Читать книгу Sieben Tage - Andreas Marti - Страница 10

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Dienstag

…die Erinnerungen an die Ereignisse im Restaurant, aus den Tiefen seines Unterbewusstseins, zurück in das bewusste Denken. Der Zeitungsbericht erschien wie ein verwackeltes Polaroid Foto vor seinem geistigen Auge. Mountains… Er musste nach Mountains End.

Eine zerbrochene Flasche, über die Frank beinahe gestolpert wäre, holte ihn wieder aus dem Nebel seiner Gedanken. Frank versuchte sich auf seine Füße zu konzentrieren, die noch nicht immer das taten, was sie sollten. Doch ein blitzartiger Schwall aus losen Gedanken durchflog sein Bewusstsein. Wie komme ich nach Mountains End… Wo steht der Wagen… sollte ich ins Krankenhaus…? Was geschieht hier…? ”What the hell, I´m doing here?” ...wie Count Flat einmal sang.

Frank steckte seine Hände geistesabwesend in die Hosentaschen. Wo ist meine Brieftasche? Meine Schlüssel? Irgend so ein Affe muss mich beraubt haben, während ich ohnmächtig dalag… Mit der Brieftasche waren auch alle seine Ausweise verschwunden. Alles was hätte beweisen können das er Frank Marshall war. Alles was Frank in seinen Taschen fand war der Zeitungsausschnitt.

Wo verdammt noch mal habe ich meinen Wagen abgestellt…? Man sollte in einer Stadt wie L.A. nicht seinen Wagen verlieren…

Als wäre er plötzlich von einer Macht erleuchtet worden, als hätte Frank in diesem Moment eine Antwort auf alle Fragen dieses Universums erhalten, blieb Frank Marshall stehen. Er riss die Augen so weit auf wie er konnte und atmete die kühle Nachtluft mit einer Intensität ein, als hätte er seit Jahren keinen solch ehrlichen, richtigen Zug Sauerstoff eingeatmet… Ein Lächeln formte sich auf seinen Lippen. Er wusste was zu tun war.

Frank irrte durch die unwirklichen Straßen. Der verzerrte Lärm des Verkehrs wurde immer lauter. Nach einer Weile wandelte sich die Nebenstraße zu einer Art Hauptstraße. Der Lärm, die vielen Autos… Eindrücke… Zu viele Eindrücke… Schwirren… Drehen… …Dröhnen… …das hektische Treiben schien ihn zu erdrücken. Fast hätte ihn eine weitere Benommenheit in ihren Mantel eingehüllt. Die Autos und ihre Scheinwerfer schienen bloß weiße und rote Linien zu sein. Der Lärm des Verkehrs schien zu einem einzigen Geräusch zu verschmelzen. Instinktiv torkelte er an den Straßenrand. Verzerrt… Von weit her… schienen die hupenden Autos GEH WEG zu schreien. Ein alter, grüner Gremlin kam mit unerträglichem Quietschen direkt hinter Frank zum Stehen.

»Oh mein Gott. Sind sie verrückt? Sie können sich doch nicht einfach auf die Straße legen«, schrie die aus dem Fahrzeug gesprungene Fahrerin des Gremlins. Doch ihre Hysterie ging vom ersten Schock in eine große Unsicherheit über.

»I.. ist a… alles in Ordnung mi… mit Ihnen? Fehlt ihnen etwas?« Sie bückte sich über Frank. Dabei verrutschte ihre Brille.

»Ich muss nach Mountains End… Mountains End… Bitte… Hilf mir…«, stöhnte Frank in seinem Delirium. Panik brach bei der jungen Fahrerin aus. Ihre Blicke schweiften nervös über den an ihnen vorbeirasenden Verkehr. Es erschien ihr in diesem Moment als das Beste, sie und ihren Patienten weg von der Straße zu bringen. Weshalb sie Frank mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft aufhalf und ihn auf die Rückbank ihres Gremlins legte. Aus Angst von einem Auto erfasst zu werden, stieg sie über die Beifahrertür ein und kletterte auf den Fahrersitz. Als sie den Wagen startete und anfuhr vollführte der Wagen einen ruckartigen Sprung und starb ab. Sie startete den Wagen erneut und brachte ihn mit einem Ruckeln zum Rollen. Tränen rannen ihr über die Wangen. Hätte sie Schminke getragen, wäre sie jetzt verschmiert.

Frank war inzwischen wieder weggetreten - und in die Traumwelt eingetreten. Er schlief…

Frank saß an seinem Schreibtisch. Diesem Designermodell. Er lass die Überschrift des grünen Formulars das er in seinen Händen hielt. Grün. Grün waren die weniger brisanten Fälle. Die Unwichtigen, bei denen die Chancen auf einen Betrug eher gering waren. Oder solche bei denen es sich nur um einen geringen Betrag und somit um einen geringen Verlust für die Firma handelte.

»Steinschlag… Frontscheibe…«, murmelte Frank während seine Augen über die Zeilen huschten. Er legte das Formular auf seine Schreibtischunterlage, die einen Sandstrand, das Meer und Palmen zeigte. Es war eines dieser Motive, welche man normalerweise auf Puzzles findet.

Er nahm einen Schluck von dem kalten Kaffee und rückte seinen Hefter neben dem Schreibgestell zurecht. Frank lies seinen Blick über den Schreibtisch und schließlich durch das ganze Büro wandern. Über die Berge von Akten, den Schränken voll Akten und all den anderen losen Unterlagen, die sich sogar am Boden auftürmten. Doch seine hohe Stellung hatte auch sein Gutes. Er hatte zum Beispiel sein eigenes Büro. Die meisten Mitarbeiter mussten in irgendwelchen Boxen in riesigen Räumen ausharren. Wie Pferde werden sie da hinein gepfercht. Auch seine Karriere hatte in so einer Box begonnen.

Frank erstarrte als das Telefon klingelte. Als er sich vom Schreck erholt hatte, sah er auf das Display des Telefons. Der Schriftzug Home blinkte darauf. Seine Frau rief an. Schließlich nahm er den Hörer ab und meldete sich mit einem freundlichen: »Hallo Sarah.«

»Hi, Frank. Ich wollte dir nur sagen das ich die Ramleys heute zum Essen eingeladen habe. Sie kommen so gegen Acht.«

»Okay, Schatz«, antwortete Frank mit einer inzwischen gespielten Freundlichkeit. Er konnte die Ramleys nicht leiden. Er hasste Mr. Ramleys verdammte Angleranekdoten und seine verzweifelten Versuche humorvoll zu wirken. Und diese ewig nörgelnde Mrs. Ramley. Immer und an verdammt noch mal allem hat sie etwas auszusetzen. Außer sie erzählt von ihrer scheiß Teddybärsammlung.

»Kannst du mir bitte noch einen halben Liter Sahne vom Laden mitbringen, Frankie?«

Frank richtete seine Augen auf die Wanduhr. Gleich Zwölf. Mittagspause. Schließlich antwortete er mit seiner freundlichsten Stimme: »Natürlich Schatz. Okay, ich muss Schluss machen. Ich habe noch eine Menge Arbeit vor mir, wenn ich heute Abend rechtzeitig zu Hause sein will. Bis dann, ich liebe dich.« Mit diesen Worten legte Frank den Hörer auf und verließ sein Büro. Er durchquerte den Raum mit den Boxen und betätigte am anderen Ende dieses trostlosen Raumes den Knopf für den Lift. Mit dem gewohnten BING öffneten sich nach einer Weile die Türen des überfüllten Lifts. Frank betrachtete die Menschenmenge und schielte verunsichert auf das Aluschild mit dem zugelassenen Maximalgewicht. Mit einem Seufzer betrat er den Lift und die Türen schlossen sich.

Die Luft war erfüllt von einem Gemisch aus Parfum, Aftershave und Schweiß. Die Fahrt runter in die Cafeteria schien heute eine Ewigkeit zu dauern. Irgendwann zwischen dem 15. und 14. Stockwerk vernahm Frank ein seltsames Geräusch. Es klang wie ein immer näher kommendes Hupen. Er fasste sich an die Ohren um sich zu vergewissern ob mit seinen Hörorganen etwas nicht stimmte. Die Menschen um ihn herum warfen Frank kritische Blicke zu. Das Hupen wurde immer lauter, bis es schließlich alle anderen Geräusche verschluckte. Nur übertroffen von dem Dröhnen in seinem Schädel. Das Monster war zurückgekehrt. Alle Erinnerungen außerhalb seiner Traumwelt kehrten ebenfalls zurück. Seine Sicht verschwamm erneut und…

…er wurde von dem Hupen des vorbeibrausenden Trucks geweckt. Das grelle Tageslicht blendete ihn. Die nachträglich montierte Uhr am Armaturenbrett zeigte zwei nach Zwölf Uhr Mittags.

»Hi«, begrüßte ihn die Fahrerin zu seiner Rückkehr in die reale Welt, »sie hatten wohl keine Gute Nacht. Sie haben die ganze Zeit zusammenhang-loses Zeug geredet.«

»Na ja. Von einer guten Nacht kann nicht die Rede sein. Ich war… ich war zurück. Sogar die Uhrzeit stimmte…«

»Wo von sprechen sie?«

Frank richtete sich langsam – dies schien der Beginn des fast endgültigen, unumgänglichen Endes seines bisherigen Lebens zu sein - auf der Rückbank des Gremlins auf, bevor er antwortete: »Egal. Wo sind wir?« Die Fahrerin drehte sich zu ihm um und er konnte das erste Mal das Gesicht seiner Retterin sehen. Sie war kaum älter als sechzehn und fuhr wahrscheinlich erst seit kurzem Auto. Sie hatte strähniges, dunkles Haar und auf ihrer Nase saß eine Brille, dessen Bügel sie hinter ihre leicht abstehenden Ohren geklemmt hatte. Doch im Gesamten hatte sie ein sympathisches, hübsches und freundliches Gesicht. Mit einem breiten Grinsen entgegnete sie ihm: »Zuerst möchte ich ihren Namen wissen. Schließlich darf man nicht mit Fremden reden.«

»Frank. Mein Name ist Frank«, antwortete Frank und fuhr nach einer kurzen Pause fort, »aber Fremde auf der Straße auflesen findest du intelligenter?«

»Alicia.« Mit diesen Worten und einem noch breiteren Grinsen streckte sie ihm die Hand hin. Frank schüttelte sie zögernd.

»Wir befinden uns zehn Meilen hinter der kalifornischen Bundesgrenze. Sie haben gesagt, dass sie nach Mountains End wollen. Stimmt’s?

»Ähm… ja. Genau.«

»Ich glaube, in Colorado gibt es so einen Ort. Ich glaube wir haben in der Schule etwas darüber gelernt. Irgendwas über eine riesige Umwelt-katastrophe, oder so.“ Als hätte sie damit gerechnet, dass Frank etwas dazu sagen würde, machte sie eine kurze Pause. Doch Frank schwieg und Alicia fuhr schließlich fort: „Ich fahre nur bis Las Vegas. Aber bis dort können sie mitfahren.«

»Aber nur wenn sie mir ihre Geschichte erzählen«, fügte Alicia an. Frank ignorierte ihren letzten Satz und beugte sich zwischen den zerrissenen Sitzen nach vorne. Er vernahm den unappetitlichen Geschmack von abgestandenem Rauch.

»Hast du eine Zigarette für mich?«

»Aber klar.« Alicia griff zu den Zigaretten auf dem Beifahrersitz und bot ihm das Päckchen an.

»Nimm dir eine.« Frank griff nach der Schachtel und zog sich eine Zigarette aus dem Päckchen. Alicia hatte bereits den Zigarettenanzünder betätigt.

»Gibst du mir auch eine? Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren. Steck sie mir bitte gleich an« Er steckte sich beide Zigaretten in den Mund und lehnte sich weiter nach vorne zu dem Anzünder. Als beide Zigaretten brannten, reichte er eine davon Alicia und verstaute den Anzünder an dem vorgesehenen Platz.

