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Kapitel 1
ОглавлениеVom Nutzen und Nachteil der Zeit für das Leben
Die Abschaffung der Zeit ist die Abschaffung des Allzumenschlichen, es ist die Abschaffung der Schwäche und der Leidenschaft, die der Mensch hat, eine Schwäche und Leidenschaft zum Leben und zur Welt, die wir seit jeher Bildung nennen. Hans Blumenberg hat trefflich das Problem der Zeit benannt. Sie ist das am meisten Unsrige und das am wenigsten Verfügbare.1 Wie kommt der Mensch darauf, nach der Zeit zu fragen? Ist sie überhaupt, also hat sie ein Sein, so wie anderes in der Welt, oder ist sie eine Fiktion, eine Illusion, ohne die wir nicht leben können? – Unser Leben ist, ob wir wollen oder nicht, auf verwickelte Weise mit der Frage nach der Zeit verwoben. Sie ist das Reflexionsfeld, in dem wir unser Leben betrachten, hat Weltdeutungs- und Selbstdeutungscharakter. Zeit ist der Spiegel, in dem sich das Sein versinnbildlicht. In ihrem Verständnis zeigt sich das, was uns – aus welchen Gründen auch immer – wichtig erscheint.
Der Begriff der Zeit ist entstanden, weil es im Leben der Menschen Rätselhaftes gibt, einen ständigen Übergang, ein Werden und Vergehen, eine Dauer ohne Bestand, einen Augenblick, der nichts Haltbares hat, einen Anfang und ein Ende, die unverfügbar sind, eine Einsicht, die zu spät, einen Schlusspunkt, der zu früh kommt, Erinnerungen, die sich unwillentlich einschreiben, ein Vergessen, das sich entwindet, das Zukünftige, das hoffen und fürchten lässt, die Macht der Stille, in der die Zeit Räume greift. Wir verstehen uns nicht, wenn wir nicht wissen, was Zeit meint und was sie für uns bedeutet. Wir müssen uns nun einmal zur Zeit verhalten, und zwar ohne ihrer je wirklich habhaft zu werden. Aber was ist die Zeit überhaupt? – Diese Frage lebt von der gescheiterten Antwort auf sie, von ihrem Entzug und zugleich der Evidenz ihrer Spuren, die sie hinterlässt. Sie betrifft den Menschen zutiefst, denn der Mensch kann ohne die Zeit nicht sein. Die Frage nach der Zeit ist letztlich eine, die uns auffordert zu klären, woran wir sind, was wir im Leben zu suchen haben.
Seit der Antike steht der Sinn der menschlich endlichen Lebenszeit auf dem Spiel. Es ist die Endlichkeit des Menschen, ohne Widerruf und Ausweg, Gerichtetheit ohne Richtung, die von uns Antworten einfordert, weil das endliche Leben selbst die rätselhafte Frage nach der Zeit umgreift. Die Endlichkeit wird das Maß der Erwiderung auf das Phänomen Zeit. Der Mensch muss sich zu den Zeichen der Zeit verhalten. Somit sind die menschlichen Bewegungen, Tätigkeiten und Erfahrungen immer schon Ausdruck eines Verhältnisses zur endlichen Zeit. Mit anderen Worten: Der menschliche Reflex auf die Tatsache der Endlichkeit wird zum Konstitutiv seiner Zeitpraktiken und seiner Vorstellungen von Zeit. Die Zeit ist eine Sinnordnung, in die das eigene Leben eingebettet ist und die angesichts der Lebensfrist Sinn stiftet. Wenn wir uns also der Zeit zuwenden, tun wir dies bereits bewusst oder unbewusst als Wesen, die beizeiten nicht mehr sind.
