Читать книгу Schonen schadet - Felicia, Andreas Müller - Страница 4
ОглавлениеSchonen schadet. Oder: Entwicklung braucht Herausforderung.
Life is no sugarlicking. Im Gegenteil: Das Leben ist beschwerlich – sogar wenn man nichts tut. Selbst bei vollständiger Ruhe im Tiefschlaf benötigt der Organismus eine beträchtliche Energiemenge. Und bewegungslos liegend den Tag verbringen, das tut ja kaum jemand. Ab und zu muss man aufstehen. Und sei es auch nur, um etwas zu essen oder um pinkeln zu gehen.
Natürlich, liegen bleiben wäre wohliger, bequemer. Aber zu Ende gedacht? Liegen bleiben, nichts essen und nicht einmal pinkeln gehen – das ginge buchstäblich in die Hose. Und sich vorzustellen, wie das endet, na ja, das ist keine Sinnesfreude.
Kurz: Wer etwas will vom Leben, muss gelegentlich aufstehen. Allerdings: Etwas tun, eben beispielsweise aufstehen, ist anstrengender als nichts tun. Das gilt nicht minder für das innere, das gedankliche Aufstehen. Auch das geht nicht von selbst. Wer sich also weder körperlich noch geistig den Würmern ausliefern will, ist herausgefordert. Diese Herausforderungen steigen parallel zu den Ansprüchen – körperlich und geistig. Das heisst: Wer nicht daherkommen will wie ein Kartoffelsack, muss eine Leistung dafür erbringen. Sich bewegen beispielsweise.
Und wer seine geistigen Fähigkeiten nicht in den medialen Seichtgebieten versumpfen lassen will, muss etwas tun dagegen. Denken beispielsweise. Allerdings: «Denken ist die schwerste Arbeit, die es gibt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich so wenige Leute damit beschäftigen.» Das stammt von Henry Ford. Der gleiche Henry Ford, der auch zu bedenken gegeben hat: «Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.» Das ist ein Appell, ein Aufruf, etwas zu machen aus sich, sich weiterzuentwickeln, aufzustehen gleichsam, immer und immer wieder.
Aufstehen, etwas tun und sich womöglich noch anstrengen, das sind zwar Begriffe, die zum Zeitgeist in Widerspruch stehen. Aber Zeitgeist oder nicht: Menschliche Entwicklung, körperlich, geistig, emotional, ist das Ergebnis eines aktiv gestalteten Aufenthalts ausserhalb der Komfortzone. Die Komfortzone umreisst den menschlichen Wohlfühlbereich. Es ist der Schonraum, in dem sich Bekanntes und Bequemes die Hand reichen. Es ist jener Ort, an dem mich nicht viel Neues erwartet (zum Beispiel der Liegeplatz vor dem Bildschirm), es sind Situationen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit so gestalten, wie sie es immer tun (zum Beispiel die Ausreden, die mir helfen, nicht laufen gehen zu müssen). Es ist der Lebensbereich, in dem ich mich mit Dingen beschäftigen kann, ohne etwas Neues lernen und können zu müssen (zum Beispiel beim Whatsapp-Dialog über neue Youtube-Filmchen).
Als Komfortzone wird also jener durch Gewohnheiten bestimmte Bereich bezeichnet, der die Menschen davor schützt, sich mit sich selber und dem Leben auseinandersetzen zu müssen. Das speist sich aus der irrationalen Auffassung, alles müsse leicht gehen. Und immer leichter. Anstrengungen und Unbequemlichkeiten werden deshalb aus der Komfortzone verbannt. Das hat zur Folge, dass qua definitione keine Entwicklung stattfinden kann. Und das wiederum macht die individuelle Komfortzone zu einer Art Refugium der kleineren und grösseren Lebenslügen und damit zum Lebensraum der körperlichen und geistigen Selbstbeschränkung. Die Folge: Man wird beschränkt.
