Читать книгу Inspektor Boureni - Madame Souhette - Andreas M. Riegler - Страница 6
Оглавление1. In der Ruhe liegt die Kraft
Hastend schreitet der Inspektor über den regenfeuchten Asphalt vor dem prunkvollen Gebäude. Die Treppen eilt er empor zu den mächtigen Säulen des Operngebäudes, die das sandsteinerne Dach über seinem Haupte stützen.
Geduldig dämpft er seine Zigarre aus und tritt durch eine weißgestrichene Bogentür in die große Halle, worin das Publikum ungeduldig wartet.
„Ah, Inspektor! Da sind Sie ja endlich!“
Doch der Inspektor winkt mit der Handfläche ab und schreitet weiter durch die überfüllte Eingangshalle in Richtung der Treppen. Ein paar Stufen tritt er empor, bevor er sich kurz räuspert und den summenden Ton aufgeregter Stimmen übertönt:
„Guten Abend, meine sehr geehrten Damen und Herren!“ Der Lärm mindert sich. Gespannte und gereizte Gesichter sehen lauschend zu ihm hoch.
„Mein Name ist Inspektor Alexander Boureni, ich bin von der örtlichen Polizei. Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten. Wenn Sie etwas Besonderes gesehen oder bemerkt haben, das mit dem Ableben des Barons in Verbindung stehen könnte, bitte ich Sie, dies einem unserer Beamten mitzuteilen, die sich an den Ausgängen positionieren werden. Sie sind nun entlassen. Vielen Dank!“
„Guten Abend, Herr Inspektor“, begrüßt ihn ein schwarzhaariger Herr mittleren Alters, auf dessen Oberlippe ein dichter Schnauzer sitzt. „Mein Name ist René Bouson, Operndirektor.“
„Herr Direktor, führen Sie mich bitte zum Tatort.“
„Gewissermaßen ist hier doch alles ein Tatort, habe ich nicht Recht, Inspektor?“, entgegnet er seiner Aufforderung mit einem Lächeln, um sein schmales Fachwissen zu vermitteln.
„So folgen Sie mir, Inspektor!“
Die Tür zur Loge steht offen. „Vielen Dank, Monsieur Bouson!“, sagt Inspektor Boureni, während er seine Melone vom Kopf nimmt und die letzten Regentropfen vom dunklen Samt klopft. Doch der Direktor fährt fort: „Zu schade um den Baron! Eine bereichernde Persönlichkeit. Weiß man denn schon, was es war?“ Seine neugierigen Versuchungen, Boureni Informationen zu entlocken, erweisen sich als erfolglos. Also tritt er von seiner Seite mit den Worten: „Naja, Sie wissen, wo Sie mich finden, Inspektor!“
Routiniert tritt Boureni in die Loge und betrachtet den Raum geduldig. „Was haben wir?“, fragt er die Männer in weißen Kitteln, die über den Leichnam gebeugt sind, während er mit konzentriertem Ausdruck die purpurroten Wände mit zart goldenen Verzierungen begutachtet, ohne den Verstorbenen auch nur eines Blickes zu würdigen.
Der Gerichtsmediziner richtet seinen Oberkörper auf und sieht zum Inspektor empor: „Ah, Monsieur Boureni! Ich dachte, Sie seien beurlaubt!“
„Ich brauche keinen Urlaub. Fahren Sie fort!“
„Alles sieht aus wie ein natürlicher Tod. Ein Herzinfarkt, möchte man vielleicht meinen. Aber bei genauerem Hinsehen …“
Er schiebt den karierten Hemdkragen, dessen oberster Knopf bereits geöffnet ist, zur Seite.
„Leuchtend rote Totenflecken“, fährt der Inspektor nachdenkend und flüsternd fort.
„Ganz recht, Inspektor! Sie wissen, was das bedeutet?“, fragt der Doktor mit einem Lächeln unter seinem grauen Schnurrbart.
In Gedanken versunken antwortet Boureni: „Er wurde vergiftet!“
„Ganz recht, Inspektor! Ganz recht!“
Der leidgetränkte Gesichtsausdruck des Barons berichtet schweigend von aller Qual. Seine schwarzen Haare sind streng zur Seite gekämmt. Sein schwarzer und dünner Oberlippenbart spricht für die Striktheit dieses Menschen. Seine Mundwinkel sind angezogen, als klage er noch immer über Schmerzen, von denen ihn der Tod erlöste.
„Wissen wir schon etwas über die Dosis?“, fragt Boureni nach.