In der Regel bestimmt die Zeit unbemerkt das Leben, den Rhythmus unseres Seins. Zeitvorstellungen werden stillschweigend und als naturgegeben unterstellt, sie sind immer schon vorausgesetzt, wenn wir anfangen, über Zeit nachzudenken. Sobald wir dies tun, ist sie vor allem eines für uns: bereits gelebt und abgelaufen. Zeitmangel, Zeitnot oder die Formulierung »keine Zeit zu haben« verweisen auf verlorene Besitzverhältnisse – auf ein Weniger und Mehr –, für die es keine Eigentumsrechte gibt. Zeit ist Werden und in der Reflexion immer schon vergangen. Zwischen Vergangenheit und Zukunft schiebt sich der flüchtige Spalt der Gegenwart. Sie fällt uns in der Regel erst auf, wenn sie schlichtweg fehlt, wenn wir uns mehr von ihr wünschen, wenn es eilt, man über Versäumtes nachdenkt, mit sich und der Zeit hadert. Sobald wir überlegen, wie wir sie gelingend gestalten können, macht sie sich rar, entzieht sich unserer Verfügung, den schönen Plänen, die wir entwerfen. Die Zeit fordert uns stets aufs Neue. Verfügbar scheint sie uns dagegen allein in ihrer formalen Bereitstellung zu sein – z. B. als Schulzeit, Ausbildungs- und Arbeitszeit. Doch genau dieser Schein trügt.
Quantitativ betrachtet ist die Lebenszeit so einfach wie überschaubar: Im Durchschnitt leben wir ca. 77 Jahre, davon schlafen wir etwa 25 Jahre, 6 Jahre schauen wir fern, 5 Jahre essen wir, 2 – 3 Jahre unterhalten wir uns, 2,5 Jahre fahren wir mit dem Auto, 1,5 Jahre lang wird geputzt, 6 Monate verbringen wir auf der Toilette und 3 Monate in Kneipen.2 Zeitverwendungsstudien belegen, dass etwa 12 % der Menschen unter erhöhtem Zeitstress leiden, pro Tag finden im Durchschnitt 27 Tätigkeitswechsel statt. Summiert verbringen wir 100 % unserer Zeit mit dem Leben – das ist die Anziehungskraft jeder Statistik: ihre Objektivität und Trivialität.
Ursprünglich ist die Zeit ein Verhältnis zur Natur, in das sich der Mensch, aufgehoben im ewigen Kreislauf, eingebunden sieht. Mit der Moderne der ausgehenden Renaissance spaltet der Mensch die Natur zunehmend von sich ab. Er will sich loslösen vom Gleichklang einer natürlichen Schwingung und als selbsterwählter Souverän eigene Wege beschreiten. Das Natürliche wird fortan in eine »ordentliche« Struktur gebracht. Zeit muss genau erfasst werden. Der Mensch will die Zeit beherrschen und vermisst die Welt, vergisst aber, dass das Gemessene erst durch das Messen hergestellt wird. Die Uhren-Zeit macht die Zeit schließlich zu der einen Zeit – der Zeit, vor der sich der Herrscher selbst verneigt. Ihre Domestizierung durch das Messen geht mit der freiwilligen Unterwerfung unter das Diktat der mit ihr verbundenen Frage nach Nützlichkeit Hand in Hand. So gräbt sich die gemessene Zeit – naturwissenschaftlich getauft und technologisch gesegnet – über Jahrhunderte hinweg in das menschliche Leben ein und schlägt dort tiefe Wurzeln.
Zeit, was immer sie sein mag, ist als statistische und messbare Größe nicht sinnvoll zu fassen. Wenn überhaupt ist sie nur historisch-kontingent verstehbar, nämlich unter der Form ihres Ausdrucks in Zeiten, in symbolischen Gestaltungen und Deutungsmustern, in Praktiken, Ritualen, Handlungen sowie in Technologien, Lebensführungen und Formen des Zusammenlebens. Statt der einen Zeit gibt es also, als Entschädigung für das Menschsein, Zeiten, die sich belagern und umgarnen. Zeiten sind unsere Verhältnisse zu einer uns unverfügbaren Zeit der gelebten Endlichkeit. Die Zeit selbst zeigt sich dabei nicht als solche, sondern fordert auf je eigene Weise ihr unverlierbares Recht. Daher ist sie der Ort, an dem sich unser Sein in der Reflexion bricht, ein Selbstbezug, der sich stets entzieht – wesenlos und allmächtig – wie es in Thomas Manns Zauberberg heißt.