Na ja, alles schön und gut. Aber es ist halt doch so behaglich. Und wer es sich in seiner geistigen und körperlichen Behaglichkeit lauschig eingerichtet hat, dem fällt es schwer, seine Komfortzone zu verlassen. Man muss sich da zuweilen einen rechten Tritt in den eigenen Hintern geben. Sich das bildlich vorzustellen, ist schon nicht ganz so einfach. Es zu tun, ist noch schwieriger. Dazu muss man nämlich den Hintern heben. Das strafft nicht nur die Gesässmuskeln, das ist auch die Vorbereitungshandlung für weitere Schritte. Wer steht, kann auch gehen. Sich bewegen, raus aus der Komfort- hinein in die Herausforderungszone. Und da – in der Herausforderungszone – beginnt das eigentliche Leben. Da wirds spannend. Da läuft etwas, buchstäblich. Das wissen jene Menschen, die schon mal aufgestanden sind. Also eigentlich alle. Und alle haben klein damit angefangen – die meisten als Kleinkinder. Zuerst krabbeln sie auf dem Boden herum. Das macht auf Dauer weder Spass noch Sinn. Denn erstens kommt man nur mühsam voran. Zweitens lässt der Blick von ganz unten die Welt bedrohlich erscheinen. Und drittens befinden sich viele überaus attraktive Dinge ausserhalb der Kriechreichweite. Also: aufstehen!
GEWOHNHEITEN SIND ZUERST SPINNWEBEN, DANN DRÄHTE.
FERNÖSTLICHE WETSHEIT
Gute Erziehung – gute Gewohnheiten
Zwei Drittel dessen, was wir tun (oder lassen), tun (oder lassen) wir aus Gewohnheit. Gewohnheiten steuern unser Verhalten. Erziehung ist deshalb eigentlich nichts anderes als gute Gewohnheiten aufbauen. Wer seine Kinder gut erziehen will, hilft ihnen, möglichst viele gute Gewohnheiten aufzubauen.
Das tun die Kleinen. Und sie machen das mit grosser Beharrlichkeit. Wenn man sie lässt. Sie versuchen es. Boing! Flach auf den Bauch. Noch einmal. Boing! Diesmal auf den Hintern. Und wieder und wieder. Gelegentlich tuts ein bisschen weh. Aber nur ein bisschen. Und nicht lange. Also weiter! So entdecken kleine Kinder die Welt. Und sie entdecken sich. Sie lernen ein paar Lektionen über das Leben. Zum Beispiel: Anstrengung lohnt sich, Beharrlichkeit führt zum Ziel, Frustrationstoleranz bringt den Erfolg. Natürlich lernen sie nicht diese Begriffe. Sie lernen die Konzepte. Sie lernen ein Verhalten. Und sie knüpfen entsprechende Muster. Eben: wenn man sie lässt.
Eigentlich hat sich die Natur das auch so gedacht. Kinder unternehmen erste Schritte mit Unterstützung. Dann lernen sie, alleine aufzustehen. Dann zu gehen. Dann herumzurennen. Und es liegt in der Natur der Sache, dass sie dabei immer wieder Bekanntschaft schliessen mit dem Boden – mehr oder weniger unsanft, von Fall zu Fall quasi. Bis vor wenigen Jahren war das normal.
Es war normal, dass Kinder sich langweilen können. Und wenn sie sich darüber beklagt haben, hiess es höchstens: «Dann bist du selber langweilig.» Es war normal, dass Kinder möglichst rasch auf eigenen Beinen stehen sollten. Und es war entsprechend normal, dass Kinder umfallen können. Die elterliche Reaktion darauf: «Du musst halt besser aufpassen.»
Unvorstellbar! In der heutigen fürsorglichen Belagerungskultur würde man sich als Eltern dem Verdacht der emotionalen Verwahrlosung der Kinder ausliefern. «Herrje, niemand nimmt sich dem armen Kinde an, wenn es ihm langweilig ist? Was sind das für Rabeneltern?!» Und wo Kinder früher hin und wieder etwas unsanft erfahren mussten, dass die Gravitation nicht erst später im Physikunterricht zur Fallnote werden kann, schützen heute gepolsterte Spielplätze kindliche Knie und Seelen. Die Lektionen im Fach «Lebenstauglichkeit» werden fortwährend aus dem Erziehungslernplan gestrichen.
«Ersparen» heisst die Strategie, den Kindern die Zumutungen der Welt vom Leibe zu halten. Denn allein schon dieses Laufenlernen ist doch mitunter eine recht aufreibende und beschwerliche Kiste. Das ewige Umfallen, das ewige Aufstehen, mehr auf dem Bauch als auf den Beinen.