»Weißt du was?« brach Alicia das Schweigen. »Ich werde beim nächsten Motel halt machen. Ich bin die ganze Nacht durchgefahren. Vorhin haben wir ein Schild passiert das ein Motel ankündigt hatte. Wir müssen noch ein paar Meilen fahren. Aber ich glaube wir sind bald da.«

»Von mir aus.«

»Und deine Geschichte kannst du mir dann am Abend, nachdem ich etwas geschlafen habe, erzählen.«

Am Wagen glitt karge Wüste vorbei. Nur unterbrochen von Kakteen und riesenhaften Felsformationen in der Ferne. Die Mittagssonne brannte heiß auf den stumpfen, staubigen Lack des Gremlins. Weit und breit keine Zivilisation. Kein Lebewesen schien sich in diese Gegenden zu wagen. Mit Ausnahme von Frank und Alicia.

Nach einer Weile verlangsamte das Fahrzeug und Alicia bog in die Einfahrt eines Motels mit dazugehöriger Tankstelle ein. Sie parkten den Wagen auf dem kleinen Parkplatz, direkt vor dem Motel. Alicia und Frank stiegen aus dem Gremlin und machten sich auf den Weg zur Rezeption. Frank war immer noch etwas unsicher auf den Beinen. Alicia wollte gerade das Gebäude betreten als Frank rief: »Alicia. Warte.«

»Was ist?«

»Ich habe kein Geld. Mir wurde die Brieftasche gestohlen.«

»Kein Problem. Für eine Nacht wird mein Geld reichen. Und morgen bin ich bere…«

»Und ich will mich nicht ausruhen. Ich habe die ganze Nacht bei dir im Wagen geschlafen«, unterbrach Frank sie.

»Du hast selbst gesagt, dass du nicht besonders gut geschlafen hast. Jetzt hab dich nicht so. Ich bezahle.« Widerwillig akzeptierte Frank und folgte ihr zur Rezeption.

Norman Bate´s Motel… dachte Frank. Sie betraten die heruntergekommene Absteige und fanden sich in einem sterilen, kargen Raum wieder. Ein paar verstaubte Porträts und eine verdorrte Pflanze auf der Theke stellten einen verzweifelten Versuch dar, den Raum etwas freundlicher zu gestalten. Selbst der übelriechende Perserteppich war geschmacklos. Frank bemerkte, dass sich fast alle Zimmerschlüssel am Schlüsselbrett befanden. Scheinbar war das Motel nicht besonders gut besucht.

Nachdem eine Weile niemand auftauchte, betätigte Alicia die abgenutzte Klingel auf der Theke. Die Tür zum Hinterzimmer öffnete sich mit einem Knarren und wider Franks Erwartung trat nicht Norman Bates an die Theke, sondern eine ältere Dame. Ihre Kleider waren noch geschmackloser, als der Empfangsraum. Sie trug ein weißes, mit braunen, kleinen Blumen durchzogenes Kleid. Die Füße hatte sie in enge hochhackige Schuhe gezwängt. Auf ihrem Kopf saß eine zerzauste, über die Jahre ergraute Haarpracht. Die alte Dame war kaum größer als ein Zwölfjähriges Kind.

»Wie kann ich ihnen behilflich sein?«, piepste die alte Dame und ging sogleich in einen etwas unappetitlichen Hustenanfall über. Sie wischte sich den Sabber mit ihrem seit längerem ungewaschenen Stofftaschentuch aus den Mundwinkeln und ließ ein kaum hörbares Räuspern verlauten.

Alicia musterte sie mit einem angewiderten Blick und antwortete schließlich: »Wir brauchen ein Doppelzimmer für eine Nacht.« Die alte Dame hinkte zum Schlüsselbrett. Frank empfand fast so etwas wie Mitleid.

»Ich schaue nach ob etwas frei ist«, piepste sie erneut. Als hätte sie sich noch nicht mit dem Gedanken abgefunden, dass die Glanzzeiten ihres Motels längst vorbei waren. Früher war dieses Motel ein beliebtes Trucker Hotel gewesen. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Die Uhr tickte schneller als in der Vergangenheit. Die Lieferzeiten für die Waren wurden immer kürzer. Ein Trucker musste wenn möglich die ganze Strecke durchfahren, um sich an die Termine halten zu können. Sie konnten sich höchsten ein kurzes Nickerchen im Truck leisten.

Die alte Dame nahm die Schlüssel für Zimmer 16 vom Brett und musste sich strecken um an sie heran zu kommen. Mit den Worten, dass sich das Zimmer am Ende des Gebäudes im ersten Stock befände, übergab die alte Dame Alicia die Schlüssel mit der goldfarbenen Plakette und der eingravierten Zahl 16. Alicia´s Mund fühlte sich trocken an. Sie formte ein knappes Danke mit ihren Lippen. Frank hatte während der ganzen Zeit geschwiegen und das ganze Schauspiel aus einer gewissen Distanz betrachtet. Das ursprüngliche Mitleid ging in ein schwaches Lächeln über, als sie die Rezeption verließen. Sie gingen an dem Parkplatz vorbei, zu der Außentreppe am Ende des Gebäudes. Die Sonne brannte immer noch erbarmungslos. Das Motel war eines von der Sorte, bei denen man sein Zimmer über einen Balkon von außen bezog. Die Zimmer waren auf drei Ebenen verteilt. Je acht pro Stockwerk. Er holte zu Alicia auf. Seine Beine funktionierten allmählich wieder besser.

»Tut mir Leid dass das Geld nicht für zwei Einzelzimmer gereicht hat«

»Unwichtig. Ich habe sowieso nicht vor zu schlafen.«, entgegnete Frank. Alicia beließ es diesmal bei seiner Aussage und verkniff sich einen Kommentar. Sie stiegen die Stufen am Ende des Gebäudes hinauf und standen unmittelbar vor Zimmer 16. Alicia schloss die Tür auf. Nach mehrmaligem Rütteln und einem gewissen Kraftaufwand, gab die verklemmte Tür nach und gab die Sicht auf einen kleinen, noch kahleren Raum frei. Ein kleiner Fernseher ohne Kabelanschluss befand sich in der einen Ecke. An der Wand stand ein Doppelbett, mit einem darüber befestigten kleineren Bett. Bei genauerer Betrachtung handelte es sich dabei um ein Kinderbett das gerade mal bis 20 kg zugelassen war. »Scheint etwas enger zu werden heute Nacht«, bemerkte Alicia mit ausdruckloser Stimme. Frank setzte sich vorsichtig auf das Bett, als könnte es jeden Moment zusammenbrechen. Stille… Scheinbar ewige unerträgliche Stille…

Schließlich begann Frank langsam die Worte zu artikulieren, die ihm auf der Zunge lagen. Die Worte die er längst hätte sagen sollen: »Danke… Ich möchte mich bei dir bedanken, dass du mich mitgenommen hast als ich auf der Straße lag…«

»Kein Problem.« Alicia setzte sich auf die andere Seite des Bettes. »Schließlich wird meine Belohnung eine gute Geschichte sein.« Frank verspürte nicht die allergeringste Lust, Alicia die Geschehnisse der letzten Tage zu schildern. Schließlich konnte er selber kaum fassen was geschehen war. Er hatte in den vergangenen zwei Tagen sein gesamtes bisheriges Leben verloren. Seine Frau, seine Arbeit. Einfach alles an dem er hing. Alles das ihm wichtig war, wurde wie durch ein einfaches klatschen in die Hände weggeblasen. Als wäre sein bisheriges Leben bloß ein unendlich langer Traum gewesen aus dem er jetzt endlich aufwachte. Oder schlief er ein? Glitt er langsam in einen Traum, einem Traum ohne Ende? Einem Alptraum? Doch das war jetzt unwichtig. Er musste nach Mountains End. Sein körperlicher Zustand schien sich gleichermaßen wie seine geistige Gesundheit zu verschlechtern. Es fiel ihm zusehends schwerer einen klaren Gedanken zu fassen. Doch manchmal wusste man einfach dass man Etwas tun musste. Auch wenn es unlogisch war, auch wenn einem jeder Mensch bei klarem Verstand davon abraten würde, man musste es tun. Nur man selbst begreift wieso, kann es verstehen. Denn kein anderer Mensch fühlt und empfindet in einer solchen Situation das Selbe. Würden sie… könnten sie gleichermaßen empfinden, würden sie es verstehen… Sie würden. Es würde zu etwas logischem werden. Doch das war jetzt unwichtig, er musste nach Mountains End…

»Ich lege mich jetzt hin«, teilte ihm Alicia mit.

»Ich geh Zigaretten holen…« Mit diesen Worten verließ Frank das Zimmer. Er befand sich draußen, bevor Alicia etwas erwidern konnte. Mit einem Klicken schnappte die Tür ins Schloss.

Frank hatte sich längst entschieden hier abzuhauen. Der Drang, um jeden Preis weiter zu reisen übermannte das schlechte Gewissen, das aus einem kleinen Teil seines Herzens entsprang, da er seine Retterin ohne ein Wort in dem schäbigen Zimmer zurückließ. Frank hätte sich nicht als rücksichtslos oder gar egoistisch bezeichnet. Er war nicht rücksichtslos, er war kein Egoist. Doch er musste weiter, und Alicia hatte keinen Platz in seiner Geschichte. Wie ein Schriftsteller, der eine Figur aus seinem Roman kickt, weil sie einfach nicht in die Geschichte passt.

Als Frank am Fuße der Treppe ankam ging er in Richtung der Sanitäranlage, die in einem separaten Gebäude untergebracht war. Im selben Bauwerk auf der gegenüberliegenden Seite befand sich der Tankstellenshop. Er ging um das Gebäude herum und betrat es. Drinnen war es angenehm kühl. Der Shop schien besser zu laufen als das Motel. Er war voller Menschen. Trucker, Familien und Geschäftsleute die auf der Durchreise waren. Franks Hals fühlte sich rau von der Hitze und der trockenen, staubigen Luft in dieser Wüste an. Er ging zum Kühlregal und nahm sich eine eisgekühlte Flasche Coca Cola. Nicht eine dieser Plastikflaschen, worin die Coke nur noch nach mit Kohlensäure versetztem, abgestandenem Zuckerwasser schmeckte. Nein, es war eine Flasche aus Glas; für Frank die einzig wahre Coke.

Erfüllt von Vorfreude ging Frank zu der kurzen Schlange an der Kasse. Er überlegte sich, dass das Motel vielleicht einzig durch den Shop finanziert wurde. Erst als Frank an die Reihe kam und in seinen Taschen nach seiner Brieftasche suchte, erinnerte er sich wieder daran, dass sie ihm gestohlen worden war. Er war es gewohnt, dass er sich immer auf seine Kreditkarten verlassen konnte, und jetzt besaß er nicht einmal verdammte 90 Cent um diese Flasche zu bezahlen. Als dem Kassierer, wahrscheinlich der Ehegatte der Dame an der Rezeption, bewusst wurde, dass Frank sein Geld nicht fand, legte er seine Stirn in Falten.

»Äh, ich hab wohl meine Brieftasche in meinem Zimmer liegen lassen«, log Frank. »Kann ich die Flasche mitnehmen? Ich hole nur schnell meine Brieftasche.« Der Kassierer ließ ein leises Knurren verlauten und musterte Frank für einen Augenblick. Schließlich artikulierte er ein knappes Na gut. Einerseits enttäuscht wie einfach die Lüge über seine Lippen ging, andererseits erleichtert, dass diese so gut funktioniert hatte, lächelte Frank schwach und bedankte sich höflich. Er ging an den anderen Kunden vorbei in Richtung Ausgang und versuchte nicht schneller als normal zu gehen, damit niemand Verdacht schöpfte. Doch die Menschen beachteten ihn gar nicht und waren nur froh wenn sie an die Reihe kamen. Die meisten sahen ausgelaugt oder genervt aus. Ein Vater versuchte seine vierjährige Tochter zum Schweigen zu bringen. Mit von den Tränen völlig verquollenen Augen schrie sie so etwas wie Abe ich wll… ic will… Der einzige scheinbar zufriedene Mensch in diesem Shop war ein älterer Herr. Er trug zu große, alte Jeans und ein rot-schwarz kariertes Flanellhemd. Und eine schwarze Baseball Mütze mit der verschnörkelten Aufschrift Hawaii auf der Vorderseite. Bei genauerem hinsehen schien der Mann sehr alt zu sein. Er machte den Eindruck, als hätte er die letzten fünfzig Jahre nichts anderes getan als Waren zu ihrem Bestimmungsort zu transportieren. Er war eindeutig ein Truckfahrer.