Als physikalische Zeit ist sie Geschwindigkeit in Bezug auf die Bewegung im Raum; als »unsere« ist sie gelebte, erlittene, erfüllte Lebenszeit. Wir haben Zeiten, Formen der Dauer und des Wandels, des Kontinuierlichen und Diskontinuierlichen, des Vorgriffs und Rückgriffs, Zeiten, die an Dingen haften, an Tätigkeiten und Bewegungen. Es sind Erfahrungen in der Zeit, die sich uns einschreiben und die wir leben.
Jede unserer Handlungen hat ihre Zeitformen und jeder Lebenszyklus seine Gestaltung. Wir warten auf jemanden, planen unsere Woche, verabreden uns, unterhalten uns mit Freunden, betrachten das Meer, lauschen den Vögeln, gehen in ein Museum, flanieren, besuchen ein Konzert, lesen, beten, arbeiten, langweilen uns, vertreiben die Zeit. Kluge Handlungen wollen überlegt sein, brauchen ihre spezifische Zeit. Es verändert die Zeit, ob wir sie alleine oder mit anderen Menschen verbringen, ob wir diese Menschen mögen oder nicht. Eine Zeit in Schmerz oder Sehnsucht lässt sie uns wie eine »Ewigkeit« vorkommen. Das Warten auf den geliebten Menschen ist ein anderes Warten als das in einem Wartezimmer. Nur die Zeit heilt alle Wunden, wir sehnen uns nach ihr, sie berührt uns, ob als vergangene, gegenwärtige oder zukünftige. Der Horizont von Vergangenheit und Zukunft ist ein schmaler Korridor, in dem Vergänglichkeit, Älterwerden und Sterblichkeit hausen. Die Bedeutung von Zeit im Alter wandelt sich. Die Zeit vergeht schneller, zu schnell. Dagegen kennt die Weisheit im Alter den Druck des Zukünftigen nicht. Kinder dagegen leben noch im Jetzt und Gleich, kennen zyklische Zeitbewegungen, die an das Tun gebunden bleiben.
Wir haben ein Gespür für die Zeit, ihren Rhythmus, ihre Melodie und ihren Klang. Auch den rechten Augenblick vermögen wir gelegentlich auszumachen, und wenn nur in der Einsicht, ihn verpasst zu haben. Als leibliche Wesen sind wir der Welt zugewandt, also zur Welt und in der Zeit, wir erfahren sie im tiefsten Grunde. Durch die Verwobenheit mit dem, was wir Natur nennen, sind wir Teil einer natürlichen Bewegung. Wir offenbaren uns als ursprünglich biologischer Rhythmus. Die Zeit des Organismus ist wirksam und zeugt von der Regelmäßigkeit des Daseins, vom Herzschlag bis zur Zellteilung; Blutbild, Körpertemperatur und Schmerzempfinden unterliegen periodischen Schwankungen im Tageslauf.3 Die körpereigenen Zyklen sind natürliche Zeiteinheiten, die ein gesundes Maß vorgeben.
Doch wir haben unser Leben einem anderen Zeitmaß verschrieben, verspielen die harmonische Ausgeglichenheit. Wir sind der Taktung erlegen, linear gleichförmigen Zeitabschnitten, die keine Verzögerungen erlauben. Der Takt ist Gewalt. Er zwingt, macht krank, raubt Zeit. Die einander fremden Prozesse der Lebensrhythmik und der Zeit-Taktung sind letztlich nicht zu synchronisieren. Rhythmen lassen sich nicht beschleunigen, ohne dass sie verändert und deformiert werden. Sie sind komplexe nicht lineare zeitliche Bewegungen, die das Leben von innen ordnen. Diese Eigenzeiten und Reifungsprozesse verlieren ihr Recht. Die natürlichen, biografischen, kulturabhängigen und sozialen Lebensrhythmen haben sich über Jahrhunderte den gesellschaftlich gewünschten Taktungen und Machtstrategien angepasst.
