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Kapitel 2
ОглавлениеDer Herr der Zeiten. Von unbewegten und bewegten Bewegern
Das Problem der Zeit ist eines, das den Menschen unentwegt beschäftigt und in die »dunkelsten Abgründe«4 führt. Die Zeit ist ein ausgesprochen schwieriger Begriff, der auf eine sehr komplexe Vorstellung unseres Selbstverständnisses abzielt. Ihm sich anzunähern ist alles andere als einfach. Wagen wir es dennoch. Unser Weg ist zunächst nicht unbedingt konventionell. Wir suchen einen ersten Zugang zu dem, was wir Zeit nennen, indem wir nach dem Anfang der Zeit fragen. Das ist deswegen lohnenswert, weil der Anfang und seine Verfügbarkeit mit der Beherrschung der Zeit verbunden sind. Anfang zu sein, fällt mit der Vorstellung zusammen, Herr der Zeiten zu sein.
Die Geschichte vom Anfang gehört zu den großen Erzählungen der Menschheit. Der Anfang der Zeit bezieht sich auf etwas, was vordem nicht war und mitunter ohne ihn nicht wäre. Er hat also durchaus Schöpfungsqualitäten, unterliegt selbst nicht der Zeit, ist unbewegt, bewegt anderes. Setzt sich der Mensch als Anfang, macht er sich als »souveränes Subjekt« zum unbewegten Beweger außerhalb der Zeit. Wer sich als Anfang sehen will, will der Bestimmer sein. Da der Mensch aber in der Zeit existiert, bleibt die Herrschaft über die Zeit allein einem Gott vorbehalten. Gottes Rolle, auch wenn die Anerkennung schwer fällt, kommt dem Menschen nicht zu.
Der Begriff des Anfangs ist zunächst auf das griechische arché bezogen, das Anfang, Ursprung und auch Herrschaft meint. Platon sucht die arché im Timaios in der Vorstellung eines Baumeisters des Kosmos (demiurgós), als eines architectus, der mit Blick auf das Ewige der Ideen5 eine Weltseele schafft, die wiederum den Grund der Welt bildet und die Materie ordnet. Die arché ist der Ursprung, der alles daraus Entstehende bestimmt. Zentral ist, dass Platon den Anfang der Welt als eine Schöpfung versteht, die zugleich der Beginn der Zeit ist. Die Zeit wird als ein Abbild der Ewigkeit gedacht.
»So entstand denn die Zeit zugleich mit dem Weltall, auf daß beide, zugleich erschaffen, auch zugleich wieder aufgelöst würden, wenn es jemals zu einer Auflösung derselben kommen sollte: das Urbild für sie aber war die eigentliche Ewigkeit: diesem sollte das Weltall so ähnlich wie nur möglich werden; denn dem Urbild kommt ein schlechthin ewiges Sein zu, das Abbild aber ist der Art, daß es die ganze endlose Zeit hindurch geworden, seiend und sein werdend ist. Solche Absicht und Erwägung Gottes lag der Entstehung der Zeit zugrunde: auf daß die Zeit entstünde, wurden Sonne, Mond und die fünf Sterne geschaffen, welche den Namen der Wandelsterne tragen, zur Unterscheidung und Bewahrung der Zeitmaße. Und nachdem Gott ihre Körper einen nach dem anderen geformt hatte, setzte er sie, sieben an der Zahl, in die sieben Sphären, in denen der Umschwung des Anderen verlief, den Mond in die der Erde nächste, die Sonne in die zweite oberhalb der Erde, den Morgenstern und dem Merkur geheiligten und nach ihm benannten in diejenigen Sphären, die in gleicher Schnelligkeit mit der Sonne umlaufen, aber eine ihr entgegengesetzte Richtung verfolgen.«6
Für Aristoteles, den Schüler Platons, ist die Zeit das zählbare Maß der Bewegung in Bezug auf das Früher oder Später.7 Insbesondere dem Jetzt kommt eine zentrale Bedeutung zu, denn es trennt und eint Vergangenes und Kommendes. Die Zeit hat für ihn weder Anfang noch Ende. Orientierung bietet die Bewegung im Raum, die übertragen auf die Zeit ein kontinuierliches Fließen denkbar macht. Ohne die räumliche Veränderung von Körpern, vor allem der Himmelskörper, ist die Zeit nicht zu denken. Die Kreisbewegung der Himmelskörper ist Ausdruck der ewigen Bewegung, sie ist in ihrer Vollkommenheit quasi die erste Bewegung. Fixsterne sind für Aristoteles Zeichen, dass sich ihr Kreisen auf den Umlaufbahnen an der Ewigkeit orientieren muss. Doch wodurch werden die Himmelskörper bewegt? Es braucht eine Ursache, wie alles Seiende einer bedarf. Diese wird von Aristoteles als Verursachung durch das Streben nach einem Ziel oder Zweck gedacht, als causa finalis. Das ist zu erklären:
