Читать книгу Mit Engeln und Eseln - Andreas Knapp - Страница 7
Wie ein Engel aussieht
ОглавлениеEs war alles so schnell gegangen. Ganz überraschend jedoch war das Schreckliche nicht gekommen. Schon vor einigen Tagen kreisten Hubschrauber über dem abgelegenen Seitental des Großen Zab-Flusses. Die Kinder liefen auf die nahen Hügel, um die knatternden Monster zu sehen. Von dort oben konnte man bei klarem Himmel bis zum Cilo Dagi schauen, dem großen Berg, der schon jenseits der Grenze in der Türkei liegt. Nur von weitem, so erzählten die Kinder mit Begeisterung, hätten sie die donnernden Metallvögel gesehen. „Ob Engel so ähnlich aussehen?“, wollte ein Hirtenmädchen wissen. Doch die Erwachsenen schüttelten den Kopf. Die metallenen Ungeheuer waren für sie eher Teufel als Engel. Wie Engel aber aussehen, könnten sich die Menschen nicht vorstellen. Und Bilder von Engeln gebe es keine. Der Koran verbietet alle Bilder von Gott und seinen Engeln.
Ein paar Tage lang blieb es ruhig und alle hofften, dass die Unruhen ihr Dorf verschonen würden. Doch wenn das Ungetüm des Krieges einmal entfesselt ist, so kann es niemand mehr bändigen und es verschlingt alles. Mitten in der Nacht wurden sie aus dem Schlaf gerissen. Zuerst waren Schüsse zu hören. Dann Einschläge von Granaten. Einige Männer wussten sofort: „Panzer!“ Schon kurze Zeit später waren die rasselnden Geräusche der Ketten zu hören, die mit unheimlicher Geschwindigkeit talaufwärts näher kamen. Es gab kein elektrisches Licht in Kündö. Im Schein von Petroleumlampen packte man schnell das Kostbarste ein, um damit auf die umliegenden Hügel und von dort in die felsigen Bergtäler zu fliehen.
Naze war mit ihrem zweijährigen Mädchen auf den Armen losgelaufen, während ihr Mann Risgar noch ein paar Sachen zusammensuchte. Überall hörte man die Schreie der Dorfbewohner, die im Dunkeln wild durcheinanderliefen, um sich vor dem nahenden Unheil zu retten. „Naze!“, schrie Risgar, der aus der Hütte herausstolperte. „Hierher!“, hörte er die Stimme seiner Frau und lief auch schon los. Doch dann ein Blitz, ein lautes Krachen und die Druckwelle, die ihn zu Boden riss. Einen Augenblick lang lag Risgar wie tot. Sekunden später raffte er sich wieder auf und lief dorthin, wo Naze ihn gerufen hatte. Sie lag am Boden, die weinende Azade im Arm. Aber sie rührte sich nicht mehr. Als Risgar sie betastete, war ihr Kopf voller Blut. Sie war anscheinend von einem Granatsplitter getroffen worden. Risgar stand wie gelähmt vor Schmerz. Obwohl das Gedröhne der Panzer schon bedrohlich nahe gekommen war, rührte er sich nicht. Dann riss ihn das Schreien von Azade aus seiner Ohnmacht. Instinktiv griff er nach dem Kind, hob es auf die Schultern und lief in die Nacht hinaus. Er kannte die Hügel und die felsigen Täler auf der anderen Seite des Flusses. Er lief, ohne anzuhalten, weiter und weiter. Nach Stunden kam er an den Fuß eines Steilen Gebirges. Hier war er noch nie gewesen. Es dämmerte am Horizont, als er mit dem beschwerlichen Aufstieg begann.
Als Risgar in der darauffolgenden Nacht einen Bergkamm und damit die Grenze des Irak überschritten hatte, wanderte er noch lange, bis er endlich zu einem Dorf kam. Ängstlich schlich er sich näher, das erschöpfte Kind in seinen Armen. Als er die Leute in kurdischer Sprache reden hörte, weinte er vor Freude und Erschöpfung. Man nahm ihn auf und kümmerte sich um Azade. Hier war man an Flüchtlinge gewöhnt. Die wenigen Habseligkeiten, die Risgar gerettet hatte, musste er als Preis für die weitere Fahrt abgeben. Er wusste nicht, wohin es gehen sollte. Doch man hatte ihm gesagt, es sei ein Land, wo er in Sicherheit wäre.