Da erweist sich der Kinderwagen schon als wesentlich komfortabler. Damit kann man den süssen Kleinen viel Mühsal ersparen. Und sich als Eltern auch. Nur trägt logischerweise der vorschriftsgemäss festgezurrte Aufenthalt im Kinderwagen dem – zumindest anfänglich – natürlichen Bewegungsbedürfnis der Kinder in keiner Weise Rechnung. Deshalb braucht es Ablenkungsmanöver. Süssigkeiten beispielsweise, die machen gefügig. Oder Süssgetränke. Jeder moderne, multifunktionale Kinderwagen ist bestückt mit mindestens zwei Trinkflaschen. Und sobald der Wonneproppen einen tiefen Luftzug holt, wird ihm vorsorglicherweise schon Mal der Schoppen in den Mund gesteckt. Betäubung heisst das Programm. Und nicht zu vergessen: Mittlerweile gibt es ja auch Bildschirmmedien für die Knirpse im Kinderwagen. Als «Shut-up-Toys» werden die Geräte mit ihren Spiele-Apps und einem unerschöpflichen Repertoire an Videos bezeichnet. Was etwas despektierlich klingen mag, beschreibt präzis, um was es geht: Klappe halten und ruhig sitzen. Gut, als treu besorgte Eltern kann man sich natürlich auf den schier unbezahlbaren pädagogischen Wert solcher Medien berufen. Computer braucht man ja schliesslich heute in jedem Beruf. Und wer weiss, der Kleine will womöglich Game-Designer werden. Da kann es ja nicht schaden, wenn er schon ein bisschen übt. Und das Verrückte: Es soll übrigens Menschen geben – Erwachsene sogar –, die solchen Schwachsinn wirklich glauben. Aber immerhin: So kann sich der hoffnungsvolle Nachwuchs bereits im Kinderwagen an den Bildschirm gewöhnen und muss sich nicht mit der langweiligen Natur beschäftigen, in der die grünen Bäume nur saisonal die Farbe wechseln und die Tiere sich verstecken. Da würde man sich ja in Geduld üben müssen.
Der Bildschirm macht da schon wesentlich mehr Spass. Sogar auf Kommando. Und gegen das laute und lästige Vogelgezwitscher stülpt man dem Spross einfach coole Kopfhörer über die Ohren, vielleicht solche mit lustigen Zeichnungen von Singvögeln drauf. Flasche am Mund, Augen am Bildschirm und Kopfhörer am Ohr – so haben sie Ruhe vor der Welt. Und so lernen die Kleinen, die schlaffe Bequemlichkeit zum Normalfall zu machen. Sie leben im Moment. Und dieser Moment ist subjektiv gesehen höchst behaglich.
Weder ist es Aufgabe der Kinder, noch sind sie in der Lage dazu, vorauszudenken und sich bewusst zu machen, welche Konsequenzen eine solche Lebensführung haben kann. Dafür haben – beziehungsweise hätten – sie Erwachsene. Das ist – beziehungsweise wäre – Aufgabe der Erziehung.
Dazu gehörte beispielsweise, dass Kinder lernen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, es auszuhalten, wenn es ihnen einen Moment langweilig ist – und etwas dagegen zu unternehmen. Selber. «Selber» ist übrigens eines der Wörter, die den Anfangswortschatz kleiner Kinder prägen. Sie wollen selber – aufstehen, gehen, trinken, Schuhe binden, in den Spinat hauen. Das kann man fördern, aber das braucht seitens der Erwachsenen meist Zeit und gute Nerven. Und es birgt das Risiko, dass es schiefgehen kann – blutige Knie beispielsweise oder Spinat an der Decke. Die Liste liesse sich beliebig verlängern.
Das alles kann man dem Kind und vor allem sich selber ersparen. Also werden moderne Kinderwagen zu fahrenden Verpflegungs- und Medienposten aufgetunt. Das bindet die Aufmerksamkeit der Jungmannschaft. Deshalb gibt es Kinderwagen mittlerweile auch in verstärkter Ausführung für jene Brocken, die schon längstens laufen könnten – und vor allem sollten.