Die aristotelische Konzeption verweist – anders als die platonische – darauf, dass Bewegung und Zeit ewig sind, also nicht geworden. Es gibt keinen Anfang der Zeit. »Unmöglich aber kann die Bewegung entstehen oder vergehen; denn sie war immer. Ebenso wenig die Zeit; denn das Früher oder Später ist selbst nicht möglich, wenn es keine Zeit gibt. Die Bewegung ist also ebenso stetig wie die Zeit, da diese entweder dasselbe ist wie die Bewegung oder eine Affektion derselben.«8
Mit Aristoteles werden die Bedeutungen von Anfang, Ursprung und Ursache zu zentralen termini technici philosophischen Denkens. Arché wird, anders als ein zeitlicher Beginn im Sinne von initium, primär als Prinzip begriffen, als logische Denknotwendigkeit. Merkmal eines solchen Prinzips ist für Aristoteles, dass es ein Erstes ist. In diesem Zusammenhang greift er auf die bekannte Metapher des »unbewegten Bewegers« zurück. Aristoteles fragt also nach der Ursache (causa) der Bewegung und fasst den Anfang des Seienden angesichts der Ewigkeit als principium auf. Fest steht für ihn, dass jede Bewegung eine Ursache haben muss. Wenn jedoch jede Wirkung auf eine Ursache zurückgeht, die wiederum auf eine andere ursächliche Wirkung verweist und selbst wieder Wirkung einer Ursache ist, dann wäre ein Rückschreiten ins Unendliche, ein regressus ad infinitum, unvermeidbar, gäbe es nicht eine erste Ursache. Eine solche prima causa ist für Aristoteles der unbewegte Beweger (proton kinoun akineton). Dieser bewegt, ohne bewegt zu werden, und zwar, so sein Bild, als causa finalis, wie ein Geliebtes bewegt, zu dem wir uns hingezogen fühlen. Aristoteles kennt noch die »Anziehung« einer (göttlichen) Vollkommenheit. Der Anfang der Welt ist durch einen unbewegten Beweger gemacht. Er ist reine Vernunfttätigkeit, Herr der Zeit, und als »Bestimmer« und erste Substanz zugleich Formursache (causa formalis) des Seienden.
Im christlichen Denken wird der Ursprung – in Gott personifiziert – sowohl als Prinzip als auch als zeitlicher Anfang vorgestellt. Als das schlechthin Unbedingte stiftet Gott die Ordnung des Seins. Er ist Anfang der Welt und der Zeit. Der christlich-jüdische Gott gestaltet und schöpft demnach aus dem Nichts (creatio ex nihilo). Gott hat nichts zur Hand gehabt, um daraus Himmel und Erde entstehen zu lassen. Zusammen mit der Welt wird die Zeit erschaffen. Der Schöpfungsakt vollzieht sich durch das Wort Gottes. Er ist einerseits zeitlich das Erste, Anfang aller Dinge, und zugleich deren Ursache. Als das Unbedingte bedingt er das Sein.
Eine Versöhnung des christlich-jüdischen Denkens mit seinen heidnischen Wurzeln leistet Thomas von Aquin. In De veritate unterscheidet er einen schaffenden Intellekt (intellectus practicus) von einem erkennenden Intellekt (intellectus speculativus). Mit explizitem Rückgriff auf Aristoteles greift Thomas von Aquin die Metapher des unbewegten Bewegers auf und versteht die Schöpfung im Verhältnis zum Schöpfer als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung. Gott ist in dieser Anbindung als prima causa Schöpfer, er ist als intellectus practicus ursächlich und maßgebend für das Seiende. Der Mensch als Erkennender dagegen wird von den Schöpfungsdingen bewegt. Er antwortet auf die Schöpfung. Diese Antwort hat ihr Maß in einem Bezug auf die Dinge, die als von Gott geschaffen gedacht werden.
Mit Thomas von Aquin wird für den Menschen ein Intellekt angenommen, der durchaus die Wahrheit in den Dingen der Welt vernehmen kann. Seine Konzeption bleibt aber eingebunden in einen metaphysischen Schöpfungszusammenhang, der keinen Zweifel daran lässt, dass der Mensch nur erkennt, weil Gott als architectus ihn in dieser Weise geschaffen hat. Gott ist das Maß der Dinge, ihre unbewegte, geliebte Formursache. Damit wird der Stellenwert Gottes deutlich, er ist als unbewegter Beweger absoluter Anfang von Zeit und Welt. Nur er allein ist Herr der Zeit. Glaubt stattdessen der Mensch Herr der Zeit zu sein, verkennt er schlichtweg sein leiblich-endliches Menschsein. Ihm kommen die Ewigkeit und das Unwandelbare nicht zu, weil er weder Anfang noch Ende, Alpha noch Omega ist.
