie ein vierjähriges Mädchen auf ihr geritten war, ließ Bella es zu, dass Athena auf ihrem Rücken saß.

Für Bella war das kein Problem. Sie kniete mit den Vorderbeinen nieder und wartete, bis der Pudel hinaufgeklettert war. Anfangs fiel Athena fast immer sofort wieder herunter, und es tat ihr weh. Doch sie lernte schnell. Nach dem dritten Tag, ihre Krallen benutzend und in Bellas Nacken beißend, um Halt zu finden, befand sich Athena so im Gleichgewicht, dass es schwer gewesen wäre, sie abzuschütteln. Sie bildeten einen seltsamen Anblick. Bella fühlte sich nach einigen Tagen sicher genug, um leicht trabend und arrythmisch zu rennen, wenn sie es wollte. Ihr Widerrist senkte und hob sich, während Athena wie ein Passagier auf dem Vorderdeck eines Schiffes fröhlich auf ihrem Platz ausharrte.

So aufregend das für die beiden auch war – sie fühlten sich bald wie Geschwister – sorgte das Arrangement für das Rudel Ärger. Athena und Bella verursachten ungewollte Aufmerksamkeit. Eines Tages, als die Hunde am Seeufer nach Essbarem suchten, bemerkte eine Gruppe männlicher Jugendlicher Athena auf dem Rücken von Bella. Zuerst amüsiert und dann feixend, begannen sie, den Hunden hinterherzulaufen. Nicht vertraut damit, wie fremd Menschen sind, konnten Bella und Athena den Übermut der Jugendlichen nicht von Aggression oder Abneigung unterscheiden. Die Jungen nahmen Steine und warfen sie auf die Hunde. Bella war nicht schnell, und sie konnte keine lange Strecken laufen, ohne eine Pause zu machen. Nach einer Weile wurde sie langsamer, und ein Stein traf Athena, die vor Schmerz jaulte und von Bellas Rücken fiel. Athenas Unglück und Schmerz rief bei den Menschen noch größere Belustigung hervor. Sie sammelten mehr Steine in der Absicht, den Hunden so viel Leid zuzufügen, wie sie konnten.

Auch wenn Bella von Natur aus ausgeglichen und nur schwer zu reizen war, war sie, als die jungen Männer näherkamen, um Athena besorgt und bereit zu töten. Als einzige List kam ihr in den Sinn, zuerst den größten der Angreifer auszuschalten, und so lief sie knurrend und unbeirrt auf die Gruppe zu. Sie stürzte sich auf den Anführer, bevor er oder einer der anderen reagieren oder wegrennen konnte. Ihre zweihundert Pfund auf ihn werfend, schnappte sie instinktiv nach seiner Kehle und hätte ihm den Hals durchgebissen, hätte er nicht im letzten Moment seinen Arm gehoben. So biss sie tief in seine rechte Hand bis auf den Knochen. Blut spritzte, als er unter ihr aufschrie. Die anderen, obwohl sie mit Steinen bewaffnet waren, sahen wie gelähmt zu. Sie standen bewegungslos und hörten ihren Freund um Hilfe schreien. Ihre Angst gab Bella einen Vorsprung. Sie ließ von dem Jungen ab und rannte direkt zu dem, der ihr am nächsten stand. Schreiend lief er davon und überließ seine Freunde ihrem Schicksal.

Atticus und Majnoun, die in der Nähe nach Nahrung gesucht hatten und durch den Tumult herbeigelockt worden waren, knurrten die Menschen an, rannten hinter ihnen her und sorgten dafür, dass sie nicht zurückkehrten. Nichts aber lag den Menschen ferner. Mit anderen Worten: Ihre Niederlage war schnell und gründlich. Die sechs oder sieben Jungen, keiner von ihnen älter als vierzehn, waren erniedrigt und traumatisiert. Aber als die Hunde sahen, dass Athena nicht schlimm verletzt war – sie hatte geblutet, und über ihrem Auge klebte ein Büschel nasses Fell –, sagte Majnoun:

Das ist nicht gut. Menschen mögen es nicht, wenn man sie beißt. Wir werden unser Revier wechseln müssen.

Ich stimme zu, sagte Atticus, aber warum sollten wir weggehen? Man wird nach diesen beiden hier suchen. Die Hündinnen dürfen sich vorerst nicht sehen lassen. Die große hat den Schaden angerichtet. Hinter ihr werden sie her sein, nicht hinter uns.

Ich stimme nicht zu, und ich widerspreche auch nicht, sagte Majnoun.

Aber die Hunde trafen Vorkehrungen. Bella und Athe­na suchten nur noch im High Park nach Essbarem und blieben in der Nähe des Waldstücks. Vom Seeufer hielten sie sich fern, und Athena ritt erst nach Einbruch der Dunkelheit, wenn Schatten sie verbargen, auf Bellas Rücken. Die anderen streiften in kleinen Gruppen umher, nie mehr als zwei oder drei zusammen, und zogen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich.