Auch die Rücksitze der Autos sind längst digital aufgerüstet worden. Die Kinder sind dadurch nicht mehr gezwungen, die Gegend anzuschauen und die Eltern mit Fragen zu löchern. «Warum überholen uns immer alle?»; «Was ist das für ein farbiger Bogen am Himmel?»; «Warum hat es auf dem Wasser so weisse Spitzen?»; «Darf ich die Mücke totschlagen?» Und besonders beliebt: «Wann sind wir endlich dort?» Die Bildschirme an der Rücklehne und die Stöpsel im Ohr sorgen für Ruhe. Die Kinder vergessen darob sogar, dass sie eigentlich pinkeln müssten. Und die Eltern müssen sich keine Blösse geben, wenn sie die Fragen nicht beantworten können, und sie ersparen sich die zeitvertreibenden Ratespiele à la «Ich sehe was, was du nicht siehst».
Was Hänschen nicht lernt
Zum Leben gehört – für die meisten Menschen jedenfalls –, dass nicht überall Milch und Honig fliessen und einem die gebratenen Tauben nicht in den offenen Mund fliegen. Noch bis vor wenigen Jahren war es völlig normal, dass etwas tun muss, wer etwas haben will. Und dass es dabei Eigenschaften gibt, die höchst hilfreich sein können. Impulskontrolle beispielsweise, also die bewusste Steuerung der eigenen Gefühle und Handlungen. Im Alltag ist Impulskontrolle vor allem dann bedeutsam, wenn es darum geht, unangenehme und unbequeme Dinge zu tun. Also häufig. Sie ist verwandt mit der Frustrationstoleranz. Die hilft einem, nicht gleich wegen jedes kleinen Widerstands in Tränen auszubrechen oder die Umgebung zu tyrannisieren. Und Gratifikationsaufschub versteht sich als Fähigkeit, im Moment auf Verlockendes verzichten zu können zugunsten eines längerfristigen Ziels.
Man muss nicht die Begriffe kennen. Aber es kann nicht schaden, sich der Konzepte dahinter bewusst zu werden. Mit seinem berühmten Marshmallow-Experiment hat Walter Mischel1 die Bedeutung dieser Eigenschaften eindrücklich nachgewiesen. Wer sich als kleines Kind von einer Süssigkeit nicht verführen liess, sondern wartete, konnte später sein Leben signifikant erfolgreicher und glücklicher gestalten. Und noch etwas wurde deutlich: Diese weichenstellenden Eigenschaften werden in der frühen Kindheit aufgebaut. Oder eben nicht. Und mit zunehmendem Alter wird es immer schwieriger. Die Gewohnheiten verfestigen sich. Das Verhalten bildet Muster. Und jedes weitere Verhalten verstärkt diese Muster. So entstehen eine Art Trampelpfade im Gehirn. Wer sich angewöhnt hat (oder wer als Eltern seine Kinder daran gewöhnt hat), einer Situation auf eine bestimmte Art zu begegnen, wird das bevorzugterweise immer wieder so tun. Solange das gute Gewohnheiten sind – also beispielsweise jedes Ding immer gleich an seinen Ort zu versorgen –, erweisen sie sich als durchaus lebensdienlich. Schlechten Gewohnheiten dagegen – also beispielsweise alles dort liegen zu lassen, wo es gerade liegt – wohnt die Tendenz inne, sich zum Problem zu summieren. Häufig auch für die Mitmenschen.
Erstaunlicherweise sind «Gewohnheiten» und «Verhaltensmuster» Begriffe, die einerseits recht abstrakt und andrerseits irgendwie harmlos erscheinen. Erstaunlicherweise deshalb, weil sie beides nicht sind. Gewohnheiten steuern zwei Drittel unseres Alltagsverhaltens. Was wir tun – und was wir lassen –, ist also meistens auf Gewohnheiten zurückzuführen, auf Verhaltensmuster, die wir im Verlaufe des Lebens aufgebaut und kultiviert haben. Gewohnheiten sind zuerst wie Bindfäden. Dann werden sie zu Stahlseilen. Und eben: Das beginnt, wie so vieles, klein und harmlos. Und folgt dem Grundsatz: Was kurzfristig bequem ist, rächt sich auf Dauer. Das heisst: Die unzähligen konsumatorischen Verführer, die die Befindlichkeit kurzfristig versüssen, können den Kindern längerfristig das Leben gründlich versauern. Und sie tun es meistens auch.