Lassen wir die Frage nach der Bedeutung des Anfangs der Zeit durch die Bewegungs-Metapher eine Weile ruhen. Sie wird später wieder aufgegriffen, wenn es um moderne Vorstellungen von Zeit geht. Nähern wir uns vielmehr der Frage nach dem Wesen und dem Sein von Zeit, um dann besser zu verstehen, welche Wendung die Moderne dem Gedanken vom Unbewegten und Bewegten sowie dem des Seins von Zeit gibt. Hier ist es vor allem Augustinus, der im 11. Buch seiner Confessiones versucht zu erläutern, was die Zeit eigentlich ist. Er steht mit seiner Erörterung bereits in einer langen Tradition der Reflexion auf die Zeit, von ihm aber stammt eine der berühmtesten Antworten. Zunächst benennt Augustinus die Schwierigkeit der vor ihm liegenden Aufgabe: »Wenn wir über Zeit sprechen, wissen wir, was das ist; wir wissen es auch, wenn ein anderer darüber zu uns spricht. Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht.«9
Augustinus zweifelt nicht daran, dass es die Zeit gibt, dass sie ein Sein hat. Die Herrschaft über die Zeit obliegt Gott, auch das ist für ihn fraglos. Während allein Gott Anfang und Ende der Zeit überblickt, sind dem Menschen Anfang und Ende, wie seine Lebenszeit, unverfügbar. Wir kommen gewissermaßen zu spät und gehen zu früh. Angesichts der Ewigkeit Gottes ist der Mensch in seiner Zeitlichkeit defizitär; menschliches Leben ist leiblich vergänglich, dem steten Werden und Vergehen ausgesetzt. Aus menschlicher Sicht ist der Kontrast von göttlicher Ewigkeit (aeternitas) und Zeit (tempus) unüberbrückbar. Die Antworten des Menschen auf die Frage nach der Zeit haben daher seit jeher den Stachel der Unverhältnismäßigkeit von Ewigkeit und menschlicher Endlichkeit. Ewigkeit ist für Augustinus die Abwesenheit von Anfang und Ende, sie ist Unveränderlichkeit in der Vollkommenheit und das Maß zur Beurteilung dessen, was Zeit ist.
»Du [Gott] gehst nicht in der Zeit voraus […]. Durch die Erhabenheit deiner immer gegenwärtigen Ewigkeit gehst du allem Vergangenen voraus und überschreitest du alles Zukünftige, eben weil es zukünftig ist, denn sobald es gekommen ist, wird es vergangen sein, du aber bist immer derselbe, und deine Jahre nehmen nicht ab (Psalm 101, 23). Deine Jahre gehen nicht und kommen nicht, während unsere Jahre gehen und kommen […]. Bei dir verdrängen nicht die kommenden Jahre die gehenden, denn sie vergehen nicht. Unsere Jahre hingegen werden erst alle sein, wenn sie alle vergangen sind. Deine Jahre sind wie ein Tag. Und dein Tag ist […] das Heute, weil dein Heute nicht dem Morgen weicht und nicht dem Gestern folgt. Dein Heute ist die Ewigkeit. […] Alle Zeiten hast du gemacht. Vor allen Zeiten bist du […].«10
In der radikalen Differenz zur Ewigkeit symbolisiert die Zeit demnach menschliche Vergänglichkeit. Darauf aufbauend entwickelt Augustinus sein Zeitverständnis, das die Frage beantwortet, wie die Zeit, genauer ihr Sein für den Menschen gedacht werden kann. Es geht um das Problem von Gegenwärtigkeit und Dauer. In welcher Weise können die Zeiten – Vergangenes, das Jetzt und das Zukünftige – überhaupt für den Menschen Gegenwärtigkeit haben? Immerhin hat Vergangenes kein Sein, weil es schon vergangen ist, Zukünftiges entbehrt des Seins, weil es noch nicht ist, und Gegenwärtiges schließlich ist als ein Jetztpunkt bereits mehr Nichtmehrsein als auszumachendes Sein mit Dauer.
Die Lösung: Nur als eine Art Ausdehnung innerhalb einer Spanne von Anfang und Ende hat die Zeit ein Sein. Nach Augustinus findet sie jedoch keine Dauer und damit kein Sein im Äußeren des Wandels, sondern nur im Inneren, in der sie bewirkenden Geist-Seele, wie er es nennt. Die dem Menschen unverfügbare, von Gott geschaffene Zeit erhält für ihn eine Gegenwärtigkeit und damit ein Sein nur in der Seelentätigkeit. Diese wird von Augustinus als distentio animi bezeichnet, als eine »Ausdehnung« und Erstreckung des Geistes, der Seele selbst. Sie zeigt sich in Form eines Vollzugs – des Erinnerns, des Erwartens und Anschauens, des Wahrnehmens und Auffassens. Der Geist in diesen Tätigkeiten macht die Gegenwart der Zeiten und die Zeit in ihrem Sein verständlich, und zwar in der ihm eigenen Ausdehnung. In der Seele haben die Zeiten eine gegenwärtige Dauer, und dort können sie durchmessen werden.
