Читать книгу Wenn dem JA kein ABER folgt - Felicia, Andreas Müller - Страница 7
ОглавлениеDie Schule ist embryonische Gesellschaft und Gemeinschaft zugleich:
Wie Antje Rümenapf im Odenwald ein ermutigendes Beispiel in die Welt bringt
Von Helmut Schreier
Geographische Lage und organigraphische Situation der Schule
I
n der Mittelgebirgslandschaft des hessischen Odenwaldes mit seinen Streuobstwiesen, Buchenwäldern und Burgruinen, wo die Idylle des Naturparks Bergstrasse auf den Einfluss der nahegelegenen Ballungsräume Mannheim-Ludwigshafen und Hanau-Frankfurt-Wiesbaden trifft, liegt an der B38 zwischen Fränkisch-Crumbach und Reichelsheim der Ort Beerfurth. Folgt man dort dem grünen Wegweiser «Grundschule» durch schmale Gassen an den Fassaden von Fachwerkhäuschen vorüber in den Neubaubereich mit seinen Eigenheimen hinein, die genau so aussehen, wie sie überall in Deutschland aussehen, kommt man schliesslich ans Ziel, den weiten, asphaltierten Schulhof mit zwei entsiegelten Oasen voller Baumstämme und Schaukeln, eingerahmt im rechten Winkel von den flachen und einstöckigen weiss geputzten Schulgebäuden. Hinter dem Gebäude rechterhand als langgestreckter Riegel ein auffallend gepflegter Schulgarten und am unteren Ende, wo sich das Gelände öffnet, eine hölzerne Pergola – «das Naturklassenzimmer» – und der Rasen eines Bolzplatzes mit zwei Toren.
Schulleiterin Antje Rümenapf
Viel Platz für 70 Schulkinder. Und für sieben Lehrerinnen – die Schulleiterin unterrichtet selbstverständlich ebenfalls – und «locker zwanzig» (sagt die Schulleiterin) weitere Erwachsene, die in irgendeiner pädagogischen Funktion mit den Kindern und der Schule zu tun haben. Ich stelle mir das Zusammenwirken der hier dauernd oder zeitweilig pädagogisch tätigen Menschen nach dem Muster von konzentrischen Kreisen vor, mit dem Kollegium in der Mitte, dem Team von Betreuern und Fachleuten in einem zweiten Kreis drumherum, und in einem dritten Kreis alle, die in der Nähe leben und greifbar sind: Potenzielle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die bei sich bietender Gelegenheit rekrutierbar wären. Die Schule ufert organigraphisch gewissermassen über ihre administrativ vorgegebenen Grenzen hinaus. Im Zentrum die Leiterin, sie «fährt» das Unternehmen, indem sie Impulse gibt und die Menschen im Team ermutigt.
Bei einem unserer Gespräche singt sie mir den Refrain aus dem Schullied vor: «Unsre Schul’ hat keine Segel und fährt nicht auf’m Ozean, aber wie ein Schiff auf grosser Reise hat sie manches schon gesehn in all den Jahrn ... und als Käpt’n steht Frau Rümenapf auf dem Deck, ahoi!»
SINUS: Beispiel für Projekte
Ich kenne Antje Rümenapf von der Zusammenarbeit beim SINUS-Projekt Grundschule[1], einer Investition des Bundesbildungsministeriums aus dem Jahre 2004 zur Förderung des Anfangsunterrichts in Mathematik und Naturwissenschaft an deutschen Grundschulen. (Es war ausserdem der Versuch der Bundesministerin, die Kleinstaaterei der Länder mit ihren erbarmungslos eigenwilligen Bildungsplänen durch wechselseitigen Austausch in diesem Bereich abzumildern.) Wir trafen uns auf Tagungen und bei Workshops, die sie mit ihrem Kollegium besuchte, und im Lauf der folgenden sechs Jahre und der dabei zunehmenden SINUS- Erfahrung übernahm sie zusammen mit Kolleginnen Präsentationen zu Unterrichts-Themen – «Das Fliegen» war ein besonders ausgiebig recherchiertes Phänomen – oder zur Einrichtung von Forscherräumen und Forschungsprozeduren mit Kindern. Sie koordinierte die didaktische Strategie der hessischen Grundschulkollegien, die am naturwissenschaftlichen Teil des Projekts beteiligt waren.