Das Paradies ist kein Menschenrecht
Nun, laufen lernen die meisten Kinder ja trotzdem. Zumindest schaffen sie es, auf zwei Beinen zu stehen. Aber die Art und Weise, wie sie das lernen, hat sich ebenso verändert wie die Art und Weise, wie sie es nutzen. Sie entdecken die Welt anders. Und sie entdecken eine andere Welt. Auch das sind Lektionen. Lektionen im Fach «Bequemlichkeit», Lektionen im Fach «sofortige Bedürfnisbefriedigung». Die Kinder lernen schnell. Sie lernen gerne. Und sie lernen viel – über den Weg des geringsten Widerstandes. Auf diesem Weg lernen sie, Anstrengungen zu meiden, die Komfortzone von innen zu verrammeln. Sie lernen, dass es «normal» ist, sich nicht selber zu bemühen. Doch das Paradies ist kein Menschenrecht. Den einen oder anderen Finger muss man schon rühren dafür. Früher hatten wir schliesslich auch keine Smileys. Wir mussten noch selber lachen. «Erfolg», so hat es Johann Wolfgang von Goethe formuliert, «hat drei Buchstaben: TUN!» Das gilt nicht nur fürs Lachen.
Die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte des Elends, der Nöte, der Entbehrungen. Erst die letzten Generationen sind hierzulande in eine Welt des zunehmenden materiellen Überflusses hineingewachsen. Für die Eltern verband sich mit dieser Entwicklung ein Auftrag: «Die Kinder sollen es einmal besser haben.» Und «besser haben» meinte – vielleicht neben einer guten Ausbildung – zuerst und vor allem: materielle Sicherheit. Zählbares war das, was zählt. Und daran hat sich nichts geändert. Im Gegenteil. «Shopping» ist kein Einkauf mehr zur Beschaffung irgendwelcher benötigter Güter, sondern entsteht aus dem Bedürfnis nach dem Einkaufserlebnis. Die permanente Verführung ist Teil dieses Spiels. Menschen gehen einkaufen, obschon sie gar nichts brauchen. Junge geben «Shoppen» mittlerweile als bevorzugte Freizeitbeschäftigung an. Haben ist selbstverständlich geworden. Und Wollen auch.
Erziehung: Was Eltern wollen
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Erziehung der Kinder ist heute:
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Basis: Bundesrepublik Deutschland, Eltern von Kindern unter 16 Jahren Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 5256, Februar/März 2009.
Verstärkt hat sich dieser Trend durch die zeitgeistige Selbstverständlichkeit, dass «mehr wollen» und «mehr haben» durchaus nicht im Widerspruch stehen zu «weniger tun».
Arbeiten, sich anstrengen, fleissig und zuverlässig sein, mit solchen und ähnlichen Tugenden liess sich ein Leben meist einigermassen lebenswert gestalten. Oberflächlich betrachtet ist das heutzutage nicht mehr nötig. Alles, was sich begrifflich mit «Anstrengung» verbindet, gehört deshalb zu jenen Dingen, die es wenn immer möglich zu vermeiden gilt. Die Arbeitszeiten sind kontinuierlich reduziert worden. Parallel dazu hat die Spasskultur fit gemacht für Fun. Doch das Problem: Auch die Freizeit gibt zu tun, wenn man etwas aus ihr machen will. Die Freizeit wird damit qualitativ und quantitativ zur Herausforderung.
Oder anders gesagt: Mit seinem Leben etwas anfangen, aus seinem Leben etwas machen, das setzt voraus, sich anzustrengen, etwas zu leisten – und es gerne zu tun. Ganz einfach, weil Leistung Freude bereitet. Und weil die Fähigkeit, sein Leben zu gestalten, auch etwas Befreiendes hat. Wer also seinen Kindern etwas Gutes tun will, wer will, dass sie es «besser» haben, der erziehe sie dazu, die Anstrengung zu mögen, sich zu erfreuen an der eigenen Leistung.