Die distentio der Seele ist wie eine Art Zwischenraum in der Zeit: eine nicht-räumliche zeitliche Ausdehnung. Darin ist sie dem Menschen ein Maß, um das Unstete der wahrgenommenen Außenwelt zu erkennen. Trotzdem wird sie zum Opfer dieses Unsteten und tendiert in der Sukzession zum Nichtsein. Die Zeit und mit ihr der Mensch teilen das gleiche Schicksal: Sie neigen dazu, sich zu verlieren und zu »zerstrecken«. Wenn Augustinus seine Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit der Seele richtet, geht es folglich auch darum, die defizitäre Zerstreckung der Seele in die Zeiten aufzuzeigen, sofern sie sich nicht auf die göttliche Ewigkeit, sondern auf das Unstete der Welt richtet. Die Orientierung am Äußeren fördert die Missbildung der Seele; sie wird zum Opfer der Zeit. Für Augustinus ist daher klar: Nur in der Abkehr von der Zeit und der Welt findet der Mensch sein Heil. Das Glück liegt für ihn nicht in der Zeit – sie ist ein malum temporale! Der Mensch hat sich auf die Ewigkeit Gottes zu richten. Solange er sich der wahrnehmbaren Welt zuwendet, bleibt ihm die Zeit unverständlich und unerklärlich. Er muss sich gerade von den äußeren Zeiten befreien, die exemplarisch für das Weltliche stehen. Die Einsicht in das Mangelhafte der menschlich weltlichen Zeit, ihre Zersplitterung, ist der Übergang zur Aufgabe, die Aufmerksamkeit auf das Innere, den inneren Lehrer, also Christus zu lenken, der allein die Einheit der Seele im Angesicht der Ewigkeit verbürgt. Das unzuverlässige Äußere und das alltäglich Selbstverständliche sind für Augustinus Ausgangspunkt des Menschen, sich auf das Ewige, Unwandelbare, auf die Wahrheit – auf Gott hin auszurichten.
»Aber da deine Barmherzigkeit wertvoller ist als alles Leben, so sieh: Mein Leben ist zerteilendes Ausdehnen (distentio). Doch dein Arm fing mich auf, in meinem Herrn, dem Menschensohn. Er vermittelt zwischen deiner Einheit und unserer Vielheit. Wir leben in vielfachen Lebensbezügen unter vielfachen Rücksichten. Aber durch ihn soll ich erkennen, so wie ich ihm erkannt bin. So kann ich frei werden vom Vergangenen und dem Einen folgen. Ich kann das Gewesene vergessen. Statt mich im Blick auf das zukünftig Vergängliche zu zerspalten, strecke ich mich aus (non distentus, sed extentus) nach dem, was vor mir ist, so daß ich nicht in Aufspaltung, sondern in einheitlicher Lebensrichtung (non secundum distentionem, sed secundum intentionem) die Ehre meiner höheren Bestimmung ergreife. Dort will ich dein Loblied hören und deine Freude schauen, die weder kommt noch geht. Jetzt aber vergehen meine Jahre unter Stöhnen, doch du, Herr, bist mein Trost und ewiger Vater. Ich hingegen, ich bin zersplittert in die Zeiten, deren Zusammenhang ich nicht kenne. Meine Gedanken, die innersten Eingeweide meiner Seele, werden zerfetzt vom Aufruhr der Mannigfaltigkeit – bis ich in dir zusammenfließe, gereinigt und flüssig geworden im Feuer deiner Liebe.«11
Die distentio ist eine menschenmögliche Dauer als angestrengte Tätigkeit der Seele. Mehr ist – allzu menschlich – nicht zu haben. Zugleich bleiben Weltzeit und endliche Lebenszeit unversöhnlich. Gott ist der Eine in Ewigkeit; der Mensch hingegen ist in die Zeit verwirbelt, und es bedarf der Anstrengung der Geist-Seele, eine Dauer im Wandel zu denken. Als gehorsame (und schuldbewusste) Selbstvergewisserung führt die distentio animi zum bloßen Rückzug ins Innere. Gott steht für die Dauerhaftigkeit, dem Menschen wird in seiner leiblichen Endlichkeit die Zeit zum Makel. Zeit gehört abgeschafft. Doch ist sie gerade kein Makel des Menschlichen, sondern seine Bedingung schlechthin.
Machen wir damit einen Sprung hin zu modernen Denkfiguren von Zeit. Die Moderne radikalisiert die Lebenszeit und marginalisiert die Weltzeit, die menschliche Zeit wird nicht länger von der Ewigkeit aus gedacht. Stattdessen ist der Mensch mehr und mehr auf sich allein zurückgeworfen, losgelöst von Kosmos und Schöpfung. War ihm seine endliche Lebenszeit, wie auch immer betrachtet, zuvor noch ein schicksalhaftes Wagnis und erinnerten gerade die vormodernen Autoren daran, wie vermessen es ist, wenn sich der Mensch als Herr der Zeiten aufspielt, wird der Moderne diese Art von Demut fremd. Sie kritisiert zwar die Denkfigur eines unbewegten Bewegers als absoluten Anfang in ihrer metaphysischen und theologisch-ontologischen Ausdeutung als Weltursache, hält jedoch zugleich an ihr fest. Denn sie unterstellt, dass jetzt der Mensch – scheinbar allmächtig – über die Zeit verfügt. Der zugrunde liegende Gedanke: Vormals auf Gott bezogen kann der Mensch jetzt bei sich selbst anfangen. Dadurch erhöht sich der Mensch zum Zeitbeherrscher – zum unbewegten Beweger.
