Читать книгу Die Bewahrung der Godsvaja - Andreas Milanowski - Страница 4
2 Asgael und Agyrtha
ОглавлениеAls Asgael mit schweren Schritten die letzten, von gewaltigen Wurzelsträngen geformten Holzstufen nach Agyrtha Brndil hinaufkletterte, neigte der Tag sich bereits seinem Ende zu. Grau, mit Wolken verhangen war der Himmel, die Luft schwer und feucht. Eine leichte Brise, die von den kalten Landen herüberwehte, spielte zart mit dem langen, weißen Haar des Alten und brachte ihm ein wenig Erfrischung. Traurig indes klang das Lied, das der Wind in den Ästen Agyrthas sang. Asgael atmete schwer und lauschte. Lange schon hatte er aufgehört, zu zählen, wie oft er den beschwerlich steilen Weg aus dem Tal hier heraufgestiegen war. Genauso viele Male hatte er, an exakt dieser Stelle des Weges, innegehalten, hinaufgeschaut in das gewaltige, mächtig ausgewachsene Geäst des alten Baumes und sich still gefragt, ob der Tag für sein Vorhaben der richtige sei. Ebenso oft hatte ihm eine Stimme, deren Quelle er nie hatte benennen können, geantwortet, Agyrtha sei bereit.
Der Alte sog die Abendluft tief in seine Lungen. Dann sammelte er seine Kräfte und schickte sich an, die letzten Stufen zu erklimmen, hinauf zum Brndil. Enorme Anstrengung lag hinter ihm und die Muskeln seiner Beine brannten wie Feuer, als er, endlich, das Tor passierte, das von zwei, dreimal mannshohen Menhiren gebildet wurde. Die Himmel schienen dem Treffen wohlgesonnen, denn just in dem Moment, da Asgael Agyrthas Reich betrat, stach der letzte Strahl der untergehenden Sonne hinter der dunklen Wolkendecke hervor. Für einen winzigen Augenblick ließ er die Krone des Baumes in hellem Brennen erstrahlen. Als ginge der gesamte Brndil in Flammen auf, wurde der Zauberer eingefasst von goldenem Leuchten. Die Strahlen drangen in ihn, erfüllten ihn ganz und nahmen ihm den Atem. Vor seinen Augen entfaltete sich ein weiter Bogen aus gleißendem Licht, dessen Glanz hinüberreichte, wie eine Brücke in die Welt, nach der seine Seele sich mit Macht sehnte. Als könne er dieses Strahlen mit all seinen Sinnen in sich aufsaugen, hatte er das Gefühl, die Grenzen seines Körpers lösten sich auf, er würde eins mit der Quelle dieses Lichts. Noch einmal huschte ein Lächeln über das Gesicht des Druiden. Dann wurde sein Geist still. Seine Gedanken schwiegen. Er fiel selig auf die Knie, sank ins Moos und glitt, erschöpft, in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf.
Als er erwachte, konnte er nicht sagen, wie lange er so gelegen hatte. Er war in Dunkelheit gehüllt, die schwarze Nacht über den Berg gekommen. Asgaels Augen versuchten, die Umgebung zu erkunden, doch mehr als eine Ahnung des gewaltigen Schattens, der sich über ihn gewölbt hatte, wollte sich ihnen nicht zeigen. Dass er keines seiner Glieder würde bewegen können, hatte er von den vielen seiner vorherigen Besuche gewusst. Er und Agyrtha kannten sich seit Äonen, doch, auch wenn das Vertrauen zwischen den beiden mit der Zeit gewachsen war, Agyrtha hatte nie von seiner Vorsicht abgelassen. Wesen mit Gehörnen oder Geweihen, mit Beinen, mit Armen und Zähnen, noch dazu solche, die Äxte, Sägen oder andere Werkzeuge benutzten, konnten seinesgleichen übelsten Schaden zufügen. So war es, aus seiner Sicht, nur folgerichtig und angemessen, ihr Wesen und ihre Absichten aufs Genaueste zu prüfen, bevor man ihnen gestattete, sich im Brndil zu bewegen.