Beim Besuch dieser Schulen im Jahre 2010 war mir aufgefallen, dass jede ihren eigenen «Forscherraum» zum Experimentieren eingerichtet hatte und dort den Königsweg des naturwissenschaftlichen Vorgehens zu vermitteln suchte – eine Vermutung aufstellen, die Vermutung überprüfen und das Ergebnis festhalten. Gleichzeitig waren die Schulen aber eigene Wege gegangen, was Einrichtung und Ausstattung, Themenwahl und Ausformulierung der Methode anging. Das Gleichgewicht zwischen zentraler Vorgabe und lokaler Eigeninitiative erschien wie ein gutes Omen für die Aussicht auf den dauerhaften Erfolg des SINUS-Impulses. Es gestattet die Aussage: Das haben wir selbst aufgebaut. Und das, was von den Lehrkräften selbst entwickelt und aufgebaut wird, hält länger als das, was durch Vorgaben in die Welt kommt.
«Um eine gute Idee am Leben
zu halten, sind Menschen
nötig, die diese Idee zur
Anwendung bringen.»
Inzwischen ist das SINUS-Projekt ausgelaufen, die Mittel für Fortbildung und Material sind aufgebraucht, und die über Jahre hin angekurbelten Aktivitäten zum naturwissenschaftlichen Lernen haben sich überall auf einem im Vergleich niedrigeren Niveau als noch vor wenigen Jahren eingependelt, wie mir scheint.[2]
In der Schule in Brensbach, die Antje seit einem Jahr neben der benachbarten Schule in Beerfurth leitet[3], fällt mein Blick auf die roten Koffer mit Material zu naturwissenschaftlichen Versuchen, die vom Verlag cvk in den siebziger Jahren (vor nahezu einem halben Jahrhundert) an Tausende von Grundschulen in der Bundesrepublik Deutschland verkauft und im Unterricht vermutlich anfangs über einige Jahre eingesetzt worden sind – so lange der bildungspolitisch eingespielte naturwissenschaftliche Impuls im Sachunterricht anhielt, der damals durch die Curriculum- Orientierung nach amerikanischem Vorbild ausgelöst worden war. Jetzt liegt der Stapel roter Koffer auf dem Schrank, seit Jahrzehnten von Menschenhand – jedenfalls für Unterrichtszwecke – unberührt. Ich sehe die gleiche Koffersammlung in vielen Schulen, meist auf den Schränken in den Lehrerzimmern, eine Illustration der zynischen Vorstellung, wonach all die guten Impulse und Reformbestrebungen zur Verbesserung von Schule und Unterricht schliesslich im Wüstensand eines innovationsunfähigen Betriebes verschwinden müssen.
Aber in der Lindenhofschule in Brensbach ist neben dem Schrank mit den roten Koffern eine Materialwand aufgebaut, mit Schubkästen voller Objekte, mit denen Kinder herumprobieren und die Zusammenhänge der physischen Welt erforschen können. Da ist ein Forscherraum entstanden, eingerichtet vom Kollegium, das von Antje Rümenapf, der neuen Schulleiterin i. V., inspiriert und instruiert worden ist. Um eine gute Idee am Leben zu halten, sind Menschen nötig, die diese Idee zur Anwendung bringen. Ohne sie bliebe von der besten Idee nichts übrig.
Schulleiterin Antje Rümenapf vor der Materialwand des neu eingerichteten Forscherraumes der Lindenhofschule in Brensbach
Inklusion: Beispiel für Schulgemeinschaft
Eingeladen zur Schülerversammlung, finden wir uns in der Turnhalle der Grundschule Beerfurth inmitten der Kinder, unter denen sich die Lehrerinnen verteilt haben, dazwischen zwei Frauen, die als Betreuerinnen dabei sind; ich sitze neben einem jungen Mann, Polizeibeamter ohne Uniform, der ein Gewaltpräventionsprojekt leitet. Die sechs Kinder aus der Umwelt- AG von Frau Köhler präsentieren die Idee einer Tauschbörse, bei der alte Besitztümer mithilfe eines ausgeklügelten Punktesystems bewertet und getauscht werden können, als Alternative zum Wegwerfen alter und Kauf neuer Dinge. Frau Köhler hat den Forscherraum der Schule eingerichtet und pflegt mit einer Gruppe von Kindern den Schulgarten. Frau Spänle hat den Lesewettbewerb eingeführt, die Bibliothek aufgebaut, und kümmert sich um die Leseförderung und alles, «was künstlerisch angehaucht ist».