Das Asylbewerberheim liegt im Leipziger Westen, an der Ratzelstraße. Mit Hilfe eines Dolmetschers wurde Risgar über seine Rechte und Pflichten als Asylbewerber aufgeklärt und dass er die Stadt Leipzig nicht verlassen dürfe, bis sein Asylantrag angenommen sei. Sein Fall würde jetzt von den deutschen Behörden bearbeitet. Nach allem, was er erzählt habe, stünden seine Chancen nicht schlecht. Allerdings müssten seine Aussagen jetzt erst einmal auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Und das könne dauern.
Risgar erlebte die Einquartierung und die zahlreichen Vernehmungen mit all den Papieren, die auszufüllen waren, wie einen bösen Traum. Er war innerlich noch gar nicht in seinem Gastland angekommen. Der schreckliche Überfall auf sein Dorf, der entsetzliche Tod seiner Frau, die abenteuerliche Flucht, die beständige Sorge um die kleine Azade, die oft weinte und nach ihrer Mutter rief, all das wühlte ihn so auf, dass das Neue noch gar keinen Raum fand. Doch er musste sich nun zwingen, das Vergangene loszulassen. Denn ihm ganz allein war jetzt das Leben von Azade anvertraut. Er spielte mit seinem Töchterchen, ging mit ihr spazieren und erzählte Geschichten aus Kündö und den Tälern des Großen Zab. Vielleicht redete er dabei auch viel mit sich selbst, vor allem, wenn er von Naze sprach. Er hatte seine Frau sehr geliebt. Und wenn er seine Tochter ins Bett legte, saß er oft noch lange neben dem Kind und schaute das unschuldige Gesicht an. Es war das Gesicht von Naze. Erinnerungen wurden wach und seine Augen feucht.
So vieles war ungewohnt an seiner neuen Umgebung. Als Erstes fiel Risgar auf, dass es hier schon früh dunkel wurde. So kurze Tage hatte er noch nie erlebt und er fürchtete sich vor der langen Dunkelheit. Dann bemerkte er, dass es in Deutschland fast keine Kinder gab. Bei ihm zuhause waren die Straßen immer voller Kinder. Aber hier sah man nur alte Leute. Eine Ausnahme gab es: die Familien im Asylbewerberheim. Sie kamen aus den verschiedensten Ländern und hatten Schweres erlebt. Doch alle hatten die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und daher wohl auch Kinder.
Beim Einkaufen nahm Risgar immer seine Tochter Azade mit. Er hätte sie auch bei einer Nachbarin aus dem Sudan lassen können, die hilfsbereit und freundlich war und selbst drei kleine Kinder hatte. Aber Azade hing sehr an ihrem Vater und klammerte sich ständig an ihn. So gingen die beiden bis zu einem großen Gebäude in der Stuttgarter Allee, das mit seiner Kuppel an eine Moschee erinnerte. Aber es war keine Moschee. Es war ein Tempel zum Einkaufen, ein riesiger Basar. Als Risgar das Einkauf-Center zum ersten Mal betrat, stand er wie betäubt in der großen Halle und starrte auf all die verschiedenen Geschäfte und Läden. Er hatte einmal den Basar von Mosul besucht. Doch was er hier sah, übertraf alle seine Träume. So viele Kleider, Schuhe, Bücher und Geräte, von denen er noch gar nicht wusste, wozu sie dienten.
Er ging nach links und rechts und zeigte Azade all die bunten Sachen, die hier ausgestellt waren. Dann entdeckten die beiden einen ganz besonderen Laden. Schon im Schaufenster leuchteten und glitzerten viele Dinge. Azade strahlte über das ganze Gesicht, als ihr Vater mit ihr zusammen das Geschäft betrat. Da gab es grüne Nadelbäume aus Plastik, über und über behängt mit schillernden Kugeln und glitzernden Fäden. Auf einem niedrigen Tisch standen bunte Kerzen und große Stofftiere, die wie Hirsche aussahen. Plötzlich riss sich Azade von ihrem Vater los und lief auf ein Regal zu, in dem bunt angemalte Holzfiguren standen. Azade griff nach einer kleinen hölzernen Frauenfigur, die Flügel hatte und in ihren Händen eine dünne rote Kerze trug, und drückte sie fest an sich. Risgar wollte seiner Tochter das Spielzeug schon wieder wegnehmen. Doch als er die leuchtenden Augen von Azade sah, brachte er es nicht übers Herz. Risgar freute sich an der Freude seiner Tochter, die in den letzten Wochen viel geweint hatte, und so bezahlte er die hölzerne Figur mit der dünnen Kerze.
