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Kapitel 1: Eine Wette

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Wenn ich vorstellen darf: Ich bin Wilhelm Rauter. Ich weiß, mein Name ist nicht besonders eindrucksvoll und um ehrlich zu sein, ist er mir sogar peinlich. Ich persönlich rede mir immer ein, nach dem mutigen Tyrannenbefreier Schillers benannt worden zu sein: Wilhelm Tell. Aber die Hintergründe dieser Namensgebung waren ganz andere. Meine Mutter ist Deutschrussin und nicht gerade stolz darauf; also nicht stolz auf ihre russische Seite. Warum, verstehe ich bis heute nicht. Ich weiß nur, dass sie mir unbedingt einen Namen geben wollte, der mich als Vollblutdeutschen markiert. Hätten die Nazis den Krieg gewonnen, wäre er vielleicht sogar „In“ gewesen, aber wie es das Schicksal so wollte, haben die Alliierten das Match gemacht und alle Deutschen fanden nun Namen wie Conny, David, Luke, Kevin, Dennis, John und so weiter, schöner als die guten alten arischen Namen. Und ich bin da ganz ihrer Meinung.

Aber einmal von meinem Namen abgesehen, ist an mir nichts außergewöhnlich. Ich bin durchschnittlich groß, habe ein durchschnittliches Körpergewicht, sehe durchschnittlich aus, bin durchschnittlich in Sport, und nach meinen Noten zu urteilen, bin ich unterdurchschnittlich intelligent. Aber Letzteres basiert auf mangelndes Interesse für die Schule. Im Grunde interessieren mich nur zwei Sachen so richtig: Computerspiele und Mädchen. Und ein Mädchen interessiert mich ganz besonders: Lea Rosenregen. Mich, alle Jungs der Schule, alle Jungs der Stadt und alle Jungs die sie jemals sahen, sehen oder sehen werden. Sie ist die Vollendung der weiblichen Schönheit. Angefangen bei den filigranen Fingern, über die schmalen Handgelenke, hinauf zu ihren vollen Brüsten von diesen wieder herunter zum perfekt geformten Knackarsch; nicht zu groß, nicht zu klein, nicht zu flach, nicht zu rund. Wenn es eine Musterschablone für Mädchenhintern gäbe, dann wäre es Leas traumhafter Po. Von ihren Beinen ganz zu schweigen. So lang, sie scheinen gar kein Ende mehr zu nehmen und so schön geformt, dass selbst Tänzerinnen neidisch würden. Als ob ihr Körper allein schon nicht die Männerwelt überfordert, ihr Gesicht gibt jedem Mann den Rest. Gesicht? Dieses banal klingende, nichtssagende Wort ist eine Beleidigung für diese Symphonie der Schönheit. Hohe Wangenknochen, die ihr eine unwiderstehliche Weiblichkeit verleihen, exotische große Augen, bei deren Anblick jedes männliche Wesen erstarrt. Volle Lippen, die so verführerisch sind, dass sich ein jeder sehnt sie zu küssen; alles, wirklich alles in ihrem Gesicht ist perfekt proportioniert, nichts kann man wegnehmen, nichts hinzufügen, es ist perfekt. Sie ist ein wahr gewordener Traum. Vermutlich hätten die alten Griechen sie als Modell für Aphroditestatuen hergenommen. Ach, Aphrodite selbst wäre neidisch auf ihr Aussehen gewesen. So wie es alle Mädchen waren, die sie sahen. Im Grunde wollten alle Mädchen sein wie sie und jeder Junge wollte sie haben. Und genau bei diesem Punkt beginnt meine Geschichte.

Ich saß auf der Steintreppe des großen Rondells. Das war so eine Art in den Boden hinein gebautes Minikolosseum. Unser Rektor war so begeistert von dem Ding, dass er uns zu jedem Anlass und zu jeder noch so unwichtigen Veranstaltung nach draußen zum Rondell trieb, auch im Winter. Einmal hatte es Beschwerden aus dem Elternbeirat gegeben, nachdem sich zwei Schülerinnen eine Blasenentzündung zugezogen hatten, aber dafür hatte unser lieber Herr Dr. Rindfleck - ja, so hieß er wirklich - sofort eine Lösung parat: Wir mussten ab sofort stehen.

In den Pausen saßen, standen und lagen die Schüler auf den Steintreppen des Rondells, hörten Musik, unterhielten sich, lernten, lasen, entspannten sich eben. Vor allem jetzt, im Frühling, war das Rondell voll. Und jeder hatte seinen Stammplatz. Die Punks waren zu meiner Rechten. Man erkannte sie leicht an ihren farbenfrohen Haaren und den trashy Outfits. Die jammerten eigentlich immer nur darüber wie scheiße es sei im Kapitalismus zu leben und verlangten die ganze Zeit von den Lehrern die Anarchie als Staatsform. Als ob die das bestimmen konnten. Zwischen mir und den Punks waren die Freaks. Wie erkannte man sie? Eigentlich konnte man das mit einer Gegenfrage beantworten: Wie erkennt man sie nicht? Die Freaks waren eine Mischung aus Punks, Hardcore-Rockern und japanischen Trickfilmhelden. Von denen war so gut wie jeder im Kunstleistungskurs. Sie quatschten auch so gut wie immer über irgendwelche Bilder mit merkwürdigen Zeichen und Farbmischungen, die für mich mehr nach den ersten Malversuchen eines Dreijährigen aussahen, als ernsthafte Kunst. Sie quatschten auch die ganze Zeit darüber wie oberflächlich die Gesellschaft sei und wie scheiße alle seien, die Wert auf das Äußere legten. Was irgendwie paradox war, da ihre merkwürdigen Outfits bestimmt nicht in zehn Minuten angelegt waren. Allein das Anbringen der Schminke, die manche auf hatten, brauchte bestimmt eine halbe Ewigkeit. Gleich links neben mir tummelten sich die Hardcore-Bauern. Da war ein Großteil der Schüler dabei, die von den Dörfern kamen und Mühe hatten sich an die "Städtler" anzupassen. Unter ihnen fand man die meisten Rechten. Lustig war dabei nur, dass sie immer darüber schimpften wie schlecht die Ausländer Deutsch sprachen, selbst sprachen sie aber manchmal einen so krassen Dialekt, dass keiner verstand was sie eigentlich wollten. Mal davon abgesehen, drehten sich ihre Gespräche um diverse Dorffeste und Fußball. Da mich aber weder interessierte wie viele Mast Bier Ulli beim letzten Maisfest weggekippt hat, noch wie der FC Bauernhausen am letzten Sonntag gespielt hat, war die Gruppe nichts für mich. Neben den Bauern wiederum fanden sich die Rocker. Nein, Metall-Leute. Oder war es Gothic? Mir fiel es schwer die zu unterscheiden. Ich weiß nur, dass sie sich allesamt schwarz anzogen und alle lange Haare hatten, welche sie frenetisch durch die Luft schleuderten wenn ihre Musik lief. Die sprachen meistens über den Tod und wie sinnlos das Leben sei und besoffen sich im nächsten Moment wie die Barbaren und schüttelten ihr Haar. Ich glaube für einen Rocker war es am schlimmsten, wenn man ihm die Haare stutzt. Wie sollte er dann noch auf seiner Musik tanzen? Mir gegenüber saß Lea, aber zu ihrer Gesellschaft komme ich später. Unten, in der Mitte des Rondells, also auf dem flachen Boden, tummelten sich drei Fraktionen: Die Hip-Hopper, die Reggae-Leute und die Skater. Die Skater mochte ich nicht. Eigentlich fand ich sie am dämlichsten. Sie selbst fanden sich irre cool und draufgängerisch, weil sie andauernd irgendwelche idiotischen Stunts machten, sich einen Bruch zuzogen und dann zwei Monate mit Krücken herumliefen. Eigentlich sah man so gut wie nie eine Skatergruppe ohne mindestens einen Verletzten, der mit seinem eingegipsten Fuß den anderen hinterherhinkte. Die Reggae-Leute spielten die ganze Zeit Hacky-Sack und wenn sie mal nicht Hacky-Sack spielten, lagen sie bekifft da. Die sprachen eigentlich nur darüber wie geil Schokolade schmeckt und wie toll Bob Marley sei. Und sie waren dafür bekannt mindestens zwei Klassen zu wiederholen und danach irgendeine Sozialwissenschaft zu studieren. Aber ich mochte sie. Sie waren die einzigen, die wirklich tolerant waren. Vermutlich weil sie andauernd bekifft waren. Die Hip-Hopper waren einfach nur lächerlich. Nicht wegen dem Hip-Hop-Kult an sich, sondern deswegen, weil es deutsche Jungen aus braven mittelständischen Familien waren, die so taten, als ob sie aus dem schlimmsten Ghetto kamen. Leute wie Karl Brunnbaur, gaben sich Spitznamen wie „Kay Burner“, banden sich Tücher um den Kopf und zogen sich die Hose kategorisch nicht über den Arsch. Wenn sie mal einen kifften, dann taten sie so rum, als ob sie die größten Drogendealer wären. Dabei besorgten sie ihr Gras von den Reggae-Leuten, wie jeder andere auch, der mal einen durchziehen wollte. Und jetzt kommen wir zu Lea. Lea saß genau mir gegenüber. Besser gesagt, ich saß ihr gegenüber, denn ihr Platz war so eine Art Loge. Nicht wegen dem Platz an sich, sondern wegen den Leuten, die sich dort befanden. Hier fand man die Elite der Schule. Elite, weil in dieser kleinen, aber wohl feinsten Gruppe, die schönsten und beliebtesten Schüler waren. Der Großteil von ihnen wohnte auch im nobelsten Viertel der Stadt und der Teil, der nicht aus einer reichen Familie stammte, war einfach super schön oder hatte eine außergewöhnliche Ausstrahlung, die ihn beliebt machte, und somit zur Mitgliedschaft in dieser exklusiven Gesellschaft befähigte. Und irgendwie hatte es sich auch eingebürgert, sie Elite zu nennen. Es war eigentlich wie im alten Rom. Das war das Kolosseum, wir der Pöbel, waren rundherum und die Eliten waren die Senatoren, Lea in ihrer Mitte die Kaiserin, die mit einem Fingerzeig über beliebt oder unbeliebt entschied. Alle die nicht zu einer dieser Gruppen gehörten, machten die durchschnittliche, graue Masse aus. Und zu dieser grauen Masse gehörte ich: Wilhelm Rauter. Im Grunde maßen sich alle an Leuten wie mir. Jeder versuchte verzweifelt anders zu sein als die graue Masse. Das Wort „anders“ traf es nicht ganz, besser traf es „cooler“. Wir leben in Zeiten in denen Individualität angesagt ist; merkwürdiger Weise lassen sich aber alle Individualisten in eine Sparte einteilen, wie ich es eben gemacht habe. Jeder will individuell sein und genau das haben sie alle gemeinsam. Irgendwie paradox. Aber es ändert nichts daran, dass ich wie jede Pause, in der grauen Masse sitze, mein Pausenbrot mampfe und die unerreichbare Lea anglotze.