„Ich schon! Auf jeden Fall war es zu wenig für den sofortigen Tod und zu viel für ein Überleben.“
Nachdem sich der Inspektor über das niedere und prunkvoll verzierte Geländer gebeugt und sich interessiert im leeren Raum umgesehen hat, wendet er seinen Blick und geht an dem Toten vorbei in Richtung des Ausganges. Da steigt er plötzlich auf einen Gegenstand. Er bückt sich und holt unter der Sohle seines feinsäuberlich gepflegten Lederschuhs ein breites, goldenes Armband hervor, das im Scheinwerferlicht der Bühne, auf der Arbeiter die Kulissen zur Seite stellen, zu funkeln und zu glänzen beginnt.
„Wo finde ich die Frau des Barons?“
„Sie ist im Flur bei den Kollegen?“
„Vielen Dank und gute Nacht, Doktor!“, verabschiedet sich Boureni.
„Als könnte das noch eine gute werden“, erwidert dieser spöttisch.
Von Tränen geplagt sitzt die Gattin des Barons im Flur auf einem Stuhl und wischt mit einem Taschentuch über ihr Unterlid. Zwei Polizisten wachen neben der trauernden Gestalt im Abendkleid und versuchen ihr Trost zu spenden.
„Guten Abend, Madame Roucheau! Mein Name ist Inspektor Boureni. Ich möchte Ihnen mein tiefstes Beileid zum Verlust Ihres Gatten aussprechen.“
Als wäre es ein Schauspiel, fährt die Gattin des Barons bei den mitleidsvollen Worten mit einem Taschentuch über ihre Wangen und fängt mit wehleidigem Ton zu sprechen an: „Haben Sie vielen Dank, Inspektor. Ich möchte nun nach Hause, um mich zur Ruhe zu legen. Ich kann all das noch nicht begreifen.“
„Das verstehe ich natürlich, Madame. Meine Kollegen werden Sie nach Hause begleiten.“
„Ach, Inspektor! Was geschieht nun mit meinem Mann?“
„Legen Sie sich erst einmal zur Ruhe. Morgen werde ich bei Ihnen gegen Mittag erscheinen und werde Ihnen alles erklären. Ah, Madame Roucheau! Da wir gerade dabei sind: Gehört Ihnen dieser Armschmuck?“
„Ganz recht, Inspektor! Ich habe den Verlust gar nicht bemerkt. Wo haben Sie ihn gefunden?“, fragt sie nach, während sie ihn entgegennimmt. An ihrem Hals glänzt eine breite Kette aus reinstem Gold.
„In Ihrer Loge, Madame. Eine ruhige Nacht wünsche ich Ihnen!“
Interessiert betrachtet er eine Türe am Ende des Flures, die in der Raumverzierung eingearbeitet ist und beinahe übersehen wird. Nur schmale Fugen und ein kleiner Riegel, mit dem das Schloss geöffnet werden kann, sind zu erkennen. Unbemerkt schiebt er den Riegel zur Seite, öffnet die Türe und schiebt sich durch den schmalen Spalt, den die Türe offen lässt, bevor er sie wieder hinter sich schließt. Er steht in einem einfachen Stiegenhaus. Hell ist es ausgeleuchtet und durch die alten Fenster scheint die Dunkelheit der Nacht alles in ein Schweigen zu versetzen. Gespannt folgt er der Treppe hinab. Links von ihm steht der Eingang eines prunkvollen, in Rot gehaltenen und mit dunklem Holz ausgekleideten Salons offen. Nur das Licht des Stiegenhauses dringt in den Raum und lässt alles darin erahnen. Notenständer und Notenhefte, Taktgeräte und Instrumentenkoffer kleiden den Teppichboden aus. Rechts der Treppe befindet sich eine schwere Feuertür. Er öffnet sie und blickt auf den unverkennbar schwarzen Bühnenboden. Schwarze Vorhänge ragen meterhoch in die Lüfte. Es macht ihm den Anschein, als würden sie trotz ihres schweren Gewichtes über dem Boden schweben, der mit zahlreichen Kreuzen und Linien bemalt ist, die an vergangene Vorstellungen erinnern. An vergangene Trauerspiele und verstummte Töne. An verflogene, gespielte Liebe und an verzweifelte Trauer, die mit schauspielerischer Kraft erzeugt wurde. Und alles, was davon blieb, so denkt er sich, sind ein paar aufgemalte Kreuze der Vergangenheit, die einem nichts mehr sagen, außer über Vergänglichkeit berichten, das ihr Schweigen so jämmerlich erscheinen lässt. Interessiert blickt er auf die Markierungen am Boden, die den Schauspielern Orientierung über ihre Position auf der Bühne bieten. Männer tragen mit hektischem Schritt die letzten Requisiten an ihm vorbei.