Frau Schubert leitet die Sportprogramme und sorgt für die Teilnahme an Sportwettbewerben. «Wenn ich sehe, eine Kollegin hat diese Neigungen und hat auch das Potential, dann geb ich ihr die Möglichkeiten, sich zu entfalten», sagt die Schulleiterin.
In der ersten Reihe sitzt Lily mit ihrer Schlumpf-Puppe neben andern Mädchen auf einer Bodenturn-Matte; mit katzenartiger Eleganz springt sie auf und drängt sich an ihre Begleiterin. Die Puppe protestiert (durch Lilys Mund), als ich ein Foto machen will: kein Foto von Lily, aber dann, auf Rückfrage, ein Signal der Zustimmung: ein Foto von der Puppe.
It takes a village
Lily ist seit einem Jahr in der Schule, die Mutter hatte damals verzweifelt angerufen, da gab es eine Begutachtung, die aufgrund des ausgeprägten Autismus eine Überweisung an die Schule für geistige Entwicklung (ein neuer Euphemismus anstelle des alten Euphemismus «praktisch bildbar») vorsah. Die Schulleiterin hatte sich das Kind angeschaut und das Potential in Lilys Augen wahrgenommen. Sie hatte eine neue Begutachtung veranlasst und mit verschiedenen Ämtern zusammengearbeitet, um die Stelle für die Schulbegleitung mit einer Fachkraft besetzen zu können. Sie kennt sich aus im Umgang mit den Ämtern und Behörden. Gelder, die sonst ans Rote Kreuz gehen, sind unter Umständen verfügbar, und es gibt im Umfeld der Schule fähige Männer und Frauen, die als Schulbegleiter geeignet sind, auch wenn sie noch kein Zertifikat über diese Ausbildung besitzen. Man muss sich unter den Leuten umschauen und die Augen offen halten.
Zum Beispiel traf es sich gut, dass ein junger Mann verfügbar war, der nach dem Tode seines Onkels, der für ihn die ganze Familie darstellte, nicht wusste, was er anfangen sollte. Für die beiden italienischen Jungen mit ihren Sprachproblemen ist er genau der richtige Helfer. Die beiden Jungen hatten in einem Sprachintensivkurs über ein Jahr kein Wort Deutsch gelernt, waren aber massiv verhaltensauffällig geworden (Jargon für: unerträglich) und sollten auf eine entsprechende «Förderschule» abgeschoben werden. «Sie sind dankbar dafür, hier zu sein», sagt die Schulleiterin. Und der junge Mann sei als Schulbegleiter genial. Bei der Schulversammlung tuscheln die Jungs mit anderen Jungs, auf Deutsch.
Inklusion, sagt die Schulleiterin, sei ein Menschenrecht, das in den Köpfen beginne. «Endlich haben wir ein Gesetz, das dieses Recht durchsetzen hilft, und ich erlebe, dass sich die Köpfe gegen die Durchsetzung dieses Gesetzes verhärten. Wenn wir als Gesellschaft inklusiv strukturiert wären, würde sich für jede Person etwas finden, um sie produktiv ins Ganze einzubinden.
Aber so weit sind wir noch nicht. Noch immer erzeugen wir im Schulsystem Versorgungsfälle, die ausgesondert werden. Eine Exklusion ähnlich wie die der Alten ins Altenheim.»
Manchmal finden sich auf den Ämtern Alliierte, wie die junge Frau auf dem Jugendamt, die sich gegen die Exklusion eines Jungen aus der Sprachheilschule sträubt, wo er die Lehrkräfte überfordert, was eine psychologische Begutachtung des Kindes nach sich zieht, die in der Regel den weiteren Abstieg innerhalb des Sonderschuluniversums zur Folge hat. Die Frau vom Jugendamt habe sie angerufen, weil der Junge abgeschoben werden soll, sagt die Schulleiterin: «Würde er weggesperrt, so ginge er vor die Hunde – darüber sind wir ins Gespräch gekommen. Nächste Woche gibt es also einen Termin hier in der Schule, um das Kind kennenzulernen.» Sie vertraut auf die Kraft der Gemeinschaft, zitiert das afrikanische Sprichwort: It takes a village to raise a child, und fügt hinzu: «Wenn ein Kind um sich tritt, dann liegt es meist daran, dass es wie ein Tier gehalten wird. Gerade die Schwächsten in unserer Gesellschaft haben keine Lobby. Wer fühlt mit ihnen und spricht für sie, wenn sie längst mundtot gemacht worden sind und sich nur noch abwehrend und aggressiv äußern können?»