Leonards Lockenkopf war schon von weitem zu sehen. Leonard ist sozusagen mein bester Freund. Wir kennen uns schon seit der Grundschule. Ich musste immer wieder lächeln bei der Erinnerung, wie wir uns in der 5. Klasse kennengelernt hatten. Leonard wollte gerade sein Pausenbrot essen, als ihn ein anderes Kind umrannte. Sein Sandwich war dabei in eine Pfütze gefallen und nur noch ein Haufen klätschiges Etwas. Mit großen verzweifelten Augen hatte er sein Pausenbrot angestarrt. Obwohl er es nie zugab, war ich fest der Meinung, er hätte es noch gegessen, wenn ich ihm damals nicht die Hälfte von meinem Stück angeboten hätte. Wir verstanden uns auf Anhieb. Ab dem Tag waren wir Freunde. "Wie weit bis du?" fragte er als Begrüßung. "Südeuropa und Mitteleuropa gehören mir. Mein Kreuzzug ist vor Konstantinopel. Musste den alten Papst aber ermorden lassen und erst nachdem einer meiner Kardinäle zum neuen Papst gewählt wurde, bekam ich die Erlaubnis für den Kreuzzug." Wir sprachen über ein Computerspiel, bei dem man die Herrschaft über ein mittelalterliches Königreich übernahm und dessen Geschicke lenkte. "Der Papst nervt mich. Ich besetze Rom immer und schicke dann einfach die regulären Armeen nach Jerusalem." sagte er und packte sein Pausenbrot aus. Ein dreilagiges Schinken-Käse-Sandwich. Leonard war, gelinde ausgedrückt, übergewichtig. Er zog aber auch immer diese unvorteilhaften T-Shirts an, die vor seinem Bauch spannten. Ich hatte schon öfter vergeblich versucht ihn dazu zu überreden, etwas weitere Shirts zu kaufen, aber er meinte, dass dann seine muskulösen Oberarme nicht so zur Geltung kämen. Und jetzt im Sommer musste er sie ja den Mädels zeigen. Leonard hatte noch nie eine Freundin gehabt und versuchte deshalb alles Mögliche um eine abzubekommen, außer eben sie direkt anzusprechen. Mir ging es ähnlich, von einem One-Night-Stand bei einer Party letzten Jahres abgesehen, hatte ich auch noch nie was mit einem weiblichen Wesen am Laufen. Das Mädchen auf der Party hieß Chaquline und war sturzbetrunken gewesen. Sie hatte mich in jener Nacht im Keller des Hauses entjungfert. Ich war natürlich nach drei Sekunden gekommen, was für sie einen recht kurzen Spaß bedeutete. Am nächsten Tag hatte ich sie fünfmal erfolglos angerufen und erst beim sechsten Mal meldete sie sich und stellte klar, dass sie absolut betrunken gewesen war und nur deshalb was gelaufen sei; sie gab mir eindeutig zu verstehen, dass sie nie im Leben etwas Ernsthaftes mit mir anfangen würde und ich mich nie wieder bei ihr melden sollte. Die darauffolgenden Tage verbrachte ich damit mir die Seele aus dem Leib zu heulen. Wenigstens wusste ich seit dem wie es war Sex zu haben und würde nicht als Jungfrau sterben. Auch wenn es nur drei Sekunden waren.

