Читать книгу PERRY RHODAN-Storys: Aufbruch in die Weiße Stadt - Andreas Eschbach - Страница 5

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Er hatte die Frau verlassen, die er liebte, aus Angst, sie zu verlieren.

Wenn das nicht verrückt war!

Nicht nachdenken, sagte er sich, einfach gehen, immer weiter. Wie spät war es? Vince wusste es nicht. Nacht eben. Er wusste ja nicht mal, ob es Regen war oder Nebel, durch den er da stapfte, den Mantelkragen hochgeschlagen, was trotzdem nicht verhinderte, dass ihm Wasser in den Hals lief.

Egal. Er war Schlimmeres gewöhnt.

Was ihn quälte, was ihn wirklich quälte, war die Frage, ob er gerade die dümmste Entscheidung seines Lebens getroffen hatte. Obwohl, wenn er so auf die Erdentage zurückblickte, die hinter ihm lagen, hatte er es in der Kunst, falsche Entscheidungen zu treffen, zweifellos zu einer Art Meisterschaft gebracht. Also, warum quälte es ihn noch?

Weil Susan Dayle anders war.

Er hatte viele Frauen gekannt. Kein Problem auf dieser Seite, danke der Nachfrage. Typen wie er fanden immer Frauen, die von dem Gefährlichen, Verruchten, Verdorbenen fasziniert waren, das er wohl ausstrahlte. Auf Frauen wirkte es anziehend.

Auf Arbeitgeber eher nicht.

Vince blieb stehen. Wo war er überhaupt? Die Straßen von Baltimore verwirrten ihn immer noch, vor allem bei Nacht. Kaum jemand war unterwegs. Das hier war eine Geschäftsstraße, soweit klar, nur welche? Mist. Normalerweise war er einer, der nie die Orientierung verlor, aber in Baltimore ...

Und weil er an Susan denken musste. Für sie wäre er gern ein anderer gewesen. Ein Mann, der Frauen nicht nur aufregen und faszinieren, sondern auch glücklich machen konnte.

Aber was verstand er davon schon? Glücklich gewesen waren immer nur die anderen, seit er denken konnte. Je weiter von ihm weg, desto glücklicher.

Vielleicht gar nicht so schlecht, wenn Susan ihn einfach vergaß. Womöglich war zu verschwinden sogar das Beste, was er für sie tun konnte. Weil, bieten konnte er ihr nichts. Sein Bewährungshelfer hatte ihm einen Job verschafft, als Techniker bei einer Firma, die die Aufzüge in der Stadt wartete. Das lief so lala; die Ausbildung hatte er im Gefängnis gemacht, da lernte man natürlich bloß das Nötigste. Und mit dem Verdienen sah es mau aus. Er hatte ein möbliertes Zimmer bei einer alten Witwe in der Nähe des Hafens, und mit der Miete und den Sandwiches zu Mittag war sein Lohn so gut wie verplant.

Vor einem Elektroladen blieb er stehen. Das Schaufenster leuchtete warm, ein Fernsehapparat flimmerte darin, das neueste Modell. Es kam eine Reportage über eine Stadt mit schneeweißen Gebäuden in weiten Parks. Ein Lautsprecher in der Vorderfront des Ladens war leise gestellt, aber gut zu verstehen. Wenn nicht grade ein Auto vorbeirauschte und den Gehweg mit schmutzigem Wasser überflutete.

»In dieser Stadt kann man heute schon die Zukunft sehen«, wisperte die Stimme des Sprechers. »Gestern war das Land rings um den Goshun-See eine Wüste, heute entsteht hier ein wahres Paradies. Geplant ist eine Metropole, die all die vielfältigen Facetten menschlicher Kulturen zu einer friedlichen, kraftvollen Gemeinschaft bündelt. Galacto City ist das Symbol einer Menschheit, die keine Grenzen mehr kennt.«

Vince stöhnte auf, als er kapierte, wovon die Rede war. Die Stadt, die er da sah – hell, sauber, in der Sonne leuchtend, total anders also als das düstere, schmutzige Baltimore mit seinem beschissenen Herbstwetter –, das war Galacto City! Die Stadt, die er gegründet hatte, Perry Rhodan, der Vaterlandsverräter, der strahlende Held: Kam ganz drauf an, wen man fragte.

