Читать книгу Gibt es Leben auf dem Mars? - Andreas Eschbach - Страница 6
ОглавлениеSicherheitsmaßnahmen
Die Trauerfeier fand wie alle Feiern auf der Plaza statt, einem Saal mit einer hohen Kuppel, in dessen Mitte ein Springbrunnen sprudelte. Anders als bei den Sonntagsfesten herrschte heute gedrückte Stimmung. Die Leute aßen wenig, redeten mit gedämpften Stimmen und die traurige Musik, die den Platz erfüllte, kam bloß aus Datenspeichern.
Elinns Mutter stocherte in ihrem Essen herum und starrte ins Leere. Carl saß neben ihr und machte ein Gesicht, als habe er etwas angestellt.
»Was ist denn?«, fragte Elinn leise.
»Wieso fragst du?«, gab ihr Bruder flüsternd zurück. »Sie denkt an Dad.«
»Ach so.« Elinn wusste nicht, was sie weiter sagen sollte, also stand sie auf und ging mit ihrem Teller noch einmal ans Büfett.
Sie nahm sich gerade von dem Risotto, als jemand ihr die Hand von hinten auf den Kopf legte.
»Ach Kind«, seufzte eine Frauenstimme, »wenn dein Vater doch nur auch hier bei uns läge.«
Es war Mrs Dumelle, die vor vielen Jahren zusammen mit ihrem Mann, einem Raumfahrttechniker, auf den Mars gekommen war. Sie war eine angenehme Person, stattlich, rundlich; so, wie sich Elinn ihre Großmutter vorstellte, die schon lange nicht mehr lebte. Wenn Mom von ihr erzählte, hatte Elinn immer Mrs Dumelle vor Augen.
»Mein Dad hat gesagt, wenn man im Leben das tut, woran das Herz hängt, ist es nicht so wichtig, wann man stirbt und wo«, erinnerte sich Elinn in dem Moment. Vielleicht, weil Dad ihr auch manchmal so die Hand auf den Kopf gelegt hatte. »Glauben Sie, er hat das getan, woran sein Herz gehangen hat?«
Mrs Dumelle lächelte sanft und mit von Tränen verschleierten Augen. »Oh, ganz bestimmt. Natürlich hat sein Herz an euch gehangen, aber er hat immer voller Liebe von diesem Planeten gesprochen.« Sie rieb sich einen Augenwinkel. »Das hat dein Dad gesagt? Sehr schön. Sehr weise Worte. Er war ein kluger Mann, dein Dad.«
»Ja«, sagte Elinn.
Sie liebte den Mars auch. Bestimmt hatte sie das von ihrem Vater geerbt. Wenn sie draußen war, konnte sie stundenlang auf irgendeinem Stein sitzen und einfach nur zuhören, was der alte Planet ihr zuflüsterte. Sie verstand nicht alles, was er raunte, aber manchmal stiegen Bilder in ihr auf von einer großen Vergangenheit voller wüster Schlachten und gewaltiger Paläste. Ihrer Ansicht nach konnte das nur bedeuten, dass irgendwann in grauer Vorzeit Lebewesen auf dem Mars gelebt hatten. Marsianer. Vielleicht waren sie irgendwann ausgestorben; vielleicht hatten sie aber den Planeten auch irgendwann einfach verlassen.
Dad hatte ihr auch oft Geschichten von Marsianern erzählt. Elinn hatte sie immer gerne gehört, aber außer ihr und ihrem Dad glaubte niemand an Marsianer. Wenn sie davon anfing, lächelten alle nur, wie man eben lächelt, wenn ein Kind Fantasiegeschichten erzählt. Manchmal versuchte ihr jemand zu erklären, dass nach dem letzten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Mars nie eigenes Leben hervorgebracht hatte.