Draußen machte sich Frank mit seiner Coke an dem Flaschenöffner, der neben dem Eingang angebracht war zu schaffen. Mit einem lauten Zischen gab der Deckel nach und die Flasche war offen. Jetzt war sie seine, niemand konnte sie ihm mehr wegnehmen. Frank nahm einen kräftigen, langen Schluck. Er musste dabei ausgesehen haben, wie der Typ aus der Coca Cola Werbung. Frank rang nach diesem Schluck nach Atem. Als sich seine Atmung normalisierte ging er nach links weg, um den Anschein zu erwecken, er ginge auf sein Zimmer, um die Brieftasche zu holen. Doch er blieb um die Ecke, an die Wand gelehnt stehen und nahm einen weiteren, langen Schluck. Von hier aus konnte er das Motel sehen. Plötzlich durchfuhr ihn die Angst das Alicia ihn sehen könnte. Vielleicht würde sie Verdacht schöpfen und ihm sogar folgen. Von diesem Gedanken getrieben blickte er vorsichtig um die Ecke und beobachtete durch die große Glasfront des Shops den Kassierer. Dieser war gerade in ein Gespräch mit einem Kunden vertieft. Jetzt oder nie.

Frank eilte zu den Zapfsäulen in Richtung Parklatz. Diverse Trucks waren auf diesem Platz abgestellt und warteten gehorsam auf ihr Herrchen. Frank ging an den Lastern vorbei, auf der Suche nach einem der nicht leer war. Von Zeit zu Zeit versuchte er in einen besonders groß gebauten Truck hinein zu spähen. Er hatte zwar in seinem Leben – in seinem alten, vergangenen Traumleben – nie besonders viel mit diesen lauten, stinkenden Trucks anfangen können, fand aber trotzdem großen Gefallen an dem einen. Der Anhänger war mit dem Bild eines mit Wolken durchzogenen Himmels bemalt. Er schien mit dem realen Himmel zu verschmelzen. Dieses Bild war übersät mit kleinen Lichtern, welche wenn man sie bei Nacht anmachte, den Hänger wie einen wunderschönen Sternenhimmel aussehen ließen. Es war kaum zu glauben wie sauber poliert der Truck bei dieser schmutzigen Luft war. Ringsherum staubige, alte Lastwagen die traurig herumstanden. Und mitten drin dieser glänzende, ja fast strahlende Truck.

Auf der Beifahrertür entdeckte Frank einen dort angebrachten verchromten Schriftzug der Marylin lautete. Frank versuchte zum wiederholten Mal einen Blick in die außen königsblau lackierte Fahrerkabine zu werfen.

»Hey«, rief ein älterer Mann der gerade vom Shop zurück kam, »was machen sie mit meinem verdammten Laster? Hattest du Dreckskerl vor mir meinen Laster zu stehlen?«

»Nein. Nein ich habe ihren Truck bewundert, ich wollte in doch nicht stehlen«, erklärte Frank verblüfft. Der ältere Herr kam näher und Frank erkannte die Mütze mit der Hawaii Aufschrift. Bei dem Mann handelte es sich um den uralten Trucker aus dem Shop.

»Ach so. Tut mir Leid. Aber in dieser Gegend muss man mit allem Rechnen. Und sie können sich vorstellen das meine alte Marylin eine Menge neidischer Blicke auf sich zieht.«

Der Truckfahrer musterte Franks zerrissene und schmutzige Kleidung.

»Was in drei Teufels Namen führt sie überhaupt in diese gottverlassene Gegend?« Mountains End… Mountains End führt mich in diese gottverlassene Gegend…

»Ich… und ähm… meine Frau hatten einen ziemlich großen Streit. Und sie ist mit dem Wagen abgehauen und hat mich hier sitzen lassen«, log Frank zum wiederholten Mal. Es war keine besonders gute Lüge. Aber der Trucker hätte ihm auch eine bessere Geschichte nicht abgekauft. Vielleicht hätte er vorgetäuscht ihm zu glauben. Aber man merkt wenn jemand lügt oder einem eine verdrehte Geschichte auftischt. Es gibt immer Anzeichen dafür.

»Wenn sie es sagen…«

»Ich bin auf dem Weg nach Mountains End und suche eine Mitfahrgelegenheit«, wechselte Frank das Thema. Er hielt es für besser gleich zur Sache zu kommen. Schließlich könnte jeden Moment eine wütende Alicia auftauchen. Der Trucker hielt kurz inne, inhalierte Luft tief in seine alten Lungen und seufzte.

»Sie haben Glück. Meine Route führt mitten durch Colorado. Wenn sie wollen können sie mit mir fahren. Dann setze ich sie ein paar Meilen südlich von Mountains End ab. Marylin sollte ausreichend Platz für zwei bieten.«

Stein für Stein baue ich mir eine Brücke nach Mountains End. Den Weg welcher das Leben für alles Erfolgreiche, Solide auf diesem Planeten wählt. Stein für Stein…Erstaunt und verwirrt über seine eigenen Gedanken schüttelte Frank seinen Kopf, als wollte er irgendeine Benommenheit abschütteln. Der Trucker kniff misstrauisch seine Augen zu dünnen Schlitzen zusammen. Tiefe Falten – Furchen – bildeten sich um seine Augenpartie. Das Alter - sein ganzes Leben - stand jetzt in seine Gesichtszüge geschrieben. Als wäre sein Gesicht ein Gipsabdruck von all dem was er in seinem Leben gesehen hatte, gehört hatte, erlebt hatte.

Weder Frank, noch der Trucker - der selbst in seinen Gedanken versunken war - konnten sagen wie lange sie schweigend neben der alten Marylin standen. Der Trucker zerriss die Stille mit einem widerlichen, rauen Hustenanfall. Einen Hustenanfall – als hätte er in seinen Backen Literweise Schleim zum Überwintern gebunkert – wie ihn meist langjährige Stark-raucher von Zeit zu Zeit herauskotzten.

»Ähm, ich danke Ihnen. Ich, … wirklich. Vielmals«,

Jetzt lächelte – nein, strahlte - der Trucker und streckte Frank seine Hand hin. Wieso strahlt dieser Typ jetzt so irrsinnig? Ich glaub ich sollte ihm jetzt meine Hand reichen, und diese Hallo-mein-Name-ist-so-und-so-und-wer-bist-du-Sache hinter mich bringen. Frank reichte dem Trucker seine Hand. Als sie der Trucker mit seiner kalten, mit irgendwie papierartiger Haut überzogenen Hand zu fassen bekam schüttelte er sie mit einem etwas übertriebenen Enthusiasmus. Das Ritual wurde glücklicherweise endlich beendet: »Mein Name ist Stan, Stanley Krieger.«

»Mein Name ist Steve« Frank »Steven Bloomdale.« Wieso habe ich bezüglich meines Namens gelogen? Und wieso Steven Bloomdale…?

»Freut mich sie kennenzulernen«, entgegnete Stan, der Trucker schließlich. »Aber jetzt kommen sie, ich muss los.« Mit diesen Worten ging Stan um seinen Truck und schloss die Fahrertür auf. Mit einem lauten Ächzen öffnete er die große, königsblaue Tür. Er kletterte gewannt – viel zu gewannt für einen wahrscheinlich achtzigjährigen – in seinen Truck und bückte sich zur Beifahrertür. Diese öffnete sich mit einem noch kläglicheren Knarren. Frank kletterte ungeschickt in den Truck. Als sein rechter Fuß bereits festen Halt im Cockpit fand und der andere Fuß noch auf dem obersten Trittbrett verweilte, rutschte der linke Fuß ab. Stan der Trucker bekam Frank gerade noch am Kragen seines verunstalteten Hemdes zu fassen und verhinderte so einen schmerzhaften Absturz. Frank keuchte und formulierte ein knappes Danke. Er ließ sich mit einem langen, befreienden Seufzer auf das Sitzpolster fallen. Sitzpolster… Der ganze riesige Beifahrersitz – natürlich genau so der Fahrersitz – war mit einem Kuhüberzug bespannt. Die verdammten Überzüge waren mit einem Kuhfellmuster versehen…

Der Truck setzte sich mit lautem Getöse in Bewegung. Dabei wirbelte er so viel Staub auf, dass die Sicht gleich Null war. Doch irgendwie schaffte es Stan der Trucker die alte Marylin mit einer surrealen Leichtigkeit aus dem Parkplatz hinaus zu manövrieren. An der Ausfahrt waren alte, kaum lesbare Schilder angebracht. Das eine zeigte nach Los Angeles, das andere war mit den Lettern Las Vegas beschrieben. Stan der Trucker setzte den Blinker und brauste in Richtung Las Vegas auf die Straße. Um die unbehagliche Stille die herrschte seit Stan der Trucker losgefahren war zu durchbrechen, stellte Stan das Radio an. Es waren gerade noch die letzten dreißig Sekunden von Johnny Cashs Hymne Ring Of Fire zu hören, als ein eine Art Howdy-Schrei aus den Lautsprechern drang. Der wahrscheinlich komplett wahnsinnige Moderator – Frank war sich sicher, dass der Moderator einen Strohhut und blaue Latzhosen trug – trug einen Lobgesang auf Johnny Cash vor und stellte den nächsten Song vor. Der großartige Klassiker The Monkey and the Engenier – in Franks Ohren ein grauenhaft fröhliches Countrygedudel - folgte auf die Ansage des Moderators. Frank hatte mit dem Gedanken gespielt, das Radio rauszureißen und aus dem Fenster zu werfen. Doch er entschied sich für eine banale Frage: »Ha… Haben sie eine Zigarette?« Dieses sagenhaft irrsinnige Strahlen erschien wieder auf dem Gesicht von Stan dem Trucker.

»Im Handschuhfach sollte noch ’ne alte Packung Chesterfield liegen«, antwortete er schließlich. Wortlos öffnete Frank das Handschuhfach und wühlte in dem Gerümpel aus Straßenkarten, leeren Flaschen, Kleingeld, Handschuhen, einer metallenen Dose, Schlüssel, einer Leimdose, Werkzeug, Klebeband, Staub und Tabakkrümmeln nach den Zigaretten. Er fand schließlich eine vergilbte, zerknitterte Packung Chesterfield Filter. Gerade als Frank nach einem Streichholz Fragen wollte, musste Stan der Trucker einen seiner Starkraucher-Hustenanfälle herauskotzen. Frank verzog den Mund und ließ die Zigarette zurück in die Packung gleiten. Stan der Trucker setzte wieder sein Irrsinns-Strahlen auf.

»Wissen sie, mein Sohn«, begann er – wieso mein Sohn, wieso MEIN SOHN – »Ich war mal genauso ein Tunichtgut wie sie.« Tunichtgut? Schließlich fuhr Stan der Trucker fort: »Ich war mal das, was man einen richtigen Kettenraucher nennt.« AHA! »Deshalb kotze ich mir manchmal fasst die Seele aus dem Leib. Wissen sie, mein Sohn - … - meine Frau hat mich oft genug darum gebeten, Gott habe sie selig, das ich endlich mit diesen verdammten Seelenräubern aufhöre. Weißt du, mein Sohn«, – Ich bin nicht dein verdammter Sohn – »so hat sie… Also die Zigaretten. Seelenräuber, so hat sie meine süße Norma immer genannt.« Mit diesen Worten setzte er wieder sein Irrsinns-Stahlen auf. Doch dieses Mal schimmerte eine unendliche, nie ganz verarbeitete Trauer in seinem Strahlen mit. Seine stillen Tränen, die er in diesem Moment vergoss, waren fast zu sehen. Diese Mischung aus Trauer und einem arglosen, breiten Grinsen, ließen sein Strahlen tatsächlich noch irrsinniger aussehen.

Das Strahlen verschwand so schnell, wie es gekommen war. Stan der Trucker setzte eine besorgte Miene auf und meinte mit ernster Stimme: »Mein Sohn, mit Zwölf habe ich meine erste Zigarette geraucht. Ich hatte Sie meinem Vater geklaut. Damals wurde mir echt Übel davon.«

Frank glaubte für einen kurzen Moment sein Strahlen aufblitzen zu sehen. Doch dann fuhr Stan der Trucker mit noch ernsterer Stimme fort: »Ich habe 55 Jahre gebraucht um mit diesen Dingern aufzuhören. Als Norma an dem verdammten Raubtier, an Krebs starb, sagte ich mir jetzt ist Schluss. Und ich sage dir mein Sohn, man sollte aufhören, so lange man noch jung ist. Man sollte aufhören, bevor diese verdammten Seelenräuber den ganzen Körper vergiftet haben. Ansonsten werden sie gewinnen, wird das Raubtier gewinnen. Und letzten Endes wird es dich auffressen.« Frank zündete sich mit den Streichhölzern, die er inzwischen in dem Handschuhfach gefunden hatte eine Zigarette an. Sie schmeckte bitter… Alt. Jetzt begriff Frank, dass diese Zigaretten wahrscheinlich seit fünf Jahren in diesem Handschuhfach lagen. So wie fast jeder ehemalige Raucher irgendwo eine Packung für den Notfall aufbewahrte.