Wir aßen halbherzig unsere Pausenbrote, indes wir uns weiter über das Spiel unterhielten. Der gewohnte Pausenhoflärm hatte etwas Beruhigendes an sich. Dutzende Unterhaltungen die aus allen und keiner Richtung zugleich tönten wurden ergänzt von alltäglichen Lauten wie das Gähnen eines müden Schülers, das Lachen einer Gruppe, welches in den unterschiedlichsten Nuancen durch die Luft hallte und doch einheitlich in die Ohren drang. Dies wiederum kombinierte sich mit dem regelmäßigen, dumpfen Aufprallen eines Hacky-Sacks von einem Schuh zum anderen, wurde erweitert durch das raue Rollen der Skateboardräder auf dem Betonboden des Rondells. All diese Geräusche wurden vom Rascheln der Blätter, das durch eine sanfte Windbrise erzeugt wurde, eingerahmt. Nur ein Geräusch störte. Es war das zielstrebige, lauter werdende dumpfe Aufklingen von Schuhen, die in meine Richtung stapften. Ich wusste schon bevor ich überhaupt hinsah, wer es war. Meine Augen bestätigten es dann nur noch: Rick und seine beiden Freunde Tom und Dennis standen da. Dieses Trio gehörte zur Elite. Alle drei waren groß, gut aussehend, kleideten sich in den coolsten und teuersten Markenklamotten und trieben irgendeinen Leistungssport. Dass sie alle drei aus wohlhabenden Familien kamen, versteht sich von selbst. Diese Typen waren die bekanntesten und beliebtesten Jungs der Schule. Sie konnten das, was ich nicht konnte: Und zwar jedes Mädchen der Schule haben. Aber keinen beneidete ich mehr als Rick. Er hatte nämlich das, was ich am allermeisten begehrte: Lea. Wie oft hatte ich schon versucht irgendwelche Mängel an diesem geleckten Armanimodelverschnitt zu finden. Bis auf seine Arroganz, die er sich ohne weiteres leisten konnte, gab es nichts, was man an ihm hätte aussetzen können. Und wenn sein selbstsicheres Auftreten die Mädchen nicht schon von den Socken haute, dann begannen sie spätestens beim Anblick seines Colgatelächelns wie schüchterne Grundschulmädchen zu kichern. Ich hatte das schon oft beobachtet und für mich persönlich festgestellt, dass wenn es einen Gott gäbe, dieser ein echt unfaires Arschloch sein musste. Denn alles was Rick hatte, hatte ich nicht. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, hatten er und seine Freunde diese perfide Angewohnheit irgendwelche Loser wie mich und Leonard fertig zu machen. Aber vor allem auf die Fetten hatten sie es abgesehen. Mit einem selbstgefälligen und gehässigen Lächeln standen sie da. Rick schob seine Sonnenbrille mit einer langsamen Geste nach oben und ging neben Leonard in die Hocke. Rick hatte ein weißes Seidenhemd und eine beige Stoffhose an, was ihn elegant wirken ließ und uns noch gewöhnlicher, als wir es ohnehin schon waren. "Na, wie geht's dir so Leoarsch?" Tom und Dennis lachten im Hintergrund. Was sollte Leonard schon sagen? Er sagte nichts und schaute nur stumm zurück. Es tat mir leid wenn ich ihn so eingeschüchtert dasitzen sah. Und die Mayonnaisereste an seinem Kinn machten es auch nicht besser. "Bist heute wohl nicht so gesprächig, hm?" Leonard kaute mit einem düsteren Gesichtsausdruck sein Essen weiter und Rick blickte nun zu dessen Sandwich und deutete darauf. "Kann ich mal beißen?" Noch bevor Leonard irgendwas sagen oder tun konnte, hatte es ihm Rick schon aus der Hand gerissen. "Hey!" Der hilflose Protestlaut wurde völlig ignoriert. Rick klappte eine Lage des Pausenbrots auf und betrachtete angeekelt den Inhalt. "Ich glaube, ich will doch nichts mehr davon." Dann schaute er Leonard wieder entgegen, der so eingeschüchtert war, dass er vergessen hatte zu kauen und sprach: "Aber wisst ihr was ich gehört habe?" Rick machte ein ernstes Gesicht und schaute auch mich an. Wollte der sich etwa ernsthaft mit uns unterhalten? "Mayonnaise ist gut für die Haut." Und mit diesen Worten klatschte er uns die Sandwichhälften ins Gesicht. Um uns ertönte Gelächter und als ich mir die Essensreste aus dem Gesicht pulte, spürte ich wie alle Blicke auf uns gerichtet waren. Natürlich war ich wütend wegen der Blamage und hätte am liebsten allen drein die Schnauze poliert. Aber die Chancen, dass es dann zu einer noch größeren Blamage würde, die so aussähe, dass ich mit gebrochener Nase auf dem Boden liege und das dann wirklich jeder mitbekommt, waren zu groß, um es zu riskieren. Einfach ausgedrückt: Ich hatte schiss vor den Typen und genau deshalb ließ ich es mir gefallen. Die drei gingen lachend weiter und ich holte ein paar Taschentücher heraus, reichte Leonard welche und wischte mir das Gesicht ab. Jetzt würde ich den ganzen Tag diesen säuerlichen Mayonnaisegeruch in der Nase haben. Leonard machten solche Sachen mehr zu schaffen als mir. Nicht, dass es mir nichts ausmachte, spätestens als Rick drüben bei Lea war, diese küsste und lachend auf mich zeigte, spürte ich wie mein bereits extrem ramponierter Stolz einen weiteren schweren Schlag erlitt. Ich musste wegschauen. Es war zu peinlich um ihrem Blick noch erwidern zu können. Das einzige was mich nicht heulend auf die Toilette rennen ließ, war Leonard. Die Tatsache, dass wir uns zusammen blamierten, machte die Sache ungemein leichter. Und in diesem Moment dachte ich bei mir, dass ich die bisherige Schulzeit nicht ohne Leo überstanden hätte. "Schade um das Sandwich." sagte ich. Leo musste lachen und schaute mich an. Das brachte mich wiederum zum Lachen und wir beide lachten bis uns der Gong, der das Pausenende markierte, unterbrach. Wir gingen nicht gleich los, da wir noch fünf Minuten Zeit hatten. Meine Augen zog es wieder zu Lea. Sie unterhielt sich aufgebracht mit Rick. Nein, sie stritten! Um was es ging, konnte ich aus dieser Entfernung nicht hören. Es dauerte aber nicht mehr lange und Lea ließ ihren Freund einfach stehen und ging weiter. Sie hatte ein enganliegendes rotes Sommerkleid an, das kurz unter ihrem umwerfenden Hintern endete und bei jedem Schritt die Hoffnung erweckte, es rutsche beim nächsten Schritt ein klitzekleines Stück weiter nach oben, was es aber nicht tat. Enttäuscht schaute ich wieder zurück und erstarrte für einen kurzen Moment. Ihr Freund schaute mir genau in die Augen und hatte ein düsteres Gesicht aufgesetzt. Schnell schaute ich zu Boden. Für heute hatte ich genug Demütigung, deshalb wollte ich auch nichts herausfordern. Ich fragte mich worüber sie sich wohl gestritten hatten? Vielleicht über die Aktion der drei zuvor? Mädchen waren ja bekanntlich nicht sehr begeistert über so ein Proletenverhalten. Na hoffentlich hatten sie darüber gestritten. Obwohl ich mir nicht ihren Schutz oder ihr Mitleid wünschte, sondern ihre Liebe. Ja, ihre Liebe. Und da entwischte es mir: "Irgendwann wird sie mir gehören." Leonard schaute mich an, als ob ich ein Verrückter sei. "Lea Rosenregen? Mit dir? Mein Freund, du weißt, dass ich es dir von Herzen gönne, aber ich muss dich in die Realität zurückholen. Lea Rosenregen gibt einen Scheiß auf Typen wie uns. Die weiß nur, dass wir existieren, weil ihr Freund uns mit dem ehrenvollen Posten seiner persönlichen Prügelknaben betraut hat. Außerdem hast du in deinem Leben noch kein Mädchen von dir aus angesprochen. Wie willst du dann Lea - fucking - Rosenregen ansprechen?" Mein Freund hatte absolut recht, aber tief in mir revoltierte etwas. Ich weiß nicht was es war oder wie ich es hätte nennen sollen; es war eine Art Gefühl der Gewissheit, dass ich sie haben kann, wenn ich es nur wirklich will. Und dieses Gefühl ließ mich sehr unüberlegt antworten: "Wetten ich traue mich?" Ich hielt ihm die Hand hin. Leonard blickte beinahe mitleidig darauf. "Du zitterst." bemerkte er trocken. "Lenk nicht ab. Wetten ich traue es mich?" Ich hielt sie ihm immer noch entgegen und bemerkte nun auch, dass ich zitterte. Er schaute ein letztes Mal darauf. "Gut, wie du willst." Er schlug ein.

Den restlichen Nachmittag verbrachte ich mit der Frage, wie ich Lea denn ansprechen sollte. Es war nicht so, dass ich etwas zu verlieren hätte, wie beispielsweise Beliebtheit, aber alleine bei dem Gedanken direkt vor ihr zu stehen und ihre volle Aufmerksamkeit zu haben, wurde mir schon übel. Vielleicht würde es sie beeindrucken, dass ich mich traute sie anzusprechen? Oder vielleicht entdeckte sie in mir einen besonderen Menschen? Aber mal ehrlich, ich hatte auf direktem Wege keine Chance bei ihr zu landen. Gut, laut Wette musste ich sie ja nur ansprechen, aber um die Wette ging es mir nicht. Ich wollte es endlich wagen, das einzufordern, was ich begehrte. Und zwar dieses bildschöne Mädchen. Mal davon abgesehen, dass ich es sowieso satt hatte mir auf Pornos einen runterzuholen. Ich glaube, es gab keinen Menschen in Deutschland, der mehr kostenlose Internetpornoseiten kannte als Leonard und ich. Es wurde also mal langsam Zeit für ein echtes Mädchen und echten Sex. Dass ich mir gleich den Mount Everest der Frauen ausgesucht hatte, machte die ganze Sache „ein wenig“ schwerer, untertrieben ausgedrückt.