Und? Elinn war es gewohnt, dass Theorien ständig über den Haufen geworfen wurden. Wie oft hatten die Forscher um Dr. Spencer schon hier auf der Plaza zusammengesessen und wild debattiert, weil sich irgendetwas als ganz anders herausgestellt hatte als gedacht. Auf dem Mars erlebe man die tollsten Sachen, sagten dieselben Leute in solchen Momenten und waren dann immer ganz begeistert.
Also brauchte sie das mit dem »Es hat nie Leben auf dem Mars gegeben« nicht als endgültig hinzunehmen. Im Gegenteil, Elinn war sich sicher, dass man eines Tages Spuren der Marsianer finden würde – oder vielleicht sogar die Marsianer selbst.
Womöglich würde sogar sie es sein, die diese Spuren fand…
Gerade als sie zurück an den Tisch kam, erhob sich Dr. Spencer von seinem Platz und ging zum Mikrofon. Er hatte mit den Leuten zusammengesessen, die den Rat der Siedler bildeten, der über wichtige Angelegenheiten entschied.
»Wir haben über Konsequenzen aus dem Tod Dimitri Gorkis beraten«, begann er, sich unruhig hin und her bewegend. »Wie Sie alle wissen, steht die Öffentlichkeit auf der Erde der Raumfahrt zurzeit eher negativ gegenüber. Alles, was an Unerfreulichem passiert, ruft Reaktionen hervor, die aus unserer Sicht übertrieben sind, aber leider auf die Entscheidungen der Erdregierung und der Raumfahrtbehörde Einfluss haben.« Er räusperte sich. »Wir haben erfahren, dass seit dem Tod von Dimitri darüber nachgedacht wird, einen Statthalter auf den Mars zu entsenden.«
Elinn wusste nicht, was ein Statthalter war, aber offenbar nichts Gutes, denn die Siedler reagierten auf diese Ankündigung mit lautstarkem Unmut. »Buh!« war zu hören und »Nein!« und jemand rief: »Die haben wohl einen Sprung im Helm!«, was Dimitris trauernde Freundin in Tränen ausbrechen ließ, denn dessen Helm hatte in der Tat einen Sprung gehabt, als man ihn geborgen hatte.
»Wir hoffen…«, begann Dr. Spencer, kam aber nicht gegen das Getöse an. Er wedelte mit den Händen. »Bitte! Wir wollen doch…«
Endlich saßen alle wieder und die Unmutsäußerungen beschränkten sich auf heftiges Geflüster und unwilliges Füßescharren.
»Es bringt wenig, hier laut zu werden; das hört man auf der Erde nicht!«, erklärte Dr. Spencer. »Noch ist nichts entschieden, aber auf alle Fälle sollte in der nächsten Zeit nichts passieren, das uns noch einmal in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Wir haben deswegen einige Maßnahmen beschlossen, die ich Ihnen jetzt bekannt geben möchte.«
»So ein Statthalter, der hier den Bestimmer spielt und uns rumkommandiert, hat uns gerade noch gefehlt«, flüsterte Carl seiner Schwester ins Ohr.
Elinn nickte. Da hatte ihr Bruder ausnahmsweise mal recht.
Sie hoben beide gleichzeitig den Kopf, als Dr. Spencer sagte: »…eine weitere Maßnahme betrifft die Kinder. Die Medien beobachten unsere Marskinder mit besonderer Aufmerksamkeit. Selbst der allerkleinste Zwischenfall – und sei es nur etwas wie Ronalds kleiner Unfall mit dem Raumanzug damals – würde im Moment die Entscheidung des Präsidenten zu unseren Ungunsten beeinflussen.«
Alle Augen richteten sich auf Ronny, der unwillkürlich den flachsblonden Lockenkopf einzog.
»Deshalb«, fuhr Dr. Spencer fort, »werden die Kinder bis auf Weiteres innerhalb der Station bleiben. Das schließt die Benutzung der Raumanzüge ebenso aus wie den Aufenthalt in den Treibhäusern.«