Der Inspektor richtet sich seine dunkle Krawatte zurecht und schreitet an den schwarzen Vorhängen vorbei. Sein Blick fällt in den großen Saal voll unbesetzter Plätze, in dem zuvor noch der Applaus durch die Mauern hallte.
Er sieht auf zur Loge, in der er zuvor noch stand. Das Scheinwerferlicht legt sich über seine Erscheinung wie ein erbarmender Schleier.
Es ist wohl ein eigener Traum, hier zu stehen vor all den Leuten, von Leid und Liebe zu erzählen und all das in lieblichsten Tönen. Eine Kunst, die man versteht und dennoch das Furchtbare nicht verblassen lässt.
Im Graben huschen die letzten Gesichter durch die Reihen und verschwinden über einen nieder liegenden Ausgang, wo sie mit der Dunkelheit eins werden.
Die Bühne, die wie ein einsamer Ort von vorne schien, scheint nun so voller Leben. An den seitlichen Wänden sind Balkone angebracht, auf denen Techniker auf den Zeitpunkt ihres Spieles warten. Und über ihm verlaufen Brücken über dem tödlichen Abgrund, neben denen Kulissenteile bedrohlich über seinem Kopf an Seilen hängen.
„Inspektor!“, ruft es von weit her. Der Operndirektor nähert sich ihm von der Seite, während er Anweisungen an die Männer gibt, die mit Müh und Not die schweren Teile von der Bühne hieven. „Bereiten Sie sich auf Ihren Auftritt vor oder versuchen Sie nur, gegen Ihr Lampenfieber anzukämpfen?“, fragt Monsieur Bouson mit einem Lachen.
„Bemerkenswert, Monsieur Bouson!“, gibt der Inspektor zu.
„Kurz zuvor ist hier noch Madame Souhette gestanden. Genau hier, wo Sie gerade stehen. Kommen Sie, Inspektor, ich stelle sie Ihnen vor!“
Bouson legt seine Hand auf Bourenis Rücken und führt ihn durch eine Tür zu einer weiteren Treppe, der sie hinabfolgen. Durch einen engen Gang führt er ihn. Eine Gruppe junger Ballerinen drängt sich an ihnen vorbei. Zuvorkommend nimmt der Inspektor seinen Hut vom Kopf und begrüßt die jungen Damen, während er sich seitlich an die Wand presst. „Guten Abend, die Damen!“ Geschwind hüpfen sie an ihm vorbei, wie eine Gänseschar, die stolz die Hälse in den Himmel streckt.
„Na kommen Sie, Inspektor!“, fordert ihn der Direktor auf.
Dieser steht vor einer schmalen Tür, auf der ein Zettel mit dem Namen der Madame klebt.
Verlegen klopft der Direktor dagegen und bittet freundlichst um Einlass, bevor er die Türe weiter öffnet und dem Inspektor den Eintritt gewährt.
„Madame Souhette, das ist Inspektor Boureni. Er ermittelt im Todesfall des Barons während Ihrer Vorstellung heute.“
„Sehr erfreut!“, fügt der Inspektor hinzu.
Doch sie sitzt stumm vor einem Spiegel, ohne sich umzudrehen. Das Licht der vielen Glühbirnen um den Spiegel leuchtet den Raum aus. Ihre geschwungene, braune und dichte Haarpracht strebt weit dem Boden entgegen.
Da kommt ihre Hand neben ihrem Kopf zum Vorschein und mit lockerer Handbewegung macht sie dem Direktor deutlich, den Raum zu verlassen.
„Sehr wohl, Madame Souhette. Einen schönen Abend noch!“
Mit einem verlegenen, ratlosen und zugleich fordernden Ausdruck sieht er den Inspektor an, der gerade mit einer Selbstverständlichkeit sein Jackett und seinen Hut an den hölzernen Kleiderständer neben dem Eingang hängt. Und im nächsten Moment schließt sich die Türe und der Inspektor weilt einige Momente in ratlosem Schweigen. Mit schnellen Blicken tastet Boureni das kleine Zimmer ab. Eine kleine Garderobe mit einem Schminktisch, einem Schrank und einem kleinen Waschbecken zum Frischmachen steht darin. Da wendet sich die Madame auf dem Drehstuhl in Bourenis Richtung und blickt mit einem sichtlich genervten Ausdruck in sein Gesicht.