Aufgegriffen wird das Motiv des unbewegten Bewegers von Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft, jenem erkenntniskritischen Hauptwerk aus dem Jahre 1781, und insbesondere in seiner Abhandlung Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten, d. i. vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur aus dem Jahre 1793. Die Problemstellung der Schrift über das Böse ist knapp skizziert: Wenn der Mensch als ein moralisches Wesen überhaupt möglich sein soll, muss er Anfang seines Tuns und Lassens sein. Seine Taten sind ihm nur dann gänzlich zuzurechnen, wenn sie einen von ihm in Freiheit gemachten Anfang haben. Solange unseren Taten immer Ursachen zugrunde liegen, als deren Wirkungen unser Tun verstanden wird, sind wir weder frei – denn wir stehen in Abhängigkeit dieser kausalen Zusammenhänge – noch sind wir verantwortlich für das, was wir treiben. Das heißt, ohne diesen Anfang, den Kant auch als Kausalität der Freiheit bezeichnet, würden wir immer einen Grund für unser Handeln annehmen, für den wir, weil er Ursache ist und nicht wir, auch nicht verantwortlich sind. Somit läge auch hier eine defizitäre Denkfigur in Form des regressus infinitum vor, wäre da nicht eine erste Ursache unseres Handelns. Unter Freiheit versteht Kant diese Möglichkeit des Selbstanfangs. Der Anfang als prima causa wird zum Selbstanfang eines souveränen Subjekts. Damit avanciert der Mensch zu einem unbewegten Beweger, der sich selbst bewegt, so paradox dieser Gedanke anmutet.
Vor allem das 17. und 18. Jahrhundert sind durch eine zunehmende Verzeitlichung des Denkens gekennzeichnet, so dass das menschliche Verhältnis zur Welt insgesamt in seinem erkennenden Bezug zur Zeit gedacht wird. Immanuel Kant sieht in der Zeit eine apriorische Dimension unserer Existenz, die vor aller Erfahrung unsere innere Anschauung des Bewusstseins und das Äußere der Welt bestimmt. Zeit wird neben dem Raum zur wichtigsten Grundlage der sinnlichen Wahrnehmung unserer Welt. Sie ist einer Brille vergleichbar, durch deren Gläser wir die Welt immer schon geformt und gefärbt wahrnehmen, ohne dass wir uns dieser Brille entledigen könnten, so ein Vergleich Heinrich von Kleists.
Während die Erscheinungen in der Zeit dem Wandel unterliegen, ist die Zeit als bloße Form von Veränderungen nicht betroffen: »Die Zeit ist 1) kein empirischer Begriff […] 2) Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zugrunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben […]. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich. Diese können insgesamt wegfallen, aber sie selbst (als die allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit) kann nicht aufgehoben werden.«12
Die Zeit bildet die Ordnung unserer Vorstellungen ab, denn wir nehmen die Welt immer bereits unter den Bedingungen von Raum und Zeit wahr. Zudem ist sie als Sukzession, als Nacheinander, auch die Ordnung unseres Bewusstseins. Das heißt, unser Denken ist selbst zeitlich, unser Bewusstsein und seine Zustände vollziehen sich in der Zeit in einem Ablauf des Aufeinanderfolgens. Ehedem von Gott geschaffen, ist die Zeit, nunmehr Bewusstseins- und Wahrnehmungsleistung des Menschen, als Form unserer Anschauung von vorneherein an unserer Weltsicht beteiligt.
Die Zeit wird zu einer Formursache (causa formalis) der Welt. Zugleich stellt sie für Kant das Bindeglied zur Welt dar. Kant spricht hier von der Zeit als einem »Schematismus«, der genau diese Funktion der Bindung von Mensch und Welt hat. Er trägt damit dem menschlichen Verhältnis zur Welt über die Zeit Rechnung. Zeit, konkret-sinnlich und zugleich allgemeinformal, eint denkenden Verstand und Anschauung. So wird die Zeit zu einem Grenzphänomen menschlichen Daseins. Durch sie kommt der Mensch zur Welt, hat Welt, ist ein Teil von ihr. Die Frage, wie dem Menschen die Welt gegeben ist, rückt ins Zentrum.
Die Zeit umfasst Mensch und Welt. Sie ist kein malum temporale, kein Makel der Wahrnehmung und des Erkennens, sondern eine ihrer Bedingungen – seit Kant wird die Zeit zur Bedingung jeder Erfahrung. Der Mensch ist als Erkennender stets in der Zeit, und die Welt unterliegt den Formen und Grenzen seines Erkenntnisvermögens. Das bedingt eine Umkehrung der Verhältnisse – eine, wie Kant es selbst nennt, kopernikanische Wende. Die Welt ist eine Erscheinung, in ihr spiegelt sich anstelle der Wahrheit – wie noch bei Thomas von Aquin – das menschliche Erkennen wider. Anders gewendet: Wir nehmen nicht wahr, wie die Welt ist, sondern wie sie uns erscheint. Das Eigentliche der Welt bleibt uns verborgen. Angesichts unserer Erkenntnismöglichkeiten ist die Welt eine menschliche, keine göttliche.