»Wie bitte? Es tut mir Leid. Ich war gerade in Gedanken. Haben sie was gesagt?« Frank hoffte, wenn er vorspielte nicht zugehört zu haben, dass Stan das Thema wechseln würde. Er wollte nicht darüber reden. Er war Raucher. Ein Raucher, der große Schwierigkeiten damit hatte, es auf die Reihe zu kriegen mit dem Rauchen aufzuhören. Ein Raucher, der jedoch große Angst vor dem Krebs hatte. Dieses Thema war ihm unangenehm. Er wollte nicht darüber reden.

Stan der Trucker starrte ihn einen Moment lang mit offenem Mund an, entschied sich aber es dabei zu belassen: »Ach vergessen sie was ich gesagt habe. Ist nicht wichtig«, – es wahr ihm sehr wichtig – »bei einem 72 Jährigen«, - 72 Jahre! – »senilen Trucker kommt sowieso selten was Schlaues aus seinem Mund.« Mit diesen Worten setzte Stan der Trucker sein gutes, altes Irrsinnsgrinsen auf.

»Woher kommen Sie?«

»Aus L.A.«

»Und was führt sie in einen so gottverlassenen Ort wie Mountains End?«

»Geschäftliches.«

»Was sind sie den von Beruf?«

Frank stellte überrascht fest, dass er sich anstrengen musste um sich an seinen alten Job in der Versicherung zu erinnern. Wie hieß die Agentur noch mal…? Der Versuch sich an sein früheres Leben zu erinnern bereitete ihm dröhnende Kopfschmerzen. Dröhnen… Das Dröhnen ist wieder da. Das Monster ist zurück gekehrt…

Rein technisch gesehen war er momentan sowieso arbeitslos. Schließlich konnte sich in seiner alten Firma niemand mehr an ihn erinnern…

»Sir… Mister Krieger…«

»Nenn mich Stan, mein Sohn.«

»Ok, Stan«, – der Trucker – »ich bin sehr Müde«, – Nein, mein Schädel dröhnt, dröhnt, drööööhnt… - »und ich möchte etwas schlafen. Können wir dieses Gespräch auf später verlegen?«

»Aber natürlich mein Sohn. Ich wünsche angenehme Träume.«

Wieso muss ich nach Mountains End? Wieso weiß ich dass ich nach Mountains End muss…? Was werde ich dort vorfinden…? Vielleicht mich selbst…? Mit diesen Gedanken fiel Frank langsam in eine Art Schlaf…

Frank gähnte. Er bog mit seinem Saab Kabriolett in die Einfahrt ein und drückte auf den Garagenöffner. Wie so selten öffnete sich das Tor und gab den Blick auf eine spärlich beleuchtete Tiefgarage frei. Frank ließ den Wagen die Einfahrt herunterrollen und stellte ihn auf den mit seinem Wagenkennzeichen beschrifteten Parkplatz. Als er ausstieg tropfte ihm Regenwasser vom geschlossenen Verdeck auf den Kopf. Draußen schüttete es in Strömen, was für L.A. eher selten war. Er betrat den kurzen Gang der zur Treppe hinauf in seine Wohnung führte. Sie befand sich im ersten Stock. Wie jeden Tag stieg er die genau dreißig – er hatte die Stufen einmal als er sturzbetrunken von einer außerordentlichen Sitzung nach Hause kam gezählt – Stufen zu seiner Wohnung hinauf und kramte vor der Eingangstür nach seinen Schlüsseln. Sarah verschloss wegen ihrer großen Angst vor Einbrechern, selbst wenn sie zu Hause war, die Wohnungstüre. In ihrer Kindheit waren Einbrecher in ihr Elternhaus eingestiegen, als sie alleine zu Hause gewesen war und oben schlief. Dieses traumatische Erlebnis hatte sie bis Heute nie vollständig verarbeitet.

Als Frank die Schlüssel fand schloss er die Tür auf und betrat die nach Hackbraten und Weinsauce duftende Wohnung.

»Hallo Schatz, ich bin’s«, begrüßte er Sarah, die jedoch keine Antwort gab. »Schatz?« Er sah, dass in der Küche Licht brannte. Während Frank seine Jacke auszog spähte er zur Küche, die einen spaltbreit geöffnet war. Er wechselte mit seinen Füßen geschickt von seinen Lackschuhen in die plüschigen Hausschuhe.

»Schatz?« fragte er wiederholt und ging auf die Küchentür zu. Er vernahm ein leichtes Summen vom Backofen, in dem höchstwahrscheinlich der Hackbraten schmorte.

»Schatz, ist alles in Ordnung?« Natürlich ist alles in Ordnung. Was sollte schon sein…? Und doch überkam Frank ein seltsames Unbehagen. War wirklich alles in Ordnung? Irgendetwas stimmte hier nicht. Etwas lag in der Luft…

Er öffnete langsam die Küchentür und schloss die Augen. Er spähte mit immer noch geschlossenen Augen in die Küche. Als hätte er Angst vor dem was er vielleicht sehen könnte. Er nahm alle Kraft zusammen und öffnete seine Augen. Was er sah war eine irgendwie kleine, traurige, leere Sarah, die gedankenverloren am Küchentisch saß. Frank kannte diesen Blick, diesen leeren Blick der irgendwo herumschwirrte. Irgendwo, nur nicht im hier und jetzt. Er kannte diese kümmerliche Körperhaltung, dieser ansonsten eher großen Frau. Sie hatte ein Problem. Irgendetwas beschäftigte sie. Sie hatte zuletzt so ausgesehen, als vor zwei Jahren ihr Vater völlig unerwartet bei einem Autounfall gestorben war.

Sie blickte mit ihrem bleichen – ängstlichen…? – Gesicht vom Tisch hoch und ihre Augen trafen sich. Es war ein tiefer, langer Blick, der alles sagte. Einen Blick zu dem nur Menschen, zwischen denen eine starke, liebevolle Bindung besteht fähig sind. Als sie es aussprach hatte es Frank längst in ihrem Blick gelesen. Doch sie wollte es aussprechen. Vielleicht weil es für sie dann so wirklicher, greifbarer erschien.

»Ich bin schwanger.«

Eine lange Pause trat ein. Sie konnten den Blick des jeweils Anderen nicht mehr ertragen. Sarah starrte wieder auf die blitzblank polierte Tischplatte. Frank blickte hoch zu den Regalen und tat so als würde er ihre – unsere… - Küchengeräte bestaunen.

Er wusste nicht was er sagen; was er denken soll. Sie hatten dieses Thema schon viele Male diskutiert. Zu viele Male. Er wollte keine Kinder. Jedoch waren Kinder schon immer Sarahs größter Wunsch gewesen. Er war der Meinung, dass nicht nur die Karriere vorginge, sondern das ihm dank eben dieser Karriere auch völlig die Zeit für die Kinder fehlte. Frank wollte keine Kinder in die Welt setzen, weil er sich nicht einmal um sie kümmern könnte. Sarah schlug deshalb vor, ein Kindermädchen einzustellen. Am Geld mangle es ja schließlich nicht…

Doch jetzt wurden die Karten neu gemischt. Sarah war schwanger. Was nun…

»Äh… Das i.. ist ja wundervoll«, presste Frank hervor. Er setzte sich auf den Stuhl neben ihr und nahm sie in die Arme. Sarah fing an zu weinen.

»Nein, ist es nicht. Du wolltest keine Kinder. Und ich will dir das nicht antun.«

Frank öffnete den Mund um etwas Beschwichtigendes dazu zu sagen. Doch er schloss ihn wieder und entschied sich sie einfach fester in den Arm zu nehmen. Frank warf einen Blick auf die Küchenuhr. Die Zeiger standen kurz vor Sieben Uhr. In etwa einer Stunde würden Mr. und Mrs. Ramley auftauchen.

Frank öffnete wiederholt seinen Mund, zu einem weiteren Versuch, Sarah etwas Aufmunterndes zu sagen, als das Telefon klingelte.

»Ich bin gleich zurück«, versprach Frank und eilte zum Telefon. Wer auch immer dran sein würde, Frank würde erklären dass es gerade ein schlechter Zeitpunkt sei und er solle doch ein andermal anrufen. Als er den Hörer des klassisch roten Telefons an sein Ohr hielt meldete er sich mit einem knappen Marshall. (Ja guten Tag Mr. Marshall. Hier ist Mr. Gibson. Kennen sie schon unseren neuen Nachbarn Roland) Doch niemand meldete sich am anderen Ende der Leitung. Außer einem leisen Rauschen konnte Frank kein einziges Geräusch vernehmen.

»Hallo?«

Nichts…

Entnervt: »Haaalloo?«

Wieder nichts…

In diesem Moment wurde Frank von einer Art Sog erfasst. Sein Körper wurde starr. Er versuchte zu schreien. Doch seinem Mund entsprang nichts als ein schwaches Krächzen. Der Sog kam aus der Hörmuschel dieses blutroten Telefonhörers. Zuerst riss es sein rechtes Ohr in den Hörer. Frank konnte fühlen wie es komprimiert – zermalmt – wurde. Die Schmerzen waren unerträglich. In seinem Schädel dröhnte es. Und dröhnte es… Und dröhnte es… Jetzt zog es auch seinen Schädel in den Sog. Der Kopf begann sich zusammen zu ziehen. Frank verspürte einen kurzen, unglaublichen Schmerz – danach war alles dunkel…

…geworden als Frank langsam zu sich kam. Instinktiv fasste er sich an sein Ohr und tastete die Form seines Schädels ab. Er war erleichtert. Es war nur ein Traum gewesen. Nur das Dröhnen war wirklich. Es dauerte seine Zeit bis sein Verstand begann, wieder richtig zu funktionieren. Sein Blick wurde klarer und das Dröhnen verstummte allmählich.

Die Sonne hatte sich bereits auf den Weg gen Süden gemacht. In etwa einer Stunde würde es fast dunkel sein. Ein leichter Hauch von Rot überzog den Himmel.

Frank starrte aus dem Beifahrerfenster. Schritt für Schritt begriff Frank wo er sich befand und erinnerte sich wieder an die Geschehnisse der letzten Tage. Sein Blick wanderte zum Armaturenbrett, über die kleine Digitaluhr – es war ein paar Minuten nach sieben Uhr Abends – zu dem Fahrersitz. Doch der Sitz war leer. Kein Stan. Marylin stand irgendwo, mitten im Nirgendwo. Still und verlassen. Frank richtete sich dermaßen hastig auf, dass er vor Schwindelgefühl beinahe zusammengeklappt wäre. Er kurbelte die Scheibe seiner Tür herunter und spähte in die Stille der Wüste hinaus. Es war angenehm kühl geworden.

»Stan?«

Nichts…

Verunsichert: »Haaalloo?«

Verdammt. Sein Herz schien zu versagen. Er bekam keine Luft mehr. Das Dröhnen kehrte zurück. Ich träume immer noch. Er öffnete die Beifahrertür und war gerade dabei auf dem ersten Trittbrett Halt zu finden als… Nein… sobald ich einen Fuß auf das Trittbrett setzte wird mich ein unerträglicher Sog ins Nichts saugen… Ich…

»Ist alles in Ordnung, mein Sohn?« fragte Stan, der Trucker Frank mit ruhiger Stimme, während er auf den Fahrersitz kletterte. Frank schrie. Er war dermaßen in das von seinem Verstand konstruierte Horrorszenario vertieft, dass er nicht bemerkt hatte wie Stan in den Truck eingestiegen war. Frank fasste sich an die Brust.