Doch das stösst in der Spassgeneration noch weitherum auf taube Ohren. Ungebremst wird munter das Holz verbrannt, an dem man sich später sollte wärmen können. Produktehersteller und Politiker überbieten sich auf allen Kanälen mit Versprechungen, mir das Leben einfacher zu machen, mir die Realitäten des Lebens vom Leibe zu halten. «Fly now – work later», kaufe jetzt – bezahle später, heisst der Konsens der gesellschaftlichen Eventkultur. Das Leben wird zelebriert als eine Aneinanderreihung von konsumierbaren Höhepunkten. Und die Medien führen mir das mit grossen Buchstaben vor Augen. Mehr als die Hälfte aller Werbungen zeigt bereits den erwünschten Zustand – das superbe Essen wartet auf die gestylten Gäste am Tisch, der schnittige Wagen steht vor der Tür, die braun gebrannten Menschen räkeln sich am einsamen Strand. Zugreifen, das Leben ist angerichtet.
Klingt ja verführerisch. Davon leben die Medien. Aber erstens ist es anders und zweitens wenn man denkt. Schnell mal die Welt retten, schnell mal ein Superstar werden, schnell mal eine Menge verdienen, so haben sich früher allenfalls Kinder ihren Werdegang vorgestellt. Im kindlichen Denken war das normal. Doch heute denken bei weitem nicht mehr nur Kinder so.
Die Medien sind voll von Menschen, die sich für nichts, aber auch gar nichts zu schade sind, um irgendwie aufzufallen. Dieses leistungsfreie Heischen um Aufmerksamkeit hat die Sprache um einen Begriff erweitert: Fremdschämen. Das Wort ist erst 2009 in den Duden aufgenommen worden und bedeutet, «sich stellvertretend für andere, für deren als peinlich empfundenes Auftreten schämen». Man kann davon ausgehen, dass Fremdscham wohl insbesondere populär geworden ist, seitdem es «in» ist, sich zum Beispiel im Fernsehen die Blösse zu geben. Und die sogenannt sozialen Medien haben die Welt dann vollends zu einer Casting-Gesellschaft verkommen lassen. Um Beachtung zu finden und «geliked» zu werden, produzieren sich Menschen hemmungslos auf der nach unten offenen Skala der Peinlichkeiten.
Auffallen heisst das Ziel – um jeden Preis, aber nicht durch Leistungen. Das dauert zu lange und ist zu unbequem. Dass echter und nachhaltiger Erfolg meist das Ergebnis eines längerfristigen und anstrengenden Prozesses ist, wird noch so gerne ausgeblendet angesichts der verführerischen Aussicht auf schnellen Gewinn.
Tritt in den eigenen Hintern
Die mediendominierte Gesellschaft hat sich die Kinder und Jugendlichen zur Beute gemacht. Sie lassen sich gerne entführen in die Märchenwelt des Glücklichseins beim Nichtstun. Und zugegeben – die meisten digitalen Medien und Computerspiele machen das hervorragend. Das können sie. Davon leben sie. Tausende von hochprofessionellen Leuten auf der anderen Seite des Bildschirms sind mit der Aufgabe betraut, die Selbstdisziplin des einzelnen Mediennutzers zu untergraben, ihn daran zu hindern, nein zu sagen. Und wie man unschwer erkennen kann: Das machen sie saugut.
Vor einem solchen Hintergrund die jungen Menschen zum Tun zu erziehen, ihnen Freude an der Leistung zu vermitteln, das ist wahrlich kein leichtes Unterfangen.
Früher haben die «Welt» und hat das «Leben» die Eltern bei der Erziehung unterstützt. Erstens waren Geschwister oder Grosseltern ebenso aktive Partner wie die Verwandten oder Bekannten in der Nachbarschaft. Und zweitens: Das Leben gab zu tun. Es war in gewisser Weise Handarbeit. Und da hatten sich Kinder zu beteiligen.
Im heutigen 1,2-Kinder-Haushalt fehlen meist die Geschwister. Die Grosseltern leben auch nicht mehr unter dem gleichen Dach. Und von den Nachbarn lässt man sich sicher nicht in die Erziehung reinreden (falls sie sich überhaupt noch trauen würden). Also hängt die ganze Erziehung an den Eltern – die häufig auch nicht zu zweit oder dann in unterschiedlichen Konstellationen diese Aufgabe übernehmen. Alleinerziehend heisst das Stichwort.
