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Orientierung

Wer nicht weiß, wohin er will, muss sich nicht wundern, wenn er ganz woanders ankommt.

LRF 1:

Orientierung bieten


Angenommen, jemand fährt in dunkler Nacht auf Nebenwegen nach Paris. Plötzlich taucht im Scheinwerferlicht ein Ortsschild auf. Der Fahrer kennt den Ort nicht. Aber er nimmt die Karte hervor. Und er sieht: Ah, da liegt diese Ortschaft. Und er kann erkennen, wie weit es noch geht bis Paris. Und wo die Autobahn verläuft. Anders gesagt: Er kann sich orientieren. Das gibt Sicherheit.

Orientierungslosigkeit dagegen schafft Unsicherheit. Unsicherheit macht Angst und führt zu Abhängigkeiten. Das gilt auch und gerade fürs Lernen. Denn lernen soll ja von der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit führen. Das beginnt beim Kleinkind. Und es sollte in der Schule weitergehen. Das heißt: Die Schule muss den Lernenden Orientierung bieten auf ihrem Weg in die Unabhängigkeit.

a u f g e p i c k t

Wer in die falsche Richtung geht, dem hilft auch Rennen nichts.

In tradierten schulischen Settings dreht sich die Orientierung um die Lehrperson. Sie ist die Orientierung. Sie sagt, wann was zu geschehen hat. Sie sagt, was gut ist und was nicht. Die zentrale Frage, die Lernende sich stellen müssen, ist einfach: Was will er oder sie da vorne unter der Wandtafel? Die entsprechenden Anpassungsleistungen werden honoriert. Unter anderem durch gute Noten.

Folgende Szene: Ein Lernender erklärt, er hätte eine Fünf5 haben sollen. Er habe jetzt aber nur eine Vier geschafft. Deshalb reiche es ihm nicht für den Übertritt. Wird dieser Lernende gefragt, was er denn mehr gewusst oder gekonnt hätte mit einer Fünf, wird er die Antwort wohl schuldig bleiben. In der Schule (und in den Diskussionen um Schulleistungen in der Familie) geht es selten um Inhalte. Es geht fast ausschließlich um Stellvertreter von Inhalten – in Form von Zensuren.

Für alle Fächer legt ein Lehrplan die Themen fest. Bestimmt wird aber das, was in der Schule »durchgenommen« wird, von den Lehrmitteln – Kapitel um Kapitel, Seite um Seite. Sie sind, zusammen mit den Vorlieben der Lehrpersonen, der heimliche Lehrplan. Verstärkt ist jetzt noch das Teaching-to-the-test im Hinblick auf die Standards aller möglichen Vergleichsarbeiten und Testverfahren dazugekommen. Lernende haben sich an externe Drehbücher zu halten. Sie haben nachzusingen, was andere vorgesungen haben – Karaoke-Lernen.

Wer hat, dem wird gegeben

Die Orientierung an Inhalten erleichtert den Wissensaufbau. Denn: »Wissen ist der entscheidende Schlüssel zum Können« (Stern 2007). Damit ist nicht eine Ansammlung lebloser Fakten gemeint. »Mit derartigem Wissen kann man mit etwas Glück einige Runden im Fernsehquiz überstehen. Ansonsten ist isoliertes Faktenwissen unbrauchbar. Zweifellos sieht ein Großteil des in der Schule erworbenen Wissens genau so aus: einige korrekte Fetzen aus einem wüsten Haufen Müll. (…) Es gibt intelligentes und weniger intelligentes Wissen. Die Redewendung ›Wissen vermitteln‹ ist, wenn es um intelligentes Wissen geht, unangemessen. Intelligentes Wissen kann nicht über eine Art Fotokopierprozess vom Kopf des Lehrers in den Kopf des Schülers übertragen werden. Es muss vom Lernenden konstruiert werden, indem er mit der neu eingegangenen Information an sein bereits bestehendes Wissen anknüpft. Je mehr Wissen er hat und je besser dieses strukturiert ist, umso leichter kann er neu eingehende Informationen aufnehmen« (Stern 2007). Oder wie heißt es in der Bibel: Wer hat, dem wird gegeben.

Lernen ist also ein individueller Konstruktionsprozess. Lernende lernen selbst. Es geschieht einfach. Wer aber sein Lernen zielführend gestalten will, muss sich orientieren können. Und zwar an Inhalten! Lernende müssen wissen, was man können könnte. Sie müssen wissen, wo sie stehen. Sie müssen Ziele sehen. Und das alles auf der Basis von klaren und transparenten Inhaltsbeschreibungen.

Denn kompetenzorientiertes und selbstwirksames Lernen braucht Orientierung in Form von Referenzwerten.