»Verdammt, sie haben mich erschreckt«, keuchte Frank

»Hey, ich war nur kurz pissen, tut mir Leid. Es war nicht meine Absicht gewesen sie zu erschrecken«

»Schon gut….«

Frank fand sich mit dem Gedanken ab, wohl doch nicht mehr zu träumen und fragte: »Wo sind wir?«

»Ein paar Meilen hinter Las Vegas. Wenn ich in diesem Tempo weiterfahre, kommen wir in etwa fünf Stunden in Mountains End an.«

Doch Frank nahm Stans Antwort kaum war. Seine Gedanken waren bei dem Traum und bei Sarah. Er hatte wirklich nie Kinder gewollt. Doch seit kurzem hatte Frank das Gefühl, dass Sarah schwanger war. Doch er hatte irgendwie Angst sie darauf anzusprechen. Er hatte Angst vor dem Resultat eines Schwangerschaftstests. Doch diese eben geträumte Szene war nie geschehen. Sein Gehirn musste auf all diese Informationen in seinem Kopf zurückgegriffen haben und diesen seltsam realen Traum zusammengebastelt haben. Doch wie bei seinem letzten Traum war wieder dieser seltsame Faktor Zeit. Das letzte Mal zeigte die Uhr in seinem Traum Zwölf Uhr. In der Realität, in Alicias Wagen; zeigte die Uhr ebenfalls Zwölf. In seinem aktuellen Traum stand der Zeiger auf Sieben Uhr, genau wie auf der Uhr in diesem Truck - in der Realität…

»Die Zeit…« murmelte Frank, »die Zeit ist die selbe…«

»Wie bitte?«

»Ach nichts.«

Als würden zwei Geschichten, zwei Leben zur selben Zeit ablaufen. Und beide Geschichten haben ein und denselben Hauptdarsteller… Mich.

Eine Weile herrschte wieder Schweigen. Franks Verstand war inzwischen wieder imstande, sich auf alltägliche Gedanken und Sorgen zu konzentrieren. Er beobachtete eine Zeitlang unauffällig Stan den Trucker. Er war wirklich alt – verflucht alt. Eigentlich zu alt um Tag für Tag einen tonnenschweren Laster über die Landstraßen zu jagen. Doch Frank machte sich dies bezüglich keine Sorgen. Wenn man etwas nur oft genug machte, konnte man es schließlich selbst im Schlaf machen. Eigentlich fast egal in welchem Zustand man sich befand. Gewisse Schemas prägt sich der Verstand ein und geschehen mit der Zeit automatisch - fast unbewusst. Das war einer der Gründe weshalb Frank sich keine Sorgen machte, dass Stan der Trucker plötzlich die Kontrolle über seine Marylin verlieren könnte. Ein anderer war der, dass Frank in seinem Leben gelernt hatte, alte Menschen – das Alter selbst – nicht zu unterschätzen. Ein Fehler, den viele Menschen leider machten.

Frank fragte sich plötzlich was Stan der Trucker im Hänger seines Lasters gebunkert hatte. Wie sah seine Lieferung aus? Vielleicht hatte er kistenweise DVD-Player geladen. Es hätten jedoch genau so gut Zigaretten oder eine Ladung Dope sein können… Er entschied sich diesen Gedanken rasch zu verwerfen und Stan den Trucker direkt nach der Ladung zu fragen: »Kann ich sie mal was Fragen?«

»Aber natürlich, mein Sohn. Ich kann nur nicht versprechen, dass ich auch eine Antwort auf ihre Frage habe«, antwortete Stan der Trucker mit einem breiten Grinsen. Frank überlegte sich, ob Stan der Trucker nicht längst eine Brille tragen müsste. War er bloß zu eitel, oder hatte er das Glück, dass seine Augen auch in diesem hohen Alter noch gesund waren? Doch er verwarf auch diesen Gedanken und stellte schließlich seine Frage: »Was haben sie eigentlich geladen?«

»Was habe ich geladen?« stellte Stan als Gegenfrage. Frank sah ihn verblüfft an. Er öffnete den Mund und formulierte nach einer kurzen Pause eine lustlose Antwort: »Keine Ahnung. Würde ansonsten nicht Fragen… Vielleicht… irgendwelchen Elektronikschrott?«

Anstatt einer ausformulierten Antwort strahlte Stan der Trucker über das ganze Gesicht. Die tiefen Falten bildeten sich wieder und Stan der Trucker sah schlagartig wieder uralt aus. Doch es war nicht dasselbe Grinsen wie letztes Mal. Es war ein schleierhaftes, geheimnisvolles Grinsen. Frank entschied, es dabei zu belassen und nicht weiter auf dieses Thema einzugehen. Vielleicht entsprach es irgendeinem Lastwagenfahrer-Ehrenkodex, einem dilettantischen Fremden – Frank – nicht zu verraten was man für eine Ladung mit sich führte. Jedenfalls war es manchmal einfach klug, den Mund zu halten.

Frank schaute für eine lange Zeit aus dem Fenster und beobachtete wie sich in der jetzt bald völligen Dunkelheit die vorbeisausende Landschaft allmählich veränderte. Es waren nicht mehr einfach nur karge Wüste, Kakteen und Felsformationen in der Ferne zu sehen. Die Landschaft die sich ihm darbot wurde grüner. Pflanzen wurden in ihrer Zahl und in ihrer Vielfalt größer. Sie näherten sich eindeutig Mountains End…

In der Zwischenzeit war es Acht Uhr Dreißig und völlig Dunkel geworden. Im Moment wurde die Straße nur von den Scheinwerfern der alten Marylin und dem schwachen Licht des sichelförmigen Mondes beleuchtet. Am Horizont sah er spärliche Lichter auftauchen. Frank hielt es zuerst für ein entgegenkommendes Fahrzeug. Doch als es langsam näher kam dachte Frank: Vielleicht ein kleines Kaff, vielleicht aber auch eine Tankstelle oder so.

»Ich werde bald eine Pause einlegen. Ich will etwas essen und mich etwa für eine Stunde aufs Ohr hauen«, zerschnitt Stan der Trucker die Stille. Frank öffnete seinen Mund und wollte etwas sagen, doch Stan beachtete ihn nicht und sprach weiter: »Als ich vor über einer Stunde sagte, dass wir in fünf Stunden in Mountains End ankämen habe ich eine Pause wie diese eingerechnet. Keine Sorge.« Diesmal nickte Frank stumm. »Ich habe einen Bärenhunger. Und sie sollten auch was essen«, fuhr Stan der Trucker fort.

Frank rang mit den Worten und sagte schließlich: »Ich habe kein Geld… Mei… Meine Brieftasche ist im Wagen bei meiner Frau liegen geblieben.«

»Ach, machen sie sich keine Sorgen. Ich spendiere Ihnen was. Dafür sind nette Menschen wie ich doch da, Steve«, schwärmte Stan und drehte sich mit seinem berühmten Irrsinns-Strahlen zu Frank und blickte ihm direkt in die Augen. Frank wunderte sich, dass Stan der Trucker trotz dieses krampfhaften Strahlens sprechen konnte. Doch Stan konnte es und hängte, während er Frank weiter direkt in die Augen sah und wie ein Irrsinniger grinste, einen letzten Satz an: »Dafür sind nette Menschen wie ich doch da!«

Frank verspürte das erste Mal ein gewisses Maß an Unbehagen gegenüber dem guten, alten Stan. Stan, dem – leicht irrsinnigen – Trucker.

Irritiert setzte sich Frank aufrecht hin und sah durch die Frontscheibe die Lichter näher kommen. Jetzt konnte er das charakteristische Dach und die grelle Beleuchtung erkennen und stellte mit einer gewissen Zufriedenheit fest, dass es sich tatsächlich um eine Tankstelle handelte. Sie war jetzt noch etwa eine Meile entfernt.

»Dort werde ich meine Pause machen«, sagte Stan der leicht irrsinnige Trucker und zeigte mit seinem Finger geradeaus durch die Frontscheibe.

Der Laster bog mit einem zufriedenen Zischen in die Einfahrt der Tankstelle ein. Stan lenkte den Truck hinter das an der Tankstelle angebaute Gebäude, auf den LKW-Parkplatz. Die Anhängerkupplung ließ ein angestrengtes Quietschen verlauten, als der Truck schließlich zum Stillstand kam. Stan drehte den Zündschlüssel, und der Motor ging begleitet von einem Stottern aus. Er faltete seine Hände auf seinen Oberschenkeln und drehte sich zu Frank.

»Machen sie das Handschuhfach auf und nehmen sie sich einen Zwanziger aus der Metalldose«, bat Stan Frank. Frank tat wie geheißen und bedankte sich höflich.

»Ach, machen sie sich keinen Kopf deswegen. Dafür sind ne…«

»…sind nette Menschen wie sie doch da. Ich weiß«, unterbrach Frank Stan.

Stan schenkte ihm ein missbilligendes Lächeln und öffnete die Fahrertür. Frank machte es ihm nach; beide stiegen aus und setzten fast gleichzeitig auf dem festen Boden auf. Stan streckte seine Arme aus und gähnte herzhaft. Franks Beine fühlten sich schwer an.

»Kommen sie, gehen wir was essen«, forderte ihn Stan auf. Franks Magen meldete sich mit einem Knurren. Jetzt wurde ihm bewusst, dass er seit heute Morgen nichts mehr gegessen hatte.

Stan der Trucker ließ seine alte Marylin auf dem Parkplatz, zwischen den wenigen anderen Lastern zurück. Als sie an den Zapfsäulen vorbeigingen, blitzte in Franks Kopf die Erinnerung daran auf, wie er heute Mittag die Cola Flasche mitgehen ließ. Der Gedanke blieb jedoch nicht lange genug, als dass ihn Frank hätte fassen können.

Sie erreichten das Hauptgebäude der Raststätte, indem ein Restaurant und ein Shop untergebracht waren. Das Diner war wie Jacks Diner in L.A. im Stil der 50er Jahre gestaltet. Doch an Jacks Diner konnte sich Frank nicht mehr erinnern. Überhaupt fiel es Frank zunehmend schwerer sich an sein altes Leben zu erinnern. Die Erinnerungen wurden wie weggewischt – verdrängt. Nach jedem seiner Anfälle; jedes Mal wenn sein Schädel wieder anfing zu dröhnen, wurde ein weiterer Teil aus seinem Verstand eliminiert. An Sarah und alles was mit ihr zusammenhing konnte er sich einwandfrei erinnern. Doch hätte Frank in diesem Moment keinen einzigen der Namen seiner Freunde nennen können. Er bräuchte ebenfalls kurze Bedenkzeit, wenn er sich an den Namen seines Vaters erinnern müsste. Diese Tatsachen waren ihm zu diesem Zeitpunkt alles andere als bewusst. Sein Verstand arbeitete im Moment auf einer völlig anderen Ebene. Andere Erinnerungen – fremde Erinnerungen – drängten sich allmählich in seinen Verstand. Auch dieser Tatsache war sich Frank nicht bewusst. Sein Unterbewusstsein kämpfte gegen diesen Prozess an; schob den neuen Erinnerungen eine Barriere vor. Was bis jetzt recht gut klappte. Doch wie lange noch?

Sie betraten das Diner mit dem Namen American Roots und setzten sich an die Theke. An den Tischen saßen hauptsächlich Trucker mit traurigen Gesichtern. Sie nippten an ihrem Kaffee, lasen Zeitung oder aßen Hamburger. Sie sahen aus wie stereotype Statisten aus einem schlechten Film. Stan der Trucker nahm sich eine Zeitung und bestellte einen Kaffee und einen Burger mit Extra Käse. Ein Typ mit einem weißen Mützchen und einer fettverschmutzten Schürze stand hinter der Theke und sah Frank mit einem müden Blick an. Eine Zeitlang starrte Frank zurück. Doch dann wurde er ungeduldig und bestellte schließlich eine Coke. Der Typ – nennen wir ihn Arthie – ging zum Getränkeautomaten und griff daneben nach einem Coca Cola-Glas, als: »Nein, tut mir leid… keine Coke bitte. Geben sie mir einen Scotch.« Arthie drehte sich genau so müde und resigniert wie sein Blick, zu Frank und stellte das leere Glas auf die Theke. Nach einem noch müderen Blinzeln öffnete Arthie schließlich seinen Mund: »Laut Paragraph 17b, der internen, offiziellen Hausordnung dürfen in diesem Restaurant und auf dem gesamten Restaurantgelände keine alkoholischen Getränke, die einen festgelegten Maximal-Alkoholgehalt übersteigen, ausgeschenkt oder konsumiert werden. Für allfällige Beschwerden und allgemeine Informationen wenden sie sich bitte an die Geschäftsleitung.«

Frank saß mit offenem Mund auf seinem Hocker und starrte den dürren Arthie an. Jetzt war es Frank der müde blinzelte.