Mit der Taktung des Lebens ist eine Führungs- und Regierungspraktik verbunden, die in der umfassenden Kontrolle der Zeit kulminiert. Die Gestaltung von Zeit und die Frage nach dem rechten Verhältnis zu ihr leiten über zum Nachdenken über Machtbeziehungen und Freiheitsformen. Wenn also in diesem Buch von der Abschaffung der Zeit die Rede ist, dann davon, dass und inwieweit Menschen über die Zeit regiert werden. Gemeint ist eine Selbstführung über die Lebenszeit, die sich weniger als äußere Form der Machtausübung denn als innere darstellt. Zeitpraktiken, die die Zeit nicht mehr an Erfahrungen, Bewegungen etc., sondern an Rationalitätsformen binden und gleichzeitig ihre Verfügbarkeit selbst zum Gegenstand haben, schreiben sich dem Leib ein und werden zu einem neuen Typus der Zeit-Regierung im Sinne einer »gouvernementalité« (Foucault). Im Glauben, dass wir tun und lassen können, was wir wollen, tun wir genau das, was wir tun und lassen sollen. Die Zeitregierung schränkt die Möglichkeiten des Denkens und Handelns immer schon durch eine Selbstunterwerfung im Gewande der Freiheit ein. So gesehen ist die Abschaffung der Zeit ein soziales und alles andere als ein zeitphysikalisches Problem; sie ist ein Ausdruck von Macht.
Es gibt merkwürdigerweise viele Gründe für die intendierte Abschaffung der Zeit, sodass sie mitunter subtile Signaturen trägt, die in diesem Buch eine Rolle spielen werden. Ihr gemeinsames Kennzeichen liegt darin, Wege zu finden, die Zeit als temporale Freiheitsnische, die unser Denken und Handeln verzögert und ihm Spielräume verschafft, zu verhindern oder zu lenken. Seit Augustinus wird die Zeit in ihrer leiblichen Verbundenheit verachtet und als malum temporale gedeutet, klösterlich in der Tradition der Benediktinerregel wird sie derart verplant, dass sie kondensiert – sie ist ohnehin nur in der Verfügung Gottes. Um effektive Ordnungen zu gewährleisten, wird ihre Messung immer wichtiger; eine Abschaffung der vielen Zeiten durch Quantifizierung und Dogmatisierung. In ihrer säkular neuzeitlichen Hinwendung zur Zukunft ist die Zeit nunmehr ein Durchgangsstadium hin zu verheißungsvoll besseren Tagen. Mit der Ausrichtung auf den Fortschritt in der industriellen Rationalisierung demontiert sie Geschichte und Herkunft, ihre Abschaffung zielt auf die Enthistorisierung. Das, was heute gilt, ist morgen per se überholt und ohnehin nicht verpflichtend.
Besonders sinnfällig wird in diesem Zusammenhang das Faktum der Beschleunigung. Seit dem 18. Jahrhundert schaffen Zukunftsorientierung und Fortschrittsgläubigkeit den Nährboden für Regierungspraktiken, die auf eine zeitliche Forcierung setzen. In die Lebenswelt brechen diese Beschleunigungen sehr unterschiedlich ein, als Zeitdruck, als Suggestion unendlicher Möglichkeiten, als Verlust des Abschieds, als Nichtfertigwerden und Orientierungslosigkeit, mithin als Wahrnehmungsverkümmerung. Die Zeit verliert sich schließlich in der kontrollierten Selbstentzifferung des Menschen nach Maßgabe seiner Lebenseffizienzzeit, die eines nicht ist: lebenseffizient. Gegenüber der Macht der Beschleunigung verblasst der Wunsch nach Langsamkeit. Wir finden in dieser Zeit-Ordnung keinen Ort, werden neurotisch, krank, verhaltensauffällig – letzte Zeichen der Gesundheit und unseres Gespürs für Zeit. Die Kontrollgesellschaft, in der wir gegenwärtig leben, wird die Vollenderin der Abschaffung der Zeit. So beginnen wir dieses Buch mit dem Ende.
Sonnenuhr