Diese Vorsichtsmaßnahmen richteten sich gegen die Menschen. Nicht dass sie zwangsläufig gefährlich waren, aber sie waren unberechenbar. Während der eine sich niederknien mochte, um deinen Rücken zu tätscheln oder dich am Hals zu kraulen, trat dich ein anderer, der genauso aussah wie der erste, warf Steine oder brachte dich sogar um. Im Allgemeinen war es das Beste, Menschen aus dem Weg zu gehen. Entgegen den Erwartungen ereigneten sich in den ersten Wochen nach ihrer Veränderung die schlimmsten Konfrontationen nicht mit Menschen, sondern mit anderen Hunden. Egal, wie höflich oder zurückhaltend das Rudel sich verhielt, manche Hunde griffen sie sofort an, ohne vorher zu knurren oder die Zähne zu fletschen.

Sie glauben, dass wir schwach sind, sagte Atticus.

Aber so einfach war es nicht. Die Hunde, die sie angriffen, waren aggressiv, aber sie schienen auch Angst zu haben. Sie fürchteten nicht nur die größeren Hunde, Bella oder Atticus, Frick oder Frack. Sie waren auch eingeschüchtert von Dougie, Benjy, Bobbie und Athena, von denen für ein halbwegs großes Lebewesen keiner bedrohlich hätte sein sollen. Die Hunde, die sie nicht auf der Stelle angriffen, verhielten sich manchmal sofort unterwürfig, und das war fast genauso seltsam. Den kleineren Hunden kam es so vor, als ob sie irrtümlich für wilde und übergroße Versionen ihrer selbst gehalten würden.

Die zwölf Hunde reagierten unterschiedlich auf ihren veränderten Status. Atticus fand die Situation unerträglich. Es war traumatisch, von sich selbst zu wissen, dass man ein einfacher Hund ist, aber in einer Welt lebt, in der andere Hunde einen als etwas anderes behandeln. Für Atticus waren all die alten Freuden – an einem Anus schnüffeln, seine Nase dorthin stecken, wo sich die Genitalien befanden, die Hunde mit geringerem Status besteigen – nicht mehr ohne lähmende Befangenheit zu haben. Hierin waren sich Majnoun, Prince, Rosie und er gleich. Die vier neigten zu einer Nachdenklichkeit, auf die alle außer Prince – und bis zu einem gewissen Grad Majnoun – gern verzichtet hätten, um sich wieder in der Gemeinschaft der Hunde zu verlieren. Prince war der einzige, die die Veränderung im Bewusstsein völlig annahm. Es war ihm, als hätte er eine neue Art des Sehens entdeckt, einen Blickwinkel, der alles, was er gewusst hatte, seltsam und wunderbar machte.

Am anderen Ende des Spektrums befanden sich Frick, Frack und der Mischling Max. Auch sie waren durch ihre Selbstbewusstheit beunruhigt, aber sie lernten, das Denken zu unterdrücken. Gewiss benutzten sie ihre neugefundene Intelligenz, blieben aber dabei ihrem alten Hundeleben treu. Wenn sie von unbekannten Hunden herausgefordert wurden, verteidigten sie sich mit lasziver Effizienz, rotteten sich zusammen und behandelten ihre Angreifer, wie sie es mit Schafen getan hätten: Sie bissen ihre Sehnen durch und ließen sie blutend und leidend zurück. Wenn ihnen unterwürfige Hunde begegneten, war ihr Vergnügen genauso intensiv. Die drei fickten alles, was sie ranließ. Auf eine gewisse Weise diente ihre neue (oder andere) Intelligenz dem, was sie als ihr Wesen verstanden: das Hundesein. Sie fühlten, dass die Furcht, die »normale« Hunde ihnen zeigten, berechtigt war.

Tatsächlich waren die Hunde, die Frick, Frack und Max am meisten Ärger bereiteten, die anderen in ihrem Rudel. Ja, die anderen teilten ihre Intelligenz und entwickelten schnell ihre Sprache. Und ja, die anderen waren die einzigen Lebewesen, die sie verstanden. Aber »verstehen«, das nach Denken roch, war das letzte, was sie wollten. »Verstehen« erinnerte sie daran, dass sie trotz ihrer Anstrengungen, wie Hunde zu leben, keine normalen Hunde mehr waren. Was sie von den anderen wollten, war Unterwerfung oder Führerschaft, und beides bekamen sie zunächst nicht.

Von den anderen Hunden war es natürlich Prince, der Frick, Frack und Max am meisten nervte. Prince war ein gewöhnlicher Mischling, sein Fell rostbraun mit einem weißen Fleck auf der Brust. Er war groß, aber seine Veranlagung machte jede physische Bedrohung zunichte. Er war stets verträglich und ließ sich dominieren. Das Irritierende war, dass Prince seltsame Ideen hatte. Er war derjenige, der den Tag in Abschnitte geteilt hatte. Er war derjenige, der endlose Fragen über triviale Dinge stellte: über Menschen, über den See, über Bäume, über seine Lieblingsgerüche (Vogelfleisch, Gras, Hot Dogs), über die gelbe Scheibe über ihnen, in deren Licht man sich wärmen konnte. Die drei Hunde hatten natürlich Princes Wortspiel mit »bone« und »stone« gehasst. Und er hörte nicht damit auf. Von den anderen bestärkt, war sein Spiel mit der Sprache ein ständiger Affront gegen Klarheit.