»Ähm… Dann hätte ich gerne ein Bier«, sagte Frank mit einer heiseren, leisen Stimme. Arthie holte wieder tief Luft und begann: »Laut Paragraph 17b, der internen, offiziellen Hausordnung dürf…«

»Ja, ja, ja. Steck dir Paragraph 17b sonst wo hin und gib mir ’ne verdammte Coke.« Arthie starrte Frank beleidigt an und erzählte so was wie Es gibt keinen Grund gleich so grob zu sein und Wenn es ihnen nicht passt, wenden sie sich an die Geschäftsleitung. Doch Frank hörte längst nicht mehr hin und wandte sich an Stan den Trucker. Dieser hatte von der ganzen Geschichte nicht ein Wort mitbekommen. Er war zu sehr in seine Zeitung vertieft.

Als Frank gerade etwas sagen wollte, sah er einen kleinen Bericht in Stans Zeitung. Er konnte den Text nicht erkennen, doch die Überschrift – Steven Bloomdale immer noch vermisst – und das Foto von Frank neben der Schlagzeile reichten ihm vollkommen aus. Es reichte um starke Kopfschmerzen zu verursachen. Es reichte um ein Schwindel- und Brech-reizgefühl auszulösen. Und es reichte um den Lautstärkeregler dieses verdammten Dröhnens bis an die Schmerzgrenze aufzudrehen…

Diesmal machte ihn dieser Zustand wütend – rasend. Er war es Leid sich ohne wirklichen Grund derartig scheiße zu fühlen. Es machte ihn wütend ohne logischen Grund seine Frau, seine Arbeit; sein gesamtes Leben zu verlieren. Am meisten wütend machte ihn die Tatsache, dass er sogar langsam – wie er jetzt begriff – seine Erinnerungen an sein Leben verlor. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern was für einen Wagen er gefahren hatte. Er war wütend. Und er fand er hatte verdammt noch mal das recht dazu. Schließlich lief alles ziemlich beschissen. Beschissen war gar kein Ausdruck, fand er. Er konnte sich nicht vorstellen, dass je jemand anders einen so total verrückten Mist erlebt hatte. Sein Verstand war endlich aufgewacht. Er war der Meinung, dass er seit Tagen nur irgendwie so dahin schwebte.

Das er das erste Mal begriff wie beschissen seine Situation war, stellte sozusagen einen Fortschritt dar. Schließlich hätte er früher in seinem Job auch nicht so leicht aufgegeben. Mein Job! Ich kann mich wieder an meinen Job erinnern. Er wollte gegen diese Mist ankämpfen. Er wollte nicht mehr diesem sinnlosen etwas folgen das ihn nach Mountains End locken wollte. Doch er wusste gleichzeitig, dass er sich dem Problem stellen musste. Er musste trotzdem nach Mountains End. Doch er würde vorbereitet sein. Er würde nach Mountains End gehen. Gleichgültig was ihn dort erwartete, er wollte – musste – sein Leben zurückholen. Er wollte Sarah zurück.

Franks Beine zitterten vor Schwäche, als er von seinem Hocker glitt. Aber das war ihm egal. Da Arthie mit Franks Coke beschäftigt war und die übrigen Gäste zu sehr in ihrem Selbstmitleid schwelgten, bekam niemand mit wie Frank nach Stans Schlüsseln griff. Nicht einmal Stan selbst bemerkte, wie Franks Hand mit der Schnelligkeit eines geübten Magiers nach ihnen schnappte. Franks Verstand drehte sich im Kreis – die ganze Welt drehte sich mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit im Kreis – als er das Diner verließ. Zielstrebig torkelte Frank wie ein Betrunkener auf Stans Truck zu. Er schloss die Fahrertür auf und blieb wie angewurzelt stehen. Er war noch nie in seinem Leben ein derartiges Ungetüm gefahren. Er konnte so einen Truck gar nicht fahren, glaubte er. Wieso hatte er überhaupt diese Schlüssel genommen? Hatte er ernsthaft vor die alte Marylin zu klauen? Er könnte einfach wieder zurück ins Diner gehen und mit derselben Geschicklichkeit mit der er die Schlüssel mitgehen ließ, sie zurücklegen. Wahrscheinlich würde das sogar funktionieren.

Sein Blick wanderte zu dem mit dem Himmel bemalten Hänger. Er würde nie sehen wie die Lichter bei Nacht aussahen. Würde er jetzt zurück in das Diner gehen und die Reise mit Stan fortsetzen, würde er es vielleicht noch erfahren.

Frank verwarf diese Gedanken und folgte dem anderen Gedanken, welcher sich ihm seit Kurzem aufdrängte. Er watschelte leicht hinkend – wie ein Wahnsinniger – zum Heck des Lasters und betrachtete die schweren Türen. Im nächsten Moment hatte Frank die Schlüssel in das Schloss gesteckt und drehte sie darin um. Mit einem grausigen Knarren öffnete er die Türen. So wie der Truck stand, drang kein bisschen Licht in den Hänger. Frank sah die tiefe Schwärze, dieses Absolute nichts. Stan der Trucker hat das absolute Nichts geladen. Noch ein Schritt weiter und ich versinke im Nirgendwo… In den Tiefen von… Gar Nichts…Dort wo nicht einmal die Schwärze existiert; dort wo nicht einmal das Nichts existiert – weil nichts existiert, dachte Frank, und hielt kurz inne. Fünf Sekunden später stand Frank am hinteren Rand des Hängers und spürte festen Boden unter seinen Füßen. Ein fauliger Geruch stieg ihm in die Nase. Er tastete sich vorsichtig weiter hinein. Er versuchte zu allem was er mit den Händen erfühlte einen harmlosen Gegenstand zuzuordnen. Holzkiste… Noch eine Holzkiste… Vielleicht für Gemüse oder so… Der nächste Gegenstand schien zwar ebenfalls hölzern zu sein, war jedoch zu fein gearbeitet für eine Holzkiste. Jetzt fühlte Frank den charakteristischen Vorsprung der von diesem ansonsten eckigen Ding herauswuchs. Er hob den oberen Teil des Vorsprungs an und entdeckte die Tastatur aus Elfenbein. Klavier, dachte Frank und spielte ein, zwei Tasten an. Bis jetzt nichts Seltsames. Er entdeckte Stapelweise Kartonschachteln. DVD-Player… Garantiert DVD-Player. Und wo sind die Zigaretten und das Gras? Er tastete sich rechts an den Schachteln vorbei und entdeckte eine Kühlbox. Frank riss seinen Arm erschrocken zurück als er die Kälte fühlte. Sein Verstand war im ersten Moment nicht fähig diesen unerwarteten Eindruck zu verarbeiten. Plötzlich spürte Frank eine Bewegung an seinen Füßen. Er quiekte vor Schreck und machte einen Sprung rückwärts, wobei er in dem Stapel DVD-Player landete. Es gab ein lautes Poltern und der größte Teil der Kartonschachteln landete mit großem Getöse auf dem Boden. Vielleicht doch keine DVD-Player… Er hatte sich von dem ersten Schreck erholt, doch sein Herz pochte immer noch wie wild. Dann konnte man ein weiteres Quieken hören. Dieses Mal war es jedoch nicht Frank der quiekte. Das kleine etwas das ihm über die Schuhe getrippelt war, quiekte. Eine Maus schrie sein Verstand. Beruhige dich – nur eine Maus…Doch er hatte genug gesehen – gefühlt. Frank torkelte aus dem Hänger in die frische Nachtluft hinaus und schloss hastig die schweren Türen. Er ging wieder zur Fahrertür. Diesmal öffnete er sie und kletterte hinter das Lenkrad. Als Frank die Schlüssel in den Schlitz steckte, erwachten zwei protestierende Stimmen in seinem Kopf zum Leben. Die Vernunft: Du kannst keinen Truck fahren. Steig aus, sonst verursachst du noch einen Unfall. Und das Gewissen: Du kannst doch nicht den Laster von Stan dem leicht irrsinnigen Trucker stehlen. Schließlich hat er dir geholfen. Frank entschied sich, dass er den Laster sowieso nicht unauffällig auf die Straße bringen würde. Deshalb stieg er aus dem Truck, legte die Schlüssel auf den Fahrersitz und schloss die Tür mit einem lauten Knall.

Frank sah sich um, bis sein Blick auf dem Parkplatz direkt neben dem Diner ruhte. Er betrachtete die etwa fünfzehn Autos die dort geparkt waren. Vielleicht hat jemand aus versehen den Schlüssel stecken lassen. Heute ist schließlich mein Glückstag. Frank lächelte selbstzufrieden – wahnsinnig – und ging zu dem Parkplatz. Eine weitere Stimme – die Stimme seines gesunden Menschenverstands – protestierte gegen diese Theorie. Doch Frank fand, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, um auf seinen gesunden Menschenverstand zu hören. Und tatsächlich, beim fünften Wagen, bei dem er durch die Windschutzscheibe das Schlüsselloch untersuchte, wurde er fündig. Heute ist mein Glücktag, dachte Frank und grinste wieder wahnsinnig. Dieses Mal wurde sein Grinsen sogar von einem leichten krächzenden Quieken begleitet. Er stieg in den Wagen und griff nach dem Schlüssel, der im Schloss steckte. Würde Stans Laster dasselbe Schicksal wie diesen Saab ereilen? Saab! Ich fuhr einen Saab. Ich fahre einen Saab! Frank drehte hastig an den Autoschlüsseln und vergaß die Kupplung durchzudrücken. Der Saab nahm einen Satz und landete in dem Blumenbeet vor dem Parkplatz. Franks Fuß fand im letzten Moment das Bremspedal. Er atmete tief ein und aus, drückte die Kupplung bis zum Boden durch. Er startete den Motor, legte den Rückwärtsgang ein, ließ die Kupplung langsam los und gab Gas. Der Saab befreite sich mit Leichtigkeit aus dem Blumenbeet und setzte ein Stück weit zurück. Countrygedudel drang aus den Lautsprechern. Frank stand mit laufendem Wagen auf dem Parkplatz und drehte an dem Potentiometer für die Frequenzwahl und stellte es auf einen Sender ein der gerade Stadium Arcadium von den Red Hot Chilli Peppers spielte. Er legte den Vorwärtsgang ein und ließ die trotzige Musik aus den Lautsprechern dröhnen. Frank gab Vollgas, und der Wagen setzte sich mit spulenden Rädern in Bewegung. Er raste auf die Straße hinaus, dem Horizont entgegen. …einer kleinen Stadt entgegen Namens Mountains End. Frank wusste was er dort vorfinden würde… sich selbst!

***

Frank war etwas mehr als zwei Stunden unterwegs. Es war bald Zehn Uhr in einer dunklen Nacht. Vor zwei oder drei Tagen, oder so, musste Neumond gewesen sein. Frank reagierte, wie viele andere Menschen, auf den Vollmond. Doch er war schon immer der Meinung gewesen, dass die Neumondphase einen bedeutend größeren Einfluss auf ihn verübte.

Er konnte das Ping-Geräusch der Benzinwarnlampe nicht mehr ertragen. Als Frank auf die Tankanzeige blickte, fluchte er laut. Heute war nicht sein Glückstag. Frank hatte das Pech, einen Wagen mit kaputten Benzinleitungen zu stehlen. Er wagte einen Blick in den Seitenspiegel und sah wieder die Spuren, die kleinen Tröpfchen Benzin, die er seit einer Stunde hinter seinem Wagen platzierte. Sobald der Besitzer dieses Wagens den Diebstahl bemerkte war Frank im Arsch- gearscht! Den Bullen würde es keine große Mühe bereiten den frischen Spuren zu folgen. Frank hoffte, dass bis sein Vergehen entdeckt wurde, morgen sein würde, damit die Spuren bis dahin in der heißen Mittagssonne verdampften. Doch das war ein Wunschdenken – und das wusste Frank.

Er hatte sowieso größere Probleme. Dank den kaputten Leitungen fraß dieser Saab so viel Benzin, wie sein Cousin Eddie, Burger. Und sein Cousin war gelinde gesagt verflucht fett.