Kommt hinzu: Die Kinder haben heute jede Menge Zeit – sogar wenn sie schon schulpflichtig sind. Aufs ganze Jahr gesehen, also die Ferien miteingerechnet, geht ein Kind durchschnittlich etwa drei Stunden pro Tag zur Schule. Und wenn man für das Schlafen acht Stunden rechnet, Zeit für Essen, Hausaufgaben, Sport dazuzählt, dann bleiben durchschnittlich etwa zehn Stunden pro Tag, die zu gestalten sind. Unter anderem hat das damit zu tun, dass dem häuslichen Leben das Anstrengende wegmodernisiert worden ist. Das hat durchaus auch unbestrittene Vorteile. Aber der quasi natürliche Erziehungseffekt des mitunter anstrengenden häuslichen Lebens ist weggefallen. Was bedeutet: Er muss irgendwie kompensiert und künstlich erzeugt werden.
EVERYONE WHO THINKS SUNSHINE IS HAPPINESS HAS NEVER TRAINED IN THE RAIN.
Kinder brauchen Aufgaben. Echte Aufgaben. Ein Beispiel dafür liefert René Prêtre, einer der besten und erfolgreichsten Kinderherzchirurgen der Welt. Bei seiner Arbeit geht es um Leben und Tod. Tausende von Stunden hat er bei höchster Konzentration im Operationssaal verbracht. Seine ausserordentlichen Fähigkeiten führt er auch zurück auf seine Kindheit, auf die Arbeit, die er jeden Tag auf dem Hof seiner Eltern leisten musste. Im Stall, auf dem Feld, beim Reparieren von Traktoren.2 Nun wachsen nicht alle Kinder auf Bauernhöfen auf. Aber alle haben die Möglichkeit, etwas zu tun, Aufgaben und Verpflichtungen zu übernehmen, zu erfahren, dass es durchaus Spass machen kann, Dinge zu tun, die auf Anhieb keinen Spass machen.
Entwicklung braucht Herausforderung. Auf dem Weg in die Herausforderungszone brauchen Kinder glaubwürdige und aktivierende Begleiter. Erwachsene – Eltern – zum Beispiel. Aber Körpergrösse oder Alter sind noch keineswegs eine hinreichende Voraussetzung, es besser zu machen als die Jungen. Denn wer hat die Situation – so oder ähnlich – nicht schon erlebt: Da nehme ich mir vor, noch ein bisschen rauszugehen, mich zu bewegen. Dann ziehen Wolken auf, es beginnt zu regnen, es ist kalt. Scheisswetter halt. Sofort fallen mir eine Menge Gründe ein, weshalb die Idee mit dem Rausgehen vielleicht doch nicht so clever ist. Sie werden untermauert durch mindestens ebenso viele Alternativen, Dinge, die ohnehin dringend noch gemacht werden sollten, also beispielsweise nachschauen, was im Fernsehen kommt oder ob mir jemand eine E-Mail geschickt hat, oder im Internet schauen, wer gestern Abend die Tore geschossen hat. Als Gegenmodell zum Joggen bei schlechtem Wetter eignen sie sich allemal. Sie sind viel bequemer, ich bleibe schön trocken und überhaupt …
Doch dann gebe ich mir einen Tritt in den Hintern, rede mir ein, dass es kein schlechtes Wetter gibt, sondern nur falsche Kleidung, und mache mich auf. Allein schon dieser Entscheid vermittelt ein gutes Gefühl. Sich überwunden zu haben, sich gedanklich auf die eigene Schulter zu klopfen, sich beim Gutsein zu erwischen, das tut gut.
«Wer sich selber nicht mag», hat Friedrich Nietzsche einst zu bedenken gegeben, «ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen.» Erziehung bedeutet deshalb auch: dafür sorgen, dass Kinder sich mögen. Und wann mögen sie sich? Wenn sie stolz sind auf das, was sie gemacht und geleistet haben. Wenn sie sich kompetent und selbstwirksam erleben. Und das möglichst häufig.