Edmund Husserl, der sich immer wieder mit der Frage nach der Zeit beschäftigt hat, greift die Überlegungen Kants zur Erkenntnis auf. Auch ihm ist das Bewusstsein ein zeitliches und auf die Erfahrung der Welt ausgerichtet, aber er denkt diese Zeitlichkeit weitaus radikaler. Was ihn interessiert, ist das Vermögen unseres Bewusstseins, nacheinander auftretende Sinneseindrücke, sogenannte Urempfindungen, sinnvoll miteinander zu verschränken. Ausgangspunkt der Überlegung Husserls ist die Zeit als eine Jetzt-Gegenwart. Dieses Jetzt ist ihm, anders als bei Augustinus, kein einzelner Zeitpunkt, der permanent verschwindet. Er versteht den »Zeitpunkt« als ein Präsenzfeld, das sich in der Zeit aufspannt. Am Beispiel des Hörens einer Melodie erläutert Husserl diesen Gedanken. Eine Melodie dürfte streng genommen gar nicht existieren, wenn Zeit ausschließlich aus der Verkettung von singulären Jetztpunkten bestünde, als bloße formale Sukzession. Ein Ton würde zusammenhanglos dem nächsten folgen. Dennoch können wir die Melodie als eine Melodie vernehmen. Das Bewusstsein vermag die Töne, gleich Punkten auf einer Zeitlinie, in einem Zusammenhang zu hören. Wir müssen uns nicht anstrengen, um einer Melodie zu folgen, wir folgen ihr einfach. Mit den Worten Husserls:
»Wir erinnern uns etwa einer Melodie, die wir jüngst in einem Konzert gehört haben. Dann ist es offenbar, daß das ganze Erinnerungsphänomen mutatis mutandis genau dieselbe Konstitution hat wie die Wahrnehmung der Melodie. Sie hat […] einen bevorzugten Punkt: dem Jetztpunkt der Wahrnehmung entspricht ein Jetztpunkt der Erinnerung. Wir durchlaufen die Melodie in der Phantasie, wir hören ›gleichsam‹ zuerst den ersten, dann den zweiten Ton usw. Jeweils ist immer ein Ton (bzw. eine Tonpause) im Jetztpunkt. Die vorangegangenen sind aber nicht aus dem Bewußtsein ausgelöscht. Mit der Auffassung des jetzt erscheinenden, gleichsam jetzt gehörten Tones verschmilzt die primäre Erinnerung an die soeben gleichsam gehörten Töne und die Erwartung (Protention) der ausstehenden. Der Jetztpunkt hat für das Bewußtsein wieder einen Zeithof, der sich in einer Kontinuität von Erinnerungsauffassungen vollzieht, und die gesamte Erinnerung der Melodie besteht in einem Kontinuum von solchen Zeitkontinuen, bzw. von Auffassungskontinuen der beschriebenen Art. Endlich aber, wenn die vergegenwärtigte Melodie abgelaufen ist, schließt sich an dieses Gleichsam-Hören eine Retention an, eine Weile klingt das Gleich-Gehörte noch nach, eine Auffassungskontinuität ist noch da, aber nicht mehr das Gehörte. Alles ist sonach gleich mit der Wahrnehmung und primären Erinnerung, und doch ist es nicht selbst Wahrnehmung und primäre Erinnerung.«13
Das gleiche Phänomen, das der Melodie innewohnt, tritt auch beim Hören eines Satzes auf. Ein Satz besteht streng genommen nur aus einzelnen Lauten, dennoch verstehen wir seinen Sinn, der sich aus seinem Ganzen ergibt. Wir antizipieren diesen Sinn, um das jeweils Gegenwärtige verstehen zu können. Diese Verknüpfung von Erloschenem und Antizipiertem mit dem gegenwärtigen Sinneseindruck leistet nach Husserl unser Zeitbewusstsein. Weit mehr als die Affektion durch Jetzt-Punkte umfasst es als ein zeitlicher Bewusstseinsstrom einen Zusammenhang von Empfindungen, die, wenn auch nacheinander geordnet, die bloße Abfolge von Einzelzeitpunkten übersteigen. Verkettet oder verwoben spannen sich Jetztpunkte von Vergangenem bis hin zu Zukünftigem auf. Diese »Urempfindung« als Ursprung der Präsenz ist eingebettet in das, was Husserl »Retention« und »Protention« nennt, ein Nachklang und ein Vorgriff im »Bewusstseinsstrom«, der ohne unser Dazutun geschieht, wie es das Beispiel der Melodie verständlich macht. Der Bewusstseinsstrom wird zum steten Übergang. Für das Bewusstsein gibt es immer ein Vorher und Nachher, keinen Anfang und kein Ende, eben Unendlichkeit. Wie können wir uns das verständlich machen? Die Retention ist einem Kometenschweif vergleichbar,14 der von der sogenannten Urimpression, der eigentlichen Empfindung, im Fortgang der Zeit einen verblassenden Lichthorizont hinter sich führt – eine Folge aus Retentionen der Retentionen der Retentionen usw., bis eben das Licht des Kometenschweifes erlischt. Der gleiche Prozess gilt vorwärtsgewandt auch für die Protention. Sie eröffnet Möglichkeitsräume, die mehr oder weniger wahrscheinlich sind und erst in der Zeit verwirklicht werden. Mit der verwirklichten Möglichkeit wird das, was möglich gewesen wäre, seltsamerweise Teil des Vergangenen.
