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ОглавлениеOhne Worte
Nadejda Stoilova
Er war ein Wolf. In den Bergen.
Tagelang irrte er auf nicht betretenen Pfaden. Je tiefer er im Wald war, desto besser konnte er seine Gedanken ordnen.
Er war scheu. Vermied die Menschen. Sie machten ihn unruhig. Sie machten ihn zum bösen Wolf. Einer, der mit den Zähnen die Luft zischend zerreißen konnte. Angriffsbereit.
Er hatte keine Angst, böse zu sein. Anzugreifen, wenn es sein muss. Sein Revier zu verteidigen. Das hat er jahrelang in seinem Berufsleben getan.
Jetzt wollte er seine Ruhe haben. Weg von den Menschen. Weg von der Verantwortung. Weg vom Geprahle des eigenen Egos. Ab und zu musste er die Luft rauslassen. Allein sein. In den Bergen. Da wollte er in Ruhe nachdenken.
Es ist gefährlich geworden. Sie war gefährlich. Tea war ihr Name.
Er war daran gewohnt, die Kontrolle zu behalten. Als Alphatier war er immer ein paar Schritte voraus.
Von außen war er eher unscheinbar. Kein typischer Macho. Dürr, klein, zierlich, aber trainiert. Keine Tattoos. Kurzes borstiges graues Haar, beinahe Glatze. Stets gebräunt.
Sein unscheinbares Äußeres verhalf ihm oft, einen Treffer im Herzen der Tatsachen zu erzielen.
Er war ein Sieger. Ein weiser Mann. Er konnte tief in die Seele seines Gegenübers schauen. Seine innere Klarheit verschaffte ihm diese Fähigkeit. Es schien durchaus, dass er Entscheidungen auch dann noch treffen konnte, wenn andere nicht mehr dazu in der Lage waren. Zumindest im Beruf.
Nur Gefühle waren sein Schwachpunkt. Vor allem bei Frauen.
Echte Gefühle kannte er nicht.
Seine Mutter war eine gefühlskalte Frau. Sie war stets distanziert. Er hatte nie gesehen, wie sie einen ihrer Männer küsste. Oder überhaupt irgendwelche Zärtlichkeiten zeigte. Dennoch gab es immer Verehrer.
Seinen Vater hatte er nicht kennengelernt. Er war einfach nie da gewesen. Darüber hatte er nie mit seiner Mutter gesprochen.
Sein Elternhaus hatte er deswegen auch früh verlassen. Mit sechzehn hatte er seine erste Firma aufgebaut, einen Internetshop für jedermann. Zudem sehr erfolgreich. So dass er ihn zwei Jahre später verkaufen konnte. Dies gab ihm die finanziellen Mittel für eine Weltreise.
Alaska, Kanada, Sibirien.
Er liebte die Kälte, die Wildnis, die Einsamkeit.
Monatelang hat er in den tiefsten Wäldern Sibiriens gelebt. Er fühlte sich mit den Tieren und dem Wald verbunden. Dank seiner ausgeprägten Sensibilität konnte er ihre Stimmung spüren. Es genügte ein Blick, um sie zu besänftigen. Dabei schaute er tief in ihre Augen. Für Außenstehende mochte es so aussehen, als wären sie hypnotisiert. Doch es war mehr als Hypnose, die Tiere fühlten sich zu ihm hingezogen. Wilde Wölfe wurden zu gezähmten Hunden und lagen an kalten Nächten bei ihm am Feuer.
Zwei Jahre verbrachte er in der Einsamkeit, ehe er zurückkehrte.
Die Natur war sein Zuhause. Nicht verwunderlich, dass sein neuer weltweiter Konzern für Naturschutzprojekte stand. Natürlich insbesondere für die grünen Lungen dieser Erde. Aufforstung und Schutz waren seine Ziele.
Ein Vordenker, der mitriss.
Nur in der Liebe hatte er nach wie vor keinen Erfolg.
Doch er wollte das ändern. Er hatte sich zu einem Tantra Seminar angemeldet. Seine eigene Gefühlswelt spüren und in sie eintauchen. Vielleicht könnte das der Schlüssel zur Liebe sein.
Echte Liebe.
Natürlich, Liebschaften hatte er einige. Doch nur auf den Wellen der Leidenschaft zu reiten, war ihm viel zu oberflächlich. Er sehnte sich nach Tiefe. Wie er sie in der Einsamkeit des Waldes erlebt hatte.