Am anderen Tag kam die Sozialarbeiterin, Frau Krusche, zu Besuch. Als sie die kleine Holzfigur sah, lächelte sie und erklärte Risgar in gebrochenem Kurdisch: „Das ist ein Feriste, ein Engel.“ – „Ein Engel?“, staunte Risgar ungläubig. Noch nie hatte er einen Engel gesehen. Und er dachte: Wenn Engel so aussehen, dann war auch Naze ein Engel gewesen. Sie hatte zwar keine Flügel. Aber oft hatte sie in der dunklen Hütte die Petroleumlampe angezündet und dann hatte ihr Gesicht immer so warm und hell geleuchtet. Bei diesen Gedanken musste Risgar weinen und Frau Krusche wurde für einen Augenblick unsicher, ob sie vielleicht etwas Falsches gesagt hatte. Doch Risgar weinte und lächelte zugleich. Da ahnte sie, dass er sich an jemanden erinnerte und dass noch ein großer Schmerz über das Verlorene in ihm wohnte. Frau Krusche blieb noch eine Weile schweigend sitzen und Risgar war ihr dafür dankbar.
Am nächsten Tag hatte Risgar seine Tochter nun doch bei der Nachbarin gelassen, um ins Stadtzentrum zu fahren. Am Hauptbahnhof stand er an einer Ampel und wusste zum Glück schon, wie eine solche funktioniert. Auf einmal trat eine rote Gestalt neben ihn, ein alter gebückter Mann mit einem riesigen weißen Bart und einer Mütze, unter der das ebenfalls schon silbergraue Haar in langen Locken hervorquoll. Auf dem gebeugten Rücken trug diese Gestalt einen großen Sack. Risgar war einen Augenblick lang verwirrt und unsicher. Dann wollte er ganz spontan dem Alten dabei helfen, den schweren Sack über die Straße zu tragen. Doch der Alte zog den Bart etwas beiseite und ein junges, lachendes Gesicht kam zum Vorschein. Jetzt war Risgar völlig durcheinander. „Ein Betrüger, der sich als alter Mann verkleidet!“, fuhr es ihm durch den Kopf. Er folgte der roten Gestalt in sicherer Entfernung, um zu beobachten, was dieser Mann wohl im Schilde führte. Als der Alte schließlich in ein Kaufhaus trat, eilte Risgar hinterher. Er sah, wie der rote Mann auf einer fahrenden Treppe nach oben entschwand. Flugs war auch Risgar auf dieser ungewohnten Treppe, doch da sah er mit Entsetzen, dass der Alte auf der anderen Seite schon wieder herunterkam. Jetzt verstand Risgar die Welt nicht mehr. Eben erst war der rote Mann dort oben um die Ecke herum verschwunden, und jetzt war er schon wieder nach unten gefahren. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen! Als Risgar oben ankam, sah er den Alten dort oben stehen. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das waren zwei rote Männer gewesen! Es handelt sich also um eine Bande. Aber was führen diese Betrüger im Schilde? Risgar konnte sich keinen Reim darauf machen. Da sich die roten Männer jedoch im Kaufhaus so ungeniert bewegten, war ihm klar, dass sie mit dem Chef des Einkauf-Centers unter einer Decke stecken mussten. Vielleicht handelte es sich um eine Art von Wächtern oder die roten Männer sollten einfach nur die Leute ins Kaufhaus locken. Das gelang ihnen anscheinend ziemlich gut, denn die Kaufhalle war brechend voll und alle Leute hasteten mit schweren Taschen beladen hin und her.
Als Risgar am Nachmittag ins Asylbewerberheim zurückkam, empfing ihn seine Nachbarin schon an der Haustür. Die beiden konnten sich zwar sprachlich kaum verständigen, aber Risgar sah am Gesicht der Sudanesin, dass etwas vorgefallen war. Schnell eilte er mit ihr zu Azade, die mit hochrotem Kopf in ihrem Bettchen lag. Risgar tastete nach der Stirn seiner Tochter und stellte fest, dass das Kind hohes Fieber hatte. Er rief sofort Frau Krusche an und die Nachbarin, die schon sehr gut deutsch konnte, erklärte der Sozialarbeiterin am Telefon, was vorgefallen war. Bald kam ein Kinderarzt und stellte fest, dass Azade wohl eine Grippe hatte, zum Glück jedoch nichts Gefährliches. Das Kind müsse jetzt im Bett bleiben, viel trinken und vor allem ein bestimmtes Medikament bekommen. Er schrieb den Namen der Arznei auf einen Zettel und war schon wieder verschwunden.