Wir saßen am Küchentisch und meine Mutter servierte das Essen: Schnitzel mit Pommes. Einfach, aber verdammt schmackhaft. Meine Mutter konnte wirklich gut kochen. Mir gefiel ihr Essen. Mein Vater hingegen hatte immer etwas auszusetzen. "Letzte Woche haben wir auch schon Schnitzel gegessen." merkte er an. "Mag sein, aber Wilhelm schmeckt es." Sie lächelte mich an und mein Vater erwiderte nichts mehr darauf. Meine Eltern verstanden sich schon lange nicht mehr, auch wenn meine Mutter sehr darum bemüht war, ihre Streitigkeiten vor mir zu verbergen. Sowas ließ sich aber nicht verbergen. Am Anfang hatte es mir noch zu schaffen gemacht, aber ändern konnte ich daran nichts und so hatte ich mich immer in mein Zimmer zurückgezogen und Computer gespielt wenn sie sich wieder stritten. Ich liebe Computerspiele. Man vergisst dabei all seine Probleme und die Gedanken beschäftigen sich nur mit der virtuellen Welt, in welcher man sich befindet. Deswegen verbrachte ich auch den Großteil meiner Freizeit mit Computerspielen. Das Essen wurde von oberflächlichen Gesprächen begleitet. Meine Mutter fragte mich wie immer, wie es in der Schule gewesen war und ich antwortete wie immer mit „gut“. Mein Vater beschwerte sich wie immer über die Arbeit und wie jedes Mal dachte ich mir, warum er denn Speditionskaufmann geworden sei, wenn ihm die Arbeit nicht gefiel. Ich war mit dem Essen nicht ganz fertig, aber schon satt. Also stand ich vom Tisch auf und machte mich daran die Reste in den Müll zu schmeißen. "Für das Essen, das du gerade wegschmeißt, arbeite ich hart!" protestierte mein Vater. "Ich bin aber schon satt, was soll ich denn sonst mit den Resten machen?" erwiderte ich genervt. Ihm ging es gar nicht um das Essen, er suchte nur wieder einen Grund zum Streit. "Dir ist das natürlich egal. Du hast keine Ahnung was Arbeit bedeutet; sitzt den ganzen Tag vorm Computer und tust gar nichts." Meine Mutter schaltete sich ein. "Peter, jetzt brauchst du nicht wegen einem Schnitzel einen solchen Aufstand machen." Sie klang beschwichtigend, aber mein Vater steigerte sich nur noch mehr hinein. "Du kannst mal ganz still sein mit deinem Halbtagsjob!" Meine Mutter arbeitete halbtags in einer Arztpraxis; kümmerte sich aber um den gesamten Haushalt. "Mama arbeitet mehr als du und jammert nicht halb so viel herum!" Ich konnte es einfach nicht länger zurückhalten. Mein Vater kritisierte immer alle und das ohne jeglichen Grund. Es war als ob er seinen ganzen Frust auf mich und Mutter übertragen wollte. "Was hast du gesagt?" Er stand auf und kam auf mich zu. Seine Stimme klang bedrohlich. Mein Vater hatte nie davor zurückgeschreckt mich zu verprügeln, wenn ihm etwas an mir nicht passte. Aber das war mir jetzt egal, ich war wütend auf ihn und wollte es ihn auch spüren lassen. "Ich habe gesagt, dass du ein Jammerlappen bist!" Sofort verpasste er mir eine Ohrfeige. Ich steckte sie ein ohne mit der Wimper zu zucken. "Natürlich. Kritisieren und prügeln, was anderes kannst du nicht." Sein Gesicht war rot vor Zorn und diesmal hätte er mich mit der Faust geschlagen, hätte ihn meine Mutter nicht zurückgehalten. Ich verschwand daraufhin sofort in meinem Zimmer und sperrte hinter mir ab. Kurz darauf hämmerte er mit seinen Fäuste gegen die Tür und rief ich solle aufmachen, beschimpfte mich und drohte mir. Ich blieb aber einfach nur in meinem Bett liegen und starrte zur Decke. Nach einiger Zeit ließ er ab von der Tür und es war zu hören wie er sich weiter mit Mutter stritt. In diesem Moment hasste ich ihn. Aber der Hass verflog schnell und eine dumpfe Erkenntnis trat an dessen Stelle: Mein Vater war mir gleichgültig. Nie hatte sich eine richtige Beziehung zwischen uns aufgebaut. Wir sprachen auch so gut wie nie miteinander, außer wenn er mich wieder kritisierte. Er interessierte sich nie für meine Schule, für meine Freunde oder wie ich mich überhaupt fühlte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre ich auf die Hauptschule gegangen und hätte nach der neunten Klasse irgendeine Lehre angefangen, damit ich so schnell wie möglich selbstständig werde und keine finanzielle Last mehr für ihn mehr darstelle. Und um ehrlich zu sein, ich interessierte mich auch nicht für ihn und ich fand es nicht einmal schlimm. Dieser Mann war mir egal. Wir waren nicht mehr als zwei Menschen, die zufälliger Weise zusammenlebten. Aber das machte mich in diesem Moment nicht einmal traurig. Ich war traurig weil ich alleine war; weil ich ein so dringendes Bedürfnis hatte von einem Mädchen geliebt zu werden, dass es weh tat. Es tat weh, weil sich keine für mich interessierte, weil ich das Gefühl hatte, nichts wert zu sein, ein Niemand. In Momenten wie diesen ließ ich meiner gesamten Schwäche freien Lauf, weinte, bemitleidete mich und machte Gott für alles verantwortlich. Als es vorbei war, fühlte ich mich besser und setzte mich an den Computer.

Am nächsten Tag in der Pause wartete ich nur darauf Leo zu erzählen, was ich geplant hatte. Ich hatte mir die ganze letzte Nacht lang Gedanken gemacht, wie ich Lea für mich gewinnen konnte und der Plan war gut. "Und, hast du Lea schon angesprochen?" Er fragte mich mit einem Grinsen das sagte 'Ich weiß, dass du sie nicht angesprochen hast und sie auch nie ansprechen wirst.' "Lea Rosenregen spricht man nicht einfach so an. Das muss alles ganz genau geplant sein." Leo zog überrascht die Brauen hoch und ich fuhr fort. "Schau, Mädchen legen großen Wert darauf, dass ihr Kerl sozial anerkannt ist. Also cool. Auch wenn ein Mädchen einen Typen hässlich findet, aber dreißig andere Mädchen den geil finden, wird sie ihn nehmen. Ganz einfach, weil ihr die Anerkennung der Gesellschaft wichtiger ist, als alles andere. Anders herum kann ein Kerl gut aussehen, aber ein Mädchen würde niemals etwas mit ihm anfangen, wenn er als uncool gilt und sich die anderen über sie lustig machen würden, aus welchem Grund auch immer. Natürlich ist das eine sehr grobe Theorie; es hängt auch sehr vom sozialen Stand des Mädchens ab. Es ist genau wie mit dem Adel früher, man heiratet nur untereinander. Lea würde also nie etwas mit einem aus der Skaterclique anfangen, solange er nicht von ihrer Elitenclique anerkannt ist. Verstehst du was ich sage?" Leo hatte aufmerksam zugehört. Das war etwas was ich an ihm sehr mochte. Man konnte wirklich über alle Themen und verrückten Ideen, die man hatte, mit ihm reden. Er hatte Köpfchen und konnte allen Gedankengängen folgen. "Klingt interessant du Hobby-Soziologe und ich stimme dir auch zu. Die meisten Menschen finden etwas gut, weil es die Masse sagt und nicht weil sie selbst es gut finden. Aber was ist dein Plan mein Freund?" fragte er. "Ich werde mich von ihrer Gesellschaftsschicht anerkennen lassen." antwortete ich entschlossen. "Du, Wilhelm Rauter, meinst, dass die Eliten dich als einen der ihren anerkennen werden? Und wie willst du das anstellen, wenn ich fragen darf?" Er klang skeptisch, was ich absolut nachvollziehen konnte. "Das Leo, weiß ich noch nicht." Der Gong beendete die Pause.