Doch war er dazu bereit? Sein Herz wie im Wald Sibiriens zu öffnen und eine Frau hinein zu lassen? Musste er sich dafür nicht seinen eigenen Ängsten stellen? Die eigenen Grenzen von innen durchbrechen?
Doch dann traf er sie. Vor einem Jahr in einem Tantra Retreat auf Korsika.
Sie war wie ein Schmetterling.
Bunt, wild, flatterhaft.
Sie begrüßte die Menschen im Kreis mit der Leichtigkeit eines Schmetterlings. Von einer Blume zur Nächsten. Sie schwebte fast in der Luft. Ganz leicht und frei.
Oberflächliche Frauen gab es in seinem Leben zur Genüge. Auf den ersten Blick wirkte auch sie so. Doch er spürte, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Da war eine Tiefe. Eine ungeahnte Tiefe.
Sie wirkte so jung.
Er blieb auf Distanz. Tagelang hatte er nicht mit ihr gesprochen. Sie nur still beobachtet.
Doch dann war es nicht mehr auszuhalten. Sein Inneres wollte sich offenbaren. Und er musste eine Übung zusammen mit ihr machen. Sie hatte ihn ausgesucht. So konnte er ihr nicht mehr ausweichen. Sie hatte ihn gewählt, den Einsamen unter den Anderen.
Bei dieser Übung wurde das Licht ausgeschaltet. Ihn umgab eine ungewöhnliche, schier undurchdringliche Dunkelheit. Darauf war er nicht vorbereitet. Sich nicht auf das zu verlassen, was er als seine Stärke empfand. Taxieren, Anvisieren, mit Augenkontakt Menschen durchdringen und beeinflussen. Mit einem Male musste er sich auf Gefühle verlassen, die für ihn immer sekundär waren, zweitrangig, doch nun nötig. Da spürte er ihre Wärme. Ihr Atem hauchte ihn an. Ihre Nähe brachte ihn um den Verstand.
Wie ein Stich ins Herz, der ihn so unbedeutsam werden ließ. Einfach so. Aus dem Nichts. Wie ein kleines Kind brach er in hemmungsloses Winseln aus. In ihren Schoß eingekuschelt.
Seinen Körper konnte er nicht mehr kontrollieren. Er lebte seine eigene Wahrheit. Später erinnerte er sich an kein Detail mehr. Nur eine unbeschreibliche Leichtigkeit fühlte er. Als wäre er neu geboren.
Scheu saß er in einer Ecke beim Abendessen. Er wollte mit keinem darüber reden. Er wollte einfach nur allein sein. Wie immer.
Am nächsten Morgen wurde eine Übung angekündigt. Diesmal durften die Männer eine Partnerin aussuchen. Mit dieser dann den Vormittag gestalten. Ihr wohlwollend Aufmerksamkeit schenken. Wiederum durften die Partnerinnen all das annehmen, was sie als richtig empfanden. In der Magie des Augenblicks dankend verweilen.
Er war selbst überrascht, als er vor ihr stand. So als wäre er eben erst erwacht. Als hätte ihn sein Körper aus eigenem Willen vor sie bewegt. Sein Verstand war ausgeschaltet.
Sie schaute ihn ernst an. Anders als sonst. Sie tauchte tief in seine Augen ein. Beide fielen in Trance. Magische Wellen breiteten sich in seinem Bauch aus. Es dauerte nur ein paar Sekunden, obwohl ihm das später als Ewigkeit vorkam. Bis die Glocke der Trainerin sie aus diesem Zustand zurückholte.
Er wollte ihr den Wald zeigen. Seinen Rückzugsort. Sein Zuhause. Stumm, ohne ein Wort zu wechseln, waren sie beisammen. Sie liefen und liefen. Ohne Ziel. Ohne Richtung. Unterwegs umarmte Tea die Bäume. Sie streichelte ihre Blätter. Er sprach mit den Vögeln. Ohne Worte.
Sie kamen wortlos an eine Lichtung. Zartrosa blühende Wildnelken bedeckten diese. Sie legten sich auf das Gras. Beieinander und doch auf leichter Distanz. Die Wolken waren sanft wellig, entspannt, durchschimmernd. Ein stilles Meer.