Weit würde er nicht mehr kommen. Wenn er den Straßenschildern und seiner Einschätzung des Benzinvorrates glauben konnte, würde er es die sechs Meilen bis zur nächsten Tankstelle noch schaffen. Doch Frank besaß nur die zwanzig Dollar, die er von Stan gekriegt hatte. Normalerweise würde er mit zwanzig Dollar und so einem Saab recht weit kommen. Doch dieser Saab benötigte ein Vielfaches mehr an Sprit als ein alter Dodge. Der Tank würde bevor er in Mountains End eintraf wieder leer sein. Er warf einen verzweifelten Blick auf die Straßenkarte, die er auf dem Beifahrersitz ausgebreitet hatte und versuchte noch einmal einen kürzeren Weg nach Mountains End zu finden. Das Ping und das Leuchten der Lampe für den Reservetank machte ihn nervös. Frank schätzte etwa zwei Meilen bis zur Tankstelle, als der Motor kurz ins Stottern kam. Frank konnte sich nicht entscheiden ob er Vollgas geben sollte um möglichst schnell zu der Tankstelle zu gelange, oder ob er möglichst Benzin sparend fahren soll. Doch dann hätte er keinen Schwung und würde es vielleicht den nächsten Hügel nicht hinaufschaffen. Im selben Moment türmte sich vor seinen Augen genau so ein Hügel auf. Die Straße wurde zunehmend steiler und steiler. Das Auto protestierte wieder. Wenn er weiter so dahinwuselte würde er diesen Hügel nie schaffen. Der Motor würde einfach aussetzen und Frank würde gemütlich mit Cousin Eddie den halben Hügel, rückwärts hinunterrollen. Und dann wäre er wirklich gearscht. Es wäre ihm unmöglich den Wagen den Hügel hinaufzuschieben. Vielleicht befand sich ein Benzinkanister im Kofferraum. Doch wie weit entfernt war die nächste Tankstelle wirklich? Eigentlich gab es nur eine einzige Möglichkeit - Vollgas. Er hatte nicht besonders viel dabei zu verlieren. Würde er es nicht versuchen, würde er sowieso vor diesem verdammten Hügel feststecken.

Frank biss sich auf die Lippen und gab Vollgas. Der Saab mühte sich mit den letzten Tropfen Benzin den Hügel hinauf. Gerade als er oben ankam begann der Motor wieder zu stottern. Diesmal mehr den je. Er protestierte und klopfte. Als möchte er sagen: Lass mich in ruhe, ich will nicht mehr, ich verdurste sonst… Ich sterbe….. Und dann war der Motor aus. Der Schwung reichte gerade noch um auf dem Höhepunkt des Hügels zum Stehen zu kommen. Der Motor machte kein einziges Geräusch, als wäre er tot.

»Heute muss wirklich mein Glückstag sein.«, schrie Frank mit funkelnden Augen. Es war ein heiserer Schrei. Er hatte seit über zwei Stunden außer einem gelegentlichen Fluchen nichts mehr gesagt. Frank starrte auf die Tankstelle, die sich am Ende des jetzt wieder abfallenden Hügels befand. Das Benzin war alle, der Motor sprang nicht mehr an. Doch wenigstens hatte er es bis auf den Hügel geschafft, und war nicht rückwärts wieder hinuntergerollt.

Frank öffnete die Fahrertür, legte den Leergang ein, und stellte einen Fuß auf den Teer der Straße. Dann stieß er sich mit aller Kraft vom Boden ab und der Wagen begann den Hügel hinunterzurollen. Frank nahm seinen Fuß zurück in den Fußraum, schloss die Tür und bereitete sich darauf vor zu bremsen. Der Saab wurde immer schneller, und in der Mitte des Hügels trat Frank mit aller Kraft auf das Bremspedal. Er hatte vergessen, dass er mit einem toten Motor nicht mit einer Bremskraftunterstützung rechnen konnte, und kam zu schnell den Hügel herunter. Im letzten Moment riss er das Lenkrad nach rechts, um die Einfahrt zu erwischen. Doch er hatte auch nicht mit der fehlenden Servolenkung gerechnet. Doch irgendwie schaffte er es, unter einem angestrengten Schrei den Saab in die Einfahrt zu lotsen. Kurz vor den Tanksäulen zog Frank die Handbremse, und die Hinterachsen beschrieben unter tosendem Lärm einen weiten Bogen.

Der Saab stand mitten auf dem Betonplatz, neben der Tankstelle. Franks rechte Hand umschloss immer noch fest den Griff der Handbremse. Eine Zeitlang blieb Frank so sitzen. Die Augen geschlossen, die eine Hand am Lenkrad, die Andere an der Handbremse – beide Füße auf dem Bremspedal. Nach einer weile öffnete er vorsichtig die Wagentür und stieg aus dem Auto – so vorsichtig, als wäre dieses eine Bombe, die bei der kleinsten Erschütterung hoch ginge. Genauso entfernte er sich auch von dem Saab. Rückwärts, und mit sehr langsamen Schritten. Er stand unter Schock. Frank ließ sich auf seinen Hintern fallen und dachte nach. Er saß nur da und dachte nach….

Was mache ich hier eigentlich? Ich sitze vor einem Auto, das ich gestohlen habe. Ich klaue eigentlich nicht… Und ich lüge nicht, normalerweise… Wie viele Male habe ich in den letzten Tagen – erfolgreich – gelogen?

Doch dann lenkten seine Gedanken auf eine andere Sache, auf eine andere Überlegung. Eine, wie er fand, sehr beängstigende Überlegung.

Was wäre, wenn ich mir das alles nur eingebildet habe? Was ist, wenn meine Hausschlüssel nur nicht passten, weil sie verformt waren. Verformt vom vielen Gebrauch. Was, wenn meine Kreditkarten gar nicht, nicht existieren. Was wenn diese eine bloß defekt war; was wenn das Kartensystem nur gerade ein technisches Problem hatte. Wenn die Leitungen vom Kartenleser einen Wackelkontakt hatten. Was, wenn die Empfangsdame in meiner Firma nur meinen Namen falsch geschrieben hatte… Vielleicht sitzt meine Sarah zu Hause. Sitz zu Hause und wartet – auf mich. Krank vor Sorge. Sie weiß ja schließlich nicht, wo ich bin - und wieso ich abgehauen bin… Und wenn ich mich nicht damit beeile zurück nach L.A. zu kommen, ist mein Job ebenfalls gefährdet. Ich muss zurück nach L.A. Ich muss… Ich muss Sarah anrufen.

Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Münzsprechautomat. In einer Art benommenem Wahn kroch Frank zu dem Saab, dessen Fahrertüre immer noch offen stand. Er kramte weggetreten im ganzen Auto nach Kleingeld. Ich muss Sarah anrufen… Schließlich wuselte Frank irgendwie zu dem Telefon. Er hielt sich an dem Kasten fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren und steckte die 50 Cent, die er im Wagen gefunden hatte, in den Münzschlitz. Er konnte den Klang der Münzen hören, wie sie am Boden des kleinen, fast leeren Geldspeichers aufschlugen. Er hob den Hörer von der Gabel und begann zu wählen. Als er die Hälfte von Sarahs Nummer – unserer Nummer – eingegeben hatte hielt er kurz inne. Hatte er die richtige Nummer gewählt? Er entschied, dass es die Richtige war und tippte die Zahlenreihe zu ende. Tuuu-t… Tuuu-t… Es klingelte. Sein Herz klopfte – tobte – wie verrückt. Tuuu-t… Tuuu-t… Gab es Menschen die um Zehn Uhr bereits schlafen gingen? Er schaute auf seine Uhr, es war bald halb Elf. Konnte Sarah um diese Zeit schlafen? Tüüü-t… Tüüü-t… Ja. Wahrscheinlich konnte Sarah die letzten drei Tage kaum schlafen. Schließlich war ihr Ehemann – bin ich - spurlos verschwunden. Einen kurzen, schrecklichen Augenblick lang, bildete sich Frank ein, dass er wieder in den Hörer gezogen wurde. Dann hörte er ein Klick und eine verschlafene, weibliche Stimme meldete sich: »Hallo…?« Das ist nicht Sarah… Doch! sagte sein Verstand. Ich habe sie geweckt. Deshalb klingt sie so anders.

»Sarah?« fragte Frank vorsichtig.

»Wer? Nein. Hier ist nicht Sarah«, meldete sich die Stimme am anderen Ende des Telefons wieder. Frank wusste nicht was er sagen sollte und entschied sich für das einzig logische: »Ist Sarah da? Könnten sie sie bitte ans Telefon holen?«

»Es tut mir leid. Ich kenne keine Sarah. Sie müssen sich verwählt haben.«

»Sie lügen«, klagte Frank. Er verspürte wie die Wut wieder in seinen Verstand kroch. Der ganze Körper verkrampfte sich. »Holen sie Sarah ans Telefon. Sagen sie ihr, dass ihr Ehemann am Apparat wäre. Ich…«

»Sir, bitte. Ich kenne Niemanden mit dem Namen Sarah und sie machen mir Angst. Sie haben sich verwählt.« Ihre Angst klang aufrichtig. Das Dröhnen kroch langsam zurück in seinen Kopf. Das Monster pirschte sich langsam durch das Dickicht seines Verstandes an ihn heran. Doch die Wut verflog. Sein Körper entspannte sich. Unsicherheit ersetzte die Wut.

»Aber… Tut mir leid. Au… Auf wiederhören.« Mit diesen Worten legte er auf. Hatte er sich doch verwählt? Tatsächlich verwählt. Nein. Er wusste es besser. Er wünschte sich, dass er sich verwählt hatte. Er wünschte sich, dass alles nur ein böser Traum war, um sich vor der schrecklichen Realität zu drücken. Doch die Realität war schrecklich. Frank hatte wirklich sein ganzes Leben verloren. Und er wusste es. Diese Erkenntnis verstärkte das Dröhnen. Das Monster wurde aggressiver. Jetzt stand Frank da. Er konnte kaum das Gleichgewicht halten, seine Gedanken überschlugen sich. Er musste trotzdem nach Mountains End. Doch die Energie schien aus seinem Körper zu strömen. Er fühlte sich leer. Wie sollte er nach Mountains End gelangen? Der Tank des Wagens war leer. Und selbst wenn er ihn mit den zwanzig Dollar füllen würde. Er würde nicht weit kommen. Nicht weit genug. Er war auch kein Automechaniker. Wie sollte er die Leitungen reparieren? Er wusste gerade mal genug über Autos, um regelmäßig den Ölstand zu überprüfen. Das Dröhnen wurde lauter, und Frank riss sich zusammen um nicht einfach umzukippen. Er erkannte (in seinen Augen erschien ein wahnsinniges Funkeln) das er jetzt nicht aufgeben durfte. In Mountains End würde er die Lösung für alles finden. Sogar das Dröhnen würde aufhören.

Es gab nur die eine Möglichkeit, wie er nach Mountains End gelangte. Er musste den Wagen auftanken und sehen wie weit er kam. Den Rest müsste er vielleicht laufen. Das würde sich ergeben. Aber ein paar Meilen würde er mit diesen 20 Dollar bestimmt schaffen.

Er überquerte die Straße. Sein Blick verharrte auf dem Wagen. Frank hätte ein heranbrausendes Auto weder gehört oder gesehen, noch sonst wie wahrgenommen. Ein unachtsamer Fahrer wäre sein Ende gewesen – aber immerhin ein Ende.

Als sich Frank in den Wagen bücken wollte um die Handbremse zu lösen, stolperte er und schlug sich das Knie auf. Er schrie auf vor Schmerz. Doch um ein schmerzendes Knie konnte er sich jetzt nicht kümmern. Denn er kannte sein primäres Ziel. Er musste den Wagen auftanken.

Er löste die Handbremse und begann den Wagen anzuschieben. Sein Knie protestierte und er knickte ein, wobei er mit dem verwundeten Knie auf dem harten Beton aufschlug. Er kniff die Augen zusammen und unterdrückte einen weiteren Schrei. Er rappelte sich wieder auf die Beine und machte sich erneut ans Werk. Einen Augenblick lang, glaubte Frank wieder einzubrechen, doch dann setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Mit einer Hand am Lenkrad lotste er den Saab möglichst nahe an die Zapfsäule heran. Als das geschafft war, setzte er sich für einen kurzen Moment auf den Fahrersitz und ließ die Schmerzen geschehen. Geistesabwesend, betätigte er den Knopf für die Tankklappe. Dann setzte er seine Arbeit mit vorsichtigen Schritten fort und humpelte zum Geldautomaten. Er kramte den zerknitterten 20 Dollarschein aus seiner Gesäßtasche und steckte ihn in den Schlitz. Einen weiteren schrecklichen Augenblick lang glaubte Frank, dass der Automat den Geldschein einfach trotzig wieder ausspucken würde – dass der Schein zu zerknittert war. Doch die Anzeige am Automaten spuckte ein OK aus und wechselte zur Säulenwahl. Frank tippte die Zahlen 0 und 1 auf der Tastatur und ein weiteres OK erschien. Das zufriedene Summen der zum Tanken bereiten Zapfsäule erklang.