Es schien Frick und Frack, als hätte Prince die Absicht, ihr Gemüt zu zerstören.

Aber Princes Sprachwitz war nicht das Schlimmste. Früher mussten sie sich wie alle Hunde mit einem einfachen Vokabular fundamentaler Geräusche begnügen: Bellen, Jaulen oder Knurren. Diese Geräusche waren akzeptabel wie auch die nützlichen Erfindungen für Wor­te wie »Wasser« oder »Mensch«. Nun jedoch hatte das Rudel auf Princes Betreiben hin Worte für zahllose Dinge. (Brauchte wirklich irgendein Hund ein Wort für »Staub«?) Eines Abends setzte sich Prince aufrecht hin und sprach eine seltsame Anhäufung von Worten:

The grass is wet on the hill.

The sky has no end.

For the dog who waits for his mistress,

Madge, noon comes again.

Das Gras ist feucht auf dem Hügel.

Der Himmel hat kein Ende.

Für den Hund, der auf sein Frauchen wartet,

Madge, die Mittagsstunde kommt wieder.

Als Frick und Frack diese Komposition aus Knurren, Bellen, Jaulen und Seufzen hörten, waren sie aufgesprungen, bereit, dem Frauchen des erschöpften Hundes ins Gesicht zu beißen. Sie nahmen an, dass ein Besitzer aufgetaucht war, der ihnen Schmerzen zufügen wollte. Aber Princes Worte waren nicht als Warnung gedacht. Vielmehr hatte er gespielt. Er hatte nur so getan. Er hatte gesprochen um des Sprechens willen. Konnte es einen widerwärtigeren Gebrauch für Worte geben? Max sprang auf, knurrend und bereit zu beißen.

Er hatte jedoch nicht mit dem Vergnügen gerechnet, das Princes Worte einigen Hunden bereitete. Athena dankte Prince für das Heraufbeschwören feuchter Hügel und endloser Himmel. Bella tat das Gleiche. Einige Hunde fühlten, dass Prince nicht ihre Sprache missbraucht, sondern ihr mit seinem Wortspiel etwas Unerwartetes und Wunderbares hinzugefügt hatte.

Ich war gerührt, sagte Majnoun. Bitte, mach es noch einmal. Prince gab weitere Geräusche von sich, eine Folge von Heulen, Bellen, Jaulen und Schnalzen.

Beyond the hills, a master is

who knows our secret names.

With bell and bones, he’ll call us home,

winter, fall or spring.

Jenseits der Hügel ist ein Besitzer

der unsere geheimen Namen kennt.

Mit Glocke und Knochen ruft er uns heim,

Winter, Herbst oder Frühling.

Die meisten Hunde saßen schweigend da und gaben sich große Mühe zu verstehen, wovon Prince redete. Für Max aber war es zu viel. Prince verdrehte nicht nur ihre klare, noble Sprache, er hatte auch das Hundesein verlassen. Kein echter Hund hätte einen solchen Quatsch von sich geben können. Prince war nicht würdig, einer von ihnen zu sein. Zur Verteidigung ihrer wahren Natur musste jemand etwas tun. Max spürte, dass Frick und Frack genauso fühlten, aber er wollte der erste sein, der Prince zur Unterwerfung oder ins Exil zwang. Er ging auf Prince los, ohne auch nur zu knurren. Prince war ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er wollte dem Mischling gerade in die Kehle beißen, da kam Majnoun so ruhig und brutal, wie Max attackiert hatte, Prince zu Hilfe. Bevor Frick oder Frack intervenieren konnte, hatte Majnoun Max unten, seine Zähne an Max’ Hals. Max pinkelte als Zeichen der Unterwerfung und lag still.

Töte ihn nicht, sagte Frack.

Majnoun knurrte warnend, biss stärker zu, Blut floss.

Der Hund hat Recht, sagte Atticus. Es ist nicht gut, einen von uns zu töten.

Majnoun fühlte mit jeder Faser seines Körpers, dass es richtig wäre, Max zu töten. Es war, als wüsste er, dass die Zeit kommen würde, da er ihn töten musste. Also warum nicht jetzt? Aber er hörte auf Atticus und ließ Max los, der schnell wegschlich, den Schwanz zwischen den Beinen.

Gewalt war nicht nötig, sagte Atticus. Der Hund versuchte nur, seine Gefühle zu zeigen für die Worte, die wir hörten.

Seine Gefühle hat er nicht verborgen, sagte Majnoun.

Du hast ihm seinen Platz gezeigt, sagte Atticus. Du hast richtig gehandelt.

Abgesehen von Frack und Frick – die sich jedem Gedanken verweigerten – waren die meisten Hunde von dem Zwischenfall verwirrt. Früher hätte man gesagt, sie hätten einen Kampf um Dominanz miterlebt, einen Kampf, den Majnoun eindeutig gewonnen und der so seinen Status erhöht hatte. Aber hier gab es die Sache mit Prince. Prince hatte Max beleidigt. Seine Worte hatten beleidigt. Hatten Majnoun und Max also um Worte oder Status gestritten? Konnten Hunde wegen Worte sich auf Leben und Tod bekämpfen? Ein merkwürdiger Gedanke.