Während Urempfindung, Retention und Protention nach Husserl passive, gleichsam sich automatisch vollziehende Zeitwahrnehmungen im Bewusstsein sind, die ausklingen oder im Horizont des Vorgriffs vergehen und das Jetzt bilden, sind ihm Erinnerung und Erwartung aktive Vergegenwärtigungstätigkeiten des Zeitbewusstseins. Sie umfassen zugleich die protentionalen und retentionalen Bewusstseinsinhalte der Präsenz, gehen über diese allerdings weit hinaus.
Uns ist bewusst, dass wir uns der Zeit bewusst sind, dass wir Zeit selbst erfahren. Das ist ein wichtiger Punkt, denn der Phänomenologe Husserl macht damit die Zeit und das Zeitbewusstsein selbst zum Gegenstand der Erfahrung. Er fragt danach, wie uns Zeit, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges gegeben sind. Dabei tritt ein Problem auf: Was Gegenstand der Erfahrung werden soll, muss von einem Bewusstsein begründet sein. Das ist unproblematisch, solange sich das Bewusstsein auf die Dinge der Welt richtet. Aber was ist, wenn es sich auf sich selbst richtet? Müsste dann nicht mein Denken, mein Bewusstsein, das die Dinge konstituiert und ordnet, selbst durch ein Bewusstsein gegründet werden, und dieses wiederum von einem? Wie soll ein Bewusstsein Erfahrung konstituieren und zugleich ihr Gegenstand, ihr Inhalt sein? Erneut verliefe die Argumentation ins Uferlose; die Kette ist nur dadurch zu unterbrechen, dass Husserl ein absolutes Bewusstsein, das letztgründend und außerzeitlich ist, annimmt. Dieses wird als unbewegt gedacht und bewegt quasi das zeitliche, strukturierte Bewusstsein unserer Vorstellungen. Das Bewusstsein soll sich bewusst sein, sich selbst noch im Akt des Denkens denken, damit es gegenwärtig ist und sich das Denken beim Denken »zusieht«. Die Gegenwärtigkeit des Menschen, seine Selbstpräsenz, die darin besteht, dass er dem Ursprung seines Bewusstseins beiwohnt, bedarf also erneut der Denkfigur des unbewegten Bewegers, was dazu führt, dass wir uns abermals in der Zeit zum Rätsel werden. Wie man es auch betrachtet, Husserls Zeitkonzeption bildet die Spannung der Zeit ab, zwischen Dauer und permanentem Vergehen, zwischen menschlicher Endlichkeit und der Unendlichkeit der Zeit, zwischen linearer Ordnung der Zeitpunkte und ihrer zyklisch anmutenden Verwobenheit.
Kommen wir somit zu unserer letzten Station, zu der Vorstellung von Zeit, wie sie Maurice Merleau-Ponty umreißt. Er knüpft an Kant und Husserl an, räumt jedoch der leibhaftigen Erfahrung von Zeit das Primat ein. Er verweist darauf, dass die Zeit kein Gegenstand unseres Wissens und unseres Bewusstseins ist, sondern zuallererst eine Dimension unseres leiblichen Zur-Welt-Seins. Zeit ist leiblich gebunden. Betrachtet man das Verhältnis, das der Mensch zur Zeit hat, können wir mit Merleau-Ponty sagen, dass sich Zeit als eine vom Menschen und seinen Erfahrungen unabhängige, verfügbare Größe schlichtweg nicht denken lässt. Anders formuliert: Merleau-Ponty führt die Zeit auf die leibliche Existenz des Menschen zurück. Der Mensch ist nicht Herr der Zeiten, er ist als Leib gelebte Zeit. Für ihn hängen Zeit und Subjektivität aufs Engste zusammen. Die Zeit ist ihm Zugang zum Verständnis einer leiblich fundierten Subjektivität, eines leiblich konstituierten Bewusstseins. Um diesen Gedanken zu erläutern, greift er die wirkmächtige Metapher der Zeit als Fluss oder Strom auf, kritisiert aber im gleichen Atemzug ihr zu einfaches Verständnis, als fließe Zeit dahin: »Man sagt, die Zeit gehe vorüber oder verfließe. Man spricht vom Lauf der Zeit. Das Wasser, das ich vorüberfließen sehe, hat sich einige Tage zuvor beim Schmelzen eines Gletschers im Gebirge gebildet; es ist gegenwärtig vor mir, es fließt dem Meere zu, in das es sich ergießen wird. Wenn die Zeit einem Flusse ähnlich ist, so fließt sie aus der Vergangenheit der Gegenwart und der Zukunft zu. Die Gegenwart ist die Folge der Vergangenheit, und die Zukunft die Folge der Gegenwart. In Wahrheit ist dieses berühmte Gleichnis ein äußerst verworrenes. Denn auf die Dinge selbst gesehen, sind die Schneeschmelze und ihre Folgen keineswegs sukzessive Geschehnisse, oder vielmehr es ist in der objektiven Welt überhaupt kein Raum für den Begriff des Geschehnisses selbst. Wenn ich sage, vorgestern habe der Gletscher das Wasser gebildet, das gegenwärtig vorüberfließe, so nehme ich einen Augenzeugen an, der an einem bestimmten Ort in der Welt gebunden ist, und vergleiche seine sukzessiven Ansichten des Vorgangs: dort oben war er bei der Schneeschmelze dabei und folgte dem Lauf des Wassers in seinem Abfluß, oder vom Ufer des Flusses aus sah er nach zweitägigem Warten die Holzstücke vorübertreiben, die er an der Quelle ins Wasser geworfen hatte. […] Nur dadurch konnte dieses Gleichnis von Heraklit bis heute sich aufrechterhalten, weil wir insgeheim dem Flusse schon einen Zeugen seines Laufes beigeben.«15