Der Mathekurs hatte gerade angefangen und ich grübelte immer noch über meinen Plan, wie ich in Leas Freundeskreis gelangen konnte, als Frau Schmidt einen suspekten Stapel Blätter aus ihrer Tasche zog und den verhängnisvollen Satz sprach, der jeden lernfaulen Schüler in Angst und Schrecken versetzt: "Rückt die Tische auseinander; wir schreiben eine Stegreifaufgabe." Für eine Vier wird es schon reichen, dachte ich bei mir, als mich ein unruhiges Gemurmel neben mir aufmerksam machte. Richard, ein blonder „Sunnyboy“, der für seine guten Noten bekannt war, wirkte als ob er sich kurz vor einem Flugzeugabsturz befand. "Was ist'n los?" fragte ich, derweil ich meinen Tisch wegrückte. "Ich habe das Thema kein Stück kapiert, ich schreibe eine Sechs!" In seinen Augen war eine Panik abzulesen, die ich noch nie hatte nachvollziehen können. Vermutlich war es gerade diese Angst, die die Streber so antrieb zu lernen. Ich hatte diese Angst nicht und ich war auch kein Streber, aber ich hatte auch keine guten Noten. Ich versuchte ihn zu beruhigen. "Bleib locker, das wird schon. Du bist ja sonst immer sehr gut." sagte ich. "Diesmal nicht!" Er war wirklich aufgebracht. Wieder fragte ich mich, wie man sich wegen einer Ex so fertig machen konnte. Vor allem Richard. Dieser Kerl war in der Elitenclique und sprach mit Leuten wie mir nur das Nötigste im Kurs. Ihn sah man immer mit hübschen Mädchen herumlaufen. Ein beneidenswerter Kerl und der machte sich wegen sowas in die Hose. Der Test sah ungefähr so aus, wie ich es erwartet hatte. Für eine Vier würde es sicherlich reichen. Vielleicht sogar eine Drei. Frau Schmidt sammelte die Arbeiten reihenweise wieder ein und musste mit Richard kämpfen, dass dieser ihr die Arbeit aushändigte. Wie es aussah, war es bei ihm wirklich schlecht gelaufen. Leid tat er mir nicht, er konnte sich mit seinen hübschen Mädchen trösten. Ich nicht. Die Stunde war nach der Ex noch nicht vorüber, also machten wir noch Unterricht. Von diesem bekam ich aber nichts mit, weil ich mir immer noch den Kopf zerbrach, wie ich in die Elitenclique reinkäme. Mein Blick richtete sich auf Richard, der nun in völliger Apathie dasaß. Richard war der einzige aus der Elitenclique, der sich mit mir in einem Kurs befand. Naja, Sport hatte ich noch mit Rick, Tom und Dennis. Aber bei jenen konnte ich es vergessen. Jeder Versuch mich mit ihnen anzufreunden, würde letztlich in einer erbärmlich-peinlichen Situation für mich enden. Zudem konnte ich diese Arschlöcher sowieso nicht leiden. Die einzige Möglichkeit blieb Richard. Aber ich konnte nicht einfach zu ihm hingehen und sagen 'Hey, willst du mein Freund sein, weil ich würde gerne in eure Clique, um Lea klarmachen zu können.' Ich musste irgendetwas machen, das nicht schleimig wirkte, aber ihn dennoch dazu brachte mich zu mögen. Mein Blick rutschte zu den Arbeiten am Pult und da schlug es ein wie der Blitz. Ich musste die Arbeiten verschwinden lassen! Wie konnte ich ihn wohl mehr beeindrucken als dadurch, dass ich die Arbeiten verschwinden lasse und ihn vor einer -für ihn- katastrophalen Note bewahre. Einfach und logisch. Aber als ich an die Ausführung dachte, verließ mich mein Enthusiasmus. Wie sollte ich denn die Arbeiten verschwinden lassen? Und vor allem, was ist wenn ich dabei erwischt werde? Was dann wäre, konnte ich mir ausmalen. Das Mindeste wäre ein Disziplinarausschuss, aber viel wahrscheinlicher wäre es, dass ich direkt von der Schule fliege. Aber wenn ich es schaffte? Richards Dankbarkeit wäre mir gewiss, ganz zu schweigen von seiner Anerkennung. Einer der sich traut, eine schlecht gelaufene Ex verschwinden zu lassen, war einfach nur cool. Bei dem ganzen Für und Wider wurde ich unruhig. Einerseits euphorisch bei dem Gedanken es könnte klappen, andererseits verunsichert bei der Vorstellung ich würde erwischt werden. Es gongte. Alle strömten wie eine aufgeregte Viehherde nach draußen. Ich packte nur sehr langsam zusammen und beobachtete unsere Lehrerin. Sie schob die Arbeiten in einen Umschlag und wollte diesen gerade in ihre Tasche stecken, als Richard neben ihr auftauchte und sie abermals wegen der Ex ansprach. Sie fertigte ihn mit einer ungeduldigen Geste ab und wendete sich zum Gehen, um den Beschwerden des aufgebrachten Schülers zu entkommen. Dabei vergaß sie den Umschlag in die Tasche zu packen und klemmte ihn sich lediglich unter den Arm. Ich sah für einen kurzen Moment Hoffnung in meinem Unterfangen, doch dann blieb sie stehen und verstaute den Umschlag mit den Arbeiten schließlich doch noch in ihrer Tasche. Ich fluchte still in mich hinein. Es war so gut wie unmöglich die Arbeiten an mich zu nehmen. Hätte sie den Umschlag vielleicht in ihrem Fach im Lehrerzimmer oder einfach auf dem Tisch liegen lassen, dann wäre es vielleicht sogar möglich gewesen ihn mitzunehmen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Schüler den Lehrern mal was ins Fach legten. Die Tür zum Lehrerzimmer war zwar abgeschlossen, aber bei dem regen Verkehr konnte man leicht reinkommen und wenn man Glück hatte, bemerkte einen auch kein Lehrer. Aber wenn ein Schüler in der Tasche eines Lehrers rumkramt, dann war das mehr als auffällig. Sowas entgeht keinem Lehrer und im Lehrerzimmer ist immer irgendeiner drin. Die Chancen, die ich mir ausrechnete standen nicht gerade gut, aber ich folgte Frau Schmidt dennoch mit einigem Abstand. Sie bemerkte nichts, der Gang wimmelte ja nur so von Schülern die nun aus der Schule eilten, weil sie aus hatten oder zum Stundenwechsel in einen anderen Saal gingen. Frau Schmidt war offensichtlich auf dem Weg ins Lehrerzimmer, doch kurz davor bog sie in den Kopierraum, der genau gegenüber lag, ein. Ich stand unentschlossen im Gang, als sie plötzlich wieder herauskam. Ich erschrak wie ein ertappter Verbrecher, aber sie bemerkte mich gar nicht und marschierte zielstrebig ins Lehrerzimmer. Ohne Tasche. Das war meine Chance. Ich überlegte nicht lange, ging ins Kopierzimmer und ich hatte Glück. Niemand war drin. Nur die Tasche stand einsam auf einem Tisch neben dem Kopiergerät. Sie war auch noch geöffnet, als ob jemand darin etwas gesucht hätte. Frau Schmidt hatte offensichtlich etwas kopieren wollen, was sie in der Tasche vermutete, aber wohl doch in ihrem Fach lag. Das bedeutete, dass ich kaum mehr als eine Minute Zeit hatte, wenn nicht schon vorher irgendein Lehrer in den Raum kam. Meine Hände zitterten vor Aufregung als ich durch die Unterlagen kramte. Immer wieder blickte ich nervös zum Eingang. Die Tür stand offen, aber wenn jemand reinkäme, dann wäre es bereits zu spät, also horchte ich konzentriert auf Schritte. Nichts war zu hören. Da war er, der Umschlag! Ich riss ihn förmlich aus der Tasche und musste mich zurückhalten nicht loszustürmen. Ich sah mich schon gerettet, als plötzlich das markante Geräusch von Stöckelschuhen zu hören war. Frau Schmidt hatte Stöckelschuhe an. Es war zu spät, ich stand wie gelähmt vor dem Eingang, meinen Untergang entgegenblickend. Jeder Versuch zu flüchten war hoffnungslos. Es gab nur einen Eingang und Frau Schmidt war vielleicht ein, maximal zwei Meter vom Eingang entfernt. Ich würde ihr bei einem Fluchtversuch direkt in die Arme laufen. Um den Umschlag wieder zurückzustecken war es zu spät, selbst wenn ich es schaffte, was hatte ich im Kopierraum zu suchen? Jetzt bist du dran, dachte ich, als eine männliche Stimme ertönte. Die Stöckelschuhe hielten inne und ich hörte wie ein Lehrer Frau Schmidt etwas fragte, woraufhin diese das Gespräch aufnahm. Ich sah meine letzte Chance und ging ohne zu zögern durch die Tür. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich Frau Schmidt mit Herr Beurer, meinem Biologielehrer, unterhielt. Ich erwartete ein lautes 'Halt!' oder irgendeine Aufforderung stehen zu bleiben. Nichts kam. Sie bemerkten mich nicht einmal und ich ging weiter. Den Umschlag in der Hand, erwartete ich immer noch eine mir hinterherjagende Frau Schmidt, aber nichts dergleichen geschah. Erst als ich im Freien war und an der Straßenbahnhaltestelle stand, realisierte ich, dass ich es geschafft hatte. Da fiel mir ein Stein vom Herzen und ich konnte einen Freudenschrei nicht zurückhalten. Erst später bemerkte ich, dass zwei Mädchen neben mir, verwirrt herüberschauten. Aber das war mir egal. Ich hatte die Arbeiten!