Schonen schadet
Im Wort «Herausforderung» steckt das Wort «Forderung». Wer fördern will – zum Beispiel als Eltern die Kinder –, muss fordern. Dabei darf es aber nicht bleiben. Noch wichtiger ist, dass junge Menschen lernen, sich selbst zu fordern, nicht mit dem erstbesten Ergebnis zufrieden zu sein, die Trainingsvorschläge des Lebens zu nutzen. «Training» steht allgemein für alle Prozesse, die eine Entwicklung verändern. Zunächst verstand man darunter nur die «Abrichtung und Schulung der Pferde». Später wurde der der englischen Sprache entnommene Ausdruck (englisch: to train someone = jemanden erziehen, schulen) auch verwendet für all jene Aktivitäten, die den Menschen darin unterstützen sollen, «besser» zu werden.
SUCCESSFUL PEOPLE FORM THE HABIT OF DOING WHAT FAILURES WON’T DO.
Aufstehen – strukturelles Star tsignal
Morgens aufstehen – regelmässig und rechtzeitig –, das ist guten Gewohnheiten zuträglich. Denn das regelmässige, strukturelle Startsignal bringt zeitliche Ordnung im Leben. Damit verbunden ist die Forderung: Kinder und Jugendliche ja nicht liegen lassen – im wahrsten Sinne des Wortes. Zeit haben heisst, nicht erst auf den letzten Zwick aufzustehen – sondern beispielsweise eine Stunde früher als nötig. Das entschleunigt!
Und übrigens: Es gibt keinen Grund, in den Ferien oder am Wochenende liegen zu bleiben und zu Gammelfleisch zu werden. Im Gegenteil: Es gibt mehrere Gründe, das nicht zu tun. Einer davon heisst: «sozialer Jetlag». Er führt auf Dauer zu Übergewicht, Schlafstörungen und Depressionen. Und Eltern, die das zulassen, machen sich zu Komplizen.
Training wird gedanklich meist mit Sport verbunden. Das ist naheliegend. Wer seinem Körper etwas Gutes tun will, der muss ihn trainieren. Und ebenso naheliegend ist: Es gibt kein bequemes Training. Wer den Bewegungsapparat pflegen will, muss ihn belasten. Er braucht diese Belastung, sonst geht er zugrunde. «Wir sind nun einmal Kinder dieser Erde und brauchen den Widerstand, um zu wachsen. Und wenn der Widerstand weg ist, werden wir schwach, dann lösen sich die Muskeln und die Knochen auf – wie wir es bei den Astronauten ja sehen.» Der dies sagt, ist Werner Kieser, der Erfinder der gleichnamigen Trainingskonzepte.3 Und er stellt fest: «Wir leben im Durchschnitt alle unter dem idealen Kraftmass. Wir sind schwach. Wir haben die Tendenz, uns alles abnehmen zu lassen. (…) Die Muskeln müssen gewartet werden, sonst verkommen sie.» Ein gesellschaftliches Handicap für eine förderliche Entwicklung sieht er in der weit verbreiteten Spasskultur. Und er wünscht sich die Einsicht in die Notwendigkeit, «dass nicht alles Spass machen muss. Das ist selten heutzutage, weil die ganze Gesellschaft verzuckert wird.» Heisst: Man kann sich auch zu Tode schonen. Und was für den Körper gilt, gilt in übertragenem Sinne auch für den Geist. Sich mit Dingen beschäftigen, die sich nicht ins Format einer Soap trivialisieren oder als Selfie verschicken lassen, das lässt sich durchaus mit sportlichen Leistungen vergleichen. Denn auch hier gilt: Es fordert heraus, es gibt zu tun, es kann mühevoll sein, unbequem in Form und Inhalt.
Hier zeigt sich einer der Hauptunterschiede zwischen Menschen: Es gibt jene, die fähig und willens sind, Herausforderungen anzunehmen und sich ihnen zu stellen. Und es gibt die anderen, die gelernt haben, sie zu umgehen und zu meiden.
Und es ergibt sich daraus eine Hauptaufgabe für die Erziehung: Heranwachsende dabei zu unterstützen, mit Widerständen konstruktiv umzugehen – nicht, sie zu umgehen.
Auf Dauer funktioniert das freilich nur dann, wenn sich daraus eine Art Lebenshaltung entwickelt. Sich fit zu fühlen, das ist nicht ein Zustand, sondern eine Einstellung.