«Die Rolle der Lehrkraft
besteht darin, ein Feuer
zu entfachen, und nicht
darin, einen leeren Eimer
zu füllen»
Sie nimmt sich Zeit, die Akten zu studieren, sich mit den Beteiligten auseinanderzusetzen. Am zweiten Arbeitsort, in der Lindenhofschule in Brensbach, ruft die Mutter eines Erstklässlers an, – mein Sohn erträgt es nicht mehr (in einer Schule in der Nachbarschaft). Die Schulleitung der andern Schule ist einverstanden mit einem Wechsel, fragt aber ungläubig nach, ob es bekannt sei, was da auf sie zukomme? Die Akten belegen, dass im Kindergarten alles in Ordnung war, die Auffälligkeiten fingen damit an, dass sich der Junge bei der Untersuchung zu Schulbeginn weigerte, für die Amtsärztin die Hose auszuziehen. Da gab es einen Eintrag mit der Vermutung «Schule für Erziehungshilfe». Später dann wurde «sozial emotionaler Förderbedarf» diagnostiziert, der Junge komme mit andern kaum zurecht, er störe nur, auch wenn er nicht dumm sei. Nach einem dreiviertel Jahr in der ersten Klasse ist er bereits auf der Exklusionsliste gelandet.
«Natürlich», sagt Antje, «wollen sie eigentlich nicht das Kind loswerden, sondern die Belastung in einer Situation, in der sich alle pädagogischen Kräfte bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten belastet fühlen.» Das Treffen zum Kennenlernen mit Mutter und Kind war aufschlussreich: Die Mutter alleinerziehend, «engagiert, aber schlicht», der Junge bei den Grosseltern, ohne Anschluss an Gleichaltrige.
Die zuständige Lehrerin war bereit, ihn aufzunehmen, die Schulleiterin der abgebenden Schule gab dem Kind Bescheid: «Du gehst jetzt», allerdings, ohne die Lehrerin vorher darüber zu informieren. «Ein leider immer noch verbreitetes Verhalten von Vorgesetzten», kritisiert Antje. «Da wird die Kollegialität, die oft zitierte, völlig missachtet. Wie soll bei einem solchen Führungsstil Zusammenarbeit entstehen können?»
Es zeigte sich, dass die Probleme des Kindes in der neuen Schule durch einige Eltern programmiert waren, die ihren Kindern aufgetragen hatten, mit dem neuen nicht zu spielen. Die Vorsitzenden des Elternbeirats beschwerten sich bei der Schulleiterin über die Aufnahme des schwierigen Falles. Dann weigerte sich die Klassenlehrerin, ihn weiter zu unterrichten.
«So hörte ich Hilferufe von allen Seiten», sagt Antje: «Hilferufe der Klassenlehrerin, Eltern und Lehrkräfte, Hilferufe der Mutter und Hilferufe des Kindes.»
In der Kindertagesstätte, wo der Junge die Nachmittage verbringt, macht er keine Probleme. Möglicherweise steckt irgendetwas Physisches hinter dem Verhalten, spekuliert die Schulleiterin, was fehlt, ist einfach eine vernünftige Diagnose. Aufgrund der staatlich vorgeschriebenen Inklusionspolitik sind auch Mittel für Beratungslehrerinnen verfügbar, allerdings begrenzt auf acht Stunden pro Woche. Diese Beratung ist inzwischen eingerichtet. Den Rest der Zeit deckt eine zur Zeit noch überwiegend ehrenamtlich tätige Begleitperson ab, sodass der Junge jederzeit mit einer erwachsenen Begleitung zusammen ist. Ein Teil der Kosten dafür zahlt Antje aus ihrer eigenen Tasche. Befremden und befremdete Äusserungen darüber von den Kolleginnen habe sie «auf pathetische Weise» zurückgewiesen: «Das ist mein Geld, und jeder kann mit seinem Geld machen, was er will. Wie ich mein Geld ausgebe, geht niemanden hier etwas an.»