Als Bella und Athena nebeneinander lagen und in den Schlaf dämmerten, sagte Athena:

Diese Männchen kämpfen aus jedem beliebigen Grund.

Es hat nichts mit uns zu tun, sagte Bella.

Damit hatte es sein Bewenden, soweit es sie betraf, und die beiden waren bald eingeschlafen. Athena knurrte im Traum leise ein Eichhörnchen an, das viel kleiner war als sie und sie mit Absicht reizte.

Zwei Tage nach dem Aufruhr sprach Atticus mit Maj­noun.

Der Herbst war gekommen. Die Blätter änderten ihre Farbe. Die Nächte schienen dunkler zu sein, weil sie nun kälter waren. Das Rudel hatte sich eine Routine angewöhnt: Nahrung suchen, Menschen vermeiden, Ratten und Eichhörnchen jagen. Das Waldstück gewährte Schutz vor Regen und Stürmen. Obwohl es nur als zeitweilige Unterkunft gedacht war, ein Ort, an dem sie nachdenken konnten über das, was mit ihnen geschehen war, war das Wäldchen ein Zuhause geworden, und sie konnten sich kaum noch vorstellen, es aufzugeben.

Majnoun hatte irgendeinen Annährungsversuch von Frick, Frack, Max oder Atticus erwartet. Er hatte erwartet, dass einer von ihnen die Sache der Anführerschaft zur Sprache bringen würde. Das Rudel hatte eine Zeitlang auf einen Anführer verzichtet, eine unnatürliche Situation. Und wenn er selbst auch nicht führen wollte, wäre es für die anderen beleidigend gewesen, Atticus – den wahrscheinlichsten Kandidaten – dem Rudel aufzuzwingen, ohne zuerst seine (also Majnouns) Meinung zu erfragen. Früher hätten sie zweifellos darum gekämpft. Aber nach der Veränderung, die über sie gekommen war, schien Majnoun zumindest eine physische Auseinandersetzung nicht mehr der beste Weg zu sein, eine so komplizierte Sache wie die Führung eines Rudels zu lösen.

(Wie seltsam die Veränderung war! Eines Tages, als Majnoun Menschen zuhörte, die mit ihrem Lieblingstier sprachen, machte er eine merkwürdige Erfahrung. Es war, als hätte die Sonne einen dichten Morgennebel wie einen Vorhand weggeschoben. Er verstand, was die Menschen sagten! Und nicht nur einige Wörter – Wörter, die er selbst tausendmal gehört hatte. Er glaubte, die Gedanken dahinter zu verstehen. Soweit Majnoun wusste, hatte noch nie ein Hund einen Menschen so verstanden wie er in diesem Moment. Er war sich nicht sicher, ob er verflucht oder gesegnet war, aber diese neue Sache – dieses Verstehen – verlangte natürlich eine Veränderung im Verhalten, etwas, das ihnen half, mit der unverminderten Fremdheit der Welt fertig zu werden.)

Majnoun und Atticus liefen zusammen aus dem Wald in den Park. Der Himmel war voller Sterne. Alles war ruhig, außer dem endlosen Lärm der Grillen, die auch die kühle Nacht nicht verstummen ließ.

Was werden wir jetzt tun?, fragte Atticus.

Die Frage war eine Überraschung.

Wogegen?, antwortete Majnoun.

Ich habe die falsche Frage gestellt, sagte Atticus. Ich meine, wie sollen wir leben, nun da wir Fremde unter unsresgleichen sind?

Mit Recht haben sie Angst vor uns, sagte Majnoun. Wir denken nicht mehr wie sie.

Aber wir fühlen noch wie sie, nicht wahr? Ich erinnere mich, was ich vor jener Nacht war. Ich bin nicht so anders.

Ich kannte dich vorher nicht, sagte Majnoun, aber ich kenne dich jetzt, und nun bist du anders.

Einige von uns, sagte Atticus, glauben, dass es am bes­ten ist, das neue Denken nicht zu beachten und nicht mehr die neuen Worte zu benutzen.

Wie kann man die Worte im Kopf zum Schweigen bringen?

Niemand kann das, aber man kann sie überhören. Wir können zu der alten Lebensweise zurückkehren. Dieses neue Denken führt weg vom Rudel, aber ein Hund ist kein Hund, wenn er nicht dazu gehört.

Das sehe ich nicht so, sagte Majnoun. Wir haben diese neue Art. Sie ist uns geschenkt worden. Warum sollten wir sie nicht gebrauchen? Vielleicht gibt es einen Grund für unsere Verschiedenheit.

Ich habe nicht vergessen, sagte Atticus, wie es war, mit den anderen zu rennen. Aber du, du willst denken, immer weiter denken und dann wieder denken. Was ist das Gute an so viel Denken? Ich bin wie du. Ich kann Gefallen daran finden, aber es bringt uns keinen Vorteil. Es hält uns davon ab, Hunde zu sein, und es hält uns von dem fern, was richtig ist.