Hatte Asgael dies anfangs noch als eine, für ihn selbst überaus unangenehme Laune seines Gefährten angesehen, so hatte er sich nach den ersten Vereinigungen daran gewöhnt und sie als unabdingbare Voraussetzung ihrer Gemeinsamkeit angenommen. Er hatte sich der Symbiose hingegeben und aufgehört, sich dagegen zu wehren. Dadurch waren seine Seele und sein Körper ruhig geworden, bereit für die Befragung. Agyrtha achtete, im Gegenzug, sehr sorgfältig darauf, dem Zauberer nicht mehr Schmerzen und Leid zuzufügen, als es ihm unbedingt notwendig schien. So waren zwar dessen Handflächen von feinen Strängen blutig durchbohrt, seine Arme und Beine aber lediglich, durch knochiges Wurzelwerk, stramm an den Moosboden des Brndil gefesselt, seine Augen und inneren Organe unverletzt und verschont.
„Agyrtha, was ist dein Begehr?“, fragte Asgael den Gefährten schweigend, mit der bloßen Kraft seiner Gedanken.
„Asgael, ich will wissen, ob du noch immer reinen Geistes bist!“, brummte Agyrthas ruhige, tiefe Stimme. Hätte nicht der Boden, auf dem er lag, gezittert wie während eines Bebens, der Zauberer hätte geschworen, der Klang sei in seinem Kopf entstanden. Er war es nicht. Agyrtha hatte gesprochen, der Herr von Brndil. Langsam löste er seinen harten Griff.
Asgael stöhnte auf. Sein Leib begann, aus der Erstarrung zu erwachen. Alles schmerzte, seine Muskeln, seine Knochen, die Gelenke, Arme, Beine, der Rücken, der Kopf, besonders die gequälten, durchbohrten Handflächen. „Musst du immer noch deine Säfte durch meine Adern fließen lassen, um zu ergründen, ob du mir vertrauen darfst? Um ein Haar hättest du mich getötet!“
„Du weißt, Freund“, fauchte Agyrtha und diesmal klang seine Stimme fordernd, wie ein zorniger Windstoß, „du weißt, welche Erfahrungen unseresgleichen mit den Deinen gemacht haben. Es ist nicht mehr als recht und billig, mich zu versichern, dass du noch auf der Seite der Wahrhaftigkeit stehst und dies immer wieder und immer aufs Neue.“
„So sei es denn“, sagte Asgael und schloss demütig die Augen. Noch einmal packte Agyrtha mit all seiner Kraft zu. So stark war seine Umarmung, dass dem Alten erneut die Luft wegblieb. Schreckensweit schauten seine Augen in dunkle Unendlichkeit. Er verlor die Kontrolle über seinen Geist, seinen Körper, sein ganzes Sein. Wenig später schon hatte er die Grenze zu Agyrthas Reich überschritten und stand, wie im Traum, vor seinem gewaltigen Stamm. Vier ausgewachsene Männer, selbst, wenn sie sich an den Händen gepackt und ihre Arme gestreckt, hätten wohl nicht vermocht, das Gewächs zu umfassen. Behutsam legte der Zauberer seine Handflächen auf die glatte Rinde des Buchenbaumes. Sein Blut und Agyrthas Säfte hatten sich gemischt und pochten in seinen Adern. Die offenen Wunden schmerzten und brannten wie Feuer. Asgael rückte noch näher an den Baum heran und drückte nun auch seine nackte, behaarte Brust flach an den Stamm. In Höhe seines Gesichtes tat sich, wie es schon hunderte Male zuvor geschehen war, ein Fenster auf in der Rinde des Baumes. Der Zauberer öffnete seinen Mund einen Spalt breit, legte seine Lippen auf das blanke Holz, das ihm sein Gefährte darbot und küsste es zärtlich. Er leckte und schmeckte das Harz, roch die frische Erde, das feuchte Laub zu seinen Füßen und fühlte sich Eins mit dem uralten Gewächs. Gleichklang und tiefer Friede erfüllten seine Seele. Aller Schmerz war in diesem Moment vergessen.