Natürlich ist das nicht die Lösung des Problems. Es geht um die Herstellung einer Schulgemeinschaft, die von der Norm des Normalen abweichende Kinder willkommen heisst, weil sie den der Vielfalt innewohnenden Reichtum aufzuschliessen versteht.
Leitbilder: Beispiel für den Umgang mit Visionen
Antje erinnert die Eltern am ersten Elternabend, auf Merkblättern und beim Auftritt der Schule im Internet (www.lindenhofschule-brensbach.de) an die rechtlichen Grundlagen eines Bildungsauftrags, der laut Artikel 56, Abs. 1 des Hessischen Schulgesetzes über das unterrichtliche Lernen hinausgeht:
«Der hier festgelegte Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule ist auf bestmögliche Entfaltung der Persönlichkeit der Mädchen und Jungen gerichtet und schliesst die Sorge um ihr körperliches und seelisches Wohl mit ein. Die Grundschule hat insoweit auch sozialpädagogische Aufgaben.»
Sie zählt die Kinderrechte auf und schreibt, dass «Kinder unterschiedlich schnell und weit sein dürfen», dass Lernen aktiv sein bedeutet und die Fähigkeit einschliesst, Verknüpfungen herzustellen und eigene Stärken und Kompetenzen erkennen und aufbauen zu können. Sie erklärt, dass die Rolle der Lehrkraft darin besteht, «ein Feuer zu entfachen, und nicht darin, einen leeren Eimer zu füllen», und dass «wissenschaftliches Denken nicht aus der Position des Wissens hervorgeht, sondern aus der Position der Suche nach Wissen.»
«Kinder dürfen
unterschiedlich schnell
und weit sein.»
Sie schlägt den Eltern zu Schulbeginn vor, auf welche Weise sie ihr Kind unterstützen können, von «Sie können ihr Kind stärken, indem sie ihm etwas zutrauen» bis «Legen Sie gemeinsam Regeln fest für das Erledigen der Hausaufgaben».
In der Anfangsphase, noch vor Übernahme der neuen Schulleitung, war in Brensbach ein professionell begleiteter Prozess der Schulentwicklung eingeleitet worden, der mit der Suche nach dem besonderen Sinn des Unternehmens dieser Schule begonnen hatte, und bald von den Lehrerinnen selbstständig weiter getrieben wurde. «Sonne im Herzen» sollte das Motto sein, und unter dieser Leitvorstellung wurde von ihnen gemeinsam mit der neuen Schulleiterin ein Logo gefunden, ein herzförmiges Lindenblatt mit fünf Hauptadern:
leben – Wir leben in einer offenen und vielfältigen Schule. Jeder ist wichtig.
fördern – Wir fördern kompetenzorientierten Unterricht.
bewegen – Wir bewegen uns und sind handlungsorientiert.
geben – Wir geben Schutz und Stärke.
lernen – Wir lernen miteinander und voneinander in einer freundlichen Atmosphäre.
clear
Absichten, Wörter: Wenn es nicht das Beispiel der Grundschule Beerfurth gäbe, wären sie bloss leere Vorstellungen. Die Erfahrung, dass die Vision einer Schulgemeinschaft auf die Wirklichkeit der Verhältnisse übertragen und umgesetzt werden kann, macht den Vorgang erst verfügbar. Was im Raum A intuitiv gelang und sukzessiv aufgebaut worden ist, wird auf Raum B absichtlich und planvoll angewandt. Dies ist aussichtsreich, selbst dann, wenn es in einzelnen Aspekten nicht auf Anhieb gelingen sollte: Der Vergleich macht es möglich, einzelne Punkte eines Pakets zu isolieren und zu bearbeiten, dessen Umfang sonst Demotivation auslösen müsste. Und der Erhalt der Motivation ist womöglich die knappste Ressource in dem ganzen Geschäft von Schule und Unterricht.