Erstaunlich viele Schmetterlinge zogen ihre Kreise um die beiden herum. Sie spielten mit den hohen, leicht schaukelnden, Gräsern. Der Wind sang sein sanftes Lied.
Zeitlose Weite.
Später badeten sie im Meer. Auf dem Weg dorthin gab es himmlisch leckere Walderdbeeren und saftige Heidelbeeren. Der warme Wind sauste an der Küstenklippe entlang. Pfiff magisch seine Liebesbeschwörung.
Der Tag verging wie im Flug. Es war klar, dass sie nicht zurück zum Seminar gehen würden. Nicht heute.
Als die Sonne sich dem Horizont zuneigte, hatte er sie zu seiner Waldlichtung geführt. Zwischen den großen Lärchen war der Moosboden weich und einladend. Dort ließen sie sich nieder. Er machte ein Feuer. Später saßen sie dicht nebeneinander. Schauten den tanzenden Feuerzungen zu, die sich einander verschlangen. Das Spiel des Feuers führte sie auf eine andere Ebene.
Erschöpft und dankbar legten sie sich unter eine der Lärchen. Er nahm sie von hinten in seine Arme. Sie schmiegte sich an ihn. Er spürte wieder die tanzende Wärme in seinem Bauch. Ihr Herz war so nah. Pulsierte zusammen mit seinem.
So sind sie eingeschlafen.
Erst als der Morgen graute, gingen sie ins Hotel zurück. Die Gruppe war schon bei der Meditationsrunde. Tea setzte sich leise dazu.
Er musste weg. Einen klaren Kopf kriegen.
Der feuchte Herbst wich einer frostreichen Winterstille.
Immer wieder erinnerte sie sich an den Retreat des vergangenen Sommers. Sehnsüchtig.
Sie legte ihre Hände auf ihren Bauch. Die Kühle des Raumes abwehrend.
Ihre innere Wärme spürend. Mit geschlossenen Augen tauchte sie in eine andere Welt ein. Als sie am Meer waren. Die Wellen haben seufzend gerauscht. Der Wind war von der Seite gekommen und hatte ihnen entgegen gebrüllt. Der raue Wind hatte die Bäume nach unten gedrückt. Hatte der Wind so viel Kraft, sie aus dem Boden zu reißen? Fühlte sie sich nicht genauso?
Sie spürte noch seine Umarmung. Ganz zerbrechlich. Aus wolkenartigen Wattefetzen. Weich und warm.
Dann war er weg.
Nur der Wind erinnerte sie jetzt an ihn. An seine Umarmung.
Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie daran zerbrechen würde.
Wie dieser Baum da, der im dünnen Felsenspalt aufgewachsen ist.
Jedes Mal, wenn der Wind aufkam, hat es an seinen Kräften gezerrt.
Das machte ihn zäher. Machte ihn demütiger. Bis der Sturm kam und ihn zerbrach.
Doch sie hatte ihre innere Wärme. Ihre Hände waren magisch.
Die Wärme hatte sich in ihrem Bauch ganz allmählich ausgebreitet.
Wie lauwarmer, dickflüssiger Karamellsirup, der im Inneren fließt.
Vom Bauch zur Brust. Dann den Nacken entlang. Sie öffnete ihre Augen.
Genau jetzt. In diesem Moment berührten seine Hände ihren Nacken.
Zärtlich. Bedacht. Leise.
Tausende Sterne spielten wie Kinder. In der Tiefe seiner Augen.
Langsam wurde sie wach. Nach wie vor in ihrer Wohnung in New York. Der Großstadtlärm drängte in ihren Körper. Sie hatte keine Lust aufzustehen, tat es aber, um das Fenster aufzumachen. Der kalte Wind umschmeichelte sie. Sie spürte jedes ihrer Härchen aufstehen. Eins nach dem anderen.
Eine raue Stimme hinter ihr grunzte etwas Unverständliches.
Die Spannung auf ihren Lippen verschwand. Ganz leicht, kaum spürbar, mit nach oben gerundeten Mundwinkeln. Achtsam ist sie der Wärme gefolgt.
Ihr Gedanke »Mein Leben ist hier« holte sie im Hier und Jetzt zurück. In dieser Welt. Dann kuschelte sie sich an ihn. Seufzte leise.
Alles war still. Nur im Bauch. Ein leises Ziehen grüßte. Es erinnerte sie an ihn.
Ohne Worte.