Er lachte, ein Lachen, das in Husten überging. Wenn die Leute geahnt hätten, wie er, Vince Tortino aus Manchester, Connecticut, eben diesen Perry Rhodan mal an der Nase herumgeführt hatte, früher, als sie beide noch jünger gewesen waren. Aus der Hand gefressen hatte der ihm, jawohl!

Und jetzt baute er eine verdammte Stadt in der verdammten Gobi-Wüste.

Irre, wie das Leben spielte!

Er konnte sich nicht losreißen. War auch nicht schlecht unter der Markise, die hielt zumindest den Regen ab. Das Licht aus dem Schaufenster ließ es einem vorkommen, es sei wärmer, als es in Wirklichkeit war.

Vince hustete wieder, länger. Höchste Zeit, ins Bett zu kriechen, verdammt. Doch er blieb stehen, gebannt von den Bildern, die Bauten zeigten, wie er sie noch nie gesehen hatte. Riesige Hochhäuser, wie Termitenbauten aus Glas. Glas, unter dem Pflanzen wuchsen. »Senkrechte Gärten« nannten die das. Oder diese Trichterbauten, wie gewaltige Blütenkelche! Leute fuhren auf Rollbändern von einem Ort zum anderen. Es gab Fahrzeuge, die aussahen wie supermoderne Autos, aber sie hatten keine Räder, sondern schwebten frei in der Luft: Gleiter nannten die das.

Irre. Die Welt war verrückt geworden.

Ein Mann trat neben ihn, ein humpelnder alter Knacker mit einem Krückstock. Vince wich ein Stück beiseite, damit er auch was sehen konnte. Ungern zwar, aber er war nicht in der Stimmung, sich zu prügeln, schon gar nicht mit einem Krüppel.

Doch der alte Mann interessierte sich gar nicht für den Fernseher, sondern für ihn. Sah ihn an, grinste schief und sagte: »Hallo, Tin Can. So sieht man sich wieder.«

*

Vince machte einen Satz zur Seite. Tin Can! So hatte ihn schon ewig niemand mehr genannt.

»Wer sind Sie?«, rief er aus.

Der Mann kicherte. »Erkennst du deinen alten Freund Logan nicht mehr?«, fragte er, und ja, bei Gott, jetzt erkannte Vince ihn wieder, schon allein an dieser dünnen, näselnden Stimme.

Logan, der eigentlich Louis G. Anson hieß, war nicht mehr so dick wie früher, und die Haare, die er noch hatte, konnte er an den Daumen abzählen. Aber ja, er war es.

»Ich dachte, du bist im Gefängnis?«

Der Richter hatte ihn damals zu lebenslänglich verurteilt, wegen Landesverrats: Logan hatte versucht, Informationen über das amerikanische Raketenprogramm an die Sowjets zu verkaufen. Fast ein Vierteljahrhundert war das her.

»Das denken viele«, näselte Logan, »Aber wie du siehst, bin ich wieder ein freier Mann.«

»Haben sie dich begnadigt?«

Logan hob seinen Gehstock und wies auf den Fernsehapparat, auf dem gerade die Fahne von Galacto City gezeigt wurde: ein senkrechter weißer Balken zwischen zwei roten, darin ein hellblauer Kreis, und in dem Kreis die Silhouette der Mondrakete. »Das verdanke ich ihm. Dem Hundesohn, der mir das Knie zerschossen hat.«

»Rhodan hat dich aus dem Gefängnis befreit?« Vince starrte den Mann ungläubig an.

Freilich, unmöglich war es nicht; Rhodan hatte, was man so hörte, mithilfe der außerirdischen Technik, die er sich auf dem Mond unter den Nagel gerissen hatte, noch ganz andere Zauberkunststückchen zuwege gebracht. Aber welchen Grund hätte er haben sollen, ausgerechnet Logan zu befreien?

Logan kicherte wieder. »Ich weiß, ist ein bisschen schwer zu begreifen. Ich erklär's dir. Letztes Jahr, am 21. Juli, du erinnerst dich, haben die Führer unserer glorreichen Nation und die der verruchten anderen Großmächte in ihrer grenzenlosen Weisheit bekanntlich beschlossen, sich gegenseitig mit Atomraketen zu beschießen. Wozu hat man die Dinger schließlich, haben sie sich wohl gesagt. Tja, aber als die in der Luft waren, kam das einigen anderen Menschen doch eher wie die saublöde Idee vor, die es ja auch war, und manche haben es kommen sehen, dass es gar keinen 22. Juli mehr geben würde.«

Vince nickte. An diesen Tag erinnerte sich wohl jeder.

»Auch der Leiter jener staatlichen Haftanstalt, in der ich nach dem Willen des Richters bis an mein Lebensende hätte bleiben sollen, hat das befürchtet«, fuhr Logan fort. »Deswegen hat er befohlen, die Tore zu öffnen und uns alle freizulassen, damit wir dem Schöpfer als freie Männer gegenübertreten.« Er kicherte. »Ich hätte ja gern gesehen, was für ein Gesicht er gemacht hätte, unser Schöpfer, wenn wir da plötzlich alle aufgekreuzt wären. Ich schätze, der wäre hübsch sauer auf uns gewesen.«

Vince war damals jedenfalls auf das Schicksal sauer gewesen: eine Woche vor seiner Entlassung die Welt untergehen zu lassen!

»Bekanntlich kam's ja nicht so, weil dieser Hundesohn Perry Rhodan eine seiner Wundermaschinen ins Spiel gebracht hat. Hat all die teuren Atomraketen wirkungslos werden lassen. Tja, aber da waren wir schon draußen, und ich bin natürlich nicht wieder reingegangen.« Er kicherte erneut.

Vince versuchte, das Gefühl abzuschütteln, alles nur zu träumen. Er sah die Straße hinab. In der Ferne bewegten sich zwei Autoscheinwerfer, bogen ab.

»Wo kommst du eigentlich her?«, stellte er die Frage, die er schon längst hätte stellen sollen. »Und was willst du von mir?«

»Na, was werd' ich wollen? Wir waren doch mal gute Partner, oder? Haben prima zusammengearbeitet.«

»Ja«, knurrte Vince. »Und sind zusammen ins Gefängnis. Da komm ich grad her. Wär mir recht, wenn ich nie wieder rein müsste.«

Logan lächelte altersmilde. »Ich weiß. Ich hab euch gesehen, dich und deine Freundin, die Lehrerin. Bloß – was kannst du der bieten? Ein Mann Anfang vierzig, der möbliert wohnt, keine Ersparnisse hat ...«

»Das geht dich nichts an«, erwiderte Vince wütend – und erschrocken, dass der alte Ganove es geschafft hatte, ihn auszubaldowern, ohne dass er es mitgekriegt hatte.

»Ja, ja, beruhig dich. Ich will dir doch helfen. Ich hab da nämlich eine Sache, bei der ich dich brauchen könnte. Würde sich richtig lohnen für dich. Nur dieses eine Mal noch, dann wärst du saniert. Könntest sie heiraten, ein Haus kaufen, ein Auto, was du willst.«

Vince musterte den alten Mann misstrauisch. Das klang zu gut, um wahr zu sein. Aber andererseits ...

Andererseits konnte es, falls doch was dran war, seine letzte Chance auf ein gutes Leben sein. Also, was hatte er zu verlieren?

»Was müsste ich denn machen?«, fragte er.

Logan nickte in Richtung des Fernsehers, der immer noch Bilder der Weißen Stadt zeigte. »Nach Galacto City fliegen. Und dort das tun, was du am besten kannst.«

Er machte eine Bewegung mit der Hand, die nur eine Deutung zuließ, wie er das meinte: Stehlen.

»Und um was geht's?«

Logan deutete mit dem Krückstock ins Dunkel. »Mein Wagen steht da hinten, und ich weiß 'ne Kneipe, die noch offen hat. Lass uns dort weiterreden.«

*

Normalerweise freute sich Susan Dayle immer auf den Tag, der vor ihr lag, wenn sie sich morgens für die Schule fertigmachte. Sie mochte die Kinder, die sie unterrichtete, mochte die Schule und die meisten ihrer Kollegen.

Doch an diesem Morgen konnte sie sich nicht freuen. Nicht nach dem Streit mit Vince gestern. Vor allem, weil er Knall auf Fall gegangen war. Warum? Sie hatte nur ein bisschen was über ihn wissen wollen – was er früher so gemacht hatte, über seine Eltern, solche Dinge. Es war doch normal, so etwas zu fragen, so, wie sich die Dinge zwischen ihnen entwickelten. Sie wollte nicht nur mit ihm schlafen, sie wollte auch wissen, mit wem sie da schlief.

Und nun wusste sie nicht, wie es weitergehen sollte.

Seufzend stellte sie das Frühstücksgeschirr in die Spüle. Sie hatte nur eine Tasse Kaffee heruntergebracht, aber nichts essen können; sie wusste, das würde sich den Tag über rächen. Dann kontrollierte sie ihre Aktentasche, zog ihren Regenmantel an, weil es immer noch unentschlossen vor sich hin regnete und der Himmel so voll düsterer Wolken hing, als solle Baltimore unter ihnen zerquetscht werden. Dann ging sie.

Doch als sie unten aus dem Haus trat, stand er da: Vince. Hielt einen uralten Regenschirm über sich und sah aus, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen.

»Vince, um Himmels willen!«, rief sie aus und merkte bei allem Ärger auf ihn, dass sie froh war, ihn wohlbehalten wiederzusehen. »Wo warst du denn?«

Er seufzte. »Hab mich rumgetrieben.«

»Vince«, sagte sie ernst, »es ist nicht gut, einfach zu gehen, nur weil wir ein bisschen Streit haben. Streit ist was Normales, da ist nichts schlimm dran. Das heißt nicht, dass ich dich nicht mag. Das heißt nur, dass es was zu klären gibt.«

Das Wort klären vertrug er schlecht, das sah sie. Er zuckte zusammen, wenn man das sagte. Seltsamer Mensch.

Er räusperte sich, fasst den Schirmgriff fester. »Susan, pass auf, ich ... ähm ... ich habe einen Auftrag, der's notwendig macht, dass ich 'ne Weile verreise. Weiß nicht, wie lange. Vielleicht zwei Wochen.«

»Einen Auftrag?«

»Ja. Ist 'ne einträgliche Sache, ich kann's mir nicht leisten, nein zu sagen. Und ich wollte dir ... ähm ...«

Er schien für das Folgende allen Mut zusammennehmen zu müssen. »Also, wenn ich zurückkomme, dann werde ich dich was Wichtiges fragen ... Falls du so lange auf mich warten willst, heißt das.«

Sie sah ihn an, sein Gesicht mit den Narben, die ihn so interessant aussehen ließen, mit der kräftigen Nase und den forschenden Augen, und merkte, wie ihr auf einmal leichter ums Herz wurde. Er wollte sie etwas Wichtiges fragen: Das konnte eigentlich nur heißen ...

Sie holte tief Luft. Abwarten. Auf jeden Fall waren zwei Wochen keine Zeit. Zumal demnächst die Ferien begannen.

»Ja«, sagte sie. »Will ich.«

Und die Wolken am Himmel sahen schon gar nicht mehr so bedrückend aus.

*

Sie hatte gesagt, dass sie auf ihn warten würde. Daran klammerte er sich.

Nun brauchte er nur noch Urlaub.

Er fuhr nach Hause, rasierte sich, zog sich um, packte. Gab der Hauswirtin Bescheid, dass er eine Weile nicht da sein würde. Familienangelegenheiten, ja, leider, traurige Sache.

Dasselbe erzählte er auch Mr. Stone, seinem Chef, dem Inhaber von Stone Elevator Services. Stone war eigentlich gar nicht so übel, wusste über ihn nur, dass er aus dem Gefängnis kam, und hatte mehr nicht wissen wollen. »Sie haben Ihre Strafe verbüßt, da müssen wir nicht mehr drüber reden«, hatte er gemeint, und das war Vince sehr recht gewesen.

»Eine Familienangelegenheit«, wiederholte Stone und fuhr sich mit den Fingern durch den grauen Bart. »Das ist mir ehrlich gesagt gar nicht recht, wo doch nächste Woche die Generalüberholung der Aufzüge im Gerichtsgebäude ansteht. Ist es wirklich so dringend?«

Vince setzte die bekümmertste Miene auf, die er hinbekam. »Sie müssen wissen, ich habe meinen Vater nie gekannt«, sagte er betont zögernd. »Nun hab ich ihn durch Zufall aufgestöbert, aber er liegt im Sterben. Vielleicht noch eine Woche, vielleicht zwei, sagen die Ärzte.«

»Meine Güte!« Stone fasste sich ans Herz. »Wie schrecklich! Ja, gut, gehen Sie. Beeilen Sie sich. Ich bete, dass Sie und Ihr Vater sich wenigstens zum Schluss versöhnen.«

Vince schlug die Augen nieder. »Danke, Mister Stone«, sagte er. »Ich komme zurück, sobald ich kann.«

Dann fuhr er mit seinem Koffer zum Flughafen, in der Brusttasche ein Flugticket nach Tokio und eines für den Weiterflug nach Galacto City.

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