Selbstwirksamkeit kann auch umschrieben werden als Gegenteil des Gefühls, ausgeliefert zu sein. Dieses Gefühl der Abhängigkeit kann leicht entstehen in einem System, in dem Lehrpersonen, unterstützt durch Lehrmittel, den Stoff und die Dosierung weitgehend bestimmen.

Selbstwirksames Lernen verlangt indes nach anderen Arrangements. Lernende müssen ihr Lernen selbst in die Hand nehmen können. Ein methodischer Ansatz dabei: Referenzieren.

Worum geht es? Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, individuelle Leistungen mit einem Referenzwert in Beziehung zu bringen. Diesen Referenzwert und damit die inhaltliche Basis bilden so genannte Kompetenzraster.

»Unbestritten ist«, stellt Anton Strittmatter klar, »dass aus dem heutigen Nebel der überladenen Lehrpläne und diffusen sowie widersprüchlichen Ansprüche an Schule und Unterricht herausgefunden werden muss, dass der Bildungsauftrag stärker fokussiert werden muss, und dies in Form von Kompetenzbeschreibungen (in der Art des Europäischen Sprachenportfolios) und zugeordneten Standards des Erreichens durch die Lernenden der verschiedenen Bildungsstufen. Dieser Ansatz macht jedoch nur dann Sinn, wenn die Standards eben auch Standards des Erreichens sein dürfen, was eine Politik des ›Mastery Learning‹ voraussetzt« (Strittmatter 2006).


Beispiel Kompetenzraster


Solche Referenzwerte sind anschaulich beschrieben in Kompetenzrastern. Kompetenzraster definieren die Kriterien (was?) und die Qualifikationsstufen (wie gut?) in präzisen »Ichkann«-Formulierungen. Das heißt: Ein Fachgebiet (zum Beispiel Englisch) wird aufgegliedert in relevante Kompetenzkriterien. Das Europäische Sprachenportfolio liefert ein Muster dazu. Was für Englisch und für das Europäische Sprachenportfolio gilt, gilt für andere Fächer und Fachgebiete in gleicher Weise. Es geht letztlich darum, ein Curriculum in eine Matrixform zu bringen. Und in die einzelnen Felder dieser Matrix wird in ansteigendem Anspruchsniveau das beschrieben, was man können könnte. Seit PISA ruft alle Welt nach klaren und transparenten Standards. Voilà!


Zu diesen Referenzwerten bringen die Lernenden ihre Leistungen in Beziehung und setzen farbige Punkte in die entsprechenden Felder der Kompetenzraster. Auf diese Weise entwickelt sich für jedes Fach ein individuelles und differenziertes Kompetenzprofil. Die Lernenden sehen immer, wo sie stehen. Sie können ihre Situation anschaulich vergleichen mit den Anforderungen weiterführender Ausbildungen. Und sie können ihr Programm entsprechend bedürfnisgerecht gestalten. Der Ausgangspunkt liegt immer beim Ich-kann. Auf den Kompetenzrastern werden diese archimedischen Punkte des Lernprozesses sichtbar gemacht. Kompetenzraster schaffen Orientierung für die Schülerinnen und Schüler. Damit wird das Fundament gelegt für ein individuelles Lernen, das nicht Gefahr läuft, irgendwo in Frust oder Beliebigkeit zu enden. Denn die Lernenden können erkennen, wo sie stehen. Und sie können sehen, was die nächsten Schritte sind. Die Ziele sind klar. Sie sind der individuellen Situation angepasst. Das wiederum erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit.

Kompetenzraster begleiten den Lernprozess und machen die Entwicklung eines gemeinsamen Qualitätsverständnisses möglich. Bedingung ist freilich, dass die Lernenden mit den Rastern arbeiten. Auf diese Weise sind sie nicht einfach von einer Leistungsbeurteilung betroffen. Nein, sie sind aktiv daran beteiligt. Wenn schulisches Lernen stärker mit dem Wort »selbst« verbunden werden soll, braucht es die Lernenden dazu. Das heißt: Sie müssen sich als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems fühlen. Kooperatives und partnerschaftliches Arbeiten verlangt nicht nur nach einem Klima des Vertrauens, sondern – und das ist damit verbunden – nach einer Klärung der Erwartungen. Oder anders gesagt: Lernende müssen wissen, was individuell gesehen »gut« ist, damit sie »gut« sein können.