Ihre Züge sind zart und lassen nichts von der Härte ihrer Art erahnen. Das Kleid ist weit ausgeschnitten und lockt den Blick eines jeden Mannes. Die üppige und dicke Maske klebt noch an ihren Wangen. Ein paar wenige Falten lassen die vergangenen Anstrengungen erahnen.
„Inspektor, nun tun Sie Ihre Pflicht! Ich habe nicht ewig Zeit!“, gibt sie in forderndem Ton zu verstehen.
„Sehr wohl, Madame! Ich habe einige Fragen an Sie! Haben Sie etwas Verdächtiges während der Vorstellung bemerkt?“
Müde belächelt sie seine Frage und gibt zur Antwort: „Inspektor, Sie haben wohl noch nicht begriffen, wie Oper funktioniert!“
Leicht neigt er seinen Kopf zur Seite und setzt den Stift schreibbereit an seinen Notizblock.
„Na gut“, fährt sie in ihrem fremdartigen Akzent fort. „Wenn ich auf der Bühne stehe, verspüre ich die Blicke nicht. Niemand sonst ist in diesem Raum, außer ich, Inspektor. Verstehen Sie? Oper ist nicht das Erzählen von Geschichten, wie es Großmütter vor dem Einschlafen tun. Oper ist das Leben von Geschichten. Oper ist das Fühlen der Liebe und der Verzweiflung. Was glauben Sie, was ich gesehen habe, außer den Tod, wie wir alle? Ob heute oder morgen, es trifft uns alle! Ob früher oder später, es macht am Ende doch keinen Unterschied.“
„Das sehe ich anders, Madame. Ganz und gar! Haben Sie den Baron gekannt?“
„Nein, ich kannte ihn nicht.“
„Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf“, drängt ihn seine Neugierde zu fragen.
„Aus Prag, der goldenen Stadt. Man nennt mich daher auch die Frau mit der goldenen Stimme“, antwortet sie mit stolzer Einbildung.
„Wo hielten Sie sich in den Pausen auf?“
„Inspektor“, sagt sie lachend. „Sie stellen doch kein Verhör mit mir an? Ich war hier in meiner Loge und habe meine Nerven beruhigt.“
„Womit?“, fragt er.
„Mit Stille, Inspektor. Stille ist die Nahrung der Seele. Das sollten Sie auch einmal probieren.“
„Ich habe keine Zeit dafür, ich habe einen Mordfall aufzuklären!“
„Mord?“, fragt sie entrüstet nach.
„Sehr wohl, Madame Souhette!“
Einen kurzen Moment hält sie inne und legt ihr Kinn an ihre Brust.
„Nun ja, das wird es wohl gewesen sein“, drängt der Inspektor zum Abschied hin.
Stumm nimmt er seine Kleidung vom Ständer und wünscht ihr eine gute Nacht.
Gerade, als er die Tür hinter sich schließen möchte, ruft sie ihm nach. Er öffnet die Tür erneut und tritt wieder in den Raum.
Mit schwingender Bewegung erhebt sie sich und nähert sich ihm. Mit Hingabe stützt sie ihre Hand an der Brust des Inspektors und flüstert ihm mit verführerischem Blick zu: „Sie glauben doch nicht, dass ich es gewesen bin?!“
„Welche Veranlassung hätte ich dazu?“, gibt er verdutzt zur Antwort.
„Ich verstehe nicht, warum es ausgerechnet heute passieren musste, bei der Premiere mit all den Kritikern!“
„Machen Sie sich keinen Kopf! Wie ich hörte, waren Sie fantastisch.“
„Oft spricht die Stille schon die Antwort. Denken Sie daran, Inspektor!“
„Sehr wohl, Madame!“
„Gute Nacht, Inspektor!“, fordert sie den Inspektor zum Gehen auf, während sie wieder vor dem Spiegel Platz nimmt und ihre Aufmerksamkeit von ihm abwendet.
Stumm tritt er aus dem Raum und schließt die Türe hinter sich. Einige Momente steht er davor und runzelt die Stirn mit angezogenen Augenbrauen. Still ist es geworden. Die Gänge sind leer und die Lichter im großen Saal sind erloschen. Nur noch die grellen Bühnenlichter leuchten den letzten Arbeitern den Weg. Die Loge, in der zuvor noch der Doktor war, ist leer und versiegelt. Sie haben den Baron bereits weggebracht. Das Schweigen der Nacht legt sich erbarmend über die Stadt. Nachdenklich setzt der Inspektor seinen Hut wieder auf und tritt ins Freie, wo die kalte Frühlingsluft, die nun vom Regen rein gewaschen scheint, seine müden Sinne belebt. In rätselhafter Stille wandert er der Nacht entgegen.