Ich nutzte die Straßenbahnfahrt um mir die Arbeiten genau anzusehen. Richards Arbeit war nicht nur schlecht, sondern im Grunde gar nicht existent. Außer dem Namen, hatte er nichts ausgefüllt. Den hatte ich also wirklich vor einer Sechs bewahrt. Aber momentan war ich einfach nur von meinem Mut begeistert. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so Eier bewiesen hatte wie jetzt. Und vermutlich hätte ich es mich gar nicht getraut, wenn ich nicht so verrückt nach Lea gewesen wäre. Ich überflog die Arbeiten und überlegte mir meinen nächsten Schritt. Richard musste nun erfahren, wer ihn gerettet hatte. Er würde zunächst überrascht, vielleicht auch ein bisschen ungläubig reagieren, doch schließlich würde er sich freuen, wenn er die Arbeit in der Hand hielt. Er wird sich fragen warum ich es getan habe. Was ich dann sage und wie ich dabei wirke ist sehr wichtig. Es musste alles so aussehen, als ob ich es aus selbstlosen Motiven getan hätte. An den Lehrer würde er mich ganz bestimmt nicht verraten. Bei dem Punkt machte ich mir keine Sorgen. Ein störendes Piepsen unterbrach meine Gedanken. Der Alarmton, wenn sich die Türen der Straßenbahn wieder schlossen. Als das Piepsen verklang, widmete ich mich wieder den Blättern zu. Sie waren ziemlich gemischt, mit der Tendenz zu eher schlechten Noten, nach dem ersten Blick zu urteilen. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich mich, dass mich jemand beobachtete. Instinktiv drehte ich mich nach hinten. Mein Herz blieb in diesem Moment stehen. Johannes, einer aus meinem Mathekurs schaute mich an. Und sein zweiter Blick, auf die Arbeiten, bestätigte mir, dass er wusste, was ich in den Händen hielt. Er war immer sehr still. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er jemals ein Wort mit mir gewechselt hatte, dass er ein Wort mit irgendjemanden gewechselt hatte. Er war einer der Menschen, bei denen man nicht wusste was in ihnen vorging. Was sie dachten, was sie überhaupt für Interessen hatten. Ich wusste nicht was ich sagen sollte und blickte ihm einfach nur entgegen. Der verschlossene Junge erwiderte meinen Blick eine Zeit lang und ging dann ohne ein Wort ins nächste Abteil und setzte sich hin. Dieser Vorfall hatte mir den Wind aus den Segeln genommen. Ich wusste nicht, wie ich ihn einschätzen sollte; ob er Frau Schmidt sagen würde, dass ich die Arbeiten gestohlen hatte oder ob er Stillschweigen bewahren würde. Einerseits drang es mich dazu mit ihm zu reden, sicherzustellen, dass er kein Wort darüber verliert. Andererseits, war ich verunsichert, weil ich nicht wusste, ob ich es dadurch nicht nur schlimmer machen würde. Mir kam der Einfall, mir seine Arbeit anzuschauen, in der Hoffnung, sie sei schlecht. Dann könnte ich es ihm zeigen und ihn davon überzeugen den Mund zu halten. Ich blätterte durch und fand sie. Er hatte jede Aufgabe gelöst. Nicht eine Zahl war durchgestrichen. Es sah aus, wie eine Musterlösung; perfekter Zeilenabstand, keine Zahl, kein Buchstabe, kein Wort zu viel oder zu wenig, alles sah perfekt aus. Es dauerte eine Weile bis ich mich mit den Aufgaben und seiner Lösung nochmals vertraut machte, aber wie oft ich es mir auch ansah, es sah aus, als ob er eine Eins gehabt hätte. Ich lehnte mich verwundert in meinen Sitzplatz zurück und blickte zu ihm herüber. Gemeinhin galt Richard als der Beste im Mathekurs. Doch als ich versuchte mich daran zu erinnern was Johannes so für Noten hatte, fiel mir keine Situation ein, in der ich jemals seine Note erfahren hätte. Er war schlichtweg unauffällig. Einer dieser Leute, deren Namen man vergisst und woher man sie kennt, wenn man sie nach Jahren wiedersieht. Ich entschied mich mit ihm zu reden. Es stand viel zu viel auf dem Spiel, als dass ich es einfach dem Zufall überlassen konnte. Johannes blickte mich mit diesem undeutbaren Ausdruck im Gesicht an. Was ging nur im Kopf dieses Jungen vor? Ich setzte mich in die Sitzreihe vor ihm und drehte mich ihm zu. "Wenn du es verrätst, bin ich dran." Er schaute mich lange an. In seinen Augen war nur Gleichgültigkeit abzulesen. Ich musste ihn überzeugen. "Hey, die schmeißen mich von der Schule wenn das rauskommt! Bitte, sag niemandem was." Meine Stimme wurde dünner als ich sah, dass meine Worte nicht eine Emotion bei ihm hervorriefen. Hatte er denn gar kein Mitleid? Ich wusste nicht was ich noch sagen oder machen konnte und betrachtete mit Unglauben, wie er einfach nur seinen Kopf wegdrehte und sich die vorbeiziehenden Häuser, Straßen und Autos ansah, ohne mich auch nur eines Wortes zu würdigen. Resigniert kehrte ich zu meinem Platz zurück. Seine Arbeit war gut. Er wird mich verraten.