Risgar war ganz in Sorge. Die Nachbarin erklärte ihm, er müsse jetzt mit dem Zettel in eine Apotheke gehen, um das Medikament zu holen. Sie würde in der Zwischenzeit gerne auf Azade aufpassen. Schnell machte sich Risgar auf den Weg zur Apotheke in der Ratzelstraße. Doch diese war bereits geschlossen. Überhaupt fiel ihm jetzt auf, dass alle Geschäfte schon geschlossen waren. Dabei war gar kein Wochenende. Risgar fühlte sich auf einmal so schrecklich fremd in diesem Land, dessen Bräuche er nicht kannte und wo alles neu und ungewohnt war. Er kam sich ganz hilflos vor in dieser Nacht, in der zwar überall bunte Lichterketten leuchteten, die zugleich aber so kalt und unfreundlich war. Er brauchte jetzt das Medikament für seine Tochter und wusste nicht, wo er es finden sollte.
Da fiel ihm auf, dass irgendwo doch noch Licht brannte. Es war kein Geschäft, sondern ein merkwürdiger Laden, in dem die Männer immer an hohen, runden Tischen Bier tranken. Das Gebot Allahs verbot den Alkohol und daher hatte Risgar diesen Laden noch nie betreten. Jetzt aber öffnete er zaghaft die Tür und trat ein. Die wenigen Männer, die an einem der Tische standen, drehten sich um. „Ein Kümmeltürke!“, rief einer verächtlich. Risgar verstand den Ausdruck nicht, doch der Tonfall sagte ihm, dass er hier nicht willkommen war. Er wollte sich schon wieder umdrehen, als ein anderer Mann ihn ansprach: „Willst du ein Bier mit uns trinken?“ Risgar schüttelte den Kopf und streckte dem Fremden den Zettel hin. Dieser überflog das Rezept. „Die Apotheke hat schon geschlossen.“ Dann wandte er sich an die Bedienung: „Gib mir mal die Zeitung! Wegen der Bereitschaftsdienste.“
Nach kurzer Suche hatte er herausgefunden, welche Apotheke am 24. Dezember abends geöffnet war. Der Fremde zahlte sein Bier und ging Risgar voraus, der ihm mit unsicheren Schritten folgte. Sie bestiegen die Straßenbahn und eine Stunde später standen die beiden vor dem Asylbewerberheim. Risgar hatte das Medikament in die Tasche gesteckt. Einen Augenblick lang zögerte der Fremde, dann ging er mit hinein und brummte: „Wer weiß, ob hier jemand den Beipackzettel verstehen kann!“
Nachdem der Fremde die Anweisungen gelesen hatte, gab er Azade zwei kleine Löffel von dem merkwürdigen Saft aus der braunen Flasche, die sie in der Apotheke geholt hatten. Dann löschte Risgar das Licht. Der Fremde wollte gehen, aber Risgar lud ihn ein, mit in die kleine Küche zu kommen. Dort holte er ein Stück Brot und Käse aus dem Schrank und setzte Wasser für einen Tee auf. Die beiden konnten sich nicht unterhalten. Und doch spürten sie beim gemeinsamen Essen, dass sie in dieser Nacht etwas verband. Ein Kind hatte sie zusammengeführt und irgendwie waren sie einander nicht mehr fremd. Risgar blickte dankbar in die Augen des Fremden. Doch dieser zuckte nur mit den Schultern und lächelte. Auch Risgar lächelte. Dann wollten sie noch einmal nach Azade sehen. „Vielleicht schläft sie schon“, sagte der Fremde und deutete auf den Holzengel mit der Kerze. Risgar verstand sofort. Sie würden kein Licht machen, sondern nur mit der Kerze in das Zimmer von Azade eintreten. Leise schlichen die zwei bis ans Bett des Mädchens. Azade schlief. Im warmen Kerzenschein sahen die beiden, dass Azade ruhig und tief atmete. Die beiden Männer sahen lange in das Gesicht des schlafenden Kindes und Risgar spürte, wie sich seine Sorgen lösten. Dann schaute er in das Gesicht des Fremden, der die Holzfigur mit der brennenden Kerze in der Hand hielt, und dachte: „Jetzt weiß ich, wie ein Engel aussieht.“