Wir wissen Dinge, die andere Hunde nicht wissen. Können wir sie ihnen nicht beibringen?

Nein, sagte Atticus. Nun ist es an ihnen, uns zu lehren. Wir müssen lernen, wieder Hunde zu sein.

Hund, warum willst du meine Gedanken zu diesen Dingen wissen? Ist es dein Wunsch, der Anführer zu werden?

Würdest du mich herausfordern?

Nein, sagte Majnoun.

Die beiden Hunde saßen eine Zeitlang zusammen und horchten auf die Geräusche der Nacht. Im Park wimmelte es von unsichtbarem Leben. Über ihnen war eine Weite so neu und unvergleichlich, wie sie alt war. Keiner von ihnen hatte je den Sternen und dem Nachthimmel viel Aufmerksamkeit geschenkt. Nun machten sie sich ungewollt Gedanken darüber.

Ich frage mich, ob der Hund, der so seltsam redet, Recht hat, sagte Atticus. Hat der Himmel wirklich kein Ende?

Der Hund hat schöne Gedanken, sagte Majnoun, aber er weiß nicht mehr als wir.

Glaubst du, dass wir das je wissen werden?

Majnoun kämpfte mit der Frage und mit den Gedanken in seinem Kopf. Alles schien manchmal so hoffnungslos verworren. Er fragte sich, ob Atticus am Ende nicht doch Recht hatte. Vielleicht war es am besten, ein Hund zu sein, wie Hunde immer gewesen waren: nicht durch Denken von anderen getrennt, sondern Teil der Gemeinschaft. Vielleicht war alles andere sinnlos oder schlimmer noch eine Illusion, die einen vom Guten entfernte. Aber wenn auch ihre neue Art zu denken lästig war – ein Qual manchmal –, war sie nun ein Teil von ihnen. Warum sollten sie sich davon abwenden?

Eines Tages, sagte Majnoun, wissen wir vielleicht, wo der Himmel endet.

Ja, sagte Atticus, eines Tages oder auch nicht.

Majnouns Instinkte waren intakt. Er hatte ein Zwiegespräch über die Führerschaft vorhergesehen, und obwohl Atticus die Diskussion vage gehalten hatte, war es um Macht gegangen. Majnoun hatte jedoch nicht alle Nuancen erfasst. Atticus interessierte sich nicht dafür, ob Maj­noun ihn als Anführer herausfordern würde oder nicht. Atticus war größer als Majnoun, und außerdem hatte er Frick, Frack, Max und Rosie auf seiner Seite. Was Atticus wirklich erkunden wollte, war, ob Majnoun zum Rudel gehörte, angesichts der Richtung, die er, Atticus, für es gewählt hatte. Ohne es zu wissen hatte Majnoun Atticus all die Informationen gegeben, die er brauchte.

Am folgenden Tag, als sie auf Nahrungssuche sein sollten, trafen sich Frick, Frack, Max und Atticus am See auf der anderen Seite der Humber Bay Arch Bridge, weit weg von den anderen, weg von den Hunden ohne Leine.

Ich habe mit all den anderen gesprochen, sagte Atticus. Um zu leben, wie wir leben sollen, muss es Veränderungen geben. Einige können bleiben. Andere müssen gehen.

Was ist mit dem schwarzen Hund?, fragte Frack.

Er ist keiner von uns, antwortete Atticus. Er muss verbannt werden.

Es wäre besser, ihn zu töten, sagte Max.

Das denkst du nur, weil er dich bestiegen hat, sagte Frick.

Nein, sagte Atticus, der Hund hat Recht. Den schwarzen zu vertreiben, wird nicht leicht sein. Einige Hunde stehen treu zu ihm. Ich will ihn nicht töten, aber es wäre schwierig, wenn er bliebe.

Was ist mit der Hündin mit der hohen Vagina? fragte Max.

Sie favorisiert den schwarzen Hund, und sie ist zu stark, sagte Atticus. Wir müssen sie loswerden.

Lass sie die kleine Hündin mitnehmen, sagte Max.

Wie ist es mit Regeln?, fragte Frack.

Es wird zwei geben, antwortete Atticus. Nur noch richtige Hundesprache und keine andere Lebensweise als die von Hunden. Wir werden leben, wie wir leben sollen.

Ohne Herren?, fragte Frick.

Wir werden keine Herren haben, sagte Atticus. Hunde ohne Herren sind die einzig wahren Hunde. Drei müssen gehen: die große Hündin, der schwarze Hund und der, der Worte auf so seltsame Weise benutzt. Wenn sie erst einmal weg sind, können wir leben, wie wir es sollen.

Wirst du den schwarzen Hund herausfordern?, fragte Max.

Nein, sagte Atticus. Wir müssen alle drei auf einmal loswerden. Wir werden schnell sein und tun, was getan werden muss, bevor die übrigen Hunde Partei ergreifen oder die Sache schwierig machen.

Wann?, fragte Frick.