Die Zeit fließt in diesem Bild von der Vergangenheit in die Gegenwart und dann in die Zukunft. Wir sind immer schon zeitlich in unsere Existenz involviert, haben uns gegenüber nicht den Standpunkt der Selbst- und Zeitbeobachtung. Stets sind wir Vergangenheit und Zukunft, immer schon das Gleich, das Morgen oder das Übermorgen, ja wir sind in jedem Augenblick das ganze Leben. Die Zeit, in allen ihren Facetten, die erst entstehen, wenn wir über die Zeit nachdenken, ist im Grunde erst einmal eines: gelebte Zeit. Es bedarf nach Merleau-Ponty keiner aufwändigen Synthese der Zeiten, wie sie Augustinus beschreibt, wenn er fragt, wie die Zeiten, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, zusammengehalten werden können und als Antwort die Tätigkeit der Seele als distentio herausstellt. Nach Merleau-Ponty haben wir lebensweltlich gar nicht das Problem des Zeit-Zusammenhaltens, denn wir sind diese Zeiten, wir sind Zeitlichkeit schlechthin. Vergangenes und Zukünftiges »existieren« gleichsam ebenso wie die Gegenwart und sind eingebunden in ein Geflecht von Intentionalitäten, also in ein Geflecht, wie wir uns unserer Welt zuwenden. Dieses Geflecht ist der zeitliche Horizont unseres Daseins. Nach Merleau-Ponty ist Zeit entgegen jeder linearen Verkürzung ein Geflecht von Zeiten.
»Eben daher ist die Zeit für uns […] kein System objektiver Positionen, die wir der Reihe nach durchschritten, sondern ein bewegliches, von uns sich entfernendes Milieu, wie eine durchs Fenster eines Eisenbahnabteils gesehene Landschaft. Und doch glauben wir nicht ernstlich, daß die Landschaft es ist, die sich bewegt – blitzschnell fliegt die Bahnschranke vorüber, doch jener Hügel dort hinten rührt sich kaum; und ebenso rückt mir der Beginn dieses Tages in die Ferne, indessen der Beginn dieser Woche schon ein fester Punkt ist, am Horizont eine objektive Zeit sich abzeichnet, die mithin schon in meiner unmittelbaren Vergangenheit angelegt sein muß.«
Welche Konsequenzen können wir aus alledem für unser Verhältnis zur Zeit ziehen? Nun, zunächst wird deutlich, dass wir, solange wir nicht Gott sind, nicht über die Zeit verfügen, nicht ihr Anfang sind, nicht Herr der Zeiten. Gleichwohl sind wir dieser Versuchung erlegen, wenn wir unserem Bewusstsein die herrschende Rolle in unserem Leben einräumen. Doch Autoren wie Merleau-Ponty, vor ihm aber bereits Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche oder auch Siegmund Freud, bezweifeln, dass das Bewusstsein, das Denken, Herr im Hause ist. Sie zeigen auf das Leben, das wir leiblich erfahren. Knüpfen wir hier an: Unsere Vorstellung von Zeit, unsere Zeitpraktiken sind im Grunde stets gebunden an unsere gelebte Zeit. Was wir über die Zeit denken, haftet an dieser und unserem Leben. Wir bewegen uns: gelebte Zeit. Als gelebte ist sie in lebensweltliche Kontexte gebettet, eine wie auch immer vorzustellende Seinsweise des Menschen. Diese Einbettung, die zeitliche Situiertheit, ist das Wesen der leiblichen Präreflexivität, die Segen und Fluch zugleich ist. Denn diese gelebte Zeit hat nicht nur Folgen für unsere Vorstellung von Zeit, der Frage nach ihrem Anfang und ihrem Sein, sondern auch und vor allem für die Weise, wie wir mit ihr umgehen oder auch durch sie gelenkt werden können. Die Zeit ist als leiblich fundierte inkorporiert und eignet sich daher hervorragend, um uns die Normalisierungen von Zeit und die Technologien ihrer Macht habituell einzuschreiben. Noch bevor Zeit in unser Bewusstsein tritt, ist sie schon leibhaftig geworden. Die Macht schreibt sich dem Leib ein, und eine Zeit, die leiblich präreflexiv fundiert ist, offenbart sich als Medium dieser Macht. Aus diesem Grunde ist unsere Existenz empfänglich für ein Regiertwerden über die Zeit. Allein die Zeit schneidet sich tief in unser Leben ein. Zeitpraktiken legen sich wie ein Mantel um unsere Lebenszeit. Aber sie wärmen nicht.
Eine Wasseruhr oder Klepsydra (Stich aus dem 17. Jahrhundert)