Er humpelte zu dem Zapfhahn und führte ihn zu dem Einfüllstutzen. Mit einer Hand schraubte er den Tankdeckel ab und führte anschließend mit der anderen Hand den Zapfhahn in den Tank. Er betätigte den Griff am Hahn und konnte hören, wie die so dringend benötigte Flüssigkeit in den Tank floss. Frank fühlte sich wie ein Junkie, der endlich seinen Schuss bekam.

Nach einer Zeitlang waren die 20 Dollar aufgebraucht, und der Benzinfluss stellte mit einem durchdringenden Klicken ab. Er hängte den Hahn in die Halterung zurück und schraubte den Tankdeckel wieder auf den Tank. Sein Knie fühlte sich jetzt schon viel besser an. Er stieg völlig ruhig in das Auto und drehte den Schlüssel. Das ganze System füllte sich langsam wieder mit Benzin und der Wagen sprang nach einer Weile, ohne Protest an.

Ein irrsinniges Grinsen zauberte sich auf Franks schweißüberströmtes Gesicht. Er gab langsam Gas und rollte gemächlich an den Straßenrand. Frank vollführte einen Blick nach links und nach rechts, und setzte den Blinker. Mit einer nie dagewesenen Ruhe fuhr er auf die Straße, Richtung Mountains End.

Frank war noch etwa eine Stunde von Mountains End entfernt, als die Tankanzeige nahe am roten Bereich war. Bald würde wieder das Warngeräusch des Reservetanks anfangen. Hinter sich zog er immer noch eine Benzinspur nach. Doch das störte Frank nicht. Ein Song der Dire Straits wurde im Radio gespielt und Frank war sich wage bewusst, dass er kurz davor war durchzudrehen. Doch das störte Frank nicht, er war zufrieden und fühlte sich gut.

Selbst als die Statepolice vor einer halben Stunde an ihm vorbei gefahren war, hatte ihn das nicht gestört. Es hatte ihn auch nicht gestört, als der eine Bulle – der mit dem verkniffenen Gesicht – misstrauisch die Benzinspur gemustert hatte. Und es hatte Frank genauso wenig gestört – wenn nicht sogar noch ein bisschen weniger – als der andere Bulle – der Dicke am Steuer – dem verkniffenen Gesicht zugenickt hatte und darauf das verkniffene Gesicht das Autokennzeichen von dem Saab notiert hatte. Frank hatte ihnen nur freundlich zugewinkt und seine Sonntagsfahrt zu den Gitarrenriffen von Mark Knopfler fortgesetzt.

Mountains End lag an einem Berghang in einer Art Tal, unweit entfernt von den Rocky Mountains. Die letzte Dreiviertelstunde der Fahrt, führte auf der anderen Seite des Tals, durch einen malerischen Wald, meist Hügel abwärts. Dadurch sparte Frank eine Menge Benzin. Er schaute auf die Uhr. Halb Zwölf. Die Nacht war klar. Durch die schmale Öffnung der Baumwipfel auf beiden Seiten konnte Frank die Sterne sehen. Er fühlte sich gut. In etwa zehn Minuten würde er Mountains End erblicken. Das Geräusch der Tankanzeige, die seit längerem lärmte, störte ihn nicht.

Etwa fünfhundert Meter weiter rollte der Wagen auf einer geraden Strecke aus. Frank gähnte, stieg aus dem Wagen und machte sich daran, humpelnd und zufrieden seinen Weg zu Fuß fortzusetzen.

Er konnte in den Wäldern das rascheln von verschiedenen harmlosen und gefährlichen Tieren hören. Doch das störte ihn nicht. Bald würde er Mountains End erblicken. Dann war alles gut…

Fledermäuse flogen über seinen Kopf hinweg und erledigten ihre nächtlichen Geschäfte. Etwa hundert Meter weiter, überquerte ein fuchsähnlicher Schatten hastig die Straße.

Frank genoss die frische Luft und sog so viel davon in seine Lungen wie er nur konnte. Der Geschmack dieser Luft war ihm vertraut. Er erschrak nicht, als irgendein Tier lauthals schrie. Schließlich kannte er dieses Geräusch. Wenn man seit mehr als dreißig Jahren Nacht, für Nacht mit diesen Geräuschen einschlief, konnten sie einem keine Angst mehr machen. Man nahm sie kaum noch war. Sowie ein Stadtmensch aus L.A. sich an den Verkehrslärm gewöhnte, und über die Jahre kaum noch Notiz von ihnen nahm. Doch ihm wäre dieser Stadtlärm zu viel. Er - Steve – war in Mountains End aufgewachsen. Für ihn wäre dieser Großstadttumult nichts. Er hatte letzten Winter mit dem Gedanken gespielt, in die Stadt zu ziehen. Doch seine Frau – Helen – war dagegen gewesen. Er hatte sie trotzdem beinahe überzeugen können. Doch dann bekam Steve selber kalte Füße.

Mit diesen und ähnlichen Gedanken trottete Steve die Straße hinunter nach Mountains End, zu seinem Zuhause. Dort, wo wahrscheinlich schon seine Frau Helen auf ihn wartete. Ganz krank vor Sorge, weil er einen so langen Spaziergang unternahm.

Nachdem Steve etwa zehn Minuten mit schnellem Schritt gegangen war, kam er an dem alten Willkommensschild von Mountains End vorbei. Der Schriftzug Welcome in Mountains End, Colorado war in roten Buchstaben, über einem verblassten Bild des kleinen Städtchens am Ende des Berges, auf die Holzbalken gemalt.

Der Wald wich auf beiden Seiten langsam zurück. Zuerst war nur der Bloodhound zu sehen; wie sich der mächtige Berg in den Himmel erhob. Der dichte Wald fing dort an, wo die letzten Häuser von Mountains End lagen, und endete etwa in der Mitte des Berges. Darüber ragten zerfurchte Felswände empor, die weiter oben zu einem abgeflachten Gipfel zusammenliefen. Dank der markanten Form des Gipfels, sah dieser Berg einem Vulkan sehr ähnlich. Ab und zu behauptete jemand, dass es sich um einen schlummernden, vergessenen Vulkan handle. Derjenige bestand dann meistens darauf, dass er beim Spazierengehen, oder von seinem Fenster aus gesehen hätte, wie blutrote Lava aus dem Berg sprudelte. Weshalb die Bewohner von Mountains End dem Berg den Namen Bloodhound gaben. Der Bürgermeister – Cornelius Neuman – setzte sich dafür ein, dass der Berg mit seinem offiziellen Namen – Mount Falconview - betitelt wurde, und erhoffte sich daraus den Tourismus ankurbeln zu können.

Nach weiteren fünf Gehminuten tauchten am Fuße des Berges, auf der anderen Seite des Tals die Lichter von Häusern, in der Dunkelheit auf. Als Steve an der Stelle ankam, wo die Aussicht am besten war, konnte er über das ganze Tal hinweg blicken. Ihm gefiel der Ausblick über die vereinzelten Lichter. Mountains End war normalerweise – meistens – ein sehr ruhiges Städtchen. Die meisten Bewohner legten sich um halb Elf oder Elf schlafen, oder schliefen vor dem Fernseher ein.

Steve genoss einen Moment die Aussicht und setzte dann seinen nächtlichen Spaziergang fort.

Er ging die Downhill Street entlang, als links von ihm die ersten Häuser auftauchten. Es waren kleine blecherne Baracken, die den Mitarbeitern des großen Sägewerks zur Verfügung standen. Wenn man nach rechts schaute, sah man das säuberlich gestapelte Holz. Dahinter türmten sich große, hölzerne Produktionshallen auf.

Die Gebäude wurden allmählich zu durchschnittlichen Wohnhäusern. Steve ging wie immer die Downhill Street hinunter, bis diese schließlich in die Main Street mündete. Die Main Street überquerte er und kürzte wie immer durch die schmale Gasse zwischen dem Postamt und der einzigen Bank in Mountains End ab. Er musste nur noch die West Side Street entlang, an den wenigen Geschäften und Restaurants in dem kleinen Gewerbeteil vorbei; dann über den Richard B. Feller – Memorialpark und zu guter Letzt an dem kleinen Bach entlang gehen, bis er sich schließlich in dem kleinen Quartier befand, wo seit jeher sein Zuhause war.

Steves Haus befand sich an der Lane Street Nr. 34. Sein Nachbar zur Linken hieß Howard Mills. Ein etwa 45-Jähriger, komischer Kauz, der seit jeher alleine in seinem Einfamilienhaus wohnte. Steve und Mills wechselten pro Jahr im Durchschnitt etwa vier Sätze. Man konnte sagen, sie waren nicht gerade die besten Trinkkumpanen. Doch mit seinem anderen Nachbar – Fred Wankman – war Steve mehr als gut befreundet. Obwohl Steve und Fred, gegensätzlicher nicht hätten sein können. Während Steve eher Musik im Stile von Johnny Cash hörte, war Fred ein Beatles-Fan und benahm und kleidete sich auch dementsprechend. Trotzdem waren sie die dicksten Freunde.

Steve betrat die Lane Street und ging an Fertigbauhäusern mit weißen Zäunen, perfekt frisierten Rasenflächen und dem Van in der Einfahrt, vorbei.

Doch dann nahm er etwas seltsames wahr. Irgendwie schien die Straße für einen kurzen surrealen Moment hin und her zu schwanken – mit der Zeit fast zu vibrieren. Es war nicht wie ein Erdbeben. Auf irgendeine Art schien Steve selbst zu vibrieren. Er blieb abrupt stehen. Und das Vibrieren hörte auf. Hatte er sich das bloß eingebildet? Wenn er sich in Mikes Tavern ein paar Bier genehmigt hätte, könnte er sich dieses Phänomen vielleicht erklären. Doch Steve war völlig nüchtern. Er schüttelte mit einem schnellen Kopfschütteln diese Gedanken ab und ging weiter. Dazu pfiff er irgendeinen alten Country Evergreen. Er ging ein paar Meter, als auf einmal dieses Schwanken wieder begann. Auch diesmal steigerte es sich bis zu einem Vibrieren. Diese Vibrationen verursachten ein höllisches Geräusch. Eine Art Dröhnen… Dieses Dröhnen drang in seinen Körper – drang in seinen Schädel und breitete sich in seinem Kopf aus. Ein Dröhnen, dass ihm seltsam bekannt vorkam. Die Sicht verschwamm.

Was als leises Dröhnen anfing, wurde jetzt zu einem ohrenbetäubenden Geräusch und führte zu unerträglichen Kopfschmerzen. Dann humpelte Steve die Straße herunter zu der Hausnummer 34 und verstand die Welt nicht mehr. Er hatte noch nie zuvor etwas Ähnliches gefühlt oder erlebt. Diese Schmerzen, dieser nahezu drogenartige Zustand, der aus dem nichts zu kommen schien, gingen über sein Verständnis hinaus. Mit weit aufgerissenen Augen und kreideweißem Gesicht, torkelte Steve die Lane Street entlang und zählte die Hausnummern ab. 30 - 32 – 34…

Als Steve (Frank) vor seinem Haus in Mountains End (L.A.) ankam gab sein schmerzendes Bein nach, und er ließ sich auf die Knie fallen und betrachtete sein trautes (fremdes) Heim.

Sein Körper schien sich unter dem stetigen Dröhnen zu verformen, zu einem Strudel zu werden, als plötzlich alle Dämme brachen und alle Erinnerung und gespeicherten Informationen von Franks und Steves Leben ineinander flossen und wie ein reißender Strom in sein Bewusstsein drangen…. …. Sarah….Helen? ….Zuhause…. Fragmente von irgendwas. Dann: Abgrundtiefe Schwärze…. Nichts…

Sieben Tage

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