Heute Nacht, sagte Atticus.

Und auch wenn es nicht die wahre Hundeart war, so arbeiteten sie ihre Strategie bis aufs letzte Detail aus, wobei das letzte Detail der Überlegung galt, was sie tun würden, falls ihr Versuch scheiterte.

Prince hatte ein weiteres Gedicht aufgesagt:

The light that moves is not the light.

The light that stays is not the light.

The true light rose countless sleeps ago.

It rose, even in the mouth of birds.

Das Licht, das sich bewegt, ist nicht das Licht.

Das Licht, das bleibt, ist nicht das Licht.

Das wahre Licht ging unzählige Nächte zuvor auf.

Auf ging es sogar in dem Schnabel von Vögeln.

Max wollte ihn auf der Stelle töten.

Nachdem die Hunde über das Gehörte noch einmal nachgedacht hatten, gingen die meisten zu ihren Schlafplätzen in dem Versteck und schliefen sofort ein, als ob Princes Worte sie eingelullt hätten. Nicht jedoch Atticus. Er hatte Majnoun zu einer weiteren Unterredung draußen im Park eingeladen. Dann hatten sich Frick und Frack, als alles ruhig in ihrer Unterkunft und nur noch das kurze Atmen der Schlafenden zu hören war, von ihren Plätzen erhoben. Frick trottete geräuschlos dorthin, wo Bella und Athena schliefen, packte Athenas gedrungenen Körper mit seinen Kiefern, biss hart zu und verschwand mit ihr. Trotz Athenas erstickten Schreis wachte keiner der Hunde auf. Eine Weile später stupste Frack mit seiner Schnauze den Kopf der schlafenden Bella.

Sie haben die kleine Hündin genommen, sagte er.

Bella erwachte langsam aus dem Schlaf, aber als sie sah, dass Athena weg war, war sie sofort hellwach und verstand Fracks Worte.

Wohin haben sie sie gebracht?, fragte sie.

Ich weiß nicht. Mein Bruder ist ihnen nachgelaufen. Ich bringe dich dorthin, wohin sie sind.

Wohin er sie brachte – wohin sie rannten –, das war eine Straße neben dem Park: Bloor Street. Die Straße verlief über einen Hügel, und obwohl es Nacht war, war sie sehr belebt. Kolonnen von Autos kamen schnell den Hügel hinunter, dann nichts, und dann wieder schnelle Autos. Etwa in der Mitte der Steigung stand Frick auf dem Bürgersteig im Licht einer Straßenlaterne. Er schaute auf etwas auf der anderen Seite der Straße.

Als sich Bella und Frack näherten, sagte er:

Da ist sie. Kannst du sie sehen? Sie ist unter dem Licht.

Bella konnte nicht deutlich sehen, aber dort auf der anderen Seite der Straße schien etwas unter der Laterne zu sein. Die Straße war bedrohlich, aber soweit es Athena betraf, war Bella nicht vorsichtig. Sie hätte alles getan für dieses eine Wesen auf der Erde, dem sie treu ergeben war. Tatsächlich wäre sie auf der Stelle über die Straße gelaufen, hätte Frack nicht gesagt:

Warte! Mein Bruder wird hinauf auf den Hügel gehen und bellen, wenn das Licht wechselt und es sicher ist, hinüberzugehen.

Bella wartete unruhig, sprang hin und her und versuchte verzweifelt, Athena auf der anderen Straßenseite zu sehen.

Lauf los, sagte Frack, es ist sicher.

Aber es war nicht sicher. Fricks Timing war perfekt. Bella hatte noch nicht ein Viertel der Straße überquert, als sie von einem Taxi überfahren und getötet wurde. Die Morde an Athena und Bella waren perfekt ausgeführt worden.

Als sie sicher waren, dass Bella tot war – ihr Körper lag regungslos auf der Straße, Menschen liefen herbei –, kehrten Frick und Frack zurück in ihr Versteck, wo sie wie vereinbart Max und Prince erledigen würden, um anschließend Atticus bei der Tötung von Majnoun zu helfen.

Es hätte keine Komplikationen geben sollen. Max hatte den Auftrag, Prince zu bewachen. Und das hatte er getan, auch wenn er sich kaum zurückhalten konnte, den räudigen Mischling, der ihn erniedrigt hatte, zu beißen. Max hatte sich langsam und leise an Prince herangepirscht und lag nahe genug, um sein gelegentliches Schnauben und Winseln zu hören. Prince konnte ihnen unmöglich entkommen. Und doch, als Frick und Frack in das Lager zurückschlichen und sich zusammen mit Max bereit machten, so schnell wie möglich Prince zu erledigen, entdeckten sie, dass das, was sie für Princes Körper hielten, nicht mehr war als ein Haufen Menschenkleidung. Max war außer sich vor Wut. Unmöglich, dass Prince entkommen war! Er hatte auf jeden Atemzug gelauscht, glücklich darüber, dass sie die letzten des Hundes sein würden. Die drei durchsuchten das Lager, gingen zu jedem Schlafplatz, verfolgten Princes Geruch, aber er war nirgendwo zu finden.