Mein Stadtteil war das typische Arbeiter- und Ausländerviertel. Und ein dementsprechendes Stadtbild bot sich: Alte, baufällige Wohnblocks, unzählige heruntergekommene Kneipen, Dönerläden, Billigsupermärkte, Autos aus denen mal türkische Musik, mal russische, dann aber auch wieder jugoslawische Musik spielte. Die meisten Deutschen erkannten den Unterschied zwischen russischer und jugoslawischer Musik und Sprache nicht. Das lag nicht daran, dass sie etwa gleich war, es lag daran, dass die meisten Deutschen absolut desinteressiert waren, wenn es um andere Kulturen ging. Außer es war gerade „In“. Wie beispielsweise Italien. Halb Deutschland verbrachte seinen Urlaub in Rimini, die andere Hälfte auf Mallorca. Das lustige an der Geschichte war, dass sie dort in deutsche Restaurants gingen, deutsches Bier tranken, deutsches Essen aßen und natürlich am liebsten umringt von anderen Deutschen waren. Ich fragte mich, wieso reist man in ein anderes Land, nur um dort dasselbe Bier zu trinken, dasselbe Essen zu essen und dieselben Menschen zu treffen, wie Zuhause? Was die Jugendlichen anging, so war es absolut out an den bayerischen Gymnasien ein Ausländer zu sein. Je mehr Schüler aus der ländlichen Region waren, desto unangesagter war man. Das schlimmste war, wenn sich Leute dafür schämten Ausländer zu sein und so taten, als ob sie Vollblutdeutsche waren und bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Wurzeln verrieten. Ich war eigentlich ein Halbrusse, konnte aber nur einige Brocken Russisch, obwohl ich es sehr gern sprechen würde. Das Wenige, das ich wusste, hatte ich von meinem Großvater gelernt. Meine Mutter hatte mit mir niemals Russisch gesprochen und das warf ich ihr heute noch vor. Und immer kam diese dämliche Begründung, ich hätte mich sonst nicht angepasst und wäre auf einer Hauptschule gelandet, weil ich kein Deutsch gekonnt hätte. Absoluter Mist. Einerseits konnte ich verstehen, weshalb sich manche schämten Ausländer zu sein. Die Wahrheit war eben die, dass sich in der Unterschicht die meisten Ausländer fanden und diese auch wohl die gewaltbereitesten waren. Vor allem solche zerebral degenerierten Arschlöcher wie Murat und seine Clique, welche mir gerade entgegenlief. Seitdem wir hierhergezogen waren, hatte mich dieser Penner in seinem Visier. Er war der archetypische, kleinwüchsige, dunkelhaarige, gelbzahnige, zurückgebliebene Dreckskanake, dessen einziges Talent darin bestand, mit seinen anderen Kanakenfreunden Schwächere rauszusuchen, welche sie bestahlen, erpressten, verprügelten und erniedrigten, um ihre berechtigten Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren. Und so standen sie vor mir. Es war nicht das erste Mal, aber dennoch hatte ich dieses mulmige Gefühl im Magen. Ein Gefühl welches aufkam, wenn man wusste, dass man jemandem ausgeliefert war. Murat war klein, aber dafür ziemlich kräftig. Er begrüßte mich mit einer leichten Ohrfeige. "Kartoffel, isch habe dir schon oft gesagt, du sollst nichts auf mein Gehweg suchen!" Damit wollte er sagen, ich sollte nicht den Bürgersteig benutzen. Ich antwortete mit zittriger Stimme: "Wie soll ich denn sonst Nachhause kommen?" Es war der Weg, der zwischen den Blocks zu mir Nachhause führte. Als Antwort auf meine Frage schlug er mir mit der flachen Hand über den Kopf. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen um hinzukommen. "Halt's Maul Opfer! Das kost dich jetzt was!" Ich hatte keinen Cent bei mir. "Ich habe aber kein Geld." Er packte mich am Kragen und musterte mich mit dem geschulten Blick eines Ganoven, auf Halsketten, Handy oder anderem Zeug, was einen gewissen Wert hatte. Aber ich trug nichts Wertvolles bei mir. Schnell checkte er auch meine Schuhe ab. Diese Penner schreckten auch nicht davor zurück, einem die Schuhe zu stehlen, wenn es Markenschuhe waren. Nachdem sie mir jedoch einmal ein neues Paar Nikes weggenommen hatten, hatte ich mir nur noch billige Schuhe besorgt, die sie nicht interessierten. "Fick dich du Opfer!" Er verpasste mir einen Schlag in den Magen und ich ging zu Boden. Nicht weil es weh tat, sondern vielmehr aus Angst. Zwei von ihnen packten mich, während Murat den Rucksack an sich nahm, ihn durchwühlte und dabei auch alle Bücher und Hefte auf dem Boden ausschüttete . Mein Glück war, dass sie eine Phobie gegenüber Schulsachen besaßen und diese auch nicht anrührten. Murat suchte lediglich nach Geld oder anderen Wertsachen. Er wurde zunehmend wütender, als er nichts von Wert fand, bis er den Umschlag mit den Arbeiten in die Hand bekam. Er schien sich unsicher zu sein, was es damit auf sich hat und blickte mich an. Und er hatte an meinem Gesichtsausdruck sofort erkannt, dass mir der Umschlag wichtig war. Ohne ihn, konnte ich Richard nichts präsentieren. Jeder könnte sich aufspielen und behaupten er hätte die Arbeiten verschwinden lassen, deshalb war es umso wichtiger, sie nicht zu verlieren, und genau diese Angst spiegelte sich in meinem Gesicht wider. Mit einem ekligen Lächeln öffnete er den Umschlag und schaute hinein. Das Lächeln verschwand, als er die Mathematikaufgaben zu sehen bekam. Mit einem enttäuschten Gesicht fuhr er mich an, die Blätter dabei wedelnd: "Was isch das für Scheiße?!" Am liebsten hätte ich ihm geantwortet: 'Das, du anatolischer Ziegenficker, ist etwas was dein haselnussgroßes Hirn niemals verstehen wird: Mathematik.' Stattdessen antwortete ich schlicht: "Mathe." Er zerknüllte die Arbeiten und schmiss sie mir samt Umschlag an den Kopf, dann beugte er sich über mich drüber. Sein Atem stank säuerlich. "Morgen, 50 Euro oder du bist dran!" Danach spuckte er mir ins Gesicht und wandte sich ab. Die anderen folgten ihm, nachdem sie mir verschiedene Ausdrücke an den Kopf warfen. Ich wischte es mir mit dem Ärmel aus dem Gesicht und blieb auf dem Boden sitzen. Ich hasste sie. Hätte ich eine Pistole gehabt, hätte ich sie alle erschossen. Aber mich selbst hasste ich mehr, weil ich so feige war. Jedes Mal nahm ich mir vor mich irgendwie zu wehren, aber wenn ich dann wieder in so einer Situation war, war ich wie gelähmt vor Angst. Auf allen Vieren machte ich mich daran mein Zeug wieder einzusammeln. Wenigstens hatte er nicht die Arbeiten mitgenommen. Sie waren zwar zerknüllt, aber ich hatte sie noch. Ich hörte Schritte auf mich zukommen. Es war ein älterer Mann. Ich erkannte ihn als meinen Nachbarn, der eine Etage unter mir wohnte. Er war auch ein Türke. Ich hatte noch nie mit ihm gesprochen. Ich schämte mich für meine Situation, es war unschwer zu erkennen, was gerade passiert war und dass mich dabei noch jemand sah, den ich kannte, machte es schlimmer. Schnell wandte ich mein Gesicht wieder zu Boden, um einem Blickkontakt zu entgehen und beeilte mich mit dem Einsammeln. Die Schritte verebbten neben mir. Dann sah ich wie er in die Knie ging und ohne etwas zu sagen mir dabei half die Schulsachen einzusammeln. Er drückte mir einen kleinen Packen Hefte in die Hände und schaute mich an. Keine Verachtung, keine Geringschätzung, nichts von dem was ich stets befürchte, lag in seinem Blick. Er gab mir klar zu verstehen, dass ich mich wieder aufrichten sollte und ich tat es. Der Mann ging weiter. Selbst jetzt hatte er kein Wort gesprochen, doch kein Wort wäre so tröstend gewesen, wie seine Geste. Ich nahm meine Sachen und ging weiter.

Ich ging sofort in mein Zimmer und sperrte ab. Meine Mutter kam natürlich nach einer Weile und klopfte an die Tür, aber ich wollte alleine sein und ich wollte auch nicht, dass meine Mutter erfährt, dass ihr Sohn verprügelt wurde. Ich konnte es bis jetzt vor meinen Eltern verbergen und würde es auch weiter tun. Meinen Vater würde es vermutlich nicht einmal interessieren, er hätte dann bestimmt so etwas gesagt wie 'Von dir habe ich auch nichts anderes erwartet, du Schlappschwanz!'. Meine Mutter wäre zur Polizei gerannt, aber das wäre vermutlich mein Todesurteil gewesen. Die Kerle würden mich danach in Stücke reißen. Nein, ich werde weiterhin das tun, was ich bisher immer getan habe: Ich werde versuchen ihnen auszuweichen. Zurückgelehnt saß ich in meinem Bürosessel und schaute durch das Fenster, während Musik aus meinen Computerboxen mich vergessen ließ. Allen Frust, alle Probleme, allen Hass.

Es war ein sonniger Tag draußen. Dieses Jahr war der Frühling besonders warm und manche Leute liefen bereits in kurzen Hosen herum. Ich beobachtete gedankenlos die Wolken am Himmel. Sie bildeten verschiedene Formen, die ich zu erraten versuchte. Jede Wolke hatte die Form eines Gegenstands, eines Tiers oder einer Person. Man musste nur genau genug hinschauen. Die nächste Wolke sah aus wie eine Giraffe. Eine weitere hatte die Form eines Baumes, der einen verkümmerten Ast herunterhängen hatte. Ich beneidete die Vögel die so nahe bei den Wolken flogen. Sie waren frei, konnten an jeden Platz der Welt fliegen und wenn irgendeine Gefahr drohte, schwirrten sie ab und blickten erhaben auf ihre Feinde herab. Ich hatte immer so einen Traum. In diesem Traum konnte ich fliegen. Es gab verschiedene Duplikate von mir, aber sie sahen nicht so aus wie ich. Sie hatten zwar die gleiche Form, aber man konnte nicht ihr Gesicht sehen; sie bestanden nur aus Schatten. Diese Schatten tauchten plötzlich überall auf und wollten mich erwürgen und ich versuchte ihnen davonzufliegen. Ich war aber in einem großen Raum, in dem es keine Fenster und Türen gab. Nur Wände. Ich drückte mich jedes Mal verzweifelt an die Decke, damit die Schatten mich nicht fassen konnten, doch sie streckten sich und streckten sich und griffen schließlich nach mir. Ich versuchte aus ihren Armen zu fliegen, aber jede Kraft verließ mich durch ihre kalte Berührung und sie zogen mich immer tiefer herunter, bis ich in ihrer Mitte war und erstickte. Das war die Stelle an der ich keuchend aufwachte. Ich hasste diesen Traum, er bereitete mir jedes Mal eine solche Angst, dass ich mich nicht wieder schlafen legen konnte. Eine Bewegung in meinem Augenwinkel riss mich aus den Gedanken. Meine Nachbarin, es war ein Mädchen um die 15 Jahre, stand am Fenster und goss ihre Blume. Sie hatte eine weiße Blume. Eine Narzisse? Ich wusste es nicht. Mit Blumen kannte ich mich nicht aus, weil sie mich nicht interessierten. Dafür umso mehr das Mädchen. Sie war blond und hatte große Brüste, was ich von meinem Fenster gut sehen konnte. Jedes Mal wenn ich sie sah, fragte ich mich wie ihr Arsch wohl aussah. Aber ich sah sie nur, wenn sie am Fenster stand und dann auch nur die obere Hälfte ihres Körpers. Ich mochte zwar einen großen Busen bei Mädchen, aber ihr Hintern war mir viel wichtiger. Er durfte groß sein, er durfte klein sein, aber er musste eine schöne Form haben und sollte fest sein. Immer wenn ich an Frauenärsche dachte, erinnerte ich mich an die 6. Klasse zurück. In jener Zeit begann ich Mädchen mit anderen Augen zu sehen. Ihre Körper wurden immer interessanter für mich und ich weiß noch heute, wie ich Janinas Arsch - sie saß vor mir - andauernd anstarrte und dabei eine solche Latte schob, dass ich dachte er würde gleich zerplatzen. Er platzte nicht, aber ich wurde an die Tafel gerufen … Meine Nachbarin blickte mir plötzlich in die Augen und ich zog verschreckt den Kopf ein, um aus ihrem Blickfeld zu kommen. Mir war sowas immer irre peinlich. Sie dachte bestimmt, ich sei ein perverser Spanner. Als ich wieder hinschaute, war sie weg. Ich war etwas enttäuscht. Ihr zuzuwinken oder einmal etwas zuzurufen hätte ich mich nie im Leben getraut, aber dennoch war ich traurig als ich sie nicht mehr dort stehen sah. Meine Gedanken kehrten zu Lea zurück. Ich hatte Schuldgefühle, dass ich an ein anderes Mädchen außer Lea dachte. Es kam mir dann immer so vor, als ob ich meine Liebe zu ihr verraten würde. War es eigentlich Liebe? Wenn ich sie sehe, zerspringt mir beinahe das Herz vor Begehren. Wenn sie geht, vergöttere ich ihre anmutigen Bewegungen. Wenn sie spricht, schaudere ich bei diesem wundervollen Klang, als ob es die Stimme eines Engels ist. Ja, ich liebe sie! In meinem ganzen Leben hat kein Mädchen diese Gefühle in mir hervorgerufen. Nichts hat je diese Gefühle in mir hervorgerufen! Ich musste sie haben und so widmete ich mich wieder meinem Plan und nahm den Umschlag mit den Mathearbeiten aus der Tasche und legte sie mir auf den Schoß. Morgen spreche ich Richard darauf an.