„So singe mir denn dein Lied, Freund“, flüsterte Agyrtha „und berichte mir von den Begebenheiten, die ich für dich und dein Volk zu bewahren habe. Du bist alt und ahnst wie ich, dass dies die letzte unserer Zusammenkünfte sein wird. Was du mir heute nicht erzählst, wird, so du zu den Geistern der Uriod Mar gerufen wirst, für alle Zeiten ungesagt bleiben, dem Vergessen anheimfallen. Dessen Geschichte du mir heute verschweigst, der wird vertilgt sein vom Antlitz der Erde, als hätte er nie gelebt.“
Asgael vernahm die Worte Agyrthas, als kämen sie bereits aus einer anderen Welt. Ja, er würde dieses Dasein hinter sich lassen, das heiße, treibende Brennen des Feuers, das wilde, unkontrollierbare Sprudeln und Wallen der Gefühle, die Unruhe des luftigen Geistes, das Gefesselt-sein an die Erdenschwere, die Härte ihrer Regeln und Gesetze. Bald schon würde all dies hinter ihm liegen. Vor ihm dagegen, nach den siebenmal sieben Tagen des Badoûm, des Aufenthaltes in der Zwischenwelt der Uriod Mar, würde sich der Eingang öffnen ins Reich des Uriod Ur, des reinen, des klaren, des allmächtigen Klangs, aus dem die Welten einst entstanden waren. Asgael war sicher, sich der Herausforderung dieser Reise als würdig zu erweisen.
Die Vorstellung, die Agyrthas Worte in seinem Geist erzeugt hatten, die Aussicht darauf, nach so langer Zeit heimkommen zu dürfen in das zeitlose Schwingen des Allklangs, ließen in Asgaels Seele ein berauschendes Glücksgefühl entstehen. Im Angesicht des Todes kehrte das Leben zurück in seinen Körper und seinen Geist. Er erinnerte sich der Aufgabe, die zu erfüllen war. Tonlos bewegte der Zauberer langsam seine Lippen. Worte wollten ihm noch nicht gelingen. Als hielten die Himmlischen den Atem an, war es lange Zeit so still auf dem Brndil, dass man das Reisen der Wolken hätte hören können, hätten sie sich denn bewegt. Leise dann, kaum wahrnehmbar, wie ein sanfter Winterwind, der die Schneeflocken über gefrorene Felder tanzen lässt, begann der Zauberer, zu summen. Eine einfache Melodie aus drei Tönen war es zunächst, nicht mehr. Agyrtha öffnete sich ganz, lauschte, hörte erst die Klänge, die Musik, dann die Worte, die Asgaels Mund bald darauf leise zu formen begann.
Alles, jeden Ton, jede Silbe, jeden Laut, jede feinste Regung der Lippen des Zauberers, saugte Agyrtha, der Beseelte, in sein Innerstes, schrieb es hinein in die Fasern, jeden Ring seines Holzes, um es in sich zu verschließen bis ans Ende der Zeiten, zu bewahren für die Kinder und Kindeskinder von Asgaels Volk. Reim um Reim, Strophe um Strophe, Lied um Lied erklang. Was Asgael in der Zeit ihres Zusammenseins dem alten Gefährten anvertraute, war der letzte, der hundertelfte Gesang der Gôdsvaja, des heiligen Buches. Dreimal drei mal drei Tage und Nächte dauerte es, bis alle Verse gesungen, alle Geschichten erzählt waren. Dann schlossen sich Agyrthas Fenster und Asgaels Augen, seine Ohren und sein Mund für immer. Der alte Zauberer hatte, wie von Agyrtha erahnt, den Ruf der Uriod Mar vernommen und war ihm gefolgt. Er hatte seine Reise ins Badoûm angetreten. Ob er, wie es seine Sehnsucht gewesen war, den Eingang gefunden hatte ins Reich des Uriod Ur oder einen erneuten Eintritt in den unruhigen Reigen des Werdens und Vergehens, das kann nur wissen, wer ihm begegnet ist, in diesem oder einem anderen Leben.
Die Godsvaja blieb verborgen vor den Augen und Ohren der Neugierigen. Sie wurde behütet von Agyrtha, dem Wächter. Brndil, der magische Garten aber geriet über die Jahrhunderte in Vergessenheit und wurde für lange Zeit begraben unter einer dichten Decke aus wuchernden Sträuchern, verwesendem Laub und schwindender Erinnerung.