Und doch war Prince dort unter ihnen.

Der Tod von Bella und Athena, auch wenn es ein schneller Tod war, ließ die beiden Götter nicht unberührt. Hermes und Apollo schauten hinab auf Athenas leblosen Körper (Frick hatten ihren Hals so leicht gebrochen wie den einer Ratte) und auf Bellas Körper, der mitten auf der Straße lag.

Sie sind glücklich gestorben, sagte Hermes. Ich gewinne.

Du gewinnst nicht, sagte sein Bruder. Die kleine Hündin war völlig verängstigt, und die große war sehr besorgt um ihre Freundin. Sie starben unglücklich.

Du bist nicht fair, sagte Hermes. Ich gebe zu, dass ihre letzten Momente nicht schön waren. Aber bevor sie getötet wurden, hatte keine von beiden so eine Freundschaft gekannt, wie sie sie zusammen erlebten. Sie waren glücklich trotz der Intelligenz, die wir ihnen gaben.

Ich stimme dir zu, sagte Apollo, aber was kann ich tun? Du warst derjenige, der darauf bestand, dass der Tod der entscheidende Moment sein soll. Wir haben uns geeinigt, dass du gewinnst, wenn auch nur eine dieser Kreaturen glücklich stirbt. Im Augenblick ihres Todes waren diese zwei nicht glücklich. Also hast du nicht gewonnen. Aber sieh, Hermes, ich will nicht hören, dass ich dich reingelegt habe, und ich will auch nicht zu Vater gehen. Ich mache dir einen Vorschlag: Da deine Wette nicht so stark wie meine ist, erlaube ich dir, in das Leben dieser Kreaturen einzugreifen. Einmal. Nur einmal. Du kannst machen, was dir gefällt. Aber falls du eingreifst, verdoppelt sich der Wetteinsatz. Der Verlierer muss dem anderen zwei Menschenjahre dienen.

Und du wirst nicht intervenieren?

Warum sollte ich?, fragte Apollo. Diese Tiere fühlen sich unglücklicher, als ich sie machen könnte. Sie werden nicht vergnügt sein, wenn es ans Sterben geht. Aber wenn es dich beruhigt, gebe ich dir mein Wort: Ich werde nicht direkt eingreifen.

Dann nehme ich die Wette an, sagte Hermes.

Und so hatte Prince, während Frick und Frack von ihren Untaten zurückkehrten, einen sehr merkwürdigen Traum. Es begann recht angenehm. Er träumte, er war im Haus seines ersten Besitzers in Ralston (Alberta), in dem sein Geruch dominierte, ein Haus, in dem seine Spielsachen in geheimen Mustern verteilt waren, ein Haus, in dem er jeden Winkel kannte. Er war auf dem Weg in die Küche, angelockt von dem Geräusch der Mäuse, die über den Holzboden huschten, als ein Hund, den er nicht kannte, in seinem Traum erschien. Der seltsame Hund war pechschwarz, nur auf der Brust hatte er einen strahlend blauen Flecken.

Du bist in Gefahr, sagte der Hund.

Der Hund sprach Princes Sprache fehlerlos, ohne Akzent.

Wie schön du sprichst, sagte Prince. Wer bist du?

Es wäre zu schwierig für dich, meinen Namen auszusprechen, sagte der Hund, aber ich bin Hermes, und ich gehöre nicht zu deiner Spezies. Ich bin ein Herr der Herren, und ich will nicht, dass du hier stirbst.

Wo?, fragte Prince.

Und plötzlich war er weit weg von dem Haus seiner Kindheit. Er war im High Park und schaute auf sich hinunter, als er bei den anderen schlief. Er sah, weil Hermes ihn darauf hinwies, dass Max nahe bei ihm lag. Er sah Frick und Frack in das Versteck zurückkehren. Er bemerkte, weil Hermes es so wollte, die Stelle, wo Bella und Athena geschlafen hatten.

Wo ist die große Hündin?, fragte er.

Sie haben sie getötet, sagte Hermes. Sie werden auch dich töten, wenn du bleibst.

Was habe ich getan? fragte Prince. Ich habe niemand herausgefordert.

Es missfällt ihnen, wie du sprichst, sagte Hermes. Wenn du weiterleben möchtest, ist die Flucht deine einzige Wahl.

Aber was bin ich ohne die, die mich verstehen?

Würdest du Worte dem Leben vorziehen?, fragte Hermes. Bedenke, dass deine Art zu sprechen mit dir stirbt, wenn du stirbst. Du musst jetzt aufwachen, Prince. Solange ich hier bin, kann niemand dich sehen oder hören, aber du hast nicht viel Zeit. Komm.

Dann folgte dort das seltsamste Intermezzo in Princes Leben. Er wusste nicht, ob er wach war oder träumte, aber der seltsame Hund hatte seinen geheimen Namen genannt, den Namen, den sein erster Besitzer benutzte: Prince. Sich im Traum von seinem Schlafplatz erhebend, war er noch mit Hermes zusammen und sah sich aufstehen. Er sah Frack, Frick und Max, wie sie nach ihm suchten. Sie liefen vor und neben ihm vorbei, fast durch ihn hindurch. Er konnte kaum der Versuchung widerstehen zu bellen, um sie wissen zu lassen, dass er da war, als ob alles ein Spiel wäre. Aber er bellte nicht. Er folgte Hermes aus dem Versteck und in den High Park. Dort war er plötzlich hellwach, und Hermes war weg.