Antje erzählt, wie sie die Rahmenbedingungen des Unterrichts umgestaltet hat: Vertretungsstunden werden nicht mehr unvergütet erwartet. (Das Problem besteht darin, dass in einer Situation, in der die Leute unzufrieden sind, auch die Krankheitszeiten und Fehltage steigen, die durch Vertretungsunterricht von Kollegen ersetzt werden müssen, was wiederum deren Unzufriedenheit auslöst.) In Hessen ist es gesetzlich geregelt, Vertretungsunterricht über sogenannte VSS Mittel (verlässliche Schule) zu finanzieren und damit nicht zusätzlich das Kollegium zu belasten. Man kann und sollte diese Möglichkeit im Interesse der Kolleginnen abrufen, wobei allerdings entsprechend vorgebildete Vertretungskräfte zur Verfügung stehen müssen, was im ländlichen Raum jedoch teilweise viel Kommunikations- wie auch Organisationstalent voraussetzt.
Zur Zeit ist sie mit der Einrichtung einer eigenen kleinen Küche für die Lehrerinnen befasst, – gegen einen amtlichen Widerstand, mit dem sie inzwischen umzugehen versteht. «Eine Küche, in der man Kaffee kochen und kleine Snacks zubereiten kann, wird die Zufriedenheit der Kolleginnen mit ihrem Arbeitsplatz erhöhen», sagt sie.
Umgang mit der Zeit:
Schule als Modell für eine menschlichere Gesellschaft
Auch die Schulleiterin strebt nach Zufriedenheit in ihrem Job. Im Streben, ein Vorbild zu sein, neigt sie dazu, ihre Arbeit auszudehnen über die Uhrzeit und die Lebenszeit. Nicht ungewöhnlich, sagt sie, bis morgens um zwei zu arbeiten. Mittagspause? Kannst du vergessen. Das Frühstück morgens wurde eingespart, bis die zweite Schule dazu kam und es nicht länger ohne Stärkung ging. Das Arbeitsleben läuft stets auf hohen Touren. Die Sommerferien sind wichtig, «um runter zu kommen.» – «Da ist noch was: Dass ich keine eigenen Kinder habe, hilft mir, – privat bin ich nie ausgepowert.» Das Wichtigste ist die Wertschätzung, die man durch diese Arbeit erfährt. «Es stand ja zu befürchten, dass mich das Engagement in zwei Schulen kaputt machen würde. Tatsächlich waren die Kolleginnen in der zweiten Schule aber bereits ‹im Aufbruch› und benötigten nur jemanden mit Erfahrung, wie man es anders machen kann und zeigt, wie es gehen kann; eine, die nicht alles ändern will, sondern Leistung und Einsatz wertschätzt, vorhandene Potentiale stärkt und Möglichkeiten zeigt, Schule mit Leben zu füllen im konstruktiven Miteinander, vielfältig, sich gegenseitig stärkend und ergänzend. Mit dem BEP und dem ko-konstruktiven Ansatz von Wassilios E. Ftenakis hatte an der Lindenhofschule diese Entwicklung bereits vor einigen Jahren begonnen, an die ich leicht anknüpfen konnte. Da kommt, wenn es gelingt, eine Wertschätzung zurück, die alles andere aufwiegt.»
Denis H.: Porträt der Schulleiterin Antje Rümenapf 2013
«Ich nehme mir immer
Zeit, und ich bin mit meiner
ganzen Person da, wenn
ich gebraucht werde.»
«Ich nehme mir immer Zeit», sagt sie, «und ich bin mit meiner ganzen Person da, wenn ich gebraucht werde.» Sie ist früher da, geht später weg, und ist für jeden zu sprechen. Für die vielen Projekte, auf die sie sich einlässt, nimmt sie sich Zeit, zieht Experten hinzu, die Know-how vermitteln, erst für Kolleginnen, dann für die Eltern. So war es bei der Umgestaltung des Schulhofs in Beerfurth, bei der Fachleute zwei Spielbereiche einrichteten, und so wird es bei der Neueinrichtung des Schulhofs in Brensbach sein, wo die mächtigen Linden Platz und Licht beanspruchen, – ein Problem, das durch den Aufbau eines hölzernen Decks gelöst werden könnte, eine zweite Fläche über der ersten, auf zugelassener Höhe der Lindenbäume.