Zusammenspiel von Kompetenzraster und Checklisten

Beispiel Checklisten

Die Formulierungen in den Kompetenzrastern sind – auch aus Platzgründen — manchmal etwas allgemein gehalten. Deshalb werden sie in Form von Checklisten ausdifferenziert. Im Kompetenzraster heißt es beispielsweise: »Ich kann mich in Alltagssituationen verständigen.« In der entsprechenden Checkliste wird ausgeführt, was darunter alles zu verstehen ist. Zum Beispiel: »Ich kann nach dem Weg fragen.« »Ich kann mich und meine Familie vorstellen.« »Ich kann eine Fahrkarte kaufen«. Und so weiter. Checklisten operationalisieren die Kompetenzraster.


Beispiel Roadmaps


Lernen ist ein Ausflug in unbekanntes Gelände. Da ist es hilfreich, eine Landkarte oder eine Wegskizze dabei zu haben. Roadmapping versteht sich als Methode, die relevanten Lernziele (zum Beispiel aus der Checkliste) in die grafische Form einer Karte – eben einer Roadmap – umzugestalten. Sie zeigt – in Analogie zu einer Straßenkarte – mögliche Wege von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel. Lernende verbalisieren das, was für sie an einem bestimmten Thema wichtig, bedeutsam, relevant ist. Und dann zeichnen sie den Weg dorthin auf. Er enthält beispielsweise Meilensteine, Aufenthaltsorte, Abstecher, Verbindungen zu anderen Themen, mögliche Hindernisse. In jedem Fall ist die Roadmap ausgestaltet mit kleinen Skizzen, mit Symbolen, allenfalls mit Fotos. Die emotionale Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Lernzukunft dient der Volition und erhöht die Eintretens- und Erfolgswahrscheinlichkeit. Roadmaps können erstellt werden für einzelne Themenbereiche oder Zeitabschnitte. Großformatig können sie aber auch fortlaufend die Verbindung zwischen Herkunft und Zukunft visualisieren.

Beispiel Indikatorenlisten

Wenn es weniger um fachliche als vielmehr um soziale oder personale Kompetenzen geht, können auch Indikatorenlisten als Orientierungsinstrumente dienen. Indikatorenlisten beschreiben, woran man etwas erkennen kann. Also: Woran lässt sich beispielsweise »Beharrlichkeit« erkennen? Oder »Einfühlungsvermögen«? Oder »Integrationsfähigkeit«? Auch und gerade bei solchen Anschlusskompetenzen müssen alle Beteiligten sich im Klaren darüber sein, wer was darunter versteht. Und ob wirklich alle vom Gleichen sprechen, wenn sie vom Gleichen sprechen.

Die Indikatorenlisten können ergänzt werden durch eine Zehnerskala. Diese Skala gibt den Lernenden die Möglichkeit, sich selber einzuschätzen. Und sie gibt die Möglichkeit für Fremdbeurteilungen, sei es durch LernCoaches, durch Mitlernende oder durch Drittpersonen außerhalb der Schule. Die Gemeinsamkeiten und mehr noch die Unterschiede solcher Selbst- und Fremdeinschätzungen kommen einer lösungsorientierten Förderdiagnose gleich: Wo stehe ich? Wohin will ich? Was brauche ich dazu?


Beispiel Advance Organizer

Der Advance Organizer bildet Ankerpunkte für das Verstehen. Das bedeutet: Er versteht sich als Orientierungshilfe, als Vorspann, der das Denken organisieren hilft. Wörtlich: Vorausorganisator. Der Einstieg in ein Thema, in eine Arbeit, beginnt damit, gedankliche Andockstellen zu schaffen (Lernende selber) oder zur Verfügung zu stellen (Lehrkraft*). Es handelt sich um die Dinge, die bereits bekannt sind (Vorwissen) und/oder um Inhalte, um die es gehen wird und über die es mehr zu erfahren gilt (leitende Fragestellungen). Die Elemente des Advance Organizers sind Bilder, Grafiken, Schlüsselbegriffe, kurze Texte. Sie werden grafisch zu einem Gedankengerüst zusammengefügt (Müller/Noirjean 2007).

Advance Organizers sind während des gesamten Themas sichtbar. Oder noch besser: Sie dienen den Lernenden als Notizvorlage: Neue Informationen und Erkenntnisse werden laufend ergänzt. Der Advance Organizer entwickelt sich auf diese Weise permanent weiter. Zahlreiche Studien haben deutlich gezeigt, dass sich der Einsatz von Advance Organizers durchwegs positiv auf das Lernverhalten und die Lernleistungen auswirkt, speziell bei Lernenden, deren Vorkenntnisse als gering und deren Lernkompetenz als niedrig eingestuft wurde (Wahl 2006).



Advance Organizer zum Thema ›Lehrer‹


5In der Schweiz ist die Sechs die höchste Schulnote.
Mehr ausbrüten, weniger gackern

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