Prince dachte, er würde vielleicht noch träumen. Er wollte sehen, ob er noch in dem Wäldchen schliefe, die Schuhe neben sich, auf denen er gerne herumkaute. Aber als er sich dem Lager näherte, rannten Max, Frick und Frack heraus. Prince duckte sich auf der Stelle, die Ohren angelegt, den Schwanz eingeklemmt. Die Hunde sahen ihn nicht. Sie rannten weg, aber Prince spürte die Bedrohung, die von ihnen ausging. Er hatte keinen Zweifel, dass, Traum oder nicht, Hermes die Wahrheit gesagt hatte. Die drei waren mordlüstern. Als er sicher war, dass sie ihn nicht wahrnehmen würden, floh er und begann sein Exil in Panik, Angst und Dunkelheit.

Die drei Hunde, die aus dem Waldstück gerannt waren, suchten Atticus. Sie hatten sich geeinigt, Majnoun zusammen anzugreifen. Frustriert von Princes mysteriösem Verschwinden, wollten Max, Frick und Frack nichts anderes, als den schwarzen Hund zu Tode beißen. Atticus wartete auf sie an dem Teich, und sie hetzten, als wollten sie eine läufige Hündin besteigen.

Für Atticus war die Zeit, die er mit Majnoun verbrachte, unangenehm. Denn er verstand Majnoun, und es tat ihm leid, dass der Hund gehen musste. Unter anderen Umständen hätte er Majnoun vielleicht in dem Rudel willkommen geheißen, aber die Dinge waren nun mal, wie sie waren. Atticus rechtfertigte vor sich selbst das, was unabwendbar kommen musste: Ein Rudel brauchte Einheit, und Einheit bedeutete, dass alle die Welt auf die gleiche Weise verstanden oder wenn nicht die Welt, dann zumindest die Regeln. Majnoun war einer, der die neue Art des Denkens, die neue Sprache bereitwillig übernahm. Dieser Hund gehörte nicht zu ihnen.

Schwarzer Hund, sagte Atticus, kann es ein großartigeres Gefühl geben als das der Zugehörigkeit?

Nein, sagte Majnoun.

Und doch, sagte Atticus, befürchte ich manchmal, dass ich dieses Gefühl nicht wieder haben werde, dass ich nie wieder wissen werde, was es heißt, ein Hund unter Hunden zu sein. Dein Denken, schwarzer Hund, es ist ein endloses, totes Feld. Seit der Veränderung bin ich allein mit Gedanken, die ich nicht haben will.

Ich verstehe, sagte Majnoun. Mir geht es genauso. Aber wir müssen es ertragen, weil wir den Dingen in unserem Kopf nicht entrinnen können.

Da bin ich anderer Meinung, sagte Atticus. Mit den anderen zusammen sein heißt frei von sich selbst sein. Es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen zu den alten Gewohnheiten zurückkehren.

Wenn wir sie denn finden können, sagte Majnoun.

In dem Moment tauchten Frick, Frack und Max auf. Max sagte:

Die große Hündin ist tot.

Was ist passiert?, fragte Majnoun.

Sie wurde von einem Rudel anderer Hunde angegriffen. Sie sind jetzt in der Nähe unseres Lagers.

Wie viele?, fragte Majnoun.

Viele, sagte Max, aber sie sind nicht so groß wie wir.

Wir müssen unseren Platz verteidigen, sagte Atticus.

Frick und Frack liefen vor Majnoun, Max und Atticus links und rechts neben ihm. Kurz vor dem Waldstück drehten die Brüder sich plötzlich um und attackierten Majnoun ohne Vorwarnung. Max und Atticus machten sofort mit. Die Hunde waren schnell und gnadenlos, und obwohl Majnoun versuchte zu entkommen, hatten sie ihn. Die vier bissen ihn und schlugen ihre Zähne in seine Flanken, seinen Hals, die Sehnen seiner Beine, seinen Bauch und seine Genitalien. Wäre es taghell gewesen, der Anblick des blutenden Hundes hätte die Verschwörer befriedigt. Sie wären vielleicht noch erregter gewesen, so berauschend waren der Geschmack des Blutes und das Adrenalin des Mordens.

Wenn es Tag gewesen wäre und sie etwas weniger aufgeregt gewesen wären, hätten sie sich bestimmt vergewissert, dass Majnoun tot war. Sie fielen über ihn her, bis er keinen Widerstand mehr leistete, bis die Zuckungen seines Körpers aufhörten. Dann ließen sie ihn als vermeintlich tot zurück und liefen in das Wäldchen, um ein neues Leben zu beginnen, das in Wirklichkeit die Obsession war, sie könnten das alte weiterführen.

Fünfzehn Hunde

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