Schule als architektonisch gestalteter Lebensraum für alle, die dort leben und lernen: Die Vorstellung geht über den blossen Unterrichtsbetrieb hinaus und läuft hinaus auf einen Ort, der tagsüber jederzeit zugänglich ist. Die Einrichtung der Räume folgt dem Muster der Zeit. Die Zeit von zwölf bis halb zwei ist für Mittagessen und Spielen vorgesehen (Mittagessen kostet 3.50 Euro, – ein Betrag, den manche Familien als schmerzhaft hoch wahrnehmen). Nachmittags bietet die Beerfurther Schule ein Betreuungsprogramm an, das acht Kinder wahrnehmen. Um die Schule für alle nachmittags offen halten zu können, wurden auf dem Bolzplatz, der zum Schulgelände gehört, vom Sportverein Tore angeschafft und aufgestellt: Eine Zugangsmöglichkeit für alle erfordert die Genehmigung des Schulträgers, die Schule auch ausserhalb der Unterrichtszeiten offenzuhalten.
Die Bewirtschaftung der Zeit, meint Antje, sei ein gesellschaftliches Thema, eine Art heimliches Leitbild; sie beobachte, dass die Eltern zunehmend kaum noch die Zeit haben, miteinander zu sprechen: «Sie geben sich die Klinke in die Hand, und die Kinder müssen sehen, wo sie bleiben.» Die Beziehungen der Menschen führen zu Verhaltensmustern, und der Umgang mit der Zeit in unserer Gesellschaft sei geprägt vom Streben, Ersatzbedürfnisse zu befriedigen. Sie zitiert den Hirnforscher Gerald Hüther, der als Ersatzbedürfnisse die Bedürfnisse von solchen Dingen bezeichnet, die man nicht wirklich braucht: «Mein Auto, mein Haus, mein Urlaub usw.». Wo das Leben der Familien durch das Streben nach Befriedigung derartiger Ersatzbedürfnisse bestimmt sei, bleibe wenig Zeit für den Umgang miteinander, ein menschliches Grundbedürfnis, das für eine intakte Entwicklung von Kindern grundlegend ist, um ein gesundes und zufriedenes Leben führen zu können. «Die Eltern wissen es nicht besser; sie unterliegen gesellschaftlichen Lebensbedingungen und sind in gewisser Weise befangen.»
Alternative Wege müssen aufgezeigt und vorgelebt werden. «Gerade Schulleiter und Lehrkräfte sind Vorbilder, vielen scheint das nicht in vollem Umfang bewusst zu sein», sagt Antje.
Die Schule anstelle der Familie als Keimzelle der Gesellschaft? Die Vorstellung mag manchen als Sakrileg erscheinen, aber wo das alte Idealbild der Familie so weit lädiert ist, dass die Erziehungsfunktion nicht mehr ohne weiteres gewährleistet werden kann, beginnt man die Zusammenhänge womöglich klarer zu sehen: War es nicht schon immer der Fall, dass die Loyalitäten und Bande der Familie der Grossfamilie galten und die Stammeszugehörigkeit festigten, also jenen Tribalismus, der demokratischen Wertvorstellungen im Wege steht, die ohne Rücksicht auf Herkunft die Lebenschancen jedes Menschen fördern?
«Schulleiter und
Lehrkräfte sind Vorbilder,
vielen scheint das nicht
in vollem Umfang bewusst
zu sein.»
Bei der Auseinandersetzung über diese Frage steht die Schulleiterin aufseiten der Schule als Keimzelle der Demokratie. Auch wenn sie die Erziehungsphilosophie von John Dewey nicht studiert hat und sich deshalb nicht bewusst an seinen Vorstellungen orientiert, so folgt sie mit ihrer Arbeit doch seiner Philosophie und liefert ein eindrucksvolles Beispiel für Deweys Idee von Schule als «embryonische Gesellschaft». Dewey versuchte vor hundert Jahren in Chicago einen Weg zu finden, inmitten der «grossen Gesellschaft» des modernen Amerika mit seiner materialistischen Orientierung und seiner manipulierten Öffentlichkeit menschliche Züge festzuhalten und zu bewahren: Wie ist die Verwandlung der grossen Gesellschaft in eine grosse Gemeinschaft möglich? Die Lösung lag für ihn in der Bildung der Menschen, seine Hoffnungen setzte er auf das Schulwesen: Wenn es gelänge, die Gesellschaft in der Modellwelt der Schule zu einer Gemeinschaft umzuformen, dann wäre damit in den Köpfen der Schüler ein Bild geschaffen, das weiter wirksam bliebe, sodass das Ziel – die grosse Gemeinschaft – nicht völlig aus der Welt geraten müsste.