Die erste Stunde hatte ich Biologie. Richard hatte Biologie abgewählt, weshalb ich ihn erst zur zweiten Stunde sehen würde, wenn wir wieder Mathe hatten. Ich wusste immer noch nicht so recht wie ich ihn ansprechen sollte. Im Matheunterricht war es sowieso unmöglich. In der Pause wäre es zwar möglich, aber nur wenn er nicht bei der Elitengruppe stand. Ich konnte mir jetzt schon vorstellen wie ich mich vor Nervosität vor allen übergeben würde, wenn ich auf all die verächtlich dreinblickenden Augen zuginge. Nein, ich musste ihn abfangen bevor er zu seiner Clique stößt. Es läutete. Die Biologiestunde war zu Ende und ich machte mich auf den Weg zum Mathekurs. Der Raum war auch im Erdgeschoss, aber in einem anderen Flügel. Auf dem Weg dorthin, spielte ich immer wieder meine Begegnung mit Richard durch. Was war, wenn er wider Erwarten nicht erfreut darüber sein wird? Diesen Gedanken verwarf ich sofort. Wie verzweifelt er damals vor der Ex war, so konnte er nun gar nicht anders als froh darüber zu sein, außer er hatte sich beruhigt und ihm wäre es mittlerweile gleichgültig. Weiter darüber nachdenken konnte ich nun sowieso nicht mehr, da ich nun im Klassenzimmer war und Richard suchte. Er war noch nicht da. Erwartungsvoll heftete ich meinen Blick auf den Eingang. Der Raum füllte sich langsam, aber kein Richard in Sicht. Johannes trat ein. Ich spürte wie mir flau im Magen wurde als er mich ansah. Dass Johannes darüber Bescheid wusste, hatte ich ganz vergessen. Ich beruhigte mich aber, als mir die Erkenntnis kam, dass ich jetzt sowieso nichts mehr ändern konnte. Ich konnte nur noch in stiller Resignation abwarten was passiert. Wenn er mich verpfeift, dann war das die letzte Mathestunde auf dieser Schule. Frau Schmidt kam mit stechenden Schritten in das Klassenzimmer marschiert. Ihr hinterher, als letzter, Richard. Er schloss die Tür hinter sich. Allein an ihrem Gang merkte man, dass etwas nicht stimmte. Sie hat den Diebstahl bemerkt, dachte ich sofort. Mein Herz flatterte und ich musste mich konzentrieren, nicht all zu nervös zu wirken. Als sie zum Stehen kam und in die Klasse schaute, spürte ich, wie sich jeder Muskel in mir verkrampfte. "Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass mir die Arbeiten abhanden gekommen sind. Ich weiß nicht wie das geschehen konnte, aber ich finde sie einfach nicht mehr." Sie entschuldigte sich vor der ganzen Klasse, welche im ersten Moment gar nicht wahrnahm, was sie da eigentlich sagte. Ich tat mich schwer zu realisieren, dass sie dachte, sie hätte sie verloren. Aber als sie sich abermals entschuldigte, wurde mir klar, dass sie dachte sie sei wirklich selbst schuld am Verschwinden der Arbeiten. Die halbe Klasse jubelte. Allen voran Richard, welcher wie erlöst wirkte. Ihm war es immer noch wichtig gewesen. Aber Johannes jubelte nicht. Er saß einfach nur da und blickte starr nach vorn. Frau Schmidt hielt sich nicht länger auf und machte weiter mit dem Lehrstoff. Die ganze restliche Stunde erwartete ich, dass sich Johannes meldet und mich preisgibt, aber nichts dergleichen geschah. Auch nach dem die Stunde vorüber war, ging er einfach hinaus, anstatt Frau Schmidt anzusprechen. Er hatte es für sich behalten. Ich folgte Richard eilig. Überall um mich herum schwirrten Schüler aus ihren Klassenzimmern in die Pause hinaus. Stimmengewirr und Rumgehaste tobte um mich herum. Ich ließ mich davon nicht ablenken und behielt mein Ziel im Auge. Er peilte die dicke Säule in der Aula an. Dies war ein beliebter Treffpunkt für viele Schüler. Jeder wusste wo die dicke Säule war, man konnte sie gar nicht verfehlen. Sie war rund und bemalt. Verschiedene Bilder und Zeichen waren darauf zu sehen. Die Leute aus dem Kunstkurs tobten sich jedes Jahr neu an der Säule aus, weshalb sie ein sehr chaotisches Bilderpanorama bot. Richard wartete scheinbar auf jemanden und er war allein. Die Aula war nicht unbedingt der beste Ort dafür ihm die Arbeiten zu zeigen, aber so früh würde ich keine weitere Chance bekommen. Ich nahm den Umschlag mit den Arbeiten aus meinem Schulranzen heraus, packte meinen ganzen Mut zusammen und ging auf ihn zu. "Hey, Richard. Ich hab gesehen wie sehr dir die Ex zu schaffen gemacht hat und da hab ich gleich mal eine gute Tat vollbracht." Ich drückte ihm den Umschlag in die Hände und wandte mich sofort wieder von ihm ab, ohne auch nur einen Blick nach hinten zu werfen. Besser hätte ich es nicht machen können. Still lächelnd ging ich in die Pause hinaus.

"Nein, hast du nicht!" Leonard war absolut von den Socken, als ich ihm von meinem abenteuerlichen Raubzug erzählte. Er lachte mit vollem Mund. "Ich bin begeistert, Willy. Aber denkst du wirklich, die wollen mit dir befreundet sein, nur weil du mal eben einen aus ihrer Clique vor einer Sechs bewahrt hast?" Meine Augen visierten sie an. Das Mädchen für das ich das alles tat. Das Mädchen für das ich riskierte von der Schule zu fliegen: Lea. Und neben ihr stand Richard und hielt einige Blätter aus dem Umschlag in den Händen. "Nein, das nicht." Sie unterhielten sich offensichtlich über die Arbeiten. Plötzlich zeigte Richard zu mir herüber und alle Blicke der Eliten richteten sich nun auf mich. "Aber nun beachten sie mich." Leonard vergaß zu kauen als er ihre Blicke bemerkte. Ich blieb cool, aber ich spürte etwas, was ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Das Gefühl „Jemand“ zu sein